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GESCHICHTE DEB PHHiOSOPHIE.
GESCHICHTE
DEK
PHILOSOPHIE
DE. "W. WINDELBAND
PEOFBSSOB Alt DEB DHITEB8ITÄT STKASSBQBO.
FBEIBüBe LB. 189S.
JlfADSmaCBJi YSBLAOSBUCHHAJTDLnNO VON J. C, ?. BfOBB
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Das Reeht der Ueberseteung in fremde Spraehei
behält ricli die Yerlafpsbandltnig vor.
Druck von G. A. Wagner in Freibnrg i. B.
» t»
Vorwort.
i.
Nach mancherlei schmerzlich empfundenen Unterbrechungen und Ver-
zögerungen bringe ich jetzt endhch den Abschluss des WerkS; dessen erste
Bogen schon vor zwei Jahren in die Welt gingen.
Man wird diese Arbeit nicht mit den Compendien verwechseln^ wozu wohl
sonst CoUegienhefte über die allgemeine Geschichte der Philosophie ausstaffirt
worden sind: was ich biete, ist ein ernsthaftes Lehrbuch^ welches die Ent-
wicklung der Ideen der europäischen Philosophie in tibersichtlicher und gedrängter
Darstellung schildern soll; um zu zeigen, durch welche Denkantriebe im Laufe
der geschichtlichen Bewegung die Principien zum Bewusstsein gebracht und
herangebildet worden sind; nach denen wir heute Welt und Menschenleben
wissenschaftlich begreifen und beurtheilen. Es soll dazu beitragen^ dass dieOe-'
2 schichte der Philosophie ihre wahre Aufgabe nicht aus den Augen verliert, und
verhüten, dass in ihr die Philosophie selbst vergessen wird.
Dieser Zweck hat die gesammte Gestaltung meines Buches bestimmt.
Die litterarhistorische Grundlage der Forschung, das biographische und biblio-
graphische Material^ musste deshalb auf den engsten Raum und auf eine Auswahl
beschränkt werden^ welche dem weiter arbeitenden Leser die Wege zu den besten
Quellen eröffiiet. Auch auf die eigenen Darlegungen der Philosophen wurde
wesentlich nur da verwiesen, wo sie dauernd werthvolle Formulirungen und Be-
gründungen der Gedanken darbieten, und daneben nur hie und da dasjenige
angeführt, worauf sich eine von der üblichen abweichende Auffassung des Ver-
fassers stützt. Dabei fiel die Auswahl des Stoffs überall nur auf dasjenige, was
die einzelnen Denker an Neuem und Fruchtbarem geleistet haben, und höchstens
kurze Erwähnung fanden die rein individueUen Gedankenverschiebungen, welche
zwar ein willkommner Gegenstand für gelehrte Forschung sein mögen, aber kein
philosophisches Interesse darbieten.
Den Schwerpunkt legte ich, wie schon in der äusseren Form zu Tage tritt,
auf die Entwicklung desjenigen, was im philosophischen Betracht das Wichtigste
ist: die Geschichte der Probleme und der Begriffe. Diese als ein
zusammenhängendes und überall in einander greifendes Ganzes zu verstehen, ist
meine hauptsächliche Absicht gewesen. Die historische Verflechtung der ver-
schiedenen Gedankengänge, aus denen unsere Welt- und Lebensansicht erwachset^
/
ißt, bildet den eigentlichsten Gegenstand meiner Arbeit: und ich bin überzeugt,
dass diese Aufgabe nicht durch eine begriffliche Construction^ sondern nur durch
eine allseitige, vorurtheilslose Durchforschung der Thatsachen zu lösen ist. Wenn
aber dabei — schon der räumüchen Oekonomie nach — dem Alterthum ein ver-
hältnissmässig grosser Theil des Ganzen gewidmet erscheint, so beruht das auf
der üeberzeugung; dass für ein historisches Yerständniss unsres intellectuellen
Daseins die Ausschmiedung der Begriffe, welche der griechische Geist dem Wirk-
hohen in Natur und Menschenleben abgerungen hat^ wichtiger ist als alles was
seitdem — die kantische Philosophie ausgenommen — gedacht worden igt.
Die so gestellte Aufgabe verlangte jedoch einen Verzicht, den Niemand
mehr bedauern kann^ als ich selbst: die rein sachUche Behandlung der
historischen Bewegung der Philosophie erlaubte nicht; die PersönUchkeit der
Philosophen zu eindrucksvoller Geltung zu bringen. Diese konnte nur da berührt
werden^ wo sie als causales Moment in der Verknüpfung und Umgestaltung der
Ideen wirksam wird. Der ästhetische Zauber, welcher dem individuellen Eigen-
wesen der grossen Träger jener Bewegung innewohnt, und welcher dem aka-
demischen Vortrage wie der breiteren Darstellung der Geschichte der Philosophie
seinen besonderen Reiz verleiht, musste hier zu Gunsten des Einblicks in die
pragmatische Nothwendigkeit des geistigen Geschehens preisgegeben werden.
Lebhaften Dank spreche ich schUesslich auch an dieser Stelle meinem
Herrn CoUegen Dr. Hensel aus, welcher nicht nur bei einem Theile der Cor-
rectur mich unterstützt, sondern auch durch Aufstellung des Sachregisters die
Brauchbarkeit des Buches wesentUch erhöht hat.
Strassburg, im November 1891.
Wilhelm Windelband.
Inhalt«
£jinleitang S. 1 — 17.
§ 1. Name und Begriff der Philosophie. S. 1. — g 2. Die G-eschichte der
rhilosophie. S. 6. — § 3. Eintheilaiig der Philosophie und ihrer Geschichte. S. 15.
I. Theil. Die Philosophie der Griechen. S. 18—120.
1. Kap.: Die kosmologische Periode. S. 20 — 60.
I 4. Begriffe des Seins. S. 24 — § 5. Begriffe des Geschehens. S. 36. —
§ 6. Begriffe des Erkennens. S. 44.
2. Kap.: Die anthropologische. Periode. S. 50 — 75.
§ 7. Das Problem der Sittlichkeit. S. 55. — § 8. Das Problem der
tVissenschaft. S. 67.
3. Kap.: Die systematische Periode. S. 76 — 120.
§ 9. Die Neubegründung der Metaphysik durch Erkenntnisstheorie und
Ethik. S. 80. — § 10. Das System des Materialismus. S. 84. — § 11. Das
System des Idealismus. S. 90. — § 12. Die aristotelische Logik. S. 102. —
§ 13. Das System der Entwicklung. S. 107.
II. Theil. Die hoHtnittioch-rdmioche Philosophie. S. 121—206.
1. Kap.: Die ethische Periode. S. 124 — 164.
§ 14. Das Ideal des 'Weisen. S. 128. — § 15. Mechanismus und
Teleologie. S. 139. — § 16. Willensfreiheit und Weltvollkommenheit.
S. 149. — § 17. Die Kriterien der Wahrheit. B. 155.
2. Kap.: Die religiöse Periode. S. 164—206.
§ 18. Autorität und Offenbarung. S. 171. — § 19. Geist und Materie.
S. 180. — § 20. Gott und Welt. S. 185. — § 21. Das Problem der
Weltgeschichte. S. 200.
III. Theil. Die mittelalterliehe Philosophie. S. 207—274.
1. Kap.: Erste Periode. S. 212—244.
§ 22. Die Metaphysik der inneren Erfahrung. S. 217. — § 23. Der
Üniversalienstreit. 0.227. — §24. DerDualismus von Leib und Seele. S.238.
2. Kap.: Zweite Periode. S. 244—274.
§ 25. Das Reich der Natur und das Reich der Gnade. S. 251. —
i$ 26. Der Primat des Willens oder des Verstandes. 8. 259. —
§ 27. Das Problem der Individualität. S. 266.
IV. Theil. Die Philosophie der Renaissance. S. 275—344.
1. Kap.: Die humanistische Periode. S. 278 — ^298.
§ 28. Der Kampf der Traditionen. S. 282. — § 29. Makrokosmus und
Mikrokosmus. S. 289.
2. Kap.: Die naturwissenschaftliche Periode. S. 298 — 844.
§ 30. Das Problem der Methode. S. 302. — § 31. Substanz und Gausa-
Utät. S. 315. — § 82. Das Naturreoht. S. 336.
V. Die Phlloeophie der Aufklärung. S. 345—416.
1. Kap.: Die theoretischen Fragen. S. 352—393.
§ 38. Die eingeborenen Ideen. S. 354. — § 24. Die Erkenntniss der
Anssenwelt. S. 367. — § 35. Die natürliche Religion. S. 383.
2. Kap.: Die praktischen Fragen. S. 393 — 416.
§ 36. Die Principien der Moral. S. 395. — § 37. Das Cultur-
Problem. S. 408.
VI. Die deutsoho Philosophie. S. 417—489.
L Kap.: Kant's Kritik der Vernunft. S. 418—446.
§ 38. Der Gegenstand der Erkenntniss. S. 422. — § 39. Der kate-
gorische Imperativ. S. 433. — § 40. Die natürliche Zweckmässigkeit S.440.
2. Kap.: Die Entwicklung des Idealismus. S. 416 489.
§ 41. Das Ding -an -sich. S. 450. — § 42. Das System der Vernunft.
S. 464. — § 43. Die Metaphysik der Irrationalen. S. 484.
VI. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts (Schluss). S. 490—508.
§ 44. Der Kampf um die Seele. S. 495. — § 45. Natur und Ge-
schichte. S. 500.
Namenregister S. 604.
Sachregister 8. 609.
Berichtigungeii.
Zu der allgemeiueD Litteratur auf S. 13 ist nachzutragen: R. Suokk)!,
Die Lebensanschauungen der grossen Denker. (Leipzig 1890.)
S. 17 Z. 13 d. Text. Ues v. Chr. statt n. Ohr.
„ 19 „ 6 von oben lies in eigner statt durch eigne.
„ 34 „ 18 von oben lies Seiendes statt Seindes.
„ 42 „ 14 von unten lies stehenden statt bewegten.
„ 49 „ 8 von oben lies dieser statt er.
„ 57 „ 13 von oben lies den Unterworfen statt die Unterworfhen.
„ 78 „ 5 von oben lies liess statt lies.
^ 86 M 9 von unten lies geringeren statt geringen.
„ 87 „ 9 von oben lies vo;ia> statt vo^iüi.
„ 87 n 10 von oben lies § 31 statt c%p. 3.
n 89 n 9 von unten lies e68aifi.ovta statt eüSaificuvia.
„ 101 „ 18 von oben lies zugleich statt dabei.
y, 104 „ 3 d. Anm. lies wilflcommen statt willkommene.
yf 106 „ 14 von unten lies Grundsätze statt Grundsäzte.
„ 116 „ 8 d. Anm. lies Schlaf statt Sahlaf.
„ 122 „ 20 von oben lies in statt während.
„ 128 „ 1 von oben lies greek statt greec.
„ 168 „ 19 von oben lies unternahm statt versuchte.
„ 185 rt 5 von oben lies Seele statt Sünde.
« 185 „ 3 von unten lies unter statt in.
„ 197 „ 22 von unten Ues Exegese statt Einleitung.
^ 214 rt 14 von oben lies Unbefangenheit statt Unmittelbarkeit.
„ 216 „ 16 von oben lies 12 statt 21.
„ 216 „ 24 von oben lies Adelard statt Adelard.
„ 264 „ 9 von oben lies oberste statt höchste.
„ 264 r, 21 von oben lies sah statt hat.
f, 323 „ 19 von oben lies wiederholt statt widerholt.
„ 332 n 2 u. 3 von unten sind am Schluss die Zeichen — und , zu
vertauschen.
„ 334 n ^ von unten lies Intensität statt Intentisät.
„ 847 „ 1 von unten lies Home statt Mome.
„ 848 „ 30 von oben lies morals statt moral.
„ 360 „ 19 von oben lies Volney statt Volnay.
„ 351 „ 11 von oben lies Knutzen statt Kuntzen.
„ 352 „ 4 von oben lies 1881 statt 1889.
„ 355 „ 18 von oben lies void statt voit.
„ 367 „ 1 von oben lies 34,12 statt 34,9.
„ 372 „ 23 von oben lies widerspricht statt widerlegt.
„ 373 „ 5 von oben lies £Eu;ts statt faits.
9 376 „ 3 von oben lies genügt statt ausreicht. '
Einleitung,
% L Name und Begriff der Philosophie.
R. Hatm, Art. Philosophie in Ersch und Gruber's Encyclopadie. III. Abth. Bd. 24,
W. WiNDKLBAND, Praeludien (Freiburg i. Br. 1884) 1 ff.
Unter Philosophie versteht der heutige Sprachgebrauch die wissenschaft-
liche Behandlung der allgemeinen Fragen von Welterkenn tniss und Lebensansicht.
Diese unbestimmte Gesaramtvorstellung haben die einzelnen Philosophen je nach
den Voraussetzungen, mit denen sie in die Denkarbeit eintraten^ und den Ergeb-
nissen, die sie dabei gewannen, in bestimmtere Definitionen ') zu verwandeln ge-
sucht, welche zum Theil so weit aus einander gehen, dass die Gemeinsamkeit des
Begriffs zwischen ihnen verloren erscheinen kann. Aber auch jener allgemeinere
Sinn ist schon eine Einschränkung und Umgestaltung der ursprünglichen Bedeu-
tung, welche die Griechen mit dem Namen Philosophie verbanden, — eine Ein-
schränkung und Umgestaltung^ welche durch den ganzen Verlauf des abendlän-
dischen Geisteslebens herbeigeführt worden und neben demselben hergelaufen ist.
1. Während das erste literarische Auftreten ^) der Wörter ytXoao^siv und
^iXoGo^ia noch die einfache und zugleich unbestimmte Bedeutung des ^Strebens
nach Weisheit" erkennen lässt, hat das Wort ^Philosophie" in der auf Sokrates
folgenden Literatur und insbesondere in der platonisch-aristotelischen Schule den
fest ausgeprägten Sinn erhalten, wonach es genau dasselbe bezeichnet, wie im
Deutschen „Wissenschaft"^). Danach ist Philosophie im Allgemeinen*) die
methodische Arbeit des Denkens, durch welche das „Seiende" erkannt werden
soll, danach sind die einzelnen „Philosophien" die besonderen Wissenschafben,
in denen einzelne Gebiete des Seienden untersucht und erkannt werden sollen'^).
Mit dieser ersten, theoretischen Bedeutung des Wortes Pliilosophie
verband sich jedoch sehr früh eine zweite. Die Entwicklung der griechischen
Wissenschaft fiel in die Zeit der Auflösung des unmittelbaren religiösen und sitt-
lichen Bewusstseins und liess nicht nur die Fragen nach der Bestimmung und
den Aufgaben des Menschen mit der Zeit immer wichtiger für die wissen-
1) Im Einzelnen auff^efiihrt auch bei Urberwbo-Heinzk, Grundriss der Geschichte der
Philosophie I, § 1. — 2) Herodot I, 30 und 50. Thukydides II, 40; und vielfach auch noch bei
Piaton, z. B. Apol. 29. Lysis 218 a. Syrap. 202e ff. — 3) Ein Betriff bekanntlich von viel
grösserem Umfange als das englische und französische „science**. — 4) Piaton, Rep. 480 b.
Aristoteles, Met. VI 1, 1026a 18. — 5) Piaton, Theaet. 143 d. Aristoteles stellt die Lehre ,vom
Sein als solchem" (die später sog. Metaphysik) als „erste Philosoi)hie'* den übrigen „Philo-
sophien** gegenüber, unterscheidet ferner theoretische und praktische „Philosophie". An
einer Stelle (Met. I 6, 987 a 29) wendet er auch den I*lural (ptXtwo^tai für die verschiedenen
historisch aufeinanderfolgenden Systeme der Wissenschaft an, wie etwa wir von den Philo-
Sophien Kant's, Fichte's, Hbgel^s etc. reden würden.
Windelband, Geschichte der Philosophie. i
Einleitansf.
»■
schaftliche Untersuchung werden (vgl. unten Thl. I, Cap. 2), sondern auch die
Belehrung über die rechte Lebensftihrung als einen wesentüchen Zweck, schliess-
lich als den Hauptinhalt der Wissenschaft erscheinen. So erhielt die Philosophie
in der hellenistischen Zeit die schon früher (bei den Sophisten und Sokrates) an-
gebahnte praktische Bedeutung einer Lebenskunst auf wissenschaft-
licher Grundlage").
In Folge dieser Wandlung ging das rein theoretische Interesse auf die be-
sonderen „Philosophien" über, welche nun zuniTheil die Namen ihrer besonderen,
sei es liistorischen, sei es naturwissenschaftlichen Gegenstände annahmen, wäh-
rend Mathematik und Medicin weiterhin die Selbständigkeit, welche sie von An-
fang an der Gesammtwissenschaft gegenüber besessen hatten^), um so energischer
bewahrten. Der Name der Philosophie aber blieb an denjenigen wissenschaft-
lichen Bestrebungen haften, welche aus den allgemeinsten Ergebnissen mensch-
licher Erkenntniss eine das Leben bestimmende Ueberzeugung zu gewinnen hoff-
ten und welche schliessUch in dem Vei-suche (des Neuplatonismus) gipfelten, aus
solcher Philosophie heraus eine neue Keligion an Stelle der alten verloren gehen-
den zu erzeugen'*).
An diesen Verhältnissen änderte sich zunächst wenig, als die Reste der
antiken Wissenschaft in die Bildung der heutigen Völker Europas als die intel-
lectuell bestimmenden Mächte übergingen. Inhalt und Aufgabe desjenigen, was
das Mittelalter Philosophie nannte, deckte sich durchaus mit dem, was das spä-
tere Alterthura darunter verstanden hatte *). Jedoch erfuhr die Bedeutung der
Philosophie eine wesentUche Veränderung durch den Umstand, dass sie ihre Auf-
gaben durch die positive Religion in gewissem Sinne bereits gelöst fand. Denn
auch diese gewährte nicht nur eine sichere Ueberzeugung als Regel der persön-
lichen Lebensftihrung, sondeni auch im Zusammenhange damit eine allgemeine
theoretische Ansicht über das Seiende, welche um so mehr philosophischen
Charakters war, als die Dogmen des Christenthums ihre Pormulirung durchgängig
unter dem Einflüsse der antiken Wissenschaft erhalten hatten. Unter diesen Um-
ständen blieb während der ungebrochenen HeiTSchaft der kirchlichen Lehre der
Philosophie in der Hauptsache nur die dienende Stellung einer wissenschaft-
lichen Begründung, Ausbildung und Vertheidigung des Dogmas
übrig. Aber eben dadurch trat sie in einen gewissen methodischen Gegensatz zur
Theologie, indem sie dasselbe, was diese auf Grund göttlicher Offenbarung lehrte,
ihrerseits aus den Mitteln menschlicher Erkenntniss gewinnen und darstellen
sollte %
Die unausbleibliche Folge dieses Verhältnisses aber war, dass die Philo-
sophie, je freier das individuelle Denken der Kirche gegenüber wurde, um so selb-
ständiger auch die ihr mit der Religion gemeinsame Aufgabe zu lösen begann, von
der Darstellung und Vertheidigung zur Kritik des Dogmas überging und schliess-
1) Vgl. die Definition Epikur'» bei Sext. Emp. adv. math. XI, 169, und andrerseits
diejenige Sencca's, Epist. 89. — 2) Vgl. unten Tbl. I. — 3) Daher denn z. B. Proklos die
Philosophie lieber Thcolop^e genannt wissen wollte. — 4) Vgl. z. B. Augustinus, Soliloq. T, 7,
Conf. V, 7. Scotus Erigena, De div. praedest. I, 1 (Migne 358). Anseimus, Proslog. cap. 1
(Mtgne I, 227); Abaelard, Introd. in theol. II, 3. Raymundus Lulhis, De quinque sap. 8. —
5) Thomas Aquin. Summa theol. I, 32, 1. Contr. gent. I, 8 f., II, 1 if. Duns Scotus, Op. Ox. I.
3 qu. 4. Durand de Pourgaln, In sent. prol. qu. 8. Raymundus von Sabunde, Theol. natur.
prooem.
§ 1. Name und Begriff der Philosophie. 3
lieh ihre Lehre völlig unabhängig von den religiösen Interessen lediglich aus den
Quellen herzuleiten suchte, die sie dafür durch das „natürliche Licht" der
menschlichen Vernunft und Erfahrung *) zu besitzen meinte. Der methodische
Gegensatz zur Theologie wuchs auf diese Weise zu einem sachlichen aus, und die
moderne Philosophie stellte sich als „Weltweisheit" dem Dogma gegenüber^).
So mannig&ch die von anschmiegender Zustimmung bis zu leidenschaftlicher Be-
kämpfung wechselnden Abschattirungen waren, welche dies Verhältniss annahm,
so bUeb doch dabei die Bestimmung der „Philosophie" immer diejenige, welche
ihr das Alterthum gegeben hatte: aus wissenschaftlicher Einsicht eine Welt-
erkenntniss und eine Lebensansicht da zu begründen, wo die Religion dies Be-
dürfniss nicht mehr oder wenigstens nicht mehr aUein zu erfüllen vermochte. In
der Ueberzeugung, dieser Aufgabe gewachsen zu sein, sah es die Philosophie des
18. Jahrhunderts, wie einst die der Griechen, für Recht und Pflicht an, die Men-
schen über den Zusammenhang der Dinge aufzuklären und von dieser Einsicht
aus das Leben des Individuums wie der Gesellschaft zu regeln.
In dieser selbstgewissen Stellung wurde die Philosophie durch Kant er-
schüttert, welcher die UnmögUchkeit einer „philosophischen" (metaphysischen)
Welterkenntniss neben oder über den einzelnen Wissenschaften nachwies und da-
durch Begriff und Aufgabe der Philosophie abermals einschränkte und veränderte.
Denn nach diesem Verzicht engte sich das Gebiet der Philosophie als be-
sonderer Wissenschaft auf eben jene kritische Selbstbesinnung der
Vernunft ein, aus welcher Kant die entscheidende Einsicht gewonnen hatte
und welche nur noch systematisch auf die übrigen Thätigkeiten neben dem Wissen
ausgedehnt werden sollte. Vereinbar bUeb damit das, was Kant^) den Weltbe-
gi-iff der Philosophie nannte, ihr Beruf zur praktischen Lebensbestimmung.
Freilich fehlt viel, dass dieser neue und wie es scheint abschliessende Be-
griff der Philosophie sogleich zu allgemeiner Geltung gekommen wäre ; vielmehr
hat die grosse Mannigfaltigkeit der philosophischen Bewegungen des 19. Jahr-
hunderts keine der früheren Formen der Philosophie unwiederholt gelassen, und
eine üppige Entfaltung des „metaphysischen Bedürfnisses" *) hat sogar zeitweilig
zu der Neigung zurückgeführt, alles menschliche Wissen in die Philosophie zu-
rückzuschUngen und dieselbe wieder als Gesaramtwissenschaft auszubilden.
2* Angesichts dieses Wechsels, welchen die Bedeutung des Wortes Philo-
sophie im Laufe der Zeiten durchgemacht hat, erscheint es unthunlich, aus
historischer Vergleichung einen allgemeinen Begriff der Philo-
sophie gewinnen zu wollen: keiner von denen, die man zu diesem Zwecke
aufgestellt hat *), trifft auf alle diejenigen Gebilde der Geistesthätigkeit, welche
1) Laur. Valla, Dialect. disp. ITI, 9-, B. Telesio, De nat. rer. prooem; Fr. Bacon, Do au^m.
III, 1 (Op. Spedding I, 539 = III, 336); Taurellus, Philos. triumph. I, 1; Paracelsus, Paraj^.
(ed. Huskr) II, 23 f. ; G. Bruno, Della causa etc. IV, 107 (Laoarde I, 272); Hobbes, De cor-
por. I ( Ws. MoLESWORTH I, 2 und 6 f.). — 2) Charakteristische Definitionen einerseits bei Gott-
sched, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Leipzig 1756), p. 97 ff., andrerseits in dem
Artikel Philosophie der Encyclopedie (Bd. XXV, p. 632 ff.). — 3) Kr. der reinen Vernunft.
R. 646.-4) A. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, cap. 17. — 5) Statt der
Kritik der einzelnen genüge hier der Hinweis auf die so weit aus einander gebenden Formeln,
in denen man trotzdem dies Unmögliche zu leisten versucht hat: man vergleiche z. B. nur die
Einleitungen zu Werken wie Erdmann, IJerbrweo, Kuno Fischer, Zeller etc. All' diese
Begriffsbestimmungen treffen nur insofern zu, als die Geschichte der Philosophie den darin aus-
gedrückten Erfolg hat, aber nicht hinsichtlich der von den Philosophen selbst geäusserten
Absichten.
4 Einleitung.
auf den Namen Anspruch erheben, zu. Schon die Unterordnung der Philosophie
unter den allgemeineren Begriff der Wissenschaft wird bei solchen Lehren, welche
einseitig die praktische Bedeutung im Auge haben, bedenklich ') : noch weniger
aber lässt sich allgemeingiltig bestimmen, was Gegenstand und Form der Philo-
sophie als besonderer Wissenschaft heissen soll. Denn selbst abgesehen von dem
Standpunkte, für welchen die Philosophie noch oder wieder die Gesammtwissen-
schaft ist *), findet man die Versuche der Beschränkung äusserst mannigfach. Die
Aufgaben der Naturforschung füllen Anfangs das Interesse der Philosophie fast
allein aus, fallen dann lange Zeit in den Umfang derselben und scheiden erst in
neuerer Zeit aus. Die Geschichte umgekehrt ist dem grössten Theile der philo-
sophischen Systeme gleichgiltig geblieben, um erst verhältnissmässig spät und ver-
einzelt als Objekt philosophischer Untersuchung aufzutreten. Die metaphysischen
Lehren wiederum, in denen meist der Schwerpunkt der Philosophie gesucht wird,
sehen wir an bedeutsamen Wendepunkten derselben entweder beiseitegeschoben
oder gar für unmöglich erklärt^) 5 und wenn zeitweilig die praktische Bestimmungs-
fiihigkeit der Pliilosophie auf Individuum und Gesellschaft als ihr wahres Wesen
betont wird, so verzichtet andrerseits ein stolzer Standpunkt der reinen Theorie
auf solche gemeinnützige Geschäftigkeit*).
Andrerseits ist behauptet worden, die Philosophie behandle zwar dieselben
Gegenstände, wie die übrigen Wissenschaften, aber in anderem Sinne und nach
anderer Methode: aber auch dies specifische Merkmal der Form hat keine histo-
rische Allgemeingiltigkeit. Dass es eine solche anerkannte philosophische Methode
nicht giebt, würde freilich kein Einwurf sein, wenn nur das Streben nach einer
solchen ein constantes Merkmal aller Philosophien wäre. Dies ist jedoch so wenig
der Fall, dass manche Philosophen ihrer Wissenschaft den methodischen Charakter
anderer Disciplinen, z. B. der Mathematik oder der Naturforschung '^) aufdrücken,
andere aber von methodischer Behandlung ihrer Probleme überhaupt nichts wissen
wollen und die Thätigkeit der Philosophie in Analogie zu den genialen Concep-
tionen der Kunst setzen.
3. Aus diesen Umständen erklärt es sich auch, dass es kein festes, allgemein
historisch bestimmbares Verb ältni SS der Philosophie zu den übrigen
Wissenschaften giebt. Wo die Philosophie als Gesammtwissenschaft auftritt,
da erscheinen die letzteren nur als ihre mehr oder minder deutlich gesonderten
Theile^) : wo dagegen der Philosophie die Aufgabe zugewiesen wird, die Ergeb-
nisse der besonderen Wissenschaften in ihrer allgemeinen Bedeutung zusammen-
zufassen und zu einer umfassenden Welterkenntniss zu harmonisiren, da ergeben
sich eigenthümlich Zusammengesetze Verhältnisse: zunächst eine Abhängigkeit
der Philosophie von dem jeweiligen Stande der Einsicht, die in den besonderen
Disciplinen erreicht ist, eine Abhängigkeit, welche sich hauptsächlich in der För-
derung der Philosophie durch hervorragende Fortschritte der Einzel Wissenschaften
ausspricht^); sodann aber umgekehrt auch ein Eingriff der ersteren in die Arbeit
1) So bei der Mehrzahl der Philosophen des spateren Alterthums. — 2) "Wie für Chr.
WoLFF; vgl. dessen Logrica, § 29 ft'. — 3) Das ist namentlich der Fall, wo die Philosophie ledig-
lich als „"Wissenschaft der Erkenntniss" gilt. Vgl. z.B. "W.HAMn.TON in den Anmerkungen zu
Reid's "Werken II, 808. Bei den Franzosen ist Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts
Philosophie =:=r Analyse de Tentendement huniain. — 4) z. B. bei Plotin. — 5) So Descartes
und Bacon. — 0) So z. B. im HEGEL^schen System. — 7) Wie der Eiufluss der Astronomie auf
die Anfange der griechischen oder der der Mechanik auf diejenigen der neueren Philosophie.
/
/
§ 1. Name und Begriff der Philosophie. 5
der letzteren, der von diesen bald als Befruchtung, bald als Hemmung empfun-
den wird, insofern als die philosophische Behandlung der den besonderen Dis-
ciplinen unterstehenden Fragen bald vermöge ihres weiteren Gesichtspunktes und
ihrer combinativen Richtung werthvolle Momente zu ihrer Lösung beibringt'),
bald aber sich nur als eine Verdopplung darstellt, welche, wenn sie zu gleichen
Resultaten fuhrt, unnütz, wenn sie aber andere Ergebnisse gewähren will, gefähr-
lich erscheint^).
AusdemGesagtenerklärtsichferner,dass die Beziehungen der Philo-
sophie zu den sonstigen Culturthätigkeiten nicht minder nahe sind als
zu den Einzel Wissenschaften. Denn in das Weltbild, auf dessen Entwurf die meta-
physisch gerichtete Philosophie hinzielt, drängen sich neben den Errungenschaften
wissenschaftlicher Untersuchung überall auch die Auffassungen hinein, welche
dem rehgiösen und sittlichen, dem staatlichen und gesellschaftUchen, dem künst-
lerischen Leben entstammen; und gerade die Werthbestimmungen und Urtheils-
normen der Vernunft verlangen in jenem Weltbilde ihren Platz um so lebhafter,
je mehr dasselbe die Grundlage für die praktische Bedeutung der Philosophie
werden soll. Auf diese Weise finden in der Philosophie neben den Einsichten
auch die üeberzeugungen und die Ideale der Menschheit ihren Ausdruck: uad
wenn die letzteren dabei, ob auch oft irriger Weise, die Form wissenschaftlicher
Einsichten gewinnen sollen, so kann ihnen daraus unter Umständen werthvolle
Klärung und Umgestaltung erwachsen. So ist auch dies Verhältniss der Philo-
sophie zur allgemeinen Cultur nicht nui* dasjenige des Empfangens, sondern auch
das des Gebens.
Es ist nicht ohne Interesse, auch den Wechsel der äusseren Stellung und der
socialen Verhältnisse zu betrachten, den die Philosophie erlebt hat. Man darf annehmen,
dass der Betrieb der Wissenschaft in Griechenland sich mit vielleicht wenigen Ausnahmen
(Sokrates) schon von Anfang an in geschlossenen Schulen gestaltet hat *). Dass diese auch in
der späteren Zeit die Form sacralrechtlicher Genossenschatten hatten *), würde an sich allein,
bei dem religiösen Charakter aller griecliischen Rechtsinstitute, noch nicht einen religiösen
Ursprung dieser Schulen beweisen : aber der Umstand, dass die griechische Wissenschaft sich
inhaltlich direct aus religiösen Yorstellungskreisen herausgearbeitet hat und dass in einer An-
zahl von Richtungen derselben gewisse Beziehungen zu religiösen Gülten unverkennbar hervor-
treten ^), macht es nicht unwahrscheinlich, dass die wissenschaftlichen Genossenschaften ur-
sprünglich aus religiösen Verbänden (Mysterien) hervorgegangen und mit denselben in einer
gewissen Beziehung geblieben sind. Als aber sodann das wissenschaftliche Leben sich zu voller
Selbständigkeit entwickelt hatte, fielen einerseits diese Beziehungen ab und vollzog sich anderer-
seits die Gründung rein wissenschaftlicher Schulen, als freier Vereinigungen von Männern,
welche unter Leitung bedeutender Per8Önlichkeit43n die Arbeit der Forschung, Darstellung,
Vertheidigung und Polemik unter sich theilten •) und zugleich in einem gemeinsamen Ideal
der Lebensführung einen sittlichen Verband unter einander besassen.
Mit den grösseren Verhältnissen des Lebens in der hellenistischen und römischen Zeit
lockerten sich naturgemäss diese Verbände, und w^ir begegnen, namentlich unter den Römern,
häufiger Schriftstellern, welche ohne jeden Schulzusammenhang oder Lehrberuf in rein indi-
1) Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts steht so zur deutschen Philo-
sophie. — 2) Vgl. die Opposition der Naturwissenschaft gegen die ScHELLiNo'sche Natur})hilo-
sophie. — 3) H. Diels, „Ueber die ältesten Philosophenschulen der Griechen** in Philos. Aufsätze
zum Jubiläum E. ZeÜer's, Leipzig 1887, p. 241 ff. — 4) v. Wilämowitz-Möllendorf, Anti-
gonos von Karystos (Philol. Stud. IV, Berlin 1881, p. 263 ff.). — 5) Ein hervorragendes Bei-
spiel bieten bekanntlich die Pythagoreer; aber auch in der platonischen Akademie sind An-
klänge an den ApoUocult deutlich genug. Den scheinbar vereinsamten Heraklit hat jüngst
Pflbiderer in einen Mysterienzusammenhang zu bringen gesucht (E. Pfleiderbr, Heraklit von
Ephesus (Berlin 1886). — 6) Vgl. H. Usener, Ueber die Organisation der wissenschaftlichen
Arbeit im Alterthum (Preuss. Jahrb., Jahrg. LIIL 1884. p. 1 ff.) und E. Heitz, Die Philo-
sophenschulen Athens (Deutsche Revue 1884, p. 326 fi'.).
5 EinleituDg.
vidueller Weise auf dem Gebiete der Philosophie thätig sind (Cicero, Seneca, Marc Aurel).
Erst die späteste Zeit des Alterthums zeigt anter dem Einflüsse religiöser Interessen wieder
eine straffere Verknüpfung genossenschaftlicher Schulverbände, wie im Neupythagoreismus
und Neuplatonismus.
Bei den romanischen und germanischen Völkern ist der Verlauf der Sache nicht so un-
ähnlich gewesen. Im Gefolge der kirclilichen Civilisation erscheint auch die Wissenschaft des
Mittelalters: sie hat ihre Stätten in den Klosterschulen und empfangt ihre Am*egungen zu
selbständiger Gestaltung zunächst aus Fragen des religiösen Interesses. Auch in ihr machen
sich Gegensätze verschiedener religiöser Genossenschaften (Dominikaner und Franziskaner)
zeitweilig geltend, und selbst die freieren wissenschaftlichen Vereinigungen, aus welchen sich
allmählich die Universitäten entwickelten, hatten ursprünglich religiösen Hintergrund und kirch-
liches Gepräge *). Deshalb blieb auch in dieser zünftigen Philosophie der Universitäten der
Grad der Selbständigkeit gegenüber der Kirchenlehre immer gering, und es gilt dies bis in
das 18. Jahrhundert hinein auch für die protestantischen Universitäten, bei deren Errichtung
und Ausbildung ebenfalls kirchliche und religiöse Interessen im Vordergrunde standen.
Dagegen ist es für die mit dem Beginn der neueren Zeit sich verselbständigende „Welt-
weislieit* charakteristisch, dass ihre Träger durchweg nicht Männer der Schule, sondern
Männer der Welt und des Lebens sind. Ein entlaufener Mönch, ein Staatskanzlcr, ein Schuster,
ein Edelmann, ein gebannter Jude, ein gelehrter Diplomat, unabhängige Literaten und Jour-
nalisten — das sind die Begründer der modernen Philosophie, und dementsprechend ist deren
äussere Gestalt nicht das Lehrbuch oder der Niederschlag akademischer Disputationen, son-
dern die freie schriftstellerische That, der Essay.
Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Philosophie wieder zünftig
und an den Universitäten heimisch geworden. Es geschah dies zuerst in Deutschland, wo
in der steigenden Selbständigkeit der Universitäten die Bedingungen dafür in glücklichster
Weise gegeben waren und wo em fiiichtbaresWechselverhältniss zwischen Lehrern und Schülern
der Universität auch der Philosophie zu Gute kam *). Aus Deutschland hat sich dies nach
Schottland, England, Frankreich und Italien übertragen, und im Allgemeinen darf man sagen,
dass im 19. Jahrhundert der Sitz der Philosophie wesentlich auf den Universitäten zu suchen ist').
Eine kurzeErwähnung verdient endlich nochdieBetheiligung der verschiedenen
Völker an der Ausbildung der Philosophie. Wie alle Entfaltungen der europäischen Cultur,
so haben auch die Wissenschaft die Griechen geschaffen, und ihre schöpferische Erstgestaltung
der Philosophie ist noch heute eine wesentliche Grundlage derselben: was im Alterthum von
den hellenistischen Mischvölkem und von den Kömem hinzugefügt worden ist, erhebt sich im
Allgemeinen nicht über eine Sündergestaltung und praktische Anpassung der gi'iechischen
Philosophie : nur in der religiösen Wendung, welche diese Ausfuhrung genommen hat (vgl.
unten, Thl. II, cap. 2) ist ein wesentlich Neues zu sehen, was der Ausgleichung der nationalen
Unterschiede im römischen Weltreich entsprungen ist. International ist, wie sich schon in
der durchgängigen Anwendung der lateinischen Sprachform bekundet, auch die wissenschaft-
liche Bildung des Mittelalters. Erst mit der neueren Philosophie treten die besonderen Charaktere
der einzelnen Nationen massgebend hervor: während sich die Traditionen der mittelalterlichen
Scholastik am kräftigsten und selbständigsten in Spanien und Portugal erhalten, liefern Italiener,
Deutsche, Engländer und Franzosen die Anfangsbewegungen der neueren Wissenschaft, welche
ihren Höhepunkt in der klassischen Periode der deutschen Philosophie gefunden hat. Diesen
vier Nationen gegenüber verhalten sich die übrigen fast nur empfangend : eine gewisse Selb-
ständigkeit ist, wenn irgendwo, in neuerer Zeit bei den Schweden zu bemerken.
§ 2. Die Geschichte der Philosophie.
Je verschiedener im Laufe der Zeiten Aufgabe und Inhalt der Philosophie
bestimmt worden sind, um so mehr ei'hebt sich die Frage, welchen Sinn es haben
kann, so nicht nur mannigfache, sondern auch verschiedenartige Vorstellungs-
gebilde, zwischen denen es schUesslich keine andere Gemeinsamkeit als diejenige des
Namens zu geben scheint, in historischer Forschung und Darstellung zu vereinigen.
1) Vgl. G. Kaufmann. Greschichte der deutschen Universitäten I, p. 98 ff. (Stuttg. 1888).
— 2) Der idealen Auffassung der "Wissenschaft in der Thätigkeit der deutschen Universitäten
hat wohl das schönste Denkmal Sohelling gesetzt in seinen „Vorlesungen über die Methode
des akademischen Studiums" (2. und 3. Vorlesung. Ges. Werke. I. Abth., 5. Bd., p. 223 ff.).
— 3) Dies Verhältniss ist so massgebend, dass die giftigen Angriffe, welche Schopenhauer
dagegen gelichtet hat, sich doch schliesslich nur als solche eines durch Erfolglosigkeit gereizten
Privatdocenten herausstellen«
§ 2. Die Geschichto der Philosophie. 7
Denn das anekdotenhafte Interesse an dieser buntscheckigen Mannigfaltigkeit
verschiedener Meinungen über verschiedene Dinge, welches wohl früher, gereizt
auch durch die Merkwürdigkeit und Wunderlichkeit mancher dieser Ansichten,
das Hauptmotiv einer „Geschichte der Philosophie^ gewesen ist, kann doch un-
möglich auf die Dauer als Keimpunkt einer eigenen wissenschaftlichen Disciplin
gelten.
1* Jedenfalls aber ist klar, dass es mit der Geschichte der Philosophie eine
andere Bewandtniss hat, als mit der Gescliichte irgend einer anderen Wissenschaft.
Denn bei jeder derselben steht doch das Forschungsgebiet wenigstens im All-
gemeinen fest, wenn auch seine Ausdehnung, seine Herauslösung aus einem all-
gemeineren und seine Abgrenzung gegen die benachbarten Gebiete noch so vielen
Schwankungen in der Geschichte unterlegen sein mag. In solchem Falle macht
es also keine Schwierigkeit, die Entwicklung der Erkenntnisse auf einem derartig
bestimmbaren Gebiete zu verfolgen und dabei eventuell eben jene Schwankungen
als die natürlichen Folgen dieser Entwicklung der Einsichten begreiflich zu machen.
Ganz anders aber bei der Philosophie, der es an solch^ einem allen Zeiten
gemeinsamen Gegenstande gebricht, und deren „Geschichte" daher auchnicht einen
stetigen Fortschritt oder eine allmähliche Annäherung zu der Erkenntniss desselben
darstellt. Vielmehr ist von je an hervorgehoben worden, dass, während in andern
Wissenschaften, sobald sie nach den rhapsodischen Anfangen erst eine methodische
Sicherheit gewonnen haben, ein ruhiger Aufbau der Erkenntnisse die Regel ist,
welche nur von Zeit zu Zeit durch ruckweisen Neuanfang unterbrochen wird,
umgekehrt in der Philosophie ein dankbares Fortentwickeln des Errungenen durch
die Nachfolger die Ausnahme ist und jedes der grossen Systeme der Philosophie
die neu formulirte Aufgabe ab ovo zu lösen beginnt, als ob die andern kaum
dagewesen wären.
2. Wenn trotz alledem von einer „Geschichte der Philosophie" soll die
Rede sein können, so kann der einheitliche Zusammenhang, den wir weder in den
Gegenständen finden, mit welchen sich die Philosophen beschäftigen, noch in den
Aufgaben, die sie sich setzen, schliesslich nur in der gemeinsamen Leistung
gefunden werden, welche sie trotz aller Verschiedenheit des Inhalts und der Absicht
ihrer Beschäftigung der Natur der Sache nach herbeigeführt haben.
Dieser gemeinsame Ertrag aber, der den Sinn der Geschichte der Philosophie
ausmacht, beruht gerade auf den wechselnden Beziehungen, in denen sich die Arbeit
der Philosophen nicht nur zu den reifsten Erzeugnissen der Wissenschaft über-
haupt und der einzelnen Wissenschaften, sondern auch zu den übrigen Cultur-
thätigkeiten der europäischen Menschheit im Laufe der Geschichte befunden hat.
Denn mochte nun die Philosophie auf den Entwurf einer allgemeinen Welt-
erkenntniss ausgehen, die sie, sei es als Gesammtwissenschaft, sei es als verall-
gemeinernde Zusammenfassung der Resultate der Sonderwissenschaften gewinnen
wollte, oder mochte sie eine Lebensansicht suchen, welche den höchsten Werthen
des Wollens und Fühlens einen geschlossenen Ausdruck geben sollte, oder mochte
sie endlich mit klarer Beschränkung die Selbsterkenntniss der Vernunft zu ihrem
Ziele machen, — immer war der Erfolg der, dass sie daran arbeitete, die noth-
wendigen Formen und Inhaltsbestimmungen menschlicher Vemunftbethätigung
zum bewussten Ausdruck zu bringen, und dieselben aus der ursprünglichen Gestalt
von Anschauungen, Gefühlen und Trieben in diejenige der Begriffe umzusetzen.
B Einleitung.
In irgend einer Richtung und in irgend einer Weise hat jede Philosophie sich
darum bemüht^ auf mehr oder minder umfangreichem Gebiete zu begrifflichen
FormuUrungen des in Welt und Leben unmittelbar Gegebenen zu gelangen,
und so ist in dem historischen Verlaufe dieser Bemühungen Schritt für Schritt
der Grundriss des geistigen Lebens bloss gelegt worden. Die Geschichte
der Philosophie ist der Process, in welchem die europäische
Menschheit ihre Weltauffassung und Lebensbeurtheilung in wissen-
schaftlichen Begriffen niedergelegt hat.
Dieser Gesammtertrag aller der geistigen Gebilde, welche sich als „Philo-
sophie" darstellen, ist es allein, welcher der Geschichte der Philosophie als
einer eigenen Wissenschaft ihren Inhalt, ihre Aufgabe und ihre Berechtigung
giebt: er ist es aber auch, um dessen willen die Kenntniss der Geschichte der
Philosophie ein nothwendiges Erfordemiss nicht nur für jede gelehrte Erziehung,
sondern für jede Bildung überhaupt ist; denn sie lehrt, wie die begrifflichen
Formen ausgeprägt worden sind, in denen wir alle, im alltäglichen Leben wie
in den besonderen Wissenschaften, die Welt unserer Erfahrung denken und
beurtheilen.
Die Anlange der Geschichte der Philosophie sind in den (zum weitaus grÖssten Theil
verloren gegangenen) historischen Arbeiten der ^^rossen Schulen des Alterthums, insbesondere
der peripatetischen, zu suchen, welche wohl meist in der Art, wie Aristoteles ^) selbst schon
Beispiele giebt, den kritischen Zweck hatten, durch diabetische Prüfung der früher auf-
gestellten Ansichten die Entwicklung der eigenen vorzubereiten. Solche historische Mate-
rialiensammlungen wurden für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft angelegt, und es
entstanden auf diese Weise neben Geschichten der einzelnen Disciplinen, wie der Mathematik,
der Astronomie, der Physik u. s. w. auch die philosophischen Doxographien '). Je mehr in-
dessen später Neigung und Kraft zum selbständigen Philosophiren abnahmen, um so mehr artete
diese Literatur in einen gelehrten Xotizenkram aus, in welchem sich Anekdoten aus den
Lebensumständen der Philosophen, einzelne epigrammatisch zugespitzte Aussprüche der-
selben mit abgerissenen Berichten über ihre Lehren mischten.
Den gleichen Charakter von Curiositätensammlungen trugen zunächst die auf den
Resten der antiken Ucberlieferung beruhenden Darstellungen der neueren Zeit, wie Stanley's ')
Reproduction des Diogenes vonLaerte oder Brucker's Werke*). Erst mit der Zeit traten kri-
tische Besonnenheit in der Verwerthung der Quellen (Buhle ^, Fülleborn*]), vorurtheilsfreiere
Auffassung der historischen Bedeutung der einzelnen Lehren (Tiedemanm 'J, Deg^rando *]) und
systematische Kritik derselben auf Grund der neuen Standpunkte (Tennemann ®], Fries **],
ScHiiEiERHACHER^^]) in Kraft.
Zu einer selbständigen Wissenschaft aber ist die Geschichte der Philosophie erst durch
Hegkl ") gemacht worden, welcher den wesentlichen Punkt aufdeckte, dass die Geschichte der
1) Z. B. im Anfang der Metaphysik. — 2) Näheres über dieselben unten. — 3) Th. Stan-
ley, The history of philosophy. London 1685. — 4) J. J. Brucker, Historia critica philoso-
phiae. 5 Bde. Leipzig 1742 ff. Institutiones historiae philosophiae. Leipzig 1747. — 5) J. G.
Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 8 Bde. Göttingen 1796 ff. — 6) G. G. Fülle-
born, Beiträge zur Geschichte der Philosophie. 12 Studien. ZüUichau 1791 ff. — 7) D. Tibde-
MANN, Geist der speculativen Philosophie. 7 Bde. Marburg 1791 ff. — 8) de Gärando, Histoire
comparee des systömes de philosophie : zweite vierbändige Ausgabe. Paris 1822 f. — 9) W. G.
Tennemann, Geschichte der Philosophie. 11 Bde. Leipzig 1798 ff.; Grundriss der Geschichte
der Philosophie für den akademischen Unterricht. Leipzig 1812. — 10) J. Fr. Fries, Ge-
schichte der Philosophie. 2 Bde. Halle 1837 ff. — 1 1) Fr. Schleiermaöher, Geschichte der Philo-
sophie, aus dem Nachlass herausg. in Ges. Werke. III. Abth. 4. Bd. 1. Thl. Berlin 1839. —
12) Zu vergleichen sind die Einleitungen in die Phänomenologie des Geistes, in die Vor-
lesungen über Philosophie der Geschichte und in diejenigen über Geschichte der Philosophie.
(4es. Werke Bd. II, p. 62 ff. IX, p. 11 ff. XIII, p. 11—134. In Hbgel's Werken nimmt die
Geschichte der Philosophie, nach seinen Vorlesungen herausgegeben von Michelet, Bd. 13 — 15,
Berlin 1833 — 36, ein. Auf seinem Standpunkte stehen G. O.Marbach, Lehrbuch der Geschichte
der Philosophie. 2 Abth. Leipzig 1838 ff. C. Hermann, Geschichte der Philosophie in prag-
matischer Behandlung, Leipzig 1867, und zum Theil auch die Uebersicht über die gesammte
Geschichte der Philosophie, welche J, Braniss als ersten (einzigen) Band einer Geschichte der
§ 2. Die Geschichte der Philosophie. 9
Philosophie weder eine bunte Sammlung von Meinungen verschiedener gelehrter Herren „de
Omnibus rebus et de quibusdum aliis'', noch eine stetig sich erweiternde und vervollkomm-
nende Bearbeitung desselben Gegenstandes, sondern vielmehr nur den vielverschränkten Pro-
cess darstellen kann, in welchem successive die „Kategorien'' der Vernunft zum gesonderten
Bewusstsein und zur begrifflichen Ausgestaltung gelangt sind.
Diese werthvolle Einsicht wurde jedoch bei Hegel durch eine Nebenannahme verdun-
kelt und in ihrer Wirkung beeinträchtigt, indem er überzeugt war, dass die zeitliche Keihen-
folge, in welcher jene „Kategorien" in den historischen Systemen der Philosophie aufgetreten
sind, sich mit der sachlichen und systematischen Reihenfolge decken müsste, in welcher die-
selben Kategorien als „Elemente der Wahrheit*' in dem begrifHichen Aufbau des abschliessen-
den Systems der Philosophie (wofür Hegel das seinige ansah) erscheinen sollten. So führte
der an sich richtige Grundgedanke zu dem Irrthum einer philosophisch systematisirendeu
Construction der Philosophiegeschichte und damit vielfach zu einer Vergew^altigung des histo-
rischen Thatbestandes. Dieser Irrthum, den die Entwicklung der wissenschaftlichen Geschichte
der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu Gunsten der historischen Kichtigkeit und Genauigkeit
beseitigt hat, entsprang aber der unrichtigen (wenn auch mit den Principien der HEOEL^schen
Philosophie selbst folgerichtig zusammenhangenden) Vorstellung, als ob der geschichtliche
Fortschritt der philosophischen Gedanken lediglich oder wenigstens wesentlich einer ideellen
Nothwendigkeit entspränge, mit der eine „Kategorie*' die andere im dialectischen Fortgange
hervortriebe. In Wahrheit ist das Bild der historischen Bewegung der Philosophie ein ganz
anderes: es handelt sich dabei nicht lediglich um das Denken „der Menschheit" oder gar
„des Weltgeistes", sondern ebenso auch um die Ueberlegungen, die Gemüthsbedürfnisse, die
Ahnungen und Einfalle der philosophirenden Individuen.
3. Jenes Gesammtresultat der Geschichte der Philosophie, wonach in der-
selben die Grundbegriffe menschUcher Weltauffassung und Lebensbeurtheüung
niedergelegt worden sind, ist das Erzeugniss einer grossen Mannigfaltigkeit von
Einzelbewegungen des Denkens, als deren thatsächliche Motive sowohl bei der
Aufstellung der Probleme, als auch bei den Versuchen ihrer begrifflichen Lösung
verschiedene Factoren zu unterscheiden sind.
Bedeutsam genug ist allerdings der sachliche, pragmatische Factor.
Denn die Probleme der Philosophie sind der Hauptsache nach gegeben, und es
erweist sich dies darin, dass sie im historischen Verlaufe des Denkens als die
^uralten Räthsel des Daseins" immer wieder kommen und gebieterisch immer
von Neuem die nie vollständig gelungene Lösimg verlangen. Gegeben aber sind
sie durch die ünzulängUchkeit und widerspruchsvolle ünausgeglichenheit des der
philosophischen Besinnung zu Grunde hegenden Vorstellungsmaterials *). Aber
eben deshalb enthält auch das letztere die sachlichen Voraussetzungen und die
logischen Nöthigungen für jedes vernünftige Nachdenken darüber, und weil sich
diese der Natur der Sache nach immer wieder in derselben Weise geltend machen,
so wiederholen sich in der Geschichte der Philosophie nicht nur die Hauptpro-
bleme, sondern auch die Hauptrichtungen ihrer Lösung. Eben diese Constanz in
allem Wechsel, welche, von aussen betrachtet, den Eindruck macht, als sei die
Philosophie erfolglos in stets wiederholten Kreisen um ein nie erreichtes Ziel be-
Phüosophie seit Kant, Breslau 1842, herausgegeben hat. In Frankreich ist diese Richtung
vertreten durch V. Cousin, Introduction ä Thistoire de la philosophie. Paris 1828 (7. Aufl. 1872);
Histoire generale de la philosophie, 12. Aufl. Paris 1884.
1) Des Näheren besteht diese Unzulänglichkeit, wie hier nicht genauer entwickelt und
nur in einem System der Erkenntnisstheoric ausgeführt werden kann, in dem Umstände, dass
das erfahrungsmässig Gegebene niemals den begrifflichen Anforderungen genügt, welche wir
bei der gedanklichen Verarbeitung desselben dem inneren Wesen der Vernunft gemäss zuerst
naiv und unmittelbar, später aber mit refloctirtem Bewusstsein stellen. Diesen Antinomismus
kann nicht nur das gewöhnliche Leben, sondern auch die Erfahrungswissenschaft dadurch um-
gehen, dass sie mit Hilfsbegriffen arbeiten, die zwar in sich problematisch bleiben, aber inncrlialb
gewisser Grenzen zu einer dem praktischen Bedürfniss genügenden Verarbeitung des Erfahrungs-
materials ausreichen. Aber gerade in diesen Hilfsbegriffen stecken dann die Probleme der
Philosophie.
10 Einleitong.
müht, beweist doch nur^ dass ihre Probleme unentfliehbare Aufgaben für den
menschlichen Geist sind'), und ebenso begreift sich, dass dieselbe sachhche
Nothwendigkeit eventuell zu wiederholten Malen aus einer Lehre eine andere
hervortreibt. Deshalb ist der Portschritt in der Geschichte der Philosophie in
der That streckenweise durchaus pragmatisch, d. h. durch die innere Nothwen-
digkeit der Gedanken und durch die ;,Logik der Dinge" zu verstehen.
Der oben erwähnte Fehler Hboel's besteht also nur darin, dass er ein in gewissen
Grenzen wirksames Moment zu dem einzigen oder wenigstens zu dem hauptsächlichsten machen
wollte. Der umgekehrte Fehler wäre es, wollte man diese „Vernunft in der Geschichte" über-
haupt leugnen und in den auf einander folgenden Lehren der Philosophen nur wirre Einfälle
der Individuen sehen. Vielmehr erklärt sich der Gesammtinhalt der Geschichte der Philo-
sophie eben nur dadurch, dass sich im Denken der Einzelnen, so zufällig dasselbe bedingt sein
mag, doch immer wieder jene sachlichen Nothwendigkeiten geltend machen. — Auf diesen
Verhältnissen beruhen die Versuche, die man gemacht hat, alle philosophischen Lehren unter
gewisse Typen zu rubricircn und zwischen denselben in der geschichtlichen Entwicklung eine
Art von rhythmischer Wiederholung zu constatiren. So hat v. Coüsm*) seine Lehre von den
vier Systemem (Idealismus, Sensualismus, Skepticismus, Mysticismus), so Aug. Comtb') die
scinigo von den drei Stadien (dem theologischen, metaphysischen und positiven) aufgestellt.
Eine interessante und vielfach instructive Gruppirung der philosophischen Lehren um die ein-
zelnen Hauptprobleme bietet auch A. Rengdvier, Esquisse d'uue Classification systematique
des doctrines philosophiques. 2 Bde. Paris 1885/86. Ein Schulbuch, welches die philosophischen
Lehren nach Problemen und Schulen ordnet, haben Paul Jaket und S^AUiLEs herausgegeben:
Uistoire de la philosophie; les probl^mes et les ecolcs. Paris 1887.
4* Allein der pragmatische Faden reisst in der Geschichte der Philo-
sophie sehr häufig ah. Insbesondere fehlt es der historischen Reihenfolge, in
der die Probleme aufgetreten sind, fast durchgängig an einer solchen immanenten
sachlichen Nothwendigkeit; dagegen macht sich darin ein anderer Factor geltend,
den man am besten als den culturgeschichtlichen bezeichnet. Denn aus den
Vorstellungen des allgemeinen Zeitbewusstseius und aus den Bedürfnissen der
Gesellschaft empfangt die Philosophie ihre Probleme, wie die Materialien zu
deren Lösung. Die grossen Errungenschaften und die neu auftauchenden Fragen
der besonderen Wissenschaften, die Bewegungen des religiösen ßewusstseins, die
Anschauungen der Kunst, die Umwälzungen des gesellschaftlichen und des staat-
lichen Lebens geben der Philosophie ruckweise neue Impulse und bedingen die
Richtungen des Interesses, welches bald diese, bald jene Probleme in den Vorder-
grund drängt und andere zeitweilig bei Seite schiebt, nicht minder aber auch die
Wandlungen, welche Fragestellung und Antwort im Laufe der Zeit erfahren.
Wo diese Abhängigkeit sich besonders deutlich erweist, da erscheint unter Um-
ständen ein philosophisches System geradezu als die Selbsterkenntniss eines be-
stimmten Zeitalters, oder es prägen sich die Culturgegensätze, in denen das letz-
tere ringt, in dem Streit der philosophischen Systeme aus. So waltet in der Ge-
schichte der Philosophie neben der pragmatischen und bleibenden Sachgemäss-
heit auch eine culturgeschichthche Nothwendigkeit, welche auch den in sich nicht
haltbaren Begiifisgebilden ein historisches Daseinsrecht gewährleistet.
Auch auf dies Verhaltniss hat zuerst in grösserem Masse Hegel aufmerksam gemacht,
obwohl die „relative Wahrheit", welche er mit Hinweis darauf den einzelnen Systemen zu-
schreibt, bei ihm zugleich (vermöge seines dialectischen Grrundgedankeus) einen systematischen
1) In dieser Weise dürfte das Ergebniss von Kant's Untersuchungen über „die Antinomie
der reinen Vernunft" (Kritik der reinen Vernunft, trausscendentale Dialectik, zweites Haupt-
stück) historisch und systematisch zu erweitern sein; vgl. W. Windelband, Cxeschichto der
neueren Philosophie II, 95 f. - - 2) Vgl. die Anm. 12 auf S. 8f. — 3) A. Comte, Cours de Philo-
sophie positive I, 9, wozu als Ausfuhrung der 5. und 6. Band zu vergleichen. Uebrigens Anden
sich ähnliche Gedanken auch in d'ALEMBERT^s Discours preliminaii'e zur Encyclopedie.
§ 2. Die Geschichte der Philosophie. 11
Sinn hat. Dagegen ist das culturgeschichtliche Moment unter seinen Nachfolgern von Kund
Fischer am besten formulirt^) und in der Darstellung selbst zur glänzendsten Geltung gebracht
worden. Er betrachtet die Philosopliie in ihrer historischen Entfaltung als die fortschreitende
Selbsterkenntniss des menschlichen Geistes und lässt ihre Entwicklung als stetig bedingt durch
die Entwicklung des in ihr zur Selbsterkenntniss gelangenden Objects erscheinen. So sehr
aber dies gerade für eine Beihe der bedeutendsten Systeme zutrifft, so ist es doch auch wieder-
um nur einer der Factoren. '
Aus den culturhistorischen Anlässen, welche die philosophische Problemstellung und
Problemlösung bedingen, erklärt sich in der Mehrzahl der Fälle eine höchst interessante und
fiir das Verst^dniss der historischen Entwicklung bedeutsame Erscheinung: die Problem-
vcrschlingung. Denn es ist unausbleiblich , dass zwischen verschiedenen Gedankenmassen
durch die Gleichzeitigkeit eines vorwiegend auf beide gerichteten Interesses nach psychologischer
Gesetzmässigkeit Associationen erzeugt werden, welche sachlich nicht begründet sind, dass
in Folge dessen Fragen, die an sich nichts mit einander zu thun haben, vermischt und iii ihrer
Lösung von einander abhängig gemacht werden. Ein äusserst wichtiges und häufig wieder-
kehrendes Hauptbeispiel davon ist die Einmischung ethischer und ästhetischer Interessen in
die Behandlung theoretischer Probleme: die schon aus dem täglichen Leben bekannte Er-
scheinung, dass die Ansichten der Menschen durch ihre Wünsche, Hofhungen, Befürchtungen
und Neigungen bestimmt, dass ihre Urtheile durch ihre Beurtheilungen bedingt sind, wieder-
holt sich in grosserem Massstabe auch in den Weltanschauungen, und sie hat sich in der Philo-
sophie sogar dazu steigern können, dass das sonst unwillkürlich Geübte zu einem erkenntniss-
theoretischen Postulat proclamirt wurde (Kant).
5* Indessen verdankt nun der philosophiegeschichtliche Process seine ganze
Mannigfaltigkeit und Yielgestaltigkeit erst dem Umstände, dass die Entwicklung
der Ideen und die begriffliche Ausprägung allgemeiner üeberzeugungen sich nur
durch das Denken der einzelnen Persönlichkeiten voUzieht, die, wenn sie
auch mit ihrem Denken noch so sehr in dem sachlichen Zusammenhange und in
dem Vorstellungskreise einer historischen Gesammtheit wurzeln, doch durch In-
dividualität und Lebensführung stets noch ein Besonderes hinzufügen. Dieser
individuelle Factor der philosophiegeschichtlichen Entwicklung verdient
deshalb so grosse Beachtung, weil die Hauptträger derselben sich als ausgeprägte,
selbständige Persönlichkeiten erweisen, deren eigenartige Natur nicht bloss für die
Auswahl und Verknüpfung der Probleme, sondern auch für die Ausschleifung der
Lösungsbegriffe in den eigenen Lehren, wie in denjenigen der Nachfolger mass-
gebend gewesen ist. Dass die Geschichte das Reich der Individualitäten, der un-
wiederholbaren und in sich werthbestimmten Einzelheiten ist, erweist sich auch
in der Geschichte der Philosophie: auch hier haben grosse Persönhchkeiten lang
liinreichende und auch hier nicht ausschliesslich fordernde Wirkungen ausgeübt.
Es leuchtet ein, dass die oben besprochene Problemverschlingung durch die subjectiven
Verhältnisse, unter denen die einzelnen philosopliirenden Persönlichkeiten stehen, noch in viel
höhcrem Masse herbeigeführt \vird, als durch die in dem allgemeinen Bewusstsein einer Zeit,
eines Volkes u. s. w. gegebenen Anlässe. Es giebt kein })liilosophi8ches System, welches von
diesem Einflüsse der Persönlichkeit seines Urhebers frei wäre. Deshalb sind alle philosophischen
Systeme Schöpfungen der Individualität, die in dieser Hinsicht eine gewisse Aehnlichkeit mit
Kunstwerken haben, und als solche aus der Persönlichkeit ihres Urhebers begriflen sein wollen.
Jedem Philosophen wachsen die Elemente seiner Weltanschauung aus den ewig gleichen Pro-
blemen der Wirklichkeit und der auf ihre Lösung gerichteten Vernunft, ausserdem aber aus
den Anschauungen und den Idealen seines Volkes wie seiner Zeit zu : die Gestalt aber und die
Ordnung, der Zusammenhang und die Werthung, welche sie in seinem Systeme finden, sind
durch seine Geburt und Erziehung, seine That und sein Schicksal, seinen Charakter und seine
Lebenserfahrung bedingt. Hier fehlt somit oft die Allgemeingiltigkcit, welche den beiden
andern Factoren beiwohnt. Bei diesen rein individuellen Bildungen muss der ästhetische Reiz
an Stelle des Werthes bleibender Erkenntniss treten,, und das Eindrucksvolle vieler Erschei-
nungen der Philosophiegeschichte berulit in der That nur auf dem Zauber der „Begrifl'sdichtung'* .
Zu den Problemverschlingungen und den durch Phantasie und Gefühl bestimmten Vor-
stellungen, welche schon das allgemeine Bewusstsein in die Irre zu führen vermögen, treten
1) Ktjno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie I, 1. Einleitimg I — V.
12 Einleitimg.
somit bei den Individuen noch ähnliche, aber rein persönliche Vorgänge hinzu, um der Problem-
bildung und -Lösung noch mehr den Charakter der Künstlichkeit zu verleihen. Es ist
nicht zu verkennen, dass vielfach sich die Philosophen auch mit Fragen herumgeschlagen haben,
denen es an der natürlichen Begründung fehlte, sodass- alle darauf verwendete Denkmühe ver-
gebens war, und dass andrerseits auch bei der Lösung realer Probleme unglückliche Versuche
von Begrifisconstructionen mit untergelaufen sind, welche mehr Hindernisse als Förderungen
für den Austrag der Sache gebildet haben.
Das Bewunderungswürdige in der Geschichte der Philosophie bleibt eben dies, dass aus
solcher Fülle individueller und allgemeiner Verwirrungen sich doch im Ganzen der Grundriss
allgeroeingiltiger Begriffe der Weltauffassung und Lebensbeurtheilung niedergeschlagen hat,
der den wissenschaftlichen Sinn dieser Entwicklung darstellt.
6. Hiernach hat die philosophiegeschichtliche Forschung fol-
gende Aufgaben zuei-fiillen: 1) genau festzustellen, was sich über die
Lebensumstände, die geistige Entwicklung und die Lehren der einzelnen Philo-
sophen aus den vorliegenden Quellen ermitteln lässt ; 2) aus diesen Thatbeständen
den genetischen Process in der Weise zu reconstruiren, dass bei jedem Philo-
sophen die Abhängigkeit seiner Lehren theils von denjenigen der Vorgänger,
theils von den allgemeinen Zeitideen, theils von seiner eigenen Natur und seinem
Bildungsgange begreiflich wird; 3) aus der Betrachtung des Ganzen heraus zu
beurtheilen, welchen Werth die so festgestellten und ihrem Ursprünge nach
erklärten Lehren in Rücksicht auf den Gesammtertrag der Geschichte der Philo-
sophie besitzen.
HinsichtUch der beiden ersten Punkte ist die Geschichte der Philosophie
eine philologisch-historische, hinsichtlich des dritten Moments ist sie eine
kritisch- philosophische Wissenschaft.
a) In Bezug auf die Feststellung des Thatsächlichen ist die Geschichte der Philosophie
auf eine sorgfältige und umfassende Durchforschung der Quellen angewiesen. Dieselben
fliessen aber fiir die verschiedenen Zeiten mit sehr verschiedener Durchsichtigkeit und Voll-
ständigkeit.
Die Hauptquellen für die philosophiegeschichtliche Forschung sind selbstvertÄudllch
die Werke der Philosophen selbst. Hinsichtlich der neueren Zeit stehen wir in dieser
Hinsicht auf verhaltnissmässig sicherem Boden. Seit Erfindung der Buchdruckerkunst ist die
literarische Tradition so fest und deutlich geworden, dass sie im Allgemeinen keinerlei Schwie-
rigkeiten macht. Die Schrifteu, welche die Philosophen seit der Renaissance herausgegeben
haben, sind für die heutige Forschung durchgängig zugänglich : die Fälle, in denen Fragen der
Echtheit, der Entstehungszeit u. s. w. zu Controverscn Anlass gäben, sind äusserst selten ; eine
philologische Kritik hat hier nur geringen Spielraum, und wo sie (wie theilweise bei den ver-
schiedenen Auflagen der Kantischen Werke) eintreten kann, bctriffl sie lediglich untergeord-
nete und in letzter Instanz gleichgiltige Punkte. Auch sind w^ir hier der Vollständigkeit des
Materials leidlich sicher: dass Wichtiges verloren oder noch von späterer Publication zu
erwarten wäre, ist kaum anzunehmen; wenn die geschärfte philologische Aufmerksamkeit der
letzten Jahrzehnte uns über Spinoza, Leibntz, Kant, Maine de Biran Neues gebracht hat,
so ist der philosophische Ertrag davon doch nur verschwindend gegenüber dem Werthe des
schon Bekannten gewesen. Höchstens hat es sich — und kann es sich femer handeln — um
Ergänzungen gehandelt; insbesondere tritt dabei die Wichtigkeit gelegentlicher brieflicher
Aeusserungen in Kraft, welche über den individuellen Factor der philosophiegeschichtlichen
Entwicklung mehr Licht zu verbreiten geeignet sind.
Weniger günstig schon steht es um die Quellen der mittelalterlichen Philosophie,
welche zu einem (freilich geringen) Theile noch eine nur handschriftliche Existenz führen.
V. Cousin und seine Schule haben sich um die Publication der Texte sehr verdient gemacht,
und im Allgemeinen dürfen wir überzeugt sein, auch für diese Zeit ein, zwar lückenhaftes, aber
doch im Allgemeinen zutreffendes Material zu besitzen. Dagegen ist unsere Kennt niss der
arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters und damit auch ihres Einflusses auf den
Gang des abendländischen Denkens im Einzelnen noch sehr problematisch; und es dürfte dies
die empfindlichste Lücke in der Quellenforschung der Geschichte der Philosophie sein.
Viel schlimmer noch ist es um den directen Quelleiibefund der antiken Philosophie
bestellt. Erhalten ist von Originalwerken uns allerdings die Hauptsache : der Grundstock der
Werke von Piaton und Aristoteles, auch dieser freilich nur in vielfach zweifelhafter Form, und
daneben nur die Schriften späterer Zeit, wie diejenigen Cicero's, Seneca's, Plutarch's, der
§ 2. Die Geschichte der Philosophie. 13
KircheDväter und der Neuplatoniker. Der weitaus grösste Theil der philosophischen Schrillen
des Alterthmns ist verloren. Statt ihrer müssen wir uns mit den Fragmenten begnügen,
welche der Zufall gelegentlicher Erwähnung bei den erhaltenen Schriftstellern, auch hier viel-
fach in fragwürdiger Form übrig gelassen hat').
Wenn es trotzdem gelungen ist, ein bis in das Einzelne hinein durchgeführtes und wissen-
schafUich gesichertes Bild von derEntwicklung der alten Philosophie (deutlicher als von dem der
mittelalterlichen) zu gewinnen, so ist dies nicht nur den unausgesetzten Mühen philologischer und
philosophischer Durcharbeitung dieses Materials zu danken, sondern auch dem Umstände, dass
ans neben den Resten der Originalwerke der Philosophen auch diejenigen der historischen
Berichte des Alterthums als secundare Quellen erhalten sind. Das Beste freilich auch
daraus ist verloren, die historischen Werke nämlich, welche der gelehrten Sammlung der peri-
patetischen und der stoischen Schule zu Ende des vierten und im dritten Jahrhundert v. Chr.
entsprangen. Diese Arbeiten sind dann später durch mehrfache Hände gegangen, ehe sie sich
in den uns noch aus der Römerzeit vorliegenden Compilationen erhalten haben, wie in den
uoter dem Namen Plutarch's gehenden Placita philosophorum '), in den Schriften des Sextus
Empiricus'), in den Deipnosophistae des Athenaeus^), in der Schrift des Diogenes Laertius
Kc^l ^(ov 2of[idTcuv xal dmotp^'di.ötxoiv xu>v iv (ptXoao(ptqc e&$oxi{jLY)advT(uv^), in den Zusammen-
stellungen der Kirchenväter und in den Notizen der Commentatoren der spätesten Zeit« wie
Alexander von Aphrodisias, Themistius und Simplicius. Eine vorzügliche Durcharbeitung
dieser sccundären Quellen der antiken Philosophie hat H. Diels, Doxographi Graeci (Berlin
1879) gegeben.
Wo, wie auf dem ganzen Gebiet der alten Philosophie, der Quellenbefund ein so zweifel-
hafter ist, da muss die kritische Feststellung des Thatsächlichen mit der Erforschung des
pragmatischen und genetischen Zusammenhanges Hand in Hand gehen. Denn wo die Ueber-
iieferung selbst zweifelhaft ist, da kann die Entscheidung nur durch die Auflassung eines ver-
nünftigen, der psychologischen Erfahrung entsprechenden Zusammenhanges gewonnen werden :
in diesen Fällen ist also die Geschichte der Philosophie, wie alle Geschichte, darauf ange-
wiesen, mit Zugrundelegung des quellenmässig Gesicherten sich auch in denjenigen Regionen
zu orientiren, mit denen die Ueberlieferung eine directe und gesicherte Fühlung verloren hat.
Die philosophiegeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts darf sich rühmen, diese Aufgabe
nach den Anregungen Schleiermachbr's durch die Arbeiten von H. Ritter, dessen Geschichte
der Philosophie (12 Bde. Hamburg 1829— 53) jetzt freilich veraltet ist, von Brandts und Zkller
über die antike, von J. E. Erdmann und Kuno Fischer über die neuere Philosophie gelöst zu
haben. Unter den zahlreichen Gesammtdarstellungen der Geschichte der Philosophie ist in
diesen Hinsichten die bei weitem zuverlässigste J. E. Erdmann's Grundriss der Geschichte
der Philosophie, 2 Bde. (3. Aufl.) Beriin 1878.
Eine vortreffliche, die Literatur in erschöpfender Vollständigkeit und guter Ordnung
sammelnde Bibliographie der gesammten Geschichte der Philosophie findet man in Ubber-
WKO*s Grundriss der Geschichte der Philosophie, 3 Bde. 7. Aufl., herausgegeben von M. Heinze
(Berlin 1886—88).
b) Die Erklärung des Thatsächlichen in der Geschichte der Philosophie ist entweder
pragmatisch oder culturhistorisch oder psychologisch, den drei Factoren entsprechend, welche
als die die Bewegung des Denkens bestimmenden oben aus einander gelegt wurden. Welche
dieser drei Erklärungsarten im einzelnen Falle anzuwenden ist, hängt lediglich von dem That-
bestände der Ueberlieferung ab : daher ist es unrichtig, die eine oder die andere zum alleinigen
Princip der Behandlung zu machen. Die pragmatische Erklärungsart wiegt bei Denjenigen
vor, welche in der ganzen Geschichte der Philosophie die Vorbereitung für ein bestimmtes
System der Philosophie sehen, so bei Hegel und seinen Schülern (s. oben S. 8), so vom
HsRBART^schen Standpunkte bei Chr. A. Thilo, Kurze pragmatische Geschichte der Philos.
2 Thie. (Coethen 1876 — 80). Die culturgeschichtliche Betrachtung und die Bezugnahme auf
die Probleme der Einzel Wissenschaften haben in der Auflassung der neueren Philosophie
besonders KuKO Fischer und W. Windelband betont.
(lanz unzulänglich als wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Philosophie
ist die rein biographische, welche nur eine der Persönlichkeiten nach der andern behandelt.
In neuerer Zeit ist sie durch die Schrift von G. H. Lewes, The history of philosophy from
Thaies to the present day (2 vs. London 1871) vertreten, ein Buch ohne alle historische Auf-
1 ) Die besonderen Fragmentsammlungen sind unten bei den einzelnen Philosophen er-
wähnt. Es wäre wünschenswerth, dass sie überall so vortrefflich wären, wie Usener's „Epi-
curea". — Von den Fragmenten der Vorsokratiker hat F. W. A. Mullach (Fragmenta philo-
sophorum Graecorum, 3 Bde. Paris 1860 — 81) eine sorgfältige, aber dem heutigen Stande der
Forschung nicht mehr ganz genügende Sammlung herausgegeben. — 2) Plut. Moralia, ed.
DCbker, Paris 1841. Diels, Dox. p. 272 ff. — 3) Ed. Bekker, Beriin 1847. — 4) Ed. Meineke,
Leipzig 1857—69. ~ 5) Ed. Cobbt, Paris 1850.
14 Einleitung.
Fassung und zugleich eine Parteischrift im Sinne des CoMTK'schen Positivismus. Auch die
Arbeiten der französischen Historiker (Damiron, Ferraz) haben gern diese Form der ge-
trennten, essayartigen Behandlung einzelner Philosophen, verlieren aber darüber nicht den
Entwicklungsgang des Ganzen aus den Augen *).
c) Am schwierigsten ist es die Principien festzustellen, nach denen die philosophisch-
kritische Beurtheilung der einzelnen Lehren stattzufinden hat. Wie jede Geschichte, so ist
auch die der Philosophie eine kritische Wissenschaft : sie hat nicht nur zu berichten und zu
erklären, sondern auch zu beurtheilen, was in der historischen Bewegung, wenn sie erkannt
und begriffen ist, als Fortschritt, als Ertrag zu gelten hat. Es giebt keine Geschichte ohne
diesen Gesichtspunkt der Beurtheilung, und das Zeugniss der Reife für den Historiker ist, dass
er sich dieses seines Gesichtspunktes der Kritik klar bewusst ist ; denn wo dies nicht der Fall
ist, da verfahrt er in der Auswahl seines Berichts und in der Charakterisirung des Einzelnen
nur instinctiv und ohne klare Nonn ").
Dabei versteht es sich von sich selbst, dass dieser Massstab der Beurtheilung nicht eine
Privatansicht des Historikers, auch nicht eine philosophische Ueberzeugung desselben sein
darf ; w^euigstens raubt die Anwendung einer solchen der danach geübten Kritik den Werth
wissenschaftlicher Allgemeingiltigeit. Wer sich dem Glauben hingiebt, die alleinige philo-
sophische Wahrheit zu besitzen oder wer von den Gewohnheiten der Specialwissenschaften
herkommt, in welchen allerdings ein sicheres Ergebniss die Beurtheilung der Versuche, die
dazu geführt haben, sehr einfach macht*), der mag wohl in Versuchung sein, air die vorüber-
wandelnden Gestalten auf das Prokrustesbett seines Systems zu spannen : wer aber mit offenem
historischen Blick die Arbeit des Denkens in der Geschichte betrachtet, den wird respektvolle
Scheu zurückhalten, die Heroen der Philosophie wegen ihrer Unkenntniss der Weisheit eines
Epigonen abzukanzeln^).
Dem äusserlichen Absprechen gegenüber hat die wissenschaftliche Geschichte der Philo-
sophie sich auf den Standpunkt der immanenten Kritik zu stellen, und deren Principien
sind zwei: die formal logische Consequenz und die intellectuelleFruchtbarkeit.
Das Denken eines jeden Philosophen ist an den Vorstollungszustand gebunden, in den
er hineinwächst, und unterliegt in seiner Entwicklung der psychologischen Nothwendigkeit :
die kritische Untersuchung hat festzustellen, wie weit es ihm möglich geworden ist, die ver-
schiedenen Elemente seines Denkens in üebereinstimmung mit einander zu bringen. Der
Widerspruch tritt in der intellectuellen Wirklichkeit fast nie direct so auf, dass ausdrücklich
dasselbe behauptet und auch verneint würde, sondern stets so, dass verschiedene Behauptungen
aufgestellt werden, die erst vermöge ihrer logischen Consequenzen auf directen Widerspruch
und sachliche Unvereinbarkeit füliren. Die Aufdeckung dieser Unzulänglichkeiten ist die
formale Kritik ; sie fallt häufig mit der pragmatischen Erklärung zusammen, weil diese Kritik
schon in der Geschichte selbst von den Nachfolgern vollzogen worden ist und deren Probleme
bestimmt hat.
Doch genügt dieser Gesichtspunkt nicht allein : er trifft als rein formal alle Ansichten,
die hinsichtlich eines Philosophen bezeugt sind, ausnahmslos, aber er giebt kein Kriterium der
Entscheidung darüber, worin die philosophische Bedeutung einer Lehre sachlich besteht: denn
es zeigt sich vielfach, dass die Wirkung der Philosophie gerade in Begriffen sich vollzogen hat,
die durchaus nicht als in sich fertig und widerspruchslos gelten dürfen, während eine Menge ein-
zelner Behauptungen, die zu beanstanden kein Anlass ist, für die geschichtliche Betrachtung
unbeachtet in der Ecke bleiben müssen. Grosse Irrthümer sind in der Geschichte der Philo-
sophie wichtiger als kleine Wahrheiten.
Denn darauf kommt es vor Allem an, was einen Beitrag geliefert hat zur Ausbildung
der menschlichen Weltanschauung undLebensbeurtheilung; diejenigen Begriffsbildungen sind
der Gegenstand der Geschichte der Philosophie, welche als Auffassungsformen und Urtheils-
normen sich dauernd lebendig erhalten haben und in denen damit die bleibende innere Structur
des menschlichen Geistes zu klarer Erkenntniss gekommen ist.
1) Als ein gutes Lehrbuch ist zu empfehlen A. Weber, Histoire de la philosophie euro-
peenne. 3. Aufl. Paris 1883. — 2) Dies gilt für jedes Gebiet der Geschichte, für die (1er Politik
und der Literatur gerade so wie für die der Philosophie. — 3) Als Beispiel möge darauf hin-
gewiesen werden, dass der verdiente Verfasser einer ausgezeichneten Geschichte der Princi-
pien der Mechanik, Ed. Dühring, in seiner „Kritischen Geschichte der Philosophie" (3. Aufl.
Berlin 1878) die ganze Willkür einer einseitigen Beurtheilung entfaltet hat. Aehnliches gilt
von der confessionellen Kritik, welche A. Stöckl, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie
(2 Bde. 3. Aufl. Mainz 1889) ausübt. — 4) Es kann nicht genug gegen die knabenhafte Ueber-
hebung protestirt Verden, mit der es eine Zeit lang in Deutschland Mode war, von den „Er-
rungenschaften der Jetztzeit" her auf die grossen Männer der griechischen und der deutschen
Philosophie herabzulächeln oder zu schimpfen; es war meist der Hochmuth der Unwissenheit,
welche keine Ahnung davon hatte, dass sie zuletzt doch nur von den Gedanken derjenigen
lebte, die sie schalt und höhnte.
§ 3. Eintheilung der Philosophie und ihrer Geschichte. 15
Dies ist denn auch der Massstafo, nach dem allein entschieden werden kann, welche
unter den oft sehr Yerschiedenartige Dinge betreffenden Lehren der Philosophen als die eigent-
lich philosophischen anzusehen sind, und welche andrerseits aus der Geschichte der Philo-
sophie auszuscheiden sind. Die Quellenforschung freilich hat die Pflicht, alle Lehren der
Philosophen sorgfaltig und vollständig zu sammeln, und damit der Erklärung das ganze Ma-
terial für die pragmatische, culturhistorische und psychologische Genesis derselben zu geben :
sber der Zweck dieser mühsamen Arbeit ist doch nur der, dass schliesslich das philosophisch
(Tieichgiltige als solches erkannt und dieser Ballast über Bord geworfen werde.
Insbesondere ist dieser Gesichtspunkt der wesentlich bestimmende für Auswahl und
IHirstellung in einem Lehrbuch, welches nicht die Forschung selbst geben, sondern ihre
Ergebnisse zusammenfassen soll.
§ 3. Eintheilung der Philosophie nnd ihrer Geschichte.
Es kann hier nicht die Absicht sein, eine systematische Eintheilung der
Philosophie vorzutragen, denn dieselbe würde doch in keinem Falle historische
Allgemeingiltigkeit besitzen können. Die Verschiedenheiten, welche in der Be-
stimmung des Begriffs, der Aufgabe und der Gegenstände der Philosophie im
Läufe der geschichtlichen Entwicklung obwalten, ziehen einen Wechsel auch der
Eintheilungen so nothwendig und selbstverständlich nach sich, dass dies keiner
besonderen Erläuterungen bedarf. Die älteste Philosophie kannte überhaupt
noch keine Gliederung. Dem späteren Alterthum war eine Eintheilung der Phi-
losophie in Logik, Physik und Ethik geläufig. Im Mittelalter und noch mehr in
der neueren Zeit werden vielfach die beiden ersten als theoretische Philosophie
zusammengefasst und der praktischen gegenübergestellt. Seit Kant beginnt sich
eme neue Dreitheilung in logische, ethische und ästhetische Philosophie durch-
zusetzen. Doch hangen diese verschiedenen Eintheilungen viel zu sehr von dem
saeUichen Gange der Philosophie selbst ab, als dass es sich verlohnte, dieselben
hier im Einzelnen au&uzählen.
Dagegen empfiehlt es sich, der historischen Darstellung wenigstens eine
lieb ersieht über den gesammten Umfang derjenigen Probleme voranzuschicken,
welche überhaupt, wenn auch in noch so verschiedenem Masse und verschiedener
Werthung, Gegenstand der Philosophie gewesen sind, — eine Uebersicht also,
för welche keine systematische Geltung in Anspruch genommen wird, sondern
nur der Zweck vorläufiger Orientirung massgebend ist.
!• Theoretische Probleme nennen wir alle diejenigen, welche sich
theils auf die Erkenntniss der Wirklichkeit, theils auf die Untersuchung des Er-
kennens selbst beziehen. In der Erkenntniss der Wirklichkeit aber werden die
allgemeinen Fragen, welche die Gesammtheit des Wirklichen betrefifen, von den-
jenigen unterschieden, die nur einzelne Gebiete der Wirklichkeit angehen. Mit
den ersteren, den höchsten Principien der Welterklärung und der auf ihnen be-
ruhenden allgemeinen Weltansicht beschäftigt sich die Metaphysik, von
Aristoteles erste, d. h. grundlegende Wissenschaft genannt, und mit dem jetzt
üblichen Namen nur wegen der Stellung bezeichnet, welche sie in der antiken
Sammlung der aristotelischen Werke „nach der Physik" einnahm. Vermöge
seiner monotheistischen Weltanschauung nannte Aristoteles diesen Wissenszweig
auch Theologie. Spätere haben die rationale oder natürliche Theologie
auch als Zweig der Metaphysik behandelt.
Die besonderen Gebiete der Wh-klichkeit sind die Natur und die Ge-
schichte. In der ersteren sind äussere und innere Natur zu unterscheiden : die
Probleme, welche die äussere Natur der Erkenntniss darbietet, bezeichnet man
16 Einleitung.
als kosmologische oder speciell als naturphilosophische, auch wohl als
physische. Die Erforschung der innei*en Natur, d.h. des Bewusstseins und
seiner Zustände und Thätigkeiten ist Sache der Psychologie. Die philo-
sophische Betrachtung der Geschichte bleibt im Rahmen der theoretischen Phi-
losophie nur, wenn sie sich auf Erforschung der im historischen Leben der Völker
obwaltenden Gesetze beschränkt: da aber die Geschichte das Reich zweck-
mässiger Handlungen der Menschen ist, so fallen die Fragen der Geschichts-
philosophie, sofern sich dieselbe mit dem Gesammtzweck der historischen
Bewegung und seiner Erfüllung beschäftigen will, unter die praktischen Probleme.
Die auf die Erkenntniss selbst gerichtete Untersuchung wird (im allge-
meinen Sinne des Wortes) Logik, auch wohl Noetik genannt. Beschäftigt
sich dieselbe mit der Art, wie das Wissen thatsächlich zu Stande kommt, so fallt
diese psychogene tische Betrachtung in den Bereich der Psychologie. Stellt
man dagegen die Normen auf, nach denen der VVahrheitswerth der Vorstellungen
beurtheilt werden soll, so nennt man diese die logischen Gesetze und bezeich-
net die daraufgerichtete Untersuchung als Logik im engeren Sinne. Die An-
wendung derselben ergiebt die Methodologie, welche die Vorschriften für die
planmässige Einrichtung der wissenschaftlichen Thätigkeit mit Rücksicht auf
die verschiedenen Erkenntnisszwecke entwickelt. Die Probleme endlich, welche
sich aus den Fragen über die Tragweite und die Grenze der menschlichen Er-
kenntnissfahigkeit und ihr Verhältniss zu der zu erkennenden Wirklichkeit erheben,
bilden den Gegenstand der Erkenntnisstheorie.
H. SiBBECK, Geschichte der Psychologie, l.Bd. in zwei Abtheilungen (Gotha 1880 — 84),
unvollendet, bis in die Scholastik hineinreichend.
K. Praktl, Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde. (Leipz.) 1855—1870, nur bis
zur Renaissance fortgeführt.
FR.HARMS,Die Philosophie in ihrer Geschichte I. Psychologie, II. Logik (Berlin 1877 u.81).
2. Praktische Probleme heissen im Allgemeinen diejenigen, welche aus
der Untersuchung der zweckbestimmten Thätigkeit des Menschen erwachsen.
Auch hier ist eine psychogenetische Behandlung möglich, welche Sache der Psy-
chologie ist. Dagegen ist diejenige Disciplin, welche das Handeln des Menschen
unter dem Gesichtspunkte der sittUchen Normbestimmung betrachtet, die Ethik
oder Moralphilosophie. Dabei pflegt man unter Moral im engeren Sinne
die Aufstellung und Begründung der sittUchcn Vorschriften zu verstehen. Da
sich aber alles sittUche Handeln auf die Gemeinschaft bezieht, so schhesst sich
an die Moral die Philosophie der Gesellschaft (für welche sich der
unglückliche Name Sociologie auf die Dauer doch durchzusetzen scheint) und
die Rechtsphilosophie. Insofern weiterhin das Ideal menschlicher Gemein-
schaft den letzten Sinn der Gescliichte ausmacht, ei-scheint, wie schon erwähnt,
auch die Geschichtsphilosophie in diesem Zusammenhange.
Zu den praktischen Problemen im weitesten Sinne des Wortes gehören endlich
auch diejenigen, welche sich auf die Kunst und die Religion beziehen. Für die
philosophische Untersuchung über das Wesen des Schönen und der Kunst ist seit
dem Ende des vorigen Jahrhunderts der Name Aesthetik eingeführt: wenn
die Philosopliie sich das religiöse Leben nicht in dem Sinne zum Vorwurf nimmt,
dass sie selbst eine Lehre vom Wesen der Gottheit geben mll, sondern in dem
Sinne einer Untersuchung über das religiöse Verhalten des Menschen, so bezeichnet
man diese DiscipUnals Religionsphilosophie.
§ 3. Eintheilung der Philosophie und ihrer Geschichte. 17
Fr. Scm^BiERMACHBRi Grandlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (Ges. W. III,
Bd. I, Berlin 18B4). L. v. Hennino, Die Principien der Ethik in historischer Entwicklung
(Berlin 1835). Fr. v. Raumer, Die geschichtliche Entwicklung der Begriflfe von Staat, Recht
und Politik (Leipz., 3. Aufl. 1861). E. Feuerlein, Die philos. Sittenlehre in ihren geschicht-
lichen Hauptformen. 2 Bde. (Tübingen 1857 — 59). P. Janet, Histoire de la philosophie morale
ft politique (Paris 1858). W. Whewell, Histoiy of moral science (Edinburg 1863). H. Sid-
r.wicK, The methods of ethics (London 1879). T^. Ziegler, Geschichte der Ethik, 2 Bde. (der
dritte steht noch aus; Strassburg 1881-86). K. Köstlin, Geschichte der Ethik (erst be-
j^nnen. L Bd. Tübingen 1887).
R. Zimmermann, Geschichte der Aesthetik (Wien 1858). — M. Schasler, Kritische
Geschichte der Aesthetik (Berlin 1871).
J. Bkrger, Geschichte der Religionsphilosophie (Berlin 1800).
Die Eintheilung der Geschichte der Philosophie pflegt sich an
die fiir die politische Geschichte übliche derart anzuschliessen, dass drei grosse
Perioden, antike, mittelalterliche und neuere Pliilosophie, unterschieden werden.
Doch liegen die Einschnitte, welche auf diese Weise gemacht werden, für die
Geschichte der Philosophie nicht so günstig, wie vielleicht für die politische.
Einerseits müssen noch andere, dem Wesen der Entwicklung nach ebenso wichtige
Gliederungen gemacht werden, andrerseits beansprucht dieUebergangszeit zwischen
Mittelalter und Neuzeit eine Verschiebung der Eintheilung nach beiden Seiten.
In Folge dessen wird hier die gesammte Geschichte der Philosophie in einer
durch die Darstellung selbst im Einzelnen näher zu erläuternden und zu be-
gründenden Weise nach folgender Eintheilung behandelt werden:
1) Die Philosophie der Griechen: von den Anfiingen des wissenschaft-
lichen Denkens bis zum Tode des Aristoteles, etwa 600 v. Chr. bis 322 n' Chr.
2) Diehellenistisch-römischePhilosophie: vom Tode des Aristoteles
bis zu den Ausgängen des Neuplatonismus, 322 v. Chr. bis etwa 500 n. Chr.
3) Die mittelalterliche Philosophie: von Augustinus bis Nicolaus
(^isanus: vom 5. bis zum 15. Jahrhundert.
4) Die Philosophie der Renaissance: vom 15. bis 17. Jahrhundert.
5) Die Philosophie der Aufklärung: von Locke bis zum Tode
Lessing's, 1689—1781.
6) Die deutsche Philosophie: von Kant bis Hegel und Herbakt,
1781-1820.
7) Die Philosophie des 19. Jahrhunderts.
Windel band, Geschichte der Philosophie.
18
I TheiL
Die Philosophie der Griechen.
Ohr. A. Brandis, Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Philosophie,
3 Thl. in 6 Bänden. Berlin 1835—66.
Dcrs,, Geschichte der Entwiekelun^en der griechischen Philosophie und ihrer Nach-
wirkungen im römischen Reiche, 2 Abth. Berlin 1862 — 66.
Ed. Zeller, Die Philosophie der Griechen. 3 Thl. in 6 Bänden, 1. u. 2. Bd. in 4,
3.-5. Bd. in 3 Aufl. Leipzig 1879—89.
A. ScuwEQLER, Gescliichte der griechischen Philosophie, herausg. von K. Köstlin,
3. Aufl. Freiburg i. Br. 1882.
L. Strümpell, Die Geschichte der griechischen Philosophie. 2. Abth. Leipzig 1854 — 61.
W. Windelband, Geschichte der alten Philosophie. Nördlingen 1888.
Ritter et Preller, Historia philosophiae graeco-romanae (Graccae), in 7. Aufl. heraus-
gegeben von ScHüLTESS und Wellmann (Gotha 1886—88), eine vorzügliche Zusammenstellung
der wichtigsten Quellen.
Wenn man unter Wissenschaft die selbständige und selbstbewusste Erkennt-
nissarbeit versteht, welche das Wissen um seiner selbst willen methodisch sucht,
so kann von einer solchen — abgesehen von einigen erst der neueren Kenntniss
sich erschliessenden Ansätzen bei den Völkern des Orients, insbesondere den
Chinesen und Indern *) — erst bei den Griechen und bei diesen etwa seit dem
Anfange des 6. Jahrhunderts v. Chr. G. gesprochen werden. Zwar fehlte es den
grossen Culturvölkern des früheren Alterthums weder an einer Fülle einzelner
Kenntnisse, noch an allgemeinen Anschauungen des Universums; aber mo jene
an der Hand der praktischen Bedürfnisse gewonnen und diese aus der mythischen
Phantasie erwachsen waren, so blieben sie unter der Herrschaft theils der täg-
lichen Noth theils der religiösen Dichtung, und beider eigenthümlichen Gebunden-
heit des orientahschen Geistes fehlte ihnen zu fruchtbarer und selbständiger Ent-
wicklung die Initiative der Individuen.
Auch bei den Griechen lagen die Verhältnisse ähnlich, bis um die erwähnte
Zeit der mächtige Aufschwung des nationalen Lebens die geistigen Kräfte dieses
begabtesten aller Völker entfesselte. Mehr noch als die Verfeinerung und Ver-
geistigung des Lebens, welche der aus dem Handel erwachsende Reichthum mit
sich fiihrte, erwies sich dabei die demokratische Entwicklung der Verfassungen
günstig, wodurch in leidenschaftlichen Parteikämpfen die Selbständigkeit indi-
vidueller Meinungen und Urtheile herangezogen und die Bedeutung der Persön-
1) Selbst wenn man zugiebt, dass die Anfange der Moralphilosophie bei den Chinesen
sich über das Moralisiren und besonders diejenigen <lor Logik bei den Indem sich über ge-
legentliche Reflexionen zu wissenschaftlicher Begriffsbildung erheben — worüber hier nicht
abgesprochen werden soll — , so bleiben dieselben dem in sich einheitlichen und geschlossenen
Verlaufe der europäischen Philosophie so fern, dass ein Lehrbucli keine Veranlassung hat,
darauf einzugehen. Die Literatur ist bei Ueberweo I, § 6 zusammengestellt.
I. Philosophie der Griechen. lö
lichkeit entwickelt wurde. Je mehr die üppige Entfaltung des Individualismus die
alten Bande des Gesammtbewusstseins, des Glaubens und der Sitte, lockerte und
die junge Cultur Griechenlands mit der Gefahr der Anarchie bedrohte, um so
mehr trat an die einzelnen, durch Lebensstellung, Einsicht und Charakter hervor-
ragenden Männer die Pflicht heran, durch eigene Besinnung das verloren gehende
Mass wieder zu gewinnen: diese ethische Reflexion fand in den lyrischen und
gnomischen Dichtern, besonders aber in den sog. sieben Weisen') ihre Ver-
treter. Auch konnte es nicht ausbleiben, dass eine ähnliche Bewegung sich ver-
selbständigender Individualmeinungen auf das schon vorher so vielgestaltige
religiöse Leben übergriff, in welchem der Gegensatz der alten Mysterienculte
und der aesthetischen Nationalmythologie so vielfache Anregungen zu besonderen
Gestaltungen gab. Schon in der kosmogonischen Dichtung^) wagte sich die
individuelle Phantasie des Dichters an eine eigene Ausmalung des Mythenhimmels,
(las Zeitalter der sieben Weisen begann seine ethischen Ideale in die Götterbilder
der homerischen Dichtung hinein zu deuten, und in der sittlich-religiösen Refor-
mation, welche Pythagoras') versuchte, trat in der äusseren Form einer Rückkehr
zn der alten Strenge des Lebens doch der neue Inhalt, welchen dasselbe gewonnen
hatte, um so deutlicher hervor.
Aus so gährenden Zuständen ist die Wissenschaft der Griechen geboren
worden, der sie den Namen der Philosophie gaben. Das selbständige Nachdenken
der Individuen dehnte sich von den Fragen des praktischen Lebens, unterstützt
durch die Wogungen der religiösen Phantasie, auf die Erkenntniss der Natur
aus und gewann erst in ihr jene Freiheit von äusseren Zwecken, jene Beschrän-
kung des Wissens in sich selbst, welche das Wesen der Wissenschaft ausmacht.'
Alle diese Vorgänge aber spielten sich hauptsächlich in den peripherischen
Theilen des griechischen Culturlebens, den Colonien, ab, welche dem sog. Mutter-
lande in der geistigen, wie in der materiellen Entwicklung voraus waren. In
Jonien, in Grossgriechenland, in Thrakien standen die Wiegen der Wissenschaft.
Erst nachdem in den Perserkriegen Athen mit der politischen auch die geistige
Hegemonie übernommen hatte, die es so viel länger bewahren sollte, als jene,
da zog (zur Zeit der Sophisten) der allen Musen geweihte Boden Attika's auch
die Wissenschaft an sich, die sich hier in der Lehre und Schule des Aristoteles
ToUendete.
Die Art und Weise, wie sich das Nachdenken zuerst an zweckfreier Be-
trachtung der Natur zu wissenschaftlicher Begriffsbildung erhob, brachte es mit
sich, dass die griechische Wissenschaft die ganze Frische jugendUcher Erkennt-
nissfreudigkeit zunächst den Problemen der Naturforschung zuwandte und dabei
begriffliche Grundformen für die Auffassung der äusseren Welt ausprfigte. Es
bedurfte erst theils der nachkommenden Reflexion auf das damit Geleistete und
nicht Geleistete, theils der gebieterischen Anforderungen, welche das öffentUchc
1) Die „sieben Weisen", unter denen am meisten Thaies, Blas, Pittakos und Solon
{genannt werden, während über die anderen die Tradition nicht einig ist, dürfen, Thaies aus-
t^enommen, noch nicht als Vertreter der Wissenschaft angesehen werden: Diog. Laert. I, 40;
Piaton, Protag. 343. — 2) Als der bedeutendste dieser kosmogonischen Dichter ist Ph e r c -
kydes von Syros anzusehen, der bereits zur Zeit der ersten Philosophen in Prosa schrieb :
doch ist auch seine Yorstellungsweise noch durchweg mythisch, nicht wissenscliaftlich. Seine
Fragmente hat Stürz (Leipzig 1834) gesammelt. — 3) Vgl. unten ii^ Eingang des I. Kapitels
diese« Theils.
2*
20 I. Philosophie der Griechen.
Leben an die zum socialen Factor herangereifte Wissenschaft stellte, um den Blick
der Philosophie nach innen zu wenden und das menschUche Thun zu ihrem Gegen-
stande zu machen. Konnte damit zeitweihg der reine Forschungstrieb der An-
fange gehemmt erscheinen, so entfaltete sich derselbe, nachdem es erst zu positiven
Resultaten auch auf dem Gebiete der Erkenntniss menschlicher InnerUchkeit
gekommen war, um so lebhafter und führte nun zu den grossen Systembildungen,
mit denen die rein griechische Philosophie abschloss.
Deshalb theilt sich die Philosophie der Griechen in drei Perioden: ei^e
kosmologische, welche von etwa 600 bis etwa 450 reicht, — eine anthro-
pologische, welche etwa die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts (450—400) aus-
füllt, — und eine systematische, welche die Entwicklung der drei grossen
Systeme der griechischen Wissenschaft, derjenigen von Demokrit, Piaton und
Aristoteles enthält (400—322).
Die Philosophie der Griechen bildet den theoretisch instructivsten Tlieil der gesammten
Geschichte der Philosophie, nicht nur deshalb, weil die in ihr erzeugten Gioindbegriffe blei-
bende Grundlagen aller ferneren Entwicklung des Denkens geworden sind und zu bleiben ver-
sprechen, sondern auch deshalb, weil in ihr gegenüber der, zumal anfangs, noch Verhältnisse
massig sehr geringen Menge des Kenntnissmaterials die in den Postulaten der denkenden
Vernunft selbst enthaltenen formalen Voraussetzungen zur scharfen Formulirung gelangen.
Darin besitzt die griechische Philosophie ihren typischen Werth und ihre didaktische
Bedeutung.
Diese Vorzüge treten schon in der Durchsichtigkeit und Einfachheit der Gesammtent-
wicklung hervor, welche den forschenden Geist zuerst nach aussen gezogen, dann auf sich
selbst zurückgeworfen und erst von hier aus zu tieferer Erfassung der gesammten Wirklichkeit
zurückkehrend erscheinen lässt.
Ueber diesen Gang der allgemeinen Entwicklung der griechischen Philosophie besteht
daher auch kaum irgend eine Controverse, wenn auch die verschiedenen Darstellungen die
'Periodeneinschnitte an verschiedene Stellen verlegt haben. Ob man mit Sokrates eine neue Pe-
riode beginnen lassen will oder ihn mit den Sophisten zusammen in diejenige der griechischen
Aufklärung einstellt, hängt schliesslich nur daran, ob man für die Eintheilung das (negative
oder positive) .Resultat oder die Gegenstünde des Philosophirens für massgebend ansehen will.
Dass aber Demokrit unter allen Umständen aus den „Vorsokratikern" ausgeschieden und der
grossen systematischen Zeit der griechischen Philosoj)hie zugerechnet werden muss, hat Verf.
in seiner Uebersicht über die „Geschichte der alten Philosophie" Kap. 5 begründet.
1. Kapitel. Die kosmologisclie Periode.
S. A. BvK, Die vorsokratische Philosophie der Griechen in ihrer organischen Gliederung.
2. Thl. Leipzig 1875-77.
Den nächsten Hintergrund für die Anfänge der griechischen Philosophie
haben die kosmogonischen Dichtungen gebildet, welche die Vorgeschichte des
gegebenen Weltzustandes in mythischer Einkleidung vortragen wollten und dabei
die herrschenden Vorstellungen über die stetigen Wandlungen der Dinge in der
Form von Erzählungen der Weltentstehung zur Geltung brachten. Je freier sich
dabei die individuellen Ansichten entwickelten, um so mehr trat zu Gunsten der
Betonung dieser bleibenden Verhältnisse das zeitliche Moment des Mythos zurück,
und es schälte sich schliesslich die Frage heraus, was denn nun der allen zeit-
lichen Wechsel überdauernde Urgrund der Dinge sei und wie er sich in diese
einzelnen Dinge verwandle oder dieselben in sich zurückverwandle.
An der Lösung dieser Frage hat zunächst die milesische Schule der
Naturforschung im 6. Jalirhundert geiirbeitet, aus der uns als die drei Haupt-
vertreter Thaies, Anaximander und Anaximenes bekannt sind. Mancherlei
offenbar seit lange in der Praxis der seefahrenden Jonier angesammelte Kennt-
nisse und viele eigene, eft feinsinnige Beobachtungen standen ihnen dabei zu Gebote,
1. Kosmologische Periode. 21
auch haben sie sich gewiss an die Erfahrung der orientalischen Völker, insbesondere
der Aegypter gehalten; mit denen sie in so nahen Beziehungen standen *). Mit
jugendlichem Eifer wurden diese Kenntnisse zusammengetragen. Das Haupt-
interesse fiel dabei auf die physicalischen Fragen, insbesondere auf die grossen
Elementarerscheinungen; fiir deren Erklärung viele Hypothesen ersonnen wurden,
daneben aber hauptsächlich auf geographische und astronomische Probleme, wie
die Gestalt der Erde, ihr Verhältniss zum Gestirnhimmel, das Wesen von Sonne,
Mond und Planeten und Art wie Ursache ihrer Bewegung. Dagegen finden sich,
nur schwache Zeichen eines der organischen Welt und dem Menschen zugewen-
deten Erkenntnisstriebes.
Solcher Art waren die Erfahrangsgegenstände der ersten „Philosophie **. Ganz fern
stand sie dem ärztlichen Wissen, das sich allerdings nur auf technische Kenntnisse und
Kunstfertigkeiten beschränkte und als priesterlich gehütete Geheimlehre in Orden und Schulen^
wie dei\jenigen von Rhodos, Kyrene, Kroton, Kos und Knidos, überliefert wurde. Die antike
Medio in, die ausdrücklich eine Kunst, aber keine Wissenschaft sein wollte (Hippokrates),
ist erst spät und nur ganz vorübergehend mit der philosophischen Gesammtwissenschafb in
Berührung gekommen. Vgl. Häser, Lehrbuch der Geschichte der Medicin I, 2. Aufl.
Jena 1875.
Ebenso selbständig gehen neben den Anfängen der antiken Philosophie diejenigen der
Mathematik einher. Die Sätze, welche den Milesiem zugeschrieben werden, machen mehr
den Eindruck einzeln aufgerafiler Kenntnisse, als eigener Forschungsergebnisse und sind
ganz ausser Beziehung zu ihren naturwissenschaftlichen und philosophischen Lehren. Auch in
den Kreisen der Pythagoreer sind offenbar die mathematischen Studien zunächst für sich
selbst betrieben worden, um dann freilich um so energischer in die Behandlung der allgemeiner
Probleme hineingezogen zu werden. Vgl.G. Cantor, Geschichte der Mathematik I (Leipz. 1880).
Die Bemühungen der Milesier, den einheitlichen Weltgrund zu bestimmen,
führten aber schon beiAnaximander über die Erfahrung hinaus zur Construc-
tion eines metaphysischen Erklärungsbegriffs, des ä;rstpov, und lenkten damit die
Wissenschaft von der Untersuchung der Thatsachenauf begriffliche Ueberlegungen
ab. Während Xenophanes, der Begründer der eleatischen Schule, die
Folgerungen zog, welche sich aus dem philosophischen Begriffe der Welteinheit
für das religiöse Bewusstsein ergeben, zersetzte Heraklitim schweren Ringen
mit dunklen, religiös gefärbten Anschauungen die Voraussetzung einer bleiben-
den Substanz und liess nur ein Gesetz des Wechsels als letzten Inhalt der Er-
kenntniss bestehen. Um so schärfer aber bildete auf der anderen Seite die elea-
tische Schule in ihrem grossen Vertreter Parmenides den Begriff des Seins zu
der rücksichtslosen Schroffheit aus, welche in der folgenden Generation der Schule
durchZenon vertheidigt undnur durchMelissos einigermassen abgeschwächt wurde.
Sehr bald aber traten nun eine Reihe von Bestrebungen hervor, welche das
durch diese Entfaltung der ersten metaphysischen Gegensätze bei Seite geschobene
Interesse der erklärenden Naturwissenschaft von Neuem in den Vordergrund
rückten. Sie gingen zu diesem Behufe wieder in umfassenderer Weise auf eine
Bereicherung der Kenntnisse aus, wobei sie mehr als vorher Beobachtungen,
Fragen und Hypothesen aus dem Bereiche des Organischen und Physiologischen
in's Auge fassten, und sie suchten mit ihren erklärenden Theorien zwischen den
begrifflichen Gegensätzen von Heraldit und Parmenides zu vermitteln.
1) Den Einfluss des Orients auf die Anfönge der griechischen Philosophie haben Gla-
DiscH (Die Religion und die Philosophie in ihrer weltgeschichtlichen Entwicklung. Breslau
1852) und Roth (Geschichte unserer abendländischen Philosophie. 2 Bde. Mannheim 1858 ff.)
überschätzt: in den einzelnen Kenntnissen sind sie gewiss nicht zu verkennen; dagegen sind
die wissenschaftlichen Begriffe durchaus selbständige Thaten des griechischen Denkens.
22 !• Philosophie der Griechen.
Aus diesen Bedürfhissen entstanden gegen die Mitte des 5. Jahrhunderts
neben einander und mit mancherlei positiven und polemischen Beziehungen zu
einander die Lehren Yon EmpedokleSy Anaxagoras und Leukippos, dem
Begründer der atomistischen Schule von Abdera. Die Mannigfaltigkeit dieser
Theorien und die offenkundige Abhängigkeit derselben von einander beweist bei
der räumUchen Entfemimg, in der die einzelnen Männer und Schulen sich von
einander befanden, bereits eine grosse Lebhaftigkeit des Austausches und des
literarischen Betriebes, dessen Bild sich um so reicher gestaltet, je mehr man
bedenkt, dass die sichtende Ueberlieferung offenbar nur die Erinnerung an das
Bedeutendste aufbewahrt hat und dass jeder der uns bekannt gebliebenen Namen
in Wahrheit einen ganzen Kreis wissenschaftlicher Arbeit bedeutet.
Eine eigenthümhche Nebenstellung hatten während der gleichen Zeit die
Pythagoreer, welche das durch den Gegensatz von Heraklit und den Eleaten
gegebene metaphysische Problem gleichfalls aufnahmen, die Lösung desselben
aber mit Hilfe der Mathematik zu finden hofften, und durch die Zahlenlehre,
als deren erster hterarischer Vertreter Philolaos bekannt ist, der weiteren Be-
wegung des Denkens eine Reihe der wichtigsten Motive hinzufügten. Auch machte
sich die ursprüngliche Tendenz ihres Bundes in ihren Lehren in der Weise fülil-
bar, dass sie den Werthbestimmungen schon einen grösseren Einfluss auf diesel-
ben einräumten. Zwar haben sie so wenig, wie die ganze Philosophie dieser Pe-
riode, eine wissenschaftliche Behandlung ethischer Fragen versucht, aber die
Kosmologie, welche sie auf ihre mit Hilfe der Mathematik bereits sehr weit ent-
wickelten astronomischen Vorstellungen gründeten, ist doch zugleich von ästhe-
tischen und ethischen Motiven durchdrungen.
Aus der milesischeu Schule sind uns nur die drei Namen Thaies, Auaximander,
Anaximeues überliefert. Danach scheint diese Schule in der damaligen Hauptstadt Joniens
während des ganzen 6. Jahrhunderts geblüht zu haben und mit der Stadt selbst, welche
494 nach der Schlacht von Lade durch die Perser verwüstet wurde, zu Grunde gegangen
zu sein.
Thaies, aus altem Handelsgeschlechte, soll die Sonnenfinstemiss 585 vorausgesagt
haben und hat die Invasion der Perser in der Mitte des 6. Jahrh. überlebt. Vielleicht hatte er
Acgypten gesehen; an mathematischen imd physicalischen Kenntnissen fehlte es ihm nicht.
Schriften von ihm hat schon Aristoteles nicht gekannt.
Anaximander scheint wenig jünger gewesen zu sein: von seiner Schrift itspl (puosio^
ist nur ein seltsames Bruchstück erhalten. Vgl. NeuhXusbe (Bonn 1883). — Büsoen, Ueber
das aicstpov des A. (Wiesbaden 1867).
Die Lebenszeit des Anaximenesist schwierig zu bestimmen, sie fällt wahrscheinlich
etwa 560 — 500. Auch aus seiner Schrift icept (pooetoi; ist fast nichts erhalten.
Die spärlichen Nachrichten über die Theorien der Milesier verdanken wir ausser Ari-
stoteles (im Anfang der Metaphysik) hauptsächlich dem Oommentar des Simplicius. Vgl.
H. Ritter, Geschichte der jonischen Philosophie. Berlin 1821. — R. Skydel, Der Fortschritt
der Metaphysik unter den ältesten jonischen Philosophen. Leipzig 186L
An die Spitze der eleatischen Schule pflegt Xenophanes gesetzt zu werden, der
jedenfalls an ihrer Begründung betheiligt war. (leboren um 570 in Kolophon, floh er 546 bei
der persischen Eroberung Joniens und fand als wandernder Rhapsode seinen Unterhalt und
zuletzt in dem von flüchtigen Joniern in Grossgriechenland gegründeten Elea eine bleibende
Stätte. Er ist nach 480 gestorben. Die Fragmente seiner theils gnomischen, theils philo-
sophischen Dichtungen hat Karsten (Amsterdam 1835) gesammelt. Ueber ihn Fr. Kern
(Naumburg 1864, Oldenburg 1867, Danzig 1871, Stettin 1874 und 77). — J. Frbudenthal
(Breslau 1886).
Parmenides (etwa 515 geb.) ein Eleat aus vornehmer Familie, bedeutende Persön-
lichkeit, dem Pythagoreerbunde nicht femstehend, schrieb um 470. Die Fragmente seines
Lehrgedichts haben Peyron (Leipzig 1810) und H. Stein (Leipzig 1864) gesammelt.
Zenon's (etwa 490 — 430) verlorene Schrift war, vermuthlich die erste, in Kapitel ein-
getheilt und dialectisch geordnet. Auch er stammte aus Elea.
1. Kosmologischc Periode. 23
Meli 88 08 dagegen war der 8amische Feldherr, der 442 über die Athener siegte. Ueber
seinen persönlichen Zusammenhang mit der eleatischen Schule ist nichts bekannt.
Die geringen Schriftfragmente der Eleaten werden durch Berichte des Aristoteles,
Simplicius u. A. einigcrmassen ergänzt. Die sehr vorsichtig zu benutzende pseudoaristo-
telische Schrift De Xenophane Zenone Gorgia (Arist. Berl. Ausg. 974 ff.) berichtet im ersten
Kap. vcrmuthlich über Melissos, im zweiten aus sehr durch einander gewürfelten Quellen über
Zenon, im dritten über Gorgias.
Herakleitos von Ephesos, „der Dunkle" , etwa 536—470, gab die hohe Stellung, welche
er seiner Geburt verdankte, aus Widerwillen gegen die immer mehr zur Herrschaft gelangende
Demokratie auf und schrieb in grollender Müsse während des letzten Jalirzehnts seines Lebens
eine Schrift, deren Verständniss schon die Alten für schwierig erklärten und von der uns nur
Bruchstücke von oft sehr grosser Vieldeutigkeit erhalten sind. Gesammelt und gesichtet
von P. ScHUSTKR (Leipzig 1873) und J. Bywateb (Oxford 1877). — Vgl. Fr. Schleiermachbr
(Ges. W. m. Abth. Bd. 2, S. 1-146). — J. Bernays (Ges. Abhandlungen Bd. I, 1885). —
F. Lassalle (2 Bde. Berlin 1858). — £. Pkleiderer (Berlin 1886).
Der erste Dorier in der Geschichte der Philosophie istEmpedokles von Agrigent, etwa
490—430, als Staatsmann, Arzt und Wunderthäter eine priesterlich und sehcrhafb angesehene
Persönlichkeit, auch wohl nicht ohne Beziehungen zu der sicilischcn Rednerscbulc, aus der die
Namen Korax und Tisias bekannt sind, hat ausser seinen Katharmen ein Lehrgedicht hinter-
lassen, dessen Fragmente von Sturz (Leipzig 1805), Karsten (Amsterdam 1838) und Stein
(Bonn 1852) herausgegeben wurden.
Anaxagoras aus Klazomenae (500 bis nach 430) ist gegen die Mitte des 5. Jahr-
hunderts in Athen ansässig geworden, wo er mit Perikles befreundet wurde. Im Jahre 434
musste er, der Asebie angeklagt, die Stadt verlassen und gründete eine Schule in Lampsakos.
Die Fragmente seiner Schrift icepl cpuseiu^ haben Schaubach (Leipzig 1827) und Schorn (Bonn
1829) gesammelt Vgl. Breier (Berlin 1840), Zevort (Paris 1843).
Von der Persönlichkeit des Leukippos ist so wenig bekannt, dass schon im Alterthum
selbst seine Existenz bezweifelt wurde. Die grosse Ausführung der atomistischen Lehre durch
Demokrit (s. cap. III) hatte ihren Urheber völlig verdunkelt. Doch sind die Spuren des
Atomismus in der gesammten Gcdankenbildung nach Parmcnidcs sicher zu erkennen. Leu-
kippos, in Abdera, wenn nicht geboren, so doch als Haupt der Schule thätig, aus der später
Protagoras und Demokrit hervorgingen, muss ein, vielleicht sogar etwas älterer Zeitgenosse
von Empedokles und Anaxagoras gewesen sein. Ob er etwas geschrieben hat, bleibt unsicher.
Vgl. DiELS, Verh. der Stett. rhilol. Vers. 1886. — A. Brieger, Die Urbewegung der Atome
(Halle 1884). — H. Liepmann, Die Mechanik der leucipp-demokritischen Atome (Leipzig 1885).
Der pythagoreische Bund ist gegen Ende des 6. Jahrhunderts zuerst in den
Städten Grossgrieohenlands als eine religiös-politische Genossenschaft hervorgetreten. Sein
Gründer war Pythagoras aus Samos, der, etwa 580 geboren, nach langen Reisen, die ihn vcr-
muthlich auch nach Aegypten führten» die aristokratische Stadt Kroton zum Ausgangspunkte
eines Reformationsversuchs machte, welcher eine Läuterung des sittlichen und religiösen
Lebens zum Ziele hatte. Von den inneren Verhältnissen des Bundes sind wir erst durch späte
Erzählungen (Jamblichus, de vita Pythagorica und Porphyrius, de vita Pythagorac, herausg.
von KiESLiNO, Leipzig 1815 — 16) unterrichtet, deren Glaubwürdigkeit bedenklich ist: sicher
aber scheint zu sein, dass schon der alte Bund seinen Mitgliedern bestimmte Verpflichtungen
auch für das Privatleben auferlegte und eine gemeinsame Beschäftigung mit geistigen Dingen,
insbesondere mit Musik und Mathematik einführte. Die äusseren Verhältnisse des Bundes
gestalteten sich in Folge seiner politischen Stellung (worüber B. Krischk, Göttingen 1830) zwar
anfangs sehr günstig, indem nach Eroberung des demokratischen Sybaris 509 Kroton eine Art
liegemonischer Bedeutung in Grossgriechenland gewann ; mit der Zeit aber zogen die Pytha-
goreer in den leidenschaftlichen Parteikämpfen dieser Städte den Kürzeren und erlitten mehr-
lach heftige Verfolgungen, die den Bund während des 4. Jahrhunderts schliesslich zersprengten.
Auf Pythagoras selbst, der etwa 500 starb, sind philosophische Lehren nicht zurück-
zuführen, so sehr auch spätere Mythenbildung ihn zum Ideal aller hellenischen Weisheit zu
machen suchte (E. Zeller in Vortr. u. Abhandl. I, Leipzig 1865). Piaton und Aristoteles
wissen nur von einer Philosophie der Pythagoreer. Als Haux)tvertreter derselben erscheint
Philolaos, der etwas jünger als Empedokles und Anaxagoras gewesen zu sein scheint: über
seine Lebensumstände ist fast nichts bekannt; auch die Fragmente seiner Schrift (ges. von
Bokckh, Berlin 1819, vgl. C. Schaarschmidt, Bonn 1864) nutcrliegen vielfachen Zweifeln.
Von sonstigen Anhängern des Bundes sind nur die Namen bekannt; die spätesten
Vertreter geriethen in ein so nahes Verhältniss zur platonischen Akademie, dass sie in philo-
sophischer Hinsicht fast ganz derselben angehörten. Unter ihnen ist Archytas von
Tarent, der bekamite Gelehrte und Staatsmann, zu nennen. Ueber dessen ebenfalls sehr
zweifelhafte Frwnente vgl. G. Hartenstein (Leipzig 1833), Fr. Petersen (Zeitschr. f. Alter -
thumsk. 1836), 0. Gruppe (Berlin 1840). Fr. Beckmann (Beriin 1844).
24 I- Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
Die Nachrichten über die Lehre der Pythaf^oreer sind, zumal in den späteni Berichten,
durch so viel fremde Zusätze getrübt, dass vielleicht au keinem Punkte der antiken Philosophie
die Feststellung des Thatsächlichen so vielen Schwierigkeiten begegnet wie hier. Selbst wenn
man jedoch das Zuverlässigste (Aristoteles und seine best unterrichteten Erklärer, besonders
Simplicius) herausschält, so bleiben, namentlich im Einzelnen, viele dunkle Punkte und wider-
spruchsvolle Angaben übrig. Der Grund davon liegt vermuthlich darin, dass in der zeitweilig
sehr ausgebreiteten Schule verschiedene Richtungen neben einander herliefen, und dass in
diesen der allgemeine Grundgedanke, dessen Urheberschaft bei Philolaos zu suchen sein dürfte,
verschiedene Ausführung fand. Es wäre verdienstvoll, eine solche Sonderung zu versuchen.
H. RiTTEB, Geschichte der pythagoreischen Philosophie, Hamburg 1Ö2Ü. — Rothen-
BücHEii, Das System der Pythagoreer nach Aristoteles, Berlin 1867. — E. Oüaignet, Pythagorc
et la Philosophie pythagoricienne. 2 Bde. Paris 1873.
% 4. Die Begriffe des Seins.
Die Thatsache der Verwandlung der Erfahrungsdinge in einander ist der
Stachel für die ersten philosophischen Ueherlegungeu gewesen, und die Verwun-
derung *) darüber musste in der That einem Volke von der Beweglichkeit und
der vielseitigen Naturerfahrung der Jonier früh aufsteigen. Die jonische Philo-
sophie hat dieser Thatsache, der das Grundmotiv ihres Nachdenkens entsprang,
den lebhaftesten Ausdruck gegeben in Heraklit, der nicht müde geworden zu sein
scheint^), für diese Unbeständigkeit ausnahmslos aller Dinge und namentlich für
das Umschlagen der Gegensätze in einander die zugespitztesten Formulirungen
zu' suchen. Wo aber der Mythos dieser Anschauung das Gewand eines fabuliren-
den Berichtes über die Weltbildung gab, da fragte die Wissenschaft nach dem
bleibenden Grunde aller dieser Veränderungen und tixirte diese Frage in dem
Begriffe des Weltstoffs, der diese Verwandlungen erleide, dem alle einzelnen
Dinge entsprängen und in den sie sich wieder zurückverwandelten (af/xi]). Still-
schweigend war in diesem Begriffe^) die Voraussetzung der Einheitlich-
keit der Welt enthalten : ob die Milesier*) schon dieselbe zu rechtfertigen such-
ten, wissen wir nicht. Erst ein späterer eklektischer Nachzügler '^) hat diesen
Monismus durch die Umsetzung aller Dinge in einander, durch den ausnahms-
losen Zusammenhang aller Dinge mit einander zu rechtfertigen gesucht.
1. Dass aber dem ganzen Naturprocess ein einheitUcher Weif stoff zu Grunde
hege, erscheint in der alten Ueberlieferung als eine selbstverständliche Voraus-
setzung der jonischen Philosophie: es handelte sich für diese nur darum, zu be-
stimmen, was dieser Grundstoff sei. Da lag es denn am nächsten, ihn unter den
erfahrungsmässig gegebenen zu suchen, und so erklärte Thaies dafür das
AVasser, Anaximene s die Luft, Massgebend war bei dieser Wahl vermuth-
lich nur die Beweglichkeit, Verwandelbarkeit und scheinbar innere Lebendig-
keit ^) von Wasser und Luft, auch dachten die Milesier dabei offenbar weniger
an die chemischen Eigenthümhchkeiten des Wassers und der Luft, sondern nur
an die betreffenden Aggregatzustände ''). Während das Feste als das an sich
1) Vgl. über den philosophischen Werth des ^aoadCeiv Arist. Met. I 2, 982 b 12. —
2) Fragm. (Schust.) 41—44, 60, 63, 67.— 3) Den Aristoteles Met. I 3, 983 b 8 nicht ohne Bei-
mischung eigener Kategorien definirt hat. — 4) Den Ausdruck apX"'!» der übrigens die Erinnerung
an die zeitlichen Phantasien der Kosmologen an sich trägt, soll nach Simplicius zuerst Auaxi-
mander gebraucht haben. — 5) Diogenes von ApoUonia, vgl. Simpl. phys. (D.) 32«" 151, 30
und Arist. Gen. et Corr. I 6, 322b 13. — 6) Schol. in Arist. 514a 33. — 7) Für 58ü>p wird
häufig ü-ypov substituirt. Ueber den orf]p des Anaximenes lauton die Berichte so, dass man ver-
sucht hat, seine metaphysische „Lufb** von der empirischen zu unterscheiden: Ritter T, 217*,
Bbaxdis I, 144.
§ 4. Begriffe des Seine. (Thaies, Anaximander, Anaximenes.) 25
Todte nur von aussen Bewegte erscheint, macht das Flüssige und Flüchtige den
Eindruck selbständiger Beweglichkeit und Lebendigkeit: und die monistische
Voreingenommenheit dieses ersten Philosophirens war so gross, dass die Milesier
gar nicht daran dachten, nach einem Grunde der unaufhörlichen Verwandlung
des Weltstoffs zu fragen, sondeni diese, wie das Geschehen überhaupt, als eine
selbstverständliche Thatsache hinnahmen, deren einzelne Formen sie höchstens
beschrieben. Der Weltstoff galt ihnen als ein in sich Lebendiges, sie dachten ihn
sich so selbstbelebt, wie im Einzelnen die Organismen sich darstellen ^), und des-
halb pflegt ihre Lehre vom Standpunkt der späteren Begriffsscheidung aus als
Hylozoismus charakterisirt zu werden.
2. Fragen wir aber, weshalb Anaximenes, dessen Lehre sich, wie die des
Thaies, in den Grenzen der Erfahrung gehalten zu haben scheint, an die Stelle
des Wassers die Luft setzte, so erfahren wir'^), dass er in ihr ein Merkmal zu
finden glaubte, das dem Wasser abging, das aber sein Vorgänger Anaximander
für den Begriff des Urstoffs als unerlässUch postulirt hatte: dasjenige der Un-
endlichkeit. Als Motiv dieses Postulats des Anaximander wird das Argu-
ment berichtet, dass ein endlicher Weltstoff sich in der unablässigen Reihenfolge
von Eraeugungen erschöpfen würde ^). Anaximander aber hatte auch eingesehen,
dass diese Anforderung des Begriffs der ap/nj von keinem der wahrnehmbaren
Stoffe ei-fiillt werden könne, und er hatte deshalb den Weltstoff über alle Er-
fahrung hinausgesetzt. Er behauptete kühnlich die Realität eines Urgrundes der
Dinge, welcher alle Eigenschaften besässe, die nothweudig seien, wenn man den
Wechsel der Erfahrungswelt aus einem Bleibenden, selbst allem Wechsel Ueber-
hobenen ableiten wolle, auch wenn man einen solchen unter den erfahrenen nicht
fände. Er zog aus dem Begriffe der apyTj die Consequenz, dass, wenn demselben
kein Gegenstand der Erfahrung entsprach, er trotzdem zur Erklärung der Er-
fahrung als liinter derselben wirkUch und sie bedingend angenommen werden
niüsste. Er nannte darum den Weltstoff „das Unendliche" {t6 äiustpov) und
schrieb ihm alle die begrifflich postulirten Merkmale der äp-pi zu : Unentstanden-
heit und Unvergänghchkeit, Unerschöpflichkeit und Unzerstörbarkeit.
Der in dieser Weise von Anaximander construirte Begriff der Materie
ist jedoch nur in der Hinsicht klar, dass er die räumliche Unendlichkeit und die
zeitliche Anfangs- und Endlosigkeit in sich enthalten und damit das Merkmal
des Allumfiassens und Allbestimmens *) vereinigen soll: dagegen ist er unauf hell-
bar hinsichtlich der qualitativen Bestimmung, welche der Philosoph etwa
darunter hatte verstanden Avissen wollen. Sj)ätere Nachrichten legen die Deutung
nahe, er habe ausdinicklich eine qualitative Unbestimmtheit des Urstoffs behaup-
tet (aöptotoc)^), während die Angaben des Aristoteles *) mehr für die Annahme
einer durchweg ausgeglichenen und deshalb im Ganzen indifferenten Mischung
aller empirischen Stoffe sprechen. Das Wahrscheinliche ist hier noch, dass Ana-
ximander die unklare Vorstellung des mythischen Chaos, welches Eins und doch
1) Plut. plac. I, 3 (Doxogr. D. 278). Vielleicht ist auch dies bei der Vermuthung des
Aristoteles, Met. I 3, 983b 22 gemeint. — 2) Simpl. phys. (D.) 6r 24, 26. — 3) Plut. Plac. I 3
(Doxogr. D. 277). Aristot. Phys. III 8, 208 a 8. — 4) Arist. phys. III 4, 203 b 7. — 5) Schol.
in Arist. 514 a 33. Herbart, Einleitung in die Philosopliie. Ges. W. I, 196. — 6) Met. XII 2,
1069 b 18 und besonders Phys. 1 4, 187 a 20. Vgl. auch Simpl. phys. (D.) 33r 154, 14 (nach
Theophrast). Näheres über diese viel verhandelte Controverse wird noch unten (§ 6) aur
Sprache kommen.
26 !• Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
auch Alles ist, begrifflich reproducirt hat, indem er als den Weltstoff eine unend-
liche Körpermasse annahm, in der die verschiedenen empirischen Stoffe so
gemischt seien, dass ihr im Ganzen keine bestimmte Qualität mehr zugeschrieben
werden dürfe, dass aber deshalb auch die Ausscheidung der EinzelquaUtäten aus
dieser selbstbewegten Materie nicht mehr als eigentliche quaUtative Veränderung
derselben angesehen werden könnte. Damit wäre allerdings der Begriff der
Welteinhcit in qualitativer Hinsicht aufgegeben und der späteren Entwicklung
wesentlich vorgearbeitet gewesen.
3. Noch ein weiteres Prädikat gab Anaximander dem Unendliclien : tö
ö-stov. Als eine letzte Erinnerung an den religiösen Vorstellungsheerd, dem das
wissenschaftliche Nachdenken entsprang, zeigt es zum ersten Mal die in der Ge-
schichte stetig wiederkehrende Neigung der Philosophen, den höchsten Welt-
erkläruugsbegriff, zu dem sie die Theorie geführt hat, als „Gottheit" anzuschauen
und ihm damit zugleich eine Weihe für das rehgiöse Bewusstsein zu geben.
Anaximauder's Materie ist der erste philosophische Gottesbegriff, der erste, noch
ganz im Physischen stecken bleibende Versuch, die Gottesvorstellung aller
mytliischen Form zu entkleiden.
Indem sich aber so das religiöse Bedürfniss in der metaphysischen
Begriffsbestimmung aufrecht erhielt, wurde die MögUchkeit einer Einwirkung der
Resultate der Wissenschaft auf das religiöse Leben um so näher gelegt, je mehr
dieselben einem darin bisher nur dunkel und unsicher waltenden Triebe ent-
gegenkamen. Die Umwandlung, welche die griechischen Mythen sowohl im Sinne
der kosmogonischen Phantasie, als auch in demjenigen der ethischen Deutung
erfahren hatten, drängte überall auf eine monotheistische Zuspitzung hin (Phe-
rekydes, Solon) : und dieser Bewegung wurde nun ilir Schluss^rgebniss, der klar
ausgesprochene Monismus, von der Wissenschaft dargeboten.
Dies Verhältniss hat Xenophanes zum Ausdruck gebracht, kein Denker
und Forscher, aber ein phantasievoller und überzeugungsstarker Jünger der
Wissenschaft, der die neue Lehre von Ost nach West trug und ihr eine durchweg
religiöse Färbung gab. Seine Behauptung des Monotheismus, die er als
begeisteile Anschauung dahin aussprach ^), dass, wohin er auch blicke. Alles
ihm immer in das eine Wesen ([ttav etc ^ootv) zusammenfliese, nahm nun aber
gleich die scharf polemische Wendung gegen den Volksglauben, welche ihn haupt-
sächlich literarisch charakterisirt. Der Spott, welchen er geistvoll über den
Anthropomorphismus der Mythologie ausgoss ^), der Zorn, womit er die Dichter
als die Bildner dieser mit allen Schwächen und Lastern der Menschennatur aus-
gestatteten Göttergestalten verfolgte*), — sie beruhen auf einer Gottesvorstellung,
welche das höchste Wesen in leibhcher wie in geistiger Hinsicht als unvergleich-
lich mit dem Menschen betrachtet haben will. Dunkler wird Xenophanes, wenn
er zu positiven Bestimmungen übergeht. Einerseits wird die Gottheit als iv xal
Tuav mit dem Weltall identificirt und diesem Weltgott dann die Gesammtheit
der Prädikate der milesischen ipyri (Ewigkeit, Ungewordenheit, Unvergänglich-
keit) zugeschrieben, andrerseits werden der Gottheit theils räumliche Eigen-
schaften wie die Kugelgestalt, theils aber psychische Functionen zugeschrieben,
in denen die Allgegenwart des Wissens und vernünftigen Leitens der Dinge aus-
1) Timon bei Scxt. Enip. Pyrrh. hyp.1, 224. - 2) Clem. Alex. Strom. V, 601. - 3) Sext.
Enip. adv. raath. IX, 193.
§ 4. Begriffe des Seins, (Xenophanes, Heraklit.) 27
gedrückt wird. In dieser Hinsicht erscheint der Weltgott des Xenophanes nur
als der höchste unter den übrigen „Göttern und Menschen".
OfiFenbart sich schon darin eine vorwaltend theologische Wendung der
Philosophie, so zeigt sich der Austausch des metaphysisch-naturwissenschafthcheu
gegen den religiösen Gesichtspunkt von Anaximander zu Xenophanes in zwei
wesentlichen Abweichungen. Der Begriff des Weltgottes ist für den letzteren
Gegenstand reUgiöser Verehrung und kaum noch Mittel des Naturverständnisses.
Der Sinn für die Naturerkenntniss ist bei dem Kolophonier gering, seine Vor-
stellungen zum Theil selir kindhch und den Milesiem gegenüber zurückgeblieben.
Und so war ihm das Merkmal der Unendlichkeit; dessen die milesische Wissen-
schaft in dem Weltstoff zu bedürfen meinte, entbelirlich ; dagegen schien es ihm
der Würde des göttlichen Wesens angemessener *), dasselbe in sich begrenzt, ganz
in sich geschlossen, folghch in räumHcher Hinsicht kugelgestaltig zu denken. Und
während die Milesier den Urgrund der Dinge als von sich aus ewig bewegt und
in sich zu lebendiger Mannigfaltigkeit gestaltet dachten, strich Xenophanes dies
Postulat der Naturerklärung und erklärte den Weltgott für unbewegKch und in
allen seinen Theilen vollkommen gleichartig. Wie er sich freihch damit verein-
bar die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge gedacht hat, an deren Bealität er nicht
zweifelte, das muss daliingestellt bleiben.
4. Der milesische Begriff der Weltsubstanz hatte, wie es der Begriff der
Veränderung verlangt, die Momente des Sich-selbst-gleichbleibens und der selb-
ständigen Veränderlichkeit ohne klare Abgrenzung mit einander vereinigt : bei
Xenophanes wurde das erste Moment isolirt ; hinsichthch des zweiten geschah
dasselbe durch Heraklit. Seine Lehre setzt die Arbeit der Milesier, von deren
Abschluss sie aber durch eine Generation getrennt ist, in der Weise voraus, dass
das Bestreben derselben, zur Begriffsbestimmung eines bleibenden Weltgrundes
zu gelangen, als aussichtslos erkannt worden ist. Es giebt nichts Bleibendes
weder in der Welt noch in ihrem Gesammtbestande. Nicht nur die einzelnen
Dinge, sondern auch das Weltall als Ganzes ist in ewiger, unablässiger Umwälzung
begriffen: Alles fliesst und Nichts bleibt. Man kann von den Dingen nicht
sagen, dass sie sind; sie werden nur und vergehen in dem ewig wechselnden Spiele
der Weltbewegung. Was also bleibt und den Namen der Gottheit verdient, das ist
kein Ding und kein Stoff, sondern die Bewegung, das Geschehen, dasWe r d e n selbst.
Der starken Zumuthung, welche mit dieser Wendung an die Abstraction
gemacht zu sein scheint, kam aber bei Heraklit die sinnliche Anschauung ent-
gegen, in welcher sich ihm diese Bewegung darstellte: diejenige des Feuers.
Die Mitwirkung desselben bei der Umsetzung der Naturdinge in einander war
schon den Milesiem nicht entgangen; dazu mochten altorientalische mythische
Voratellungen hinzutreten , die der Contact mit den Persern den Joniern jener
Tage besonders nahe brachte. Wenn aber Heraklit die Welt für ein ewig leben-
diges Feuer, das Feuer also für das Wesen aller Dinge erklärte, so versteht er
unter dieser apx^ nicht einen alle seine Verwandlungen überdauernden Stoff, son-
dern eben die züngelnde Verwandlung selbst, das Auf- und Abschweben des
Werdens und Vergehens *).
1) Hippol. Ref. I, 14. (Doxogr. [DJ 565). An andern Stellen heisst es wieder, er habe
die Gottheit weder begrenzt noch unbegrenzt gedacht haben wollen (?). — 2) Die Schwierig-
keit, einer solchen substratlosen Bewegung, einem blossen Werden die höchste Bealität und
28 I. Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
Dabei aber nimmt diese Vorstellung doch zugleich noch festere Gestalt an,
indem Heraklit viel energischer als die Milesier hervorhob, dass dieser Wechsel
nach bestimmten Verhältnissen und in einer immer sich gleich bleibenden Reihen-
folge sich vollzieht *). Dieser Rhythmus des Geschehens (das, was spätere Zeiten
die Gesetzmässigkeit der Natur genannt haben) ist also das einzig Dauernde; er
wird von Heraklit als das Geschick (sijiapijiivTj), als die Ordnung (StxYj), als die
Vernunft (Xö^oc) der Welt bezeichnet. Diese Bestimmungen, wonach physische,
ethische und logische Weltordnung noch als identisch erscheinen, beweisen nur
den unentwickelten Zustand des Denkens, welches die verschiedenen Motive noch
nicht zu sondern weiss : der Begriff aber, den HerakUt mit voller Klarheit er-
fasst und mit der ganzen Strenge seiner herben Persönlichkeit durchgeführt hat,
ist derjenige der Ordnung, ein Begriff jedoch, dessen Geltung für ihn ebenso
Sache der Ueberzeugung, wie der Erkenntniss wai\
5. In sichtUchem Gegensatz zu dieser Lehre des Ephesiers ist nun von
Parmenides, dem Haupte dereleatischen Schule und dem bedeutendsten Denker
dieser Periode, der Begriff des Seins herausgearbeitet worden. Doch ist es nicht
leicht, die Formulirung desselben aus den wenigen Fragmenten seines Lehr-
gedichts zu reconstruiren , dessen ganz einziger Charakter in der Verbindung
trockenster Abstraction mit grossartiger, bilderreicher Phantasie besteht. Dass
es ein Sein giebt ßozi ^dp sivat), ist für den Eleaten ein begriffliches Postulat von
so zwingender Evidenz, dass er diese Behauptung nur Iiinstellt, ohne sie zu be-
weisen, und dass er sie nur durch eine negative Wendung erläutert, welche uns
erst über den Sinn seines Hauptgedankens völligen Aufschluss giebt. Das „Nicht-
sein'^ ((i-Yj eivat), fügt er nämlich hinzu, oder das Nichtseiende (tö (iy) iöv) könne
nicht sein und könne nicht gedacht werden. Denn alles Denken bezieht sich auf
ein Seiendes, das seinen Inhalt bildet ^). Diese Auffassung der Correlativität von
Sein und Bewusstsein führt bei Parmenides so weit, dass beides. Denken und Sein,
fiir völhg identisch erklärt wird. Kein Denken, dessen Inhalt nicht das Sein zu-
käme — kein Sein, das nicht gedacht würde: Denken und Sein sind dasselbe.
Diese Sätze, welche, wörtlich bedachtet, so abstract ontologisch aussehen,
nehmen nun aber eine ganz andere Bedeutung an, wenn man beachtet, dass die
Fragmente des grossen Eleaten keinen Zweifel darüber lassen, was er als das
„Sein" oder das „Seiende" hat angesehen wissen wollen: nämlich die Körper-
lichkeit, die Materiahtät (tö wXdov). Für ihn sind „Sein" und „Raumerfullen"
dasselbe. Dies „Sein", diese Fimction der Raumerfüllung ist aber bei allem
„Seienden" genau die gleiche; daher giebt es nur das Eine, einheitliche, unter-
schiedslose Sein. Andrerseits bedeutet somit das „Nichtsein" oder das „Nicht-
seiende" die Körperlosigkeit, den leeren Raum (tö tcevöv). Dieser von Par-
menides durchgeführte Doppelsinn des sivat, wonach dasselbe einmal „das Volle'*
und das andere Mal „Realität" bedeutet, führt also zu dem Satze, dass der
leere Raum nicht sein kann.
die Erzeugungsfähigkeit für die Dinge zuzuschreiben, ist fiir das unentfaltete, seinex* eigenen
Kategorien noch nicht bewusste Denken offenbar sehr viel geringer gewesen, als für die spatere
Auffassung. Die zwischen symbolischer und realer Bedeutung schwebende Anschauung des
Werdens als Feuer wird durch den sprachlichen Ausdruck unterstützt, welchewiuch Functionen
und Verhältnisse als Substantive behandelt. Ebenso aber verschmäht es Heraklit auch nicht,
im bildlichen Ausdruck (vom immer neu gekneteten Thon, vom inmier neu umgerührten Misch-
trank) die dunkle Vorstellung einer Weltsubstanz im Hintei'gnmde bestehen zu lassen. —
1) Das Nähere darüber im folgenden Paragraphen. — 2) Fr. ed. Karsten v. 94ff.
§ 4. Begriffe des Seins. (Parmenides.) 29
Nun besteht aber für die naiv-sinnliche Auflfassung, die ja auch in diesen
principiellen Bestimmungen des Parmenides steckt, die Gesondertheit der Dinge,
vermöge deren sie sich in ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit darstellen, in ihrer
Trennung durch den leeren Raum, und andrerseits besteht alles körperliche Ge-
schehen, d. h. alle Bewegung in der Ortsveränderung, welche das „Volle" im
„Leeren" erleidet. Ist daher das Leere nicht wirkUch, so können auch die Viel-
heit und die Bewegung der Einzeldinge nicht wirklich sein.
Die Mannigfaltigkeit der Dinge, welche die Erfahrung in Coexistenz und
Succession darbietet, war den MQesiem Anlass gewesen, nach dem gemeinsamen
bleibenden Grunde zu fragen, dessen Verwandlungen sie alle seien. Mit dem
Begriffe des Seins, zu welchem Parmenides den des Weltstoflfs zuspitzt, erscheinen
diese Einzeldinge so wenig vereinbar, dass ihnen die Realität abgesprochen wird,
und jenes eine, einheitliche Sein auch als das einzige übrig bleibt^). Der Er-
klärungsbegrifiF hat sich so in sich selber ausgebildet, dass seine Behauptung die
Leugnung des durch ihn zu Erklärenden einschliesst. In diesem Sinne ist der
Eleatismus Akosmismus: in dem Alleinen ist die Mannigfaltigkeit der Dinge
untergegangen ; jenes allein „ist", diese sind Trug und Schein.
DemEinenaberkommennachParmenides Ewigkeit, Ungewordenheit, Unver-
gängUchkeit, besonders aber auch (wie schon Xenophanes behauptet hatte) vöUige
Einerleiheit, unterschiedslose Sich-selbst-gleichheit, d. h. durchgängige Homo-
geneität und absolute Unveränderiichkeit zu : und auch darin folgt er Xenophanes,
dass er dasselbe als in sich begrenzt, fertig und abgeschlossen betrachtet haben
will. Das Sein ist also eine wohl gerundete, in sich vollkommen gleichartige
Kugel, und dieser einzige und einheitliche Weltkörper ist zugleich der einfache,
alle Besonderheiten von sich ausschliessendeW eltgedanke.'TÖ ^ap äX§ov iazl vör^jia.
6. Aller dieser zum Theil phantastischen, zum Theil rücksichtslos abstrakten
Versuche hat es bedurft, um die Voraussetzungen für die Entwicklung der ersten
brauchbaren Begrifle der Naturauffassung zu gewaliren. Denn, so wichtige
Denkmotive darin zur Geltung gekommen waren, — verwendbar für die Natur-
erklärung waren weder der Weltstoff der Milesier, noch das Feuer- Werden
Heraklit's, noch das Sein des Parmenides. Nun war die Unfertigkeit des ersteren
durch den klaffenden Gegensatz der beiden letzteren klar geworden und damit
der Anlass dafür gegeben, dass die selbständigeren Forscher der nächsten Zeit
beide Motive von einander begrifflich sondern und aus der Gegenüberstellung
neue Beziehungsformen erdenken konnten, aus denen dauernd werthvoUe Kate-
gorien der Naturerkenntniss sich ergaben.
Gemeinsam ist diesen Vermittlungsversuchen einerseits die Aner-
kennung des eleatischen Postulats, dass das „Seiende" durchaus nicht nur als
ewig, ungeworden und unvergänglich, sondern auch als in sich gleichartig und
seinen Eigenschaften nach unveränderlich gedacht werden müsse, andrerseits
aber auch die Zustimmung zu dem heraklitischen Gedanken, dass dem Werden
und Geschehen, damit aber auch der Mannigfaltigkeit der Dinge eine unleugbare
1) Die sprachlichen Zweideutigkeiten, wonach einestheils das sv sowohl das numerisch
Einzige als auch das pradicativ Einheitliche (Einfache) bedeutet, andern theils das Yerbum
slvat nicht nur die Function der Copula, sondern auch den Sinn der „Realität** hat, spielen in
diesen Ueberlegungen des Eleaten offenbar eine grosse Rolle. — 2) Bezeichnungen, wie
Materialismus und Idealismus, treffen daher für diese naive Identification des Bewusstseins
und seines Objects, der Körperwelt, nicht zu.
30 I- Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
Kealltät zukomme : und gemeinsam ist ihnen in der Vermittlung dieser beiden Denk-
bedürfnisse der Versuch, eine Mehrheit von Seienden anzunelimeii, von denen
zwar jedes einzelne für sich dem Postulat des Parmenides genüge, die aber andrer-
seits durch den Wechsel ihrer räumlichen Beziehungen die veränderliche Mannig-
faltigkeit der Einzeldinge, welche die Erfahrung zeigt, herbeifuhren sollten. Hatten
die Milesier von den eigenschaftlichen (qualitativen) Veränderungen des Welt-
stoffs gesprochen, so schloss das eleatische Princip die Möglichkeit derselben aus;
sollte trotzdem mit Heraklit das Geschehen anerkannt und dem Sein selbst
zuerkannt werden, so musste es auf eine Art der Veränderung reducirt werden,
welche die Eigenschaften des Seienden unberührt Hess : eine solche war aber nur
als Ortsveränderung, d. h. als Bewegung denkbai*. Die Naturforscher des
5. Jahrhunderts haben daher mit den Eleaten die (qualitative) ünveränderHchkeit
des Seienden, aber gegen die Eleaten diePluralität und die Bewegung desselben*),
sie haben mit Heraklit die ReaUtät des Geschehens und gegen Heraklit das Sein
dauernder und unveränderlicher Träger desselben behauptet. Ihre gemeinsame
Ansicht ist die : es giebt eine Mehrheit von Seienden, welche, an sich unveränderlich,
durch ihre Bewegung den Wechsel und die Vielheit der Einzeldinge begreiflich
machen.
7. Zuerst und in der unvollkommensten, wenn auch historisch sehr weithin
wirkenden Form scheint dies Princip von Empedoklcs geltend gemacht worden
zu sein. Als die „Elemente"^) stellte er die der populären VorstcUungsweise
noch heute geläufigen vier auf: Erde, Wasser, Luft und Feuer*). Jedes derselben
sei ungeworden und unzerstörbar, in sich gleichartig und unveränderlich, dabei
aber theilbar und in diesen Theilen verschiebbar. Aus der Mischung der Elemente
entstehen die einzelnen Dinge, mit der Entmischung hören sie wieder auf, und
von der Art und Weise der Mischung sollen die mannigfachen, von den Eigen-
schaften der Elemente selbst noch wieder verschiedenen Quahtäten der Einzeldinge
herrühren.
Dabei macht sich nun das Merkmal der Unverändcrlichkeit und die Ab-
wendung von demmilesischenHylozoismus beiEmpedokles in dem Masse geltend,
dass er diesen nur wechselnde Bewegungszustände und mechanische Mischungen
erleidenden Stoffen die selbständige Bewegungsfähigkeit nicht zusprechen konnte
und deshalb nach einer von den vier Stoffen selbst unabhängigen Ursache der
Bewegung suchen musste. Als solche bezeichnete er Liebe und Hass. Doch
ist dieser erste Versuch, einer todten, jeglicher Eigenbewegung durch die Abstrac-
tion entkleideten Materie die sie bewegende Kraft als etwas metaphysisch
Selbständiges gegenüberzustellen, noch sehr dunkel ausgefallen : Liebe und Hass
sind bei Empedokles nicht bloss Eigenschaften, Functionen oder Beziehungen
der Elemente, sondern denselben gegenüber selbständige Mächte : wie aber die
Realität dieser Bewegungskräfte zu denken sei, darüber geben die Fragmente
1) In der späteren Literatur (Aristotoles) werden aXXotuiCi? (qualitative Veränderung)
und xivYjat^ (Ortsveränderung) einander gegenübergestellt: sachlich geschieht das schon hier,
wenn auch die Termini nocli fehlen. — 2) Statt des späteren Ausdrucks axor/sra findet sich
bei Empedokles die mehr poetische Bezeichnung „Stammwiirzcln aller Dinge" (fjiCuuLfx.'zrx),
— 8) Die Auswahl entsprang neben der Anlehnung an die Vorgänger oflcnbar wieder der
Neigung, die verschiedenen Aggregatzustände als das ursprüngliche Wesen der Dinge zu be-
traciiten. Der Vierzahl selbst scheint dabei keine Bedeutung zuzukommen : die dialectische
Construction, welche Piaton und Aristoteles dafür gegeben haben, liegt dem Agrigentiner fem.
§ 4. Begriffe des Seins. (Erapedokles, Anaxagoras.) 3 1
keinen irgendwie genügenden Aufschluss *). Nur das scheint sicher zu sein, dass
bei der Dualität des Bewegungsprincips auch der Gedanke mitgewirkt hat, es
seien für das Gute und das Schlechte in dem Wechsel der Er£ahrungsdinge in
Liebe und Hass zwei gesonderte Ursachen erforderlich*), — ein erstes Zeichen
beginnender Einmischung von "Werthbestimmungen in die Naturtheorie.
8. Wenn Empedokles es für möglich erachtet hat, aus der Mischung der
vier Elemente die Sonderqualitäten der Einzeldinge herzuleiten (ob und wie er
das versuchte, wissen wir freilich nicht), so war dieser Schwierigkeit Anaxago ras
überhoben, welcher aus dem eleatischen Pnncip, dass nichts Seiendes entstehen
oder vergehen könne, den Schluss zog, dass so viele Elemente ^) angenommen
werden müssen, als sich in den Erfahrungsdingen einfache, bei der Theilung
immer wieder in lauter sich selbst quahtativ gleiche Theile zerfallende Stoffe
vorfinden. Solche Stoffe sind seiner Bestimmung gemäss später H o m ö o -
merien genannt worden. Dieser (im Princip demjenigen der heutigen Chemie
durchaus entsprechende) Begriff des Elements traf aber bei dem damaligen Stande
der Kenntniss, welche nur mechanische Spaltung oder Temperaturveränderung
als üntersuchungsmittel kannte, auf die grösste. Anzahl der erfahrungsmässig
gegebenen Stoffe*) zu, und deshalb behauptete Anaxagoras, es gäbe unzählige
Elemente, verschieden an Gestalt, Farbe und Geschmack. Sie seienin unendlich
feiner Vertheilung durch das ganze Weltall hindurch gegeben; ihr Zusammentreten
('3?')7xptotc) mache das Entstehen, ihr Auseinandertreten (Stdxpiotc) das Vergehen
der Einzeldinge aus: und dabei sei in jedem Dinge von jedem Stoff etwas vorhanden,
nur für unsere sinnliche Auffassung nähme das einzelne Ding die Eigenschaften
desjenigen Stoffes oder derjenigen Stoffe an, welche darin in überwiegender
Masse enthalten seien.
Die Elemente, als das Seiende, gelten nun auch für Anaxagoras als ewig,
anfangs- und endlos, unveränderlich und wenn auch im Räume bewegUch, so doch
für sich selbst unbewegt. Es muss daher auch hier nach einer Kraft gefragt wer-
den, welche Ursache der Bewegung ist: da aber doch auch diese Kraft als ein
Seiendes angesehen werden muss, so verfiel Anaxagoras auf den Ausweg, sie einem
besonderen einzelnen Stoffe zuzuweisen. Dies Kraftelement oder dieser Be-
wegungsstoff soll das leichteste, feinste, bewegUchste aller Elemente sein: es
ist im Unterschiede von allen anderen diejenige Homöomerie, welche allein von
selbst in Bewegung ist und diese ihre Eigenbewegung den übrigen mittheilt: sie
bewegt sich und die übrigen. Das innere Wesen aber dieses Kraftstoffs zu be-
stimmen, vereinigen sich zwei Gedankenreihen : Ursprünglichkeit der Bewegung
ist für die naive Weltauffassung das sicherste Kennzeichen des Beseelten; dieser
exceptionelle Stoff also, der von sich aus bewegt ist, muss der Seelenstoff, seine
Qualität muss das Seelische sein. Und zweitens: eine Kraft wird durch ihre
Wirkung erkannt; wenn nun dieser Bewegungsstoff die Ursache der Weltgestal-
tung ist, zu der er die übrigen trägen Elemente entmischt hat, so wird man aus
1) Wenn «ptXta und velxo^ gelep^entlich von den späteren Berichterstattern als fiinfle
und sechste cip-j/fy des Empedokles gezählt werden, so darf man daraus wohl nicht schliessen,
dass er sie auch fiir Stoffe gehalten hatte. Seine dunkle, fast mythische Bezeichnungsweise
beruht zum gross ten Theil auf der sprachlichen Substantivirung der Functionsbegriffe. —
2) Arist.Met.! 4, 984 b 32. — 3) Er nannte sie a^cspjjLaxa (Samen der Dinge), oder auch einfach
vp'fjji.aTa (Substanzen). — 4) Nach den Fragmenten des Anaxagoras z. B. auch Knochen,
Fleisch, Mark; andrerseits die Metalle.
32 !• Philosophie der Griechen. 1. Kosmologischc Periode.
dieser seiner Leistung sein Wesen erkennen müssen. Nun macht aber das Welt-
all, insbesondere der gleichmässige Umschwung der Gestirne, den Eindruck
schöner und zweckmässiger Ordnung (xd(3(io<;). Eine solche harmonische
Bewältigung riesiger Massen, dieser ungestörte Kreislauf zahlloser Weltkörper,
denen Anaxagoras seine bewundernde Betrachtung zuwandte, schien ihm nur das
Ergebniss eines zweckmässig anordnenden und die Bewegungen beherrschenden
Geist es sein zu können. Deshalb charakterisirte er den KraftstoflF als Vernunft
(voö<;) oder als Denkstoff.
Der voüc des Anaxagoras ist also ein StofiF, ein körperliches Element, in sich
gleichartig, unerzeugt und unvergänglich, in feiner Vertheilung durch die ganze
Welt ergossen, aber von allen anderen StoflFen nicht nur graduell als der feinste,
leichteste, beweglichste, sondern auch wesentHch darin verschieden, dass er allein
von sich selbst aus bewegt ist und vermöge dieser Eigenbewegung auch die an-
deren Elemente in der zweckmässigen Weise bewegt, welche sich in der Ordnung
der Welt zu erkennen giebt. Diese Betonung der Ordnung im Weltall ist ein
heralditisches Moment in der Lehre des Anaxagoras, und der Schluss von den
geordneten Bewegungen auf eine vernünftige, zweckthätige Ursache derselben ist
das erste Beispiel der teleologischen Naturerklärung*). Mit ihm wird aus-
drücklich der WerthbegrifF der Schönheit und Vollkommenheit auch theoretisch
zum Erklärungsprincip gemacht.
9. In entgegengesetzter Richtung hat sich aus dem eleatischen Seinsbegriffe
der Atomismus Leukipp's entwickelt. Während Empedokles die meta-
physische Ursprünglichkeit einiger und Anaxagoras diejenige aUef Qualitäten
behaupteten, blieb der Gründer der abderitischen Schule bei der Ansicht des Par-
menides stehen , dass der ganzen Mannigfaltigkeit quaUtativer Bestimmungen,
welche die Erfahrung aufweist, kein „Sein'^ zukomme, dass vielmehr die einzige
Eigenschaft des Seienden die Raumei'füllung, die Körperlichkeit, tö ttXsov,
sei. Sollte nun aber trotzdem die Vielheit der Dinge und der Wechsel des zwischen
denselben stattfindenden Geschehens begreiflich gemacht werden, so musste an
die Stelle des einzigen imd in sich unterschiedslosen Weltkörpers, den Parmenides
gelehrt hatte, eine Vielheit solcher Seienden treten, die von einander nicht wieder
durch Seiendes, sondern nur durch Nichtseiendes, d. h. durch UnköriJerliches,
durch den leeren Raum gesondert wurden. Diesem Nichtseienden musste daher
doch wieder eine Art von Sein, von metaphysischer Reahtät zugeschrieben wer-
den*), und Leukipp betrachtete ihn im Gegensätze zu der Begrenztheit, welche
das eigentUche Sein nach Parmenides besitzt, als das Unbegrenzte : das a;rstpov.
Leukipp zertrümmert daher den Weltkörper des Parmenides und zerstreut seine
Theile durch den unendhchen Raum: jeder dieser Theile aber ist, wie das absolute
Sein des Parmenides ewig und unveränderlich, ungeworden und unzerstörbar, in
sich durchaus gleichartig, begrenzt und untheilbar. Daher heissen diese Stücke
des Seins Atome, aTOjjLOt: und aus den Gründen, welche Anaximander zu seinem
1) Als solcher ist er von Piaton (Phaed. 97 b) gefeiert und schon von Aristoteles (Met. I
3, 984 b) überschätzt worden : vgl, jedoch § 5. Die Neueren (HEaKL) haben die weitere Ueber-
Rchätzung lünzugcfügt, den voü(; als immaterielles Princip auffassen zu wollen. Docli lassen
die Fragmente (Simpl. phys. [D.] 33v 156, 13) keinen Zweifel, dass auch dieses leichteste,
reinste, mit den übrigen sich nicht mischende, sondern sie nur als lebendige Kraft umsi>ielende
und bewegende Element doch immer ein raumert'üllcnder Stoff blieb. — 2) Flut. adv. Col. 4,
2, 1109.
§ 4. Begriffe des Seins. (LenkippoB, Zenon.) 33
Begriffe des Siceipov geführt hatten, behauptete Leukipp, dass solcher Atome un-
zählige, Ton unendlich mannigfacher Gestalt seien. Ihre Grösse musste er, da
alle empirischen Dinge theilbar sind, als unwahrnehmbar klein bezeichnen. Die
Unterschiede aber zwischen ihnen konnten, da sie alle nur die eine, gleiche Qualität
der Raumerfiillung besitzen, nur quantitativ sein: Unterschiede der Grösse, Ge-
stalt und Lage.
Aus solchen metaphysischen Ueberlegungen ist der Begriff des Atoms er-
wachsen, der sich für die theoretische Naturwissenschaft deshalb so fruchtbar
erwiesen hat, weil er, wie es schon bei Leukipp zu Tage tritt, das Postulat ent-
hält, alle qualitativen Unterschiede, welche die Erfahrung aufweist, auf quanti-
tative zu reduciren. Die Dinge, welche wir wahrnehmen, lehrte Leukipp, sind Ver-
bindungen von Atomen; sie entstehen durch deren Vereinigung, sie vergehen durch
deren Trennung.4Die Eigenschaften, welche wir an diesen Complexen wahrnehmen,
sind nur Schein: in Wahrheit bestehen nur die Bestimmungen der Grösse, Gestalt,
Anordnung und Lagerung der einzelnen Atome, welche das Sein ausmachen.
Der leere Haum ist somit die Voraussetzung, wie fiir die Sonderung und
Gestaltung, so auch für die Verbindung und Trennung der Atome. Alles Ge-
schehen ist seinem Wesen nach Bewegung der Atome im Baum. Fragt man
aber nach dem Grunde dieser Bewegung der Atome *), so kann derselbe, da der
eigentlich nicht-seiende Raum nicht Ursache sein darf und der Atomismus ausser
dem Raum und den Atomen nichts Wirkliches anerkennt, nur in den Atomen
selbst gesucht werden, d. h. die Atome sind von sich aus in Bewegung, und diese
ihre selbständige Bewegung ist ebenso anfangs- und endlos wie ihr Sein. Und so
mannigfaltig und von einander unabhängig die Atome an Grösse und Gestalt
sind, so verschieden ist auch ihre ursprüngliche Bewegung. Sie fliegen in dem
unendlichen Räume, der kein Oben und Unten, kein Innen und Aussen kennt,
jedes für sich, wirr durcheinander, bis ihr Zusammentreffen zur Bildung von
Dingen und Welten fuhrt. Die begriffliche Trennung also, welche Empedokles
und Anaxagoras zwischen Stoff und bewegender Kraft, jeder in seiner Weise,
versucht hatten, hoben die Atomisten wieder auf: sie schrieben den Stofftheilchen
die Fähigkeit zwar nicht der qualitativen Veränderung (oXXouikjk;), aber der selb-
ständigen Bewegung (xivtjok;) zu, und nahmen in diesem durch den Eleatis-
mus eingeschränkten Sinne das Princip des milesischen Hylozoismus wieder auf.
10. Gegen diese pluralistischen Systeme hat Zenon, der Freund und
Schüler des Parmenides, die eleatische Lehre zu vertheidigen gesucht, indem er
die Widersprüche darlegte, in welche sich die Annahme einer Vielheit von Seien-
den verwickle. Der Grösse nach, zeigte er, ergiebt sich daraus, dass die Gesammt-
heit des Seins einerseits unendlich klein, andrerseits unendlich gross sein muss :
unendlich klein, weil die Zusammensetzung noch so vieler Theile, deren jedes un-
endUch klein sein soll, doch niemals mehr als unendlich Kleines giebt*), — un-
endUch gross hinwiederum, weil die Grenze, die zwei Theile trennen soll, selbst
ein Seiendes, d. h. räumliche Grösse sein muss, die ihrerseits wieder von beiden
Theilen durch eine Grenze geschieden ist, von der dann dasselbe gilt u. s. f. in
1) Arist. Phys. VIU 1, 252a 32 sagt von den Atomisieii) sie hätten nach dem Ursprung
der Bewegung nicht gefragt — , selbstverständlich, denn sie erklärten die Bewegung selbst fiir
ursachlos. — 2) Das Argument kann nur gegen den Atomismus gerichtet sein und trifil auch
diesen nur schwach.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 3
34 !• Philosophie der Griechen. 1. Kosraologische Periode.
infinitum. Aus dem letzteren Argument, welches das h, St^oTOfttou; genannt wurde,
folgerte Zenon auch, dass der Zahl nach das Seiende unbegrenzt sein müsse,
während andrerseits doch dies fertige, nicht im Werden begriffene Sein auch
hinsichtlich seiner numerischen Bestimmtheit als begrenzt anzusehen sei. Und
ebenso wie die Annahme des Vielen soll sich auch die Behauptung der Realität
des leeren Raumes durch einen regressus in infinitum selbst widerlegen: ist alles
Seiende im Raum, und dieser selber ein Seiendes, so muss er selbst wieder in einem
Raum sein, dieser ebenfalls u. s. w. Mit dem Begriffe des Unendlichen, dem der
Atomismus eine neue Wendung gegeben hatte, waren alle die darin für den Gegen-
satz von Verstand und Anschauung enthaltenen Räthsel lebendig geworden, und
Zenon benutzte sie, um damit die Gegner der Lehre von dem Einen in sich be-
grenzten Sein ad absurdum zu führen.
Doch zeigte sich die Zweischneidigkeit dieser Dialectik an der eleatischen
Schule selbst, indem ein Zeit- und Gesinnungsgenosse des Zenon, Melissos,
sich genöthigt sah, das parmenideische Sein auch räumlich für ebenso unbegrenzt
zu erklären wie zeitlich. Wie das Sein nämlich weder aus anderem Seiendem noch
aus Nichtseiendem entstehen und wie es weder in das eine noch in das andere
vergehen kann, so kann es auch weder durch Seindes (denn das müsste ein zweites
Sein sein) noch durch Nichtseiendes (denn dann müsste dies sein) begrenzt wer-
den: eine Argumentation, die rein theoretisch consequenter war, als die durch
Werthbestimmungen beeinfiusste Behauptung des Meisters.
11. Eine vermittelnde Stellung haben in diesen Fragen diePythagoreer
eingenommen : sie waren dazu, wie zu ihren übrigen Lehren, durch ihre Beschäf-
tigung mit der Mathematik und durch die Art, wie sie dieselbe betrieben, in glück-
licher Weise befähigt. Die Hauptrichtung derselben scheint arithmetisch gewesen
zu sein ; auch die geometrischen Einsichten, die ihnen zugeschrieben werden (wie
der bekannte nach Pythagoras benannte Satz) laufen auf die lineare Darstellung
einfacher Zahlenverhältnisse {3^ -\- 4*^ = 5^ m, s, w.) hinaus. Aber nicht nur in
den allgemeinen Verhältnissen der räumlichen Gebilde fanden die Pythagoreer
die Zahlen als massgebend, sondern auch in solchen Erscheinungen der körper-
lichen Welt, mit denen sie vorwiegend beschäftigt waren. Ihre theoretischen
Unterauchungen über Musik lehrten sie, dass der Wohlklang auf einfachen Zahleu-
verhältnissen der Saitenlänge (Oktave, Terz, Quart) beruht, und ihre weitgefbr-
derte Kenntniss der Astronomie führte sie auf die Ansicht, dass die in den Be-
wegungen der Himmelskörper waltende Harmonie (ähnlich der musikalischen) ^)
in einer Ordnung begründet sei, wonach die verschiedenen Sphären des Weltalls
sich in zahlenmässig fest bestimmten Abständen um einen gemeinsamen Mittel-
punkt bewegten. So mannigfache Anlässe scheinen sich vei^eint zu haben, um in
einem Manne wie Philolaos den Gedanken hervorzurufen, dass das dauernde
Sein, welches die philosophische Theorie suchte, in den Zahlen zu finden sei.
Den wechselnden Dingen der Erfahrung gegenüber besitzen die mathematischen
Begriffsinhalte die Merkmale zeitloser Geltung; sie sind ewig, ungeworden, unver-
gänglich, unveränderlich und selbst unbeweglich: und wenn sie damit dem ele-
atischen Seinspostulat genügen, so stellen sie andrerseits die festen Verhältnisse,
jene rhythmische Ordnung dar, die Heraklit verlangt hatte. So fanden denn die
1) Aus dieser Analogie erwuchs die phantastische Vorstellung der Sphäreuharmonie.
§ 4. Begriffe des Seins. (Philolaos.) 35
Pythagoreer das bleibende Wesen der Welt in den mathematischen Verhältnissen
und insbesondere in den Zahlen — eine Lösung des Problems, abstracter als die
milesische^ anschaulicher als die eleatische^ klarer als die heraklitische; schwie-
rijrer als diejenige der zeitgenössischen Vermittlungsversuche.
Die Zahlenlehre der Pythagoreer schloss sich in ihrer Ausführung theils
an die vielfachen Beobachtungen, welche sie über arithmetische Verhältnisse ge-
macht hatten, theils an Analogien^ welche sie zwischen diesen und den philo-
sophischen Problemen entdeckten und zum Theil recht künstlich herstellten. Die
Bestimmtheit jeder einzelnen unter den Zahlen und die Endlosigkeit ihrer Reihe
mussten wohl zunächst den Gedanken nahe legen^ dass sowohl dem Begrenzten
als auch dem Unbegrenzten Realität zukomme, und indem dies Motiv in's Geo-
metrische übersetzt wurde, erkannten die Pythagoreer neben den Elementen als
<lem Begrenzten auch dem Raum als dem unbegrenzten Leeren Realität zu; die
Elemente aber dachten sie sich durch die einfachen stereometrischen Formen
bestimmt: das Feuer durch das Tetraeder, die Erde durch den Kubus, die Luft
<1urch das Oktaeder, das Wasser durch das Ikosaeder, und einem ftinften Stoif,
den Aether, welchen sie den vier terrestrischen, von Empedokles übernommenen,
als den himmUschen hinzufügten, durch das Dodekaeder*). Dabei waltete die
Vorstellung ob; Körperlichkeit bestehe in der mathematischen Begrenzung
des Unbegrenzten, in der Gestaltung des Raumes. Die mathematischen For-
men werden zum Wesen der physischen Realität gemacht.
Weiterhin glaubten die Pythagoreer in dem Gegensatze des Begrenzten
und des Unbegrenzten den Zahlengegensatz des Ungeraden und des Geraden
wiederzuerkenen^); und dieser Gegensatz identificirte sich ihnen wieder (nicht
ohne Mitwirkung alter Vorstellungen des Orakelglaubens) mit demjenigen des
Vollkommenen und des Unvollkommenen, des Guten und des Schlechten "). So
wird ihre Weltanschauung dualistisch: dem Begrenzten, Ungeraden, Vollkom-
menen und Guten steht das Grenzenlose, Gerade, Unvollkommene und Schlechte
gegenüber. Wie aber in der Eins, die sowohl als gerade wie als ungerade Zahl
silt *), beide Principien vereinigt sind , so sind auch in der ganzen Welt diese
(iegensätze zur Harmonie ausgeglichen. Die Welt ist Zahlenhamionie.
Jenen Grundgegensatz aber, in dessen Annahme alle Pythagoreer einig
waren, haben einige von ihnen ^) durch die verschiedenen Gebiete der Erfahrung
zu verfolgen gesucht, und so ist eine Tafel von 10 Gegensatzpaaren zu Stande
gekommen: begrenzt und unbegrenzt — ungerade und gerade — eins und viel —
rechts und links — männlich und weiblich — ruhend und bewegt — gerade und
krumm — hell und dunkel — gut und schlecht — quadratisch und ungleichseitig:
offenbar eine systemlose Zusammenstellung, mit der nur die heilige Zehnzahl
1) Während die Hauptrichtung der Pythagoreer so dem Empedokles folgte, hat ein
^jÄterer, Ekphantos, diese Raumbegrenzung im Sinne des Atomismus aufgefasst. — 2) Die
Begründung davon, dass nämlich die geraden Zahlen eine Zweitheilung in's Unendliche (?) er-
lauben (8imp1. phys. D. 105>^ 455, 20), ist freilich sehr bedenklich und künstlich. — 3) Auch
darf da1)ei das Moment nicht übersehen werden, welches sich schon bei XenopHanes und Par-
nM»mde8 geltend machte, dass nämlich dem Griechen das Mass ein hoher ethischer Werth war,
dass somit das allen Masses spottende Unendliche ihm als unvollkommen, das in sich Hc-
sliiimite (weKff»aajjL8vov) aber als werthvoller gelten musste. — 4) Arist. Met. I. 5, 986a 19. —
5| Oder dem Pythagorismus nahe stehende Männer wie der Arzt Alkmaion, ein, vielleicht
etwas älterer, Zeitgenosse des Philolaos Vgl. Arist. Met. I 5, 986 a 22.
3*
J
36 I. Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
vollgemacht werden sollte, die aber doch wenigstens den Versuch einer Gliede-
rung erkennen lässt.
Nach diesem oder einem ähnlichen Schema haben dann die Pythagoreer
sich abgemüht, eine Ordnung der Dinge nach dem Zahlensystem herzustellen,
indem sie in jedem Erkenntnissgebiet die Grundbegriffe verschiedenen Zahlen
zuwiesen und so andrerseits jeder einzelnen Zahl, und zwar hauptsächlich den-
jenigen von 1 — 10, eine massgebende Bedeutung in den verschiedenen Sphären
der Wirklichkeit zuerkannten. Die Wunderlichkeiten symbolischer Deuterei, der
sie damit verfielen, dürfen doch nicht übersehen lassen, dass damit der Versuch
gemacht wurde, eine bleibende, begriffliche Ordnung der Dinge zuer-
kennen und den letzten Grund derselben in mathematischen Verhältnissen
zu finden.
Auch ist es den Pythagoreern, und namentUch den späteren, selbst nicht
entgangen, dass die Zahlen nicht in derselben Weise Principien (ap^ai) der Dinge
genannt werden konnten, wie etwa die Stofiie, die Elemente u. s. w., dass die Dinge
nicht aus ihnen entstanden, sondern nach ihnen gebildet sind, und sie drückten
ihren Gedanken vielleicht am besten und wirksamsten damit aus, dass sie sagten,
alle Dinge seien Abbilder oder Nachahmungen der Zahlen. Damit war
die Welt der mathematischen Formen als eine höhere, ursprünglichere Wirklich-
keit gedacht, von der die empirische Wirklichkeit nur ein Nachbild sein sollte :
jener gebührte das bleibende Sein, diese war die gegensätzliche Welt des Ge-
schehens.
% 5. Die BegrifFe des Geschehens.
E. Hardy, Der Begriff der Physis in der griechischen Philosophie. I. Berlin 1884.
Wie die Thatsache der Veränderung, d. h. das Geschehen den nächsten
Anlass zur Besinnung auf das bleibende Sein gegeben hat, so haben die ver-
schiedenen Begriffe vom Sein doch in letzter Instanz nur den Zweck,' das Ge-
schehen verständlich zu machen. Zwar wurde diese Aufgabe in der Entwicklung
der Seinsbegriffe gelegentlich vergessen oder bei Seite gesetzt (Eleaten); aber
um so mehr zeigte sich gerade darauf der weitere Fortschritt des Denkens durch
die erneute Rücksicht auf das Geschehen und durch das Bedürfniss bestimmt,
das Sein so zu denken, dass das Geschehen nicht nur damit vereinbar, sondern
auch dadurch begreiflich würde. Hand in Hand also mit den Vorstellungen vom
Sein gehen diejenigen vom Geschehen, beide in stetiger Beziehung auf einander.
1. Den Joniern war die Lebendigkeit der Welt etwas so Selbstverständ-
Uches, dass sie nicht daran dachten, nach einer Ursache derselben zu fragen. Der
naive Hylozoismus konnte vielmehr nur darauf ausgehen, das einzelne Ge-
schehen zu erklären. Erklärung aber besteht in dem Zurückführen des Auffal-
lenden, nicht Selbstvei-ständlichen auf solche einfachere Arten des Geschehens,
welche als die der Anschauung gewohntesten einer Erkläi-ung selbst nicht zu be-
dürfen scheinen. Dass die Dinge ihre Gestalt, ihre Eigenschaften, ihre Wirkung
aufeinander ändern, erschien den Milesiern erklärungsbedürftig: sie beruhig-
ten sich dabei, diese Veränderungen als Verdichtung oder Verdünnung des Welt-
stoffs aufeufassen. Für diese aber scheinen sie eine weitere Erklärung nicht
nötliig befunden zu haben; nur so viel setzte wenigstens Anaximenes hinzu, dass
diese Veränderungen des Aggregatzustandes mit Temperaturveränderung, Ver-
§ 5. Begriffe des Geschehens. (Anaximander.) 37
dichtung mit Abkühlung^ Verdünnung mit Erwärmung verbunden sei. Dieser
Gegensatz ergab die Keihenfolge der Aggregatzustände^ welche sich als Feuer^
Luft, Wasser, Erde (oder Gestein), je nach der Verdünnung oder Verdichtung
des Urstoffs^) abstuften.
Diese Vorstellungen benutzten nun aber die Miiesier nicht nur, um einzelne
Naturerscheinungen (insbesondere die für ein schiiffahrttreibendes Volk so wich-
tigen meteorologischen Vorgänge), sondern auch um die Entwicklung des gegen-
wärtigen Weltzustandes aus dem ürstoff zu erklären. So liess Thaies sich das
Wasber theils zu Luft und Feuer verdünnen, theils zu Erde und Gestein verdich-
ten; Anaximenes lehrte, von der Luft ausgehend, einen analogen Process der
Weltbfldung. Als Resultat derselben wurde angenommen, dass die Erde, auf
Wasser nach dem einen, auf Luft nach dem andern ruhend, die Mitte der um sie
schvringenden Luftkugel einnehme, die ihrerseits noch wieder von einem, in den
Sternen sei es durchbrechenden sei es durchscheinenden Feuerkreis umgeben sei.
Mit der Darstellung dieser Weltentstehung, welche vielleicht noch bei
Thaies und Anaximander als einmaliger Process galt, schliessen sich die Miiesier
unmittelbar an die kosmogonischen Dichtungen an ') : erst später scheint sich die
Ueberlegung durchgesetzt zu haben, dass, wenn der Verwandlung eine Rückver-
wandlung entsprechen, dabei aber der Stoff nicht nur als ewig, sondern auch als
ewig lebendig gelten sollte, ein unablässiger Process von Weltbildung und Welt-
zeretörung, eine zahllose Vielheit successiver Welten angenommen werden
müsse ^),
2. Obwohl diese Bestimmungen für die physicaUschen Theorien auch bei
Anaximander zutreffen, so führte doch diesen der metaphysische Begriff des
xccCfov darüberhinaus. Die unendliche, selbstbewegte Materie, welche mit diesem
dunkeln Begriffe gemeint war, sollte zwar als Ganzes keine bestimmten Eigen-
schaften haben, aber doch die qualitativen Gegensätze in sich enthalten und
in ihrem Entwicklungsprocesse aus sich zur Sonderung ausscheiden*). Anaxi;
mander blieb also Hylozoist, insofern als er die Materie von sich selbst aus als
bewegt betrachtete; aber er hatte eingesehen, dass die Verschiedenheiten in sie
hinein verlegt werden müssten, wenn sie bei der Selbstbewegung aus ihr hervor-
gehen soUten. Wenn er also hinsichtlich des Seins schon dem späteren Plura-
lismus sich näherte und die quaUtative VeränderUchkeit des Urstoffs strich, so
war er hinsichtlich der Ursachlosigkeit des Geschehens durchaus mit den andern
Milesiem einig, und aus der Verbindung der Gegensätze des Warmen und Kalten,
die er zunächst aus dem Siceipov heraustreten liess, meinte er das Wasser erklären
zu können, um dann mit seiner Kosmogonie ganz in die oceanische Fahrstrasse
lies Thaies einzulenken.
Neben diesen physischen und metaphysischen Bestimmungen aber bietet
(las einzige von ihm wörtlich erhaltene Fragment *), welches den Untergang der
1) Begreiflich daher, dass es auch (uns nicht dem Namen nach bekannte) Physiker gab-
welcbc den Weltstoff als Zwischenstufe zwischen Luft und Wasser, oder Luft und Feuer an,
sehen wollten. — 2) Daher auch die Bezeichnung des Weltstoffs als apx*^ (Anfang). — 3) Diese
Lehre ist von Anaximander wahrscheinlich, von Anaximenes sicher vertreten worden; sie
wiederholt sich bei Heraklit, Empedokles und Lcukipp. — 4) Entscheidend sind in dieser sehr
controversen Frage (Ritter, Seydel, Zeller) die Stellen: Arist. Phys I 4, 187a 20 und Simpl.
phys. (D.) 33' 154, 14(nachTheophrast). Ebenso die Fortsetzung der Stelle in der folgenden An-
merkung. — 5) Simpl. phys. (D.) 6r 24, 18. cf. Th. Zieglir, ij-ch. f. Gesch. d. Philos. I, 16 ff.
38 !• Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
Dinge als Sühne des Unrechts darstellt, den ersten duniden Versuch, das Welt-
geschehen als sittliche Nothwendigkeit zu begreifen und die Schatten der
Vergänglichkeit, welche auf dem heitern Bilde auch des hellenischen Lebens
ruhen, als Vergeltung der Sünde aufzufassen. So wenig sicher die besondere
Deutung dieses Ausspruchs ist, so zweifellos spricht darin das Bedürfniss, der
physischen Nothwendigkeit den Werth einer ethischen Ordnung zu geben. Hier
erscheint Anaximander als Vorgänger Heraklit^s.
3. Die Ordnung des Geschehens, welche der Letztere als das allein Bleibende
in dem Wechsel der Dinge feststellen zu können glaubte, hatte zwei wesentliche
Bestimmungen: die Harmonie der Gegensätze und den Kreislauf des
Stoffwechsels im Universum. Die Beobachtung, dass Alles in der Welt in
stetiger Veränderung begriffen ist, übertrieb Heraklit zu der Behauptung, dass
Alles fortwährend in sein Gegentheil umschlage. Das „Andere" war ihm eo ipso
das Entgegengesetzte. Der „Fluss der Dinge" verwandelte sich in seiner poeti-
schen Rhetorik in einen unaufhörlichen Streit der Gegensätze, und diesen Streit
(TcöXsfioc) erklärte er für den Vater der Dinge. Alles, was für eine kürzere oder
längere Zeit zu sein scheint, ist das Product entgegengesetzter Bewegungen und
Kräfte, die sich in ihrer Wirkung das Gleichgewicht halten. So ist in jedem Augen-
blicke das Universum eine in sich gespaltene und wieder versöhnte Einheit, ein
Streit, der seine Versöhnung, ein Mangel, der seine Sättigung tindet : das Wesen
der Welt ist die unsichtbare Hai*monie, in der alle Verschiedenheiten und Gegen-
sätze aufgelöst sind. Die Welt ist Werden, und Werden ist Einheit der Gegensätze.
Insbesondere aberstellen sich nach der Anschauung Heraklit's diese Gegen-
sätze in den einander zuwiderlaufenden Processen dar, durch welche sich einer-
seits das Feuer in alle Dinge verwandelt und andrerseits alle Dinge sich in das
Feuer zurückverwandeln. In beiden Processen werden dieselben Stadien durch-
laufen: auf dem „Wege abwärts" geht das Feuer (durch Verdichtung) in
Wasser und Erde, auf dem „ W egeaufwärts" gehen Erde und Wasser (durch
Verdünnung) in Feuer über; und diese beiden Wege sind gleich. Verwandlung
und ßückverwandlung laufen neben einander her, und der Schein eines dauernden
Dinges tritt da ein, wo eine Zeit lang auf dem einen Wege ebensoviel Rückver-
wandlung wie auf dem andern Verwandlung stattfindet. Die phantastischen Formen,
in denen Heraklit diese Ansichten niederlegte, umhüllen den principiellen Ge-
danken einer gesetzmässigen Abfolge der Verwandlungen und einer foi-twährenden
Ausgleichung derselben. In immer wiederholtem Rhythmus und nach festen Zeit-
massen erzeugt sich die Welt aus dem Feuer und lodert in demselben wieder auf,
um, ein Phönix, daraus neu zu entstehen *).
In dieser unablässigen Umsetzung aller Dinge besteht nichts Einzelnes,
sondern nur die Ordnung, nach der sich der Austausch der einander entgegen-
laufenden Bewegungen vollzieht, das Gesetz des Wechsels, welches den Sinn
und den Werth des Ganzen ausmacht. Wenn im Kampf der Gegensätze immer
Neues zu entstehen scheint, so ist doch dies Neue zugleich immer schon ein Unter-
gehendes. Das Werden HerakUt's erzeugt kein Sein — so wenig wie das Sein
des Parmenides ein Werden.
1) Im Einzelnen sind die physicalischen , zumal die astronomischen Vorstellungen
schwach; das metaphysische Grübeln ist bei ihm wichtiger, als die erklärende Forschung.
Er theilt dies mit seinem Gegner Parmenides.
§ 5. Begrifife des Geschehens. (Empedokles, Anaxagoras, Leukippos.) 39
4. In der That scbloss die Seinslehre der Eleaten mit der Vielheit
und der Veränderung auch das Geschehen aus. Nach ihrer Metaphysik ist das
Geschehen unbegreiflich, es ist unmöglich. Diese Metaphysik duldet keine
Physik. Wie dem Raum, so spricht Parmenides auch der Zeit die selbständige
Realität (Skko «dpeS toö sovxoc) ab: es giebt für ihn nur das unterachiedslose und
zeitlose Sein. Gleichwohl hat Parmenides dem ersten Tlieile seines Lehrgedichts,
welcher die Lehre vom Sein vorträgt, einen zweiten hinzugefugt, der die physi-
calischen Probleme behandelt; doch geschieht dies von vornherein mit der Ver-
wahrung, dass er hier nicht mehr Wahrheit, sondern die „Meinungen der Sterb-
lichen" vortrage '). Allen diesen aber liege die (vorher zuiückgewiesene) falsche
Voraussetzung zu Grunde, dass neben dem Sein noch ein anderes, also das Nicht-
sein sei. Alles Geschehen, alle Vielheit und Bewegung beruht auf der Wechsel-
wirkung dieser Gegensätze, welche dann im Weiteren als Licht und Finstemiss,
als das Warme und Kalte bezeichnet werden. In poetischen Bildern wird damit
eine Weltanschauung geschildert, nach der das Feuer den dunklen, leeren Raum
zu körperlichen Gebilden gestaltet, eine Vorstellungs weise, die zum Theil an
Heraklit erinnert, zum Theil an die astronomische Lehre der Pythagoreer an-
klingt. Die allbeherrschende Feuermacht (Sa^iwöv) zwingt als unerbittliche Noth-
wendigkeit (Sixi)) vom Mittelpunkte der Welt aus mit Hilfe der Liebe (SpcDc) das
Verwandte zu einander. Aneignung und Bekämpfung der fremden Lehren treten,
dem Zweck des Ganzen gemäss, in buntem Gemisch auf; über ihrer Verwebung
liegt ein poetischer Hauch grossartig plastischer Gestaltungskraft, aber es fehlt,
wie au eigener Forschung, so auch an dem Ertrage klarer Begriffe.
5 • Bestimmtere und zur Erklärung des Einzelnen brauchbarere Vorstellungen
über das Geschehen finden sich bei den Nachfolgern, welche den Seinsbegriff
der fUeaten eigens zu diesem Zwecke in denjenigen des Elements, der Homöo-
merie und des Atoms umbildeten. Sie alle erklären, dass unter Geschehen nichts
anderes zu verstehen sei, ab Bewegung unveränderlicher Körpertheile^^Empe-
dokles und Anaxagoras schenien noch versucht zu haben, damit die Leug-
DUDg des leeren Baums zu verbinden, die sie von Parmenides übernahmen : sie
schrieben ihren Stoffen durchgängige Theilbai'keit und Verschiebbarkeit der
Theilchen in der Weise zu, dass bei der Mischmig und gegenseitigen Durch-
dringung der Elemente stets aller Baum ausgefüllt sein sollte. Die Weltbewegung
besteht also in dieser Verschiebung der Stofitheile, von denen jedes immer das
andere drängt und verdrängt. Von einander entfernte Dinge vermögen nicht
anders auf einander zu wirken, als indem Theile des einen ausfliessen und in das
andere eindringen; diese Wirkung ist um so eher möglich, je ähnUcher ihrer
räumlichen Gestalt nach die Ausflüsse des einen Körpers den Spaltungen (Poren)
des anderen sind. So lehrte wenigstens Empedokles, und auch bei Anaxagoras
ist die Annahme einer unendlichen Theilbarkeit der Stoffe bezeugt.
Anders und der heutigen Vorstellungsweise verwandter ist das Bild des Ge-
schehens bei Leukippos. Die Atome, welche sich im leeren Raum treffen,
wirken auf einander durch Druck und Stoss, lagern sich an einander und bilden
1) Die byi>otheti8cbe Darstellung, wie man sich nämlich die Welt denken müsste, woim
man neben dem Sein auch Nichtsein, Vielheit und Werden für real ansähe, hatte einerseits
polemischen Zweck, andrerseits kam sie doch dem Bedürfmss der Schüler eiitgegeu, die ver-
muthlich von dem Meister (Joch auch einigen Aufschluss über die empirische Welt verlangten.
40 L Philosophie der Grriechen. 1. Kosmologische Periode.
SO die grösseren oder kleineren Dinge und Dingmassen, welche erst durch einen
von aussen kommenden Stoss oder Druck anderer Massen wieder getrennt und
zerstreut werden. In diesem Wechsel von Bildung und Zertrümmerung der
Atomcomplexe besteht alles Geschehen.
Die Grundform der Weltbewegung ist aber in allen drei Systemen der
Wii'bel, der kreisförmige Umschwung (SCvyj). Nach Empedokles wird er durch
die zwischen den Elementen thätigen Kräfte der Liebe und des Hasses herbei-
geführt, nach Anaxagoras wird er durch den zweckthätigen Veraunftstoff be-
gonnen, um sich dann mit mechanischer Consequenz fortzusetzen, nach Leukipp
ist er das jedesmalige Resultat des Zusammentreffens mehrerer Atome. Das
Princip des Mechanismus ist bei Empedokles noch mythisch verhüllt, bei
Anaxagoras erst halb zum Durchbruch gelangt und nur von Leukipp vollständig
durchgeführt worden. Was die beiden daran hinderte, war die Einmischung von
Werthbestimmungen in die erklärende Theorie: der Eine wollte das Gute und
das Schlechte auf entsprechende Gemüthskräfte zurückfuhren, die freilich keinem
Wesen zugeschrieben, sondern mythisch verselbständigt wurden; der Andere
glaubte die Ordnung des Ganzen nur aus einem zweckmässigen, vernünftig über-
legten Anstoss der Bewegungen erklären zu können. Doch ging bei beiden die
Annäherung an Leukipp so weit, dass sie die teleologische Erklärung nur
für den Anfang des Wirbels in Anspruch nahmen, den weiteren Ablauf der Be-
wegungen aber und damit jedes einzelne Geschehen rein mechanisch,
wie Leukipp, durch das Schieben und Drängen der einmal nach bestimmter Weise
in Bewegung befindlichen Stofftheile erklärten. Sie verfuhren dabei so con-
sequent, dass sie auch die Entstehung und die Functionen der Organismen, unter
denen ihnen übrigens die Pflanzen für ebenso beseelt, wie die Thiere galten, von
dieser rein mechanischen Erklärung nicht ausschlössen. Dem Anaxagoras wird
dies von Piaton und Aristoteles zum Vorwm'f gemacht, und von Empedokles ist
eine Aeusserung überUefert *), wonach er lehrte, die Thiere seien hie und da
regellos, in wunderlichen und grotesken Bildungen entstanden, und es hätten sich
im Laufe der Zeit nur die lebensfähigen erhalten. Das Princip des Heberlebens
des Zweckmässigen, das in der heutigen Biologie (Darwinismus) eine so grosse
Rolle spielt, ist hier bereits klar formuhrt.
Ein interessanter Gegensatz zeigt sich aber auf Grund dieser Vorstellungen
bei den drei Forschern hinsichtUch ihrer Stellung zu den kosmogonischen Lehren.
Für Empedokles nämlich und Leukippos ist der Process der Weltbildung und
Weltauflösung ein immerwährender, filr Anaxagoras dagegen ist er ein einmaliger:*
und zwischen den beiden ersten ist wieder der Unterschied, dass Empedokles
eine periodische Abwechslung von Weltentstehung und Weltuntergang nach Art
des Heraklit lehrt, der Atomismus dagegen eine zahllose Vielheit von Welten
werden und vergehen lässt. Nach den Bestinmiungen des Empedokles nämlich
giebt es vier verschiedene Zustände der Elemente : ihre vollkommene Mischung,
in der nur die Liebe herrscht und der Hass ausgeschlossen ist, nannte er ay ai-
1) Ai'iat. Phys. II 8, 198 b 29. Uebrigens wird schou dem Anaximander eine Aeusse-
rung zugeschrieben, welche eine Umwandlung der Organismen durch Anpassung an veränderte
Lebensbedingungen lehrt: Flut. plac. V, 19, 1 (Dox. D. 430, 15). Auch für den Menschen
nahmen die ältesten Denker keinen anderen Ursprung, als den des Herauswachsens aus der
Thierwelt in Anspruch: so Empedokles bei Plut. ström, fr. 2 (Dox. D. 579, 17).
§ 5. BegrifTe des Geschehens. (Leukippos, Anaxagoras.) 41
poc*); durch Eindringen des Hasses sondert sich diese homogene Weltkugel in
die einzelnen Dinge, bis die Elemente vollkommen getrennt sind; und aus dieser
Scheidung führt sie die Liebe wieder zusammen, bis die volle Vereinigung wieder
erreicht ist. Weder bei völliger Mischung noch bei völliger Trennung giebt es
einzelne Dinge; in beiden Fällen tritt der eleatische Akosmismus ein. Eine Welt
bewegter Einzeldinge besteht nur, wo Liebe und Hass in MisTchung und Ent-
mischung mit einander ringen.
Anders bei Leukipp. Von den Atomen, die im Weltall regellos fliegen,
treflfen hie und da einige zusammen. Wo solche Anhäufungen stattfinden, da
resultirt nach der mechanischen Nothwendigkeit (ava7X7]) aus den ver-
schiedenen Bewegungsantrieben, welche die einzelnen Theilchen mitbringen, eine
drehende Gesammtbewegung, welche benachbarte Atome und Atomcomplexe
oder andere zufliegende Theilchen, manchmal auch schon ganze „Welten" in
sich hineinzieht und so sich mit der Zeit ausbreitet. Dabei gUedert sich ein
solches im Umschwung begriffenes System in sich selbst, indem bei der Drehung
die feineren, beweglicheren Atome in die Peripherie getrieben, die trägeren,
massigeren in der Mitte versammelt werden und so das Gleiche sich zum Gleichen
findet, nicht durch Neigung oder Liebe, sondern durch die gleiche Gesetzmässig-
keit des Drucks und Stosses. So entstehen zu verschiedenen Zeiten an ver-
schiedenen Orten im unendlichen Weltall verschiedene Welten, von denen jede
nach mechanischem Gesetz sich in sich weiter bewegt, bis sie vielleicht durch
einen Zusammenstoss mit einer anderen Welt zertriunmert oder auch in den Um-
schwung einer grösseren hineingerissen wird. So seien, haben die Atomisten
behauptet, dereinst Sonne und Mond eigene Welten gewesen, die dann in den
grösseren Wirbel, dessen Mitte unsere Erde bilde, hineingerathen seien. Wie
nahe diese ganze Vorstellung principiell an diejenige der heutigen Naturwissen-
schaft reicht, liegt auf der Hand.
Die teleologische Betrachtungsweise des Anaxagoras dagegen
schliesst ebenso die zeitliche wie die räumliche Vielheit von Welten aus. Der
ordnende Geist, der die zweckmässigste Bewegung der Elemente einleitet, gestal-
tet eben nur diese Eine Welt, welche die vollkommenste ist^). Daher schildert
Anaxagoras ganz nach Art der kosmogonischen Dichtungen, wie dem Weltanfang
ein chaotischer Urzustand voranging, in dem die Elemente ohne Ordnung, un-
bewegt, durch einander gemischt waren: da kam der voö<;, der Vernunftstoff, hinzu
und setzte sie in geordnete Bewegung. Dieser Wirbel begann an Einem Punkte,
dem Pol des Himmelsgewölbes, und breitete sich allmähg über die ganze Stoff-
masse aus, die Elemente scheidend und vertheilend, so dass sie nun in gleich-
massig harmonischer Weise ihren gewaltigen Umschwung vollenden. Das teleo-
logische Motiv der Lehre des Anaxagoras erwächst wesentlich seiner Bewun-
derung der Ordnung in der Gestirn weit, die sich, nachdem einmal die vom
voöc erregte Drehung sie hergestellt hat, in immer gleichen Geleisen ohne Stö-
rung bewegt. Nichts lässt annehmen, dass diese teleologische Kosmologie auf
die Zweckmässigkeit der Lebewesen oder gar auf die für den Menschen erspriess-
1) Oflfenbar nicht ohne Anlehnung an die eleatische Weltkugel, der diese absolute,
völlig ausgeglichene Mischung aller Elemente des Empedokles sehr ähnlich sieht. — 2) Aus-
geführt findet sich dies Motiv bei Piaton, Tim. 31 mit unverkennbarer Beziehung auf den Gegen-
satz zwischen Anaxagoras und den Atomisten.
42 !• Philosopliie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
liehen Zusammenhänge der Natur hingewiesen hätte : ihr Auge hing an der Schön-
heit des Sternenhimmels, und was von Ansichten des Anaxagoras über terrestri-
sche Dinge, über Organismen, über den Menschen berichtet wird, hält sich ganz
im Rahmen der mechanistischen Erklärungsweise seiner Zeitgenossen. Auch was
er über die Belebtheit anderer Weltkörper als der Erde gesagt hat, klingt so,
dass es ebenso gut von den Atoraisten herrühren könnte.
Obwohl somit Anaxagoras den voö<; auch als Princip der Beseelung auffasste und die
Theilchen dieses Stoftes in grösserer oder geringerer Menge den organischen Körpern beige-
mischt dachte, so fällt doch der Schwerpunkt dieses Begriffs bei ihm auf die Urheberschaft
der astronomischen Weltordnung: die andere Seite, das Moment der Beseelung, dagegen findet
sich viel energischer betont in der Umbildung, welche ein jüngerer eklektischer Naturphilosoph,
Diogenes von Apollonia, mitdemBegriif des Anaxagoras vornahm, indem er ihn mit dem
hylozoistischcu Princip des Anaximenes verband. Er bezeichnete nämlich die Luft als ^x**!»
stattete sie aber mit den Merkmalen des voö?, der Allwissenheit und der zweckthätigen K^raft
aus, nannte diese „vernünftige Luft** auch das nveu^a und fand, dass dasselbe, wie im Weltall,
so auch im Menschen und anderen Oi-ganismen das zweckmässig gestaltende Princip sei. Eine
reiche physiologische Kenntniss erlaubte ihm, diesen Gedanken an dem Bau und den Functionen
des menschlichen Leibes im Einzelnen durchzuführen. Bei ihm ist die Teleologic zur be-
heiTschendeu Auffassung auch für die organische Welt geworden.
Seine Fi*agmente haben Schorn (Bonn 1829) und Panzkrbieter (Leipzig 1830) ge-
sammelt. Vgl. K. Steinhart, in der Eucyklopädie von Ei-sch und Gruber.
6. Alle diese Lehren aber setzten den Begriff der Bewegung als einen
selbstverständUchen voraus: sie glaubten die quaUtative Veränderung erklärt zu
haben, wenn sie als deren wahres Wesen Bewegungen, sei es zwischen den con-
tinuirlich zusammenhangenden Stofftheileu, sei es im leeren Raum, nachwiesen.
Daher richtete sich denn auch die Gegnerschaft, welche die eleatische Schule
allen diesen Lehren entgegenbrachte, in erster Linie gegen diesen Begriff der
Bewegung, undZenon zeigte, dass derselbe durchaus nicht so einfach hinzu-
nehmen, sondern voller "Widersprüche sei, die ihn untäugUch zum Erklärungs-
princip machten.
Unter Z en o n ' s berühmten Beweisen von der Unmöglichkeit der Bewegung ')
ist der schwächste deqenige, welcher von der Relativität der Bewegung s -
grosse ausgeht, indem er zeigt, dass die Bewegung eines Wagens verschieden
geschätzt wird, wenn sie von verschiedenen, gleichfalls in Bewegung befindlichen,
aber in verschiedener Richtung und Schnelligkeit fahrenden oder von einem
fahrenden und einem bewegten Wagen aus beobachtet wird. Stärker dagegen
und lange Zeit unüberwunden waren die drei anderen Beweise, welche mit der
Zerlegung des Bewegungsraums und der Bewegungszeit in unendlich viele und
unendlich kleine diskrete Theile operii'ten. Der erste bezog sich auf die Unmög-
lichkeit, einen festen Raum zu durchlaufen, welche durch die unend-
liche Theilbarkeit der Linie begründet werden sollte, indem die unendliche
Anzahl der Punkte, w^elche vor dem Ziel erreicht werden muss, keinen Anfang
der Bewegung gestatte. Etwas variii't erscheint derselbe Gedanke in dem zweiten
Beweise, der die Unmöglichkeit, einen Raum mit beweglicher Grenze
zu durch laufen, dadurch erhärten will, da ss, da der Verfolger in j edem Moment
erst den Punkt erreichen muss, von dem zugleich der Verfolgte aufbricht, dem
letzteren stets ein, wenn auch immer kleinerer, minimaler Vorsprung bleiben
müsse (Achi Ileus und die Schildkröte). Der dritte Beweis richtet sich auf die
unendliche Kleinheit der momentanen Bewegungsgrösse: der be-
1 ) Arist. phys. VI 9, 239 b 9. Vgl. Ed. "Wellmann, Zenon's Beweise gegen die Be-
wegung und ihre AViderlegungen (Frankfurt a. 0. 1870).
§ 5. Begriflfe des Geschehens. (Zcnon, Pythagoreer.) 43
wegte Körper ist in jedem Momente in irgend einem Punkte seiner Bahn, seine
Bewegung in diesem Momente ist gleich Null; aber aus noch so vielen Null ent-
steht keine reale Grösse (der ruhende Pfeil).
Zusammen mit den (oben erwähnten) Aporien über den Raum und die Vielheit
stellen diese Argumentationen Zenon's ein äusserst geschickt entworfenes System
einer Widerlegung der mechanistischen Lehren, insbesondere des Atomismus dar,
welche Widerlegung zugleich als indirecter Beweis für die Richtigkeit des eleati-
schen Seinsbegriffs gelten sollte.
7. Auch die Zahlenlehre der Pythagoreer war insofern eleatisch bestimmt,
als sie der Hauptsache nach dai'auf ausging, mathematische Formen als die
(xrundverhältnisse der Wirklichkeit nachzuweisen : aber wenn sie die letztere als
Nachahmung der ersteren bezeichnete, so schrieb sie doch damit den Einzel-
dingen und dem zwischen ihnen stattfindenden Geschehen eine, wenn auch
abgeleitete und sccundäre Wirklichkeit zu, und die Pythagoreer entzogen sich
der Beantwortung der kosmologischen und physicalischen Fragen um so weniger,
als sie der Philosophie die glänzenden Ergebnisse ihrer astronomischen For-
schung zufuhren konnten. Sie hatten die Kugelgestalt der Erde und der übrigen
Weltkörper erkannt, sie wussten auch, dass der Wechsel von Tag und Nacht auf
einer Bewegung der Erde selbst beruht. Zunächst freilich dachten sie diese
Bewegung als Umkreisung eines Centralfeuers, dem die Erdkugel immer dieselbe
uns unbekannte Seite zukehren sollte *) : dagegen nahmen sie an, dass um das-
selbe Centralfeuer sich ausserhalb der Erdbahn in concentrischen Kreisen der
Ueihe nach Mond, Sonne, die Planeten und zuletzt der Fixsternhimmel bewegten.
In dieses System aber trugen sie nun den metaphysischen DuaUsmus, welchen sie
zwischen dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen statuirt hatten, derartig
hinein, dass sie den Sternenhimmel wegen des erhabenen Gleichmasses seiner
Bewegungen als das Reich der Vollkommenheit, die Welt „unter dem Monde"
dagegen wegen der Unruhe ihrer wechselnden Gestaltungen und Bewegungen als
das der Unvollkonnnenheit betrachtete.
Diese Betrachtung läuft der des Anaxagoras parallel und fuhrt, wenn auch
in anderer Weise zur Verschlingung der Theorie mit Werthbestimmungen. An
der Hand seiner astronomischen Einsichten ist dem griechischen
Geiste der Gedanke einer gesetzmässigen Naturordnung in klarer
Erkenntniss aufgegangen. Anaxagoras schliesst daraus auf ein ordnendes
Princip, der Pythagoreismus findet am Himmel die götthche Ruhe des Sichgleich-
bleibens, die er auf der Erde vermisst. Uralt religiöse Vorstellungen begegnen
sich hier mit dem sehr verschiedenen Erfolg, den die wissenschaftliche Arbeit
der Griechen bis hierher gehabt hat : wenn sie ein Bleibendes im Wechsel des
Geschehens suchte, so hat sie dies nur in den gi'ossen, einfachen Verhältnissen,
in dem ewig gleichen Umschwünge der Gestinie gefunden. In der irdischen Welt,
mit dem ganzen Wechsel mannigfaltiger, sich stetig durchkreuzender Bewe-
gungen, ist ihr diese Gesetzmässigkeit noch verborgen: sie gilt ihr als ein Gebiet
1) Schon zur Zeit Platon's wurde von jüngeren Pythagoreem (Ekphantos, Hikctas von
Syrakus) die Hypothese des Centralfeuers (und damit die der vorher als zwischen diesem und
der Erde befindlich angenommenen, nur zur Füllung der Zehnzahl erdachten „Gegenerde") auf-
gegeben, dafür aber die Erdkugel in die Mitte der Welt versetzt und mit einer Axendrehung
ausgestattet, mit welcher Annahme dann diejenige eines Stillstandes des Fixstemhimmels ver-
bunden war.
44 I- Philosophie der Grriechen. 1. Eosmologische Periode.
des Unvollkommenen, Niederen, das jener sicheren Ordnung entbehrt. In
gewissem Sinne kann dies als das für die Folgezeit massgebende Schlussresultat
der ersten Periode angesehen werden.
Wie sich die Pythagorcer zu der Frage nach einem periodischen Wechsel von Welt-
entstehung und Weltvernicntung verhalten haben , ist nicht sicher. Eine Vielheit coexistirender
Welten ist bei ihnen ausgeschlossen. In ihrer Weltbildungstheorie und in ihren einzelnen
physicalischen Lehren räumen sie dem Feuer eine so hervorragende Bedeutung ein, dass sie
dem Heraklit sehr nahe kommen. Schon einen der Zeitgenossen des Philolaos, Hippasos
von Metapont, stellt Aristoteles (Met. I, B) unmittelbar mit Heraklit zusammen.
Dass sie neben die vier Elemente des Empedokles als fünftes noch den Aethcr, als das
Element setzten, aus dem die Kugelschalen des Himmels gebildet seien, hängt zweifellos mit
der Scheidung zusammen, die sie zwischen Himmel und Erde machten. Ob und wie sie die
Elemente aus einem gemeinsamen Grunde herleiteten, ist nicht minder schwer zu entscheiden :
nach manchen Stellen scheint es, als hätten sie von einer fortschreitenden „Anziehung", d. h.
in diesem Falle (vgl. oben S. 35) mathematischen Gestaltung des leeren Raums durch das iv,
die über Begrenzung und Unbegrenztes erhabene Urzahl, gesprochen. Doch scheinen auch
in diesen Fragen verschiedene Ansichten innerhalb der Schule neben einander her gegangen
zu sein.
% 6. Die BegrifFe des Erkennens.
M. ScHNEiDEWiN, Ucbcr die Keime erkenntnisstheoretischer und ethischer Philosopheme
bei den vorsokratischen Denkern, Philos. Monatshefte 11 (1869), p. 257, 345, 429.
B. MOnz, Die Keime der Erkenntnisstheorie in der vorsophistischen Periode der grie-
chischen Philosophie. Wien 1880.
Die Frage, was die Dinge eigentlich seien, welche schon in dem milesischen
Begriff der ipyii enthalten ist, setzt, ohne dass dies ausdrücklich gleich zum
Bewusstsein kommt, eine Erschütterung der landläufigen, ursprünghchen und
naiven Vorstellungsweise von der Welt voraus; sie beweist, dass dem Nachdenken
die vorgefundenen Vorstellungen nicht mehr genügen, dass es die Wahrheit hinter
oder über denselben sucht. Gegeben aber sind jene Vorstellungen durch die
sinnHche Wahrnehmung und deren unwillkürliche verstandesmässige Verarbei-
tung, wie sie, von Generation zu Generation fortgepflanzt, verdichtet und fest-
gesetzt, in der Sprache niedergelegt ist. Wenn der Einzelne mit seinem Nach-
denken darüber liinausgeht — und darin besteht schliesslich die wissenschaftliche
That — , so thut er es auf Grund logischer Bedürfnisse, die sich in ihm bei der
Ueberlegung über das Gegebene geltend machen. Sein Philosophiren erwächst
also, auch wenn er sich daiüber nicht Rechenschaft giebt, aus Unzuträghchkeiteu
zwischen seiner Erfahrung und seinem Denken darüber, aus der Unzulänglichkeit,
welche das seiner Vorstellung Gebotene den Anforderungen und Voraussetzungen
seines Verstandes gegenüber aufweist. So wenig anfanglich das naive Philosophi-
ren dieses seines inneren Grundes sich bewusst sein mag, so kann es doch nicht
ausbleiben, dass es mit der Zeit auf diesen verschiedenen Ursprung der in ihm
mit einander ringenden Vorstellungsmassen aufmerksam wird.
1. Die ersten Beobachtungen, welche daher die griechischen Philosophen
über die menschhche Erkenntniss gemacht haben, betreffen diesen Gegensat z
zwischen Erfahrung und Nachdenken. Je weiter sich die erklärenden
Theorien der Wissenschaft von der Vorstellungsweise des täglichen Lebens ent-
fernten, um so mehr wurden ihre Urheber sich darüber klar, dass sie einem andern
Grunde entstixmmten, als die gewohntenMeinungen. Viel freihch haben sie darüber
noch nicht auszusagen. Sie stellen der Wahrheit die Meinung (SöSa) gegenüber,
und oft besagt das eben nur dies, dass ihre eigene Lehre wahr, die Meinungen
der Andern dagegen falsch seien. Nur so viel ist ihnen gewiss, dass sie ihre eigene
§ 6. Begriffe des Erkennens. (Heraklit, Farmenides, Empedoklea, Leukippos.) 45
Ansicht dem Nachdenken verdanken, während die Masse der Menschen^ über
deren intellectuelle Thätigkeit sich gerade die älteren Philosophen, Heraklit, Par-
menides, Empedokles höchst abschätzig äussern, bei dem Sinnenschein verharren.
Nur durch das Denken also (^ povetv, vosiv, Xö^oc) wird die Wahrheit gefunden^ die
Sinne allein geben Lug und Trug '). So weit ist das Nachdenken in sich erstarkt,
dass es nicht nur zu Folgerungen schreitet, welche dem gewöhnUchen Meinen
durchaus paradox geworden sind, sondern auchausdrückhch den Meinungen gegen-
über sich als die einzige Quelle der Wahrheit behauptet.
Wunderlich wirkt es dabei freiUch, wenn man bemerkt, dass diese selbe Be-
hauptung dicht hinter einander von Heraklit und Parmenides in vöUig ent-
gegengesetzter Art erläutert wird. Jener nämhch findet den Trug der Sinne und
den Irrthum der Menge darin, dass die Wahrnehmung dem Menschen das Sein
beharrender Dinge vorspiegelt; der Eleat dagegen eifert gegen die Sinne des-
halb, weil sie uns überreden wollen, es gäbe in Wahrheit Bewegung und Verän-
derung, Werden und Entstehen, Vielheit und Mannigfaltigkeit. Gerade diese
Doppelform, in welcher dieselbe Behauptung auftritt, erweist, dass dieselbe nicht
das Ergebniss einer Untersuchung, sondern der Ausdruck einer Anforderung ist.
üebrigens fügte sich dieser Satz den Weltanschauungen der beiden grossen
Metaphysiker in sehr verschiedenem Masse ein. Heraklit's Fluss aller Dinge mit
dem rastlosen Wechsel einzelner Erscheinungen liess auch die Möglichkeit des
Auftauchens falscher Vorstellungen leicht begreiflich erscheinen, und für den
Schein des Beharrens und Seins war noch eine besondere Erklärung in dem „ Gegen-
lauf" (ivavTtotpoicta) der beiden „Wege" gegeben, welcher diesen Schein da ent-
stehen lässt, wo zugleich ebenso viel verwandelt wie rückverwandelt wird. Dagegen
ist durchaus nicht abzusehen, wo in der Einen, überall gleichen Weltkugel des
Parmenides, die daneben der Eine wahre Weltgedanke sein sollte, der Sitz des
Scheins und des Irrthums gesucht werden sollte: das konnte doch nur bei den
Einzeldingen und deren wechselnden Thätigkeiten geschehen, die selbst für Schein,
für nicht-seiend erklärt wurden. Doch ist in der erhaltenen Literatur auch nicht
der geringste Anhalt dafür zu finden, dass dieser so emfache Gedanke^), der den
ganzen Eleatismus über den Haufen geworfen hätte, den Forschem jener Zeit
gekommen wäre. Jedenfalls beruhigten sich die Eleaten selbst bei der Behaup-
tung, alle Besonderung und Veränderung sei Trug und Schein.
Dieselbe naive Leugnung dessen, was man nicht erklären konnte,
scheinen auch die Nachfolger der Eleaten in Betreff der qualitativen Bestim-
mungen der Einzeldinge angewendet zu haben. Empedokles wenigstens be-
hauptete zwar, alle Dinge seien Mischungen der Elemente: aber die Aufgabe, die
ihm daraus hätte erwachsen müssen, zu zeigen, wie die anderen Qualitäten aus der
Mischung der Eigenschaften der Elemente entstehen, hat er nicht gelöst, er hat
sie sich, soweitunsere Kenntniss reicht, gar nicht gestellt; er hat vermuthlich diese
Sonderqualitäten ebenso für nicht-seiend und für Sinnentrug angesehen, wie Par-
menides alle Qualitäten überhaupt. Und ebenso dürfte die durch Leukipp ver-
tretene älteste Ansicht des Atomismus eben dahin gegangen sein, dass in den
Einzeldingen nur Gestalt, Ordnung, Lagerung und Bewegung der sie zusammen-
1) Herakl. Fragm. (Schust.) 11, 123. Pannen. Fragm. (Karsten; 54 ff. — 2) Zuerst aus-
geführt Platou, Sophist. 237 a.
46 !• Pliilosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
setzenden Atome real wären, die anderen Eigenschaften aber nur einen auch hier
nicht weiter erklärten Sinnentrug bildeten *).
Vielleicht waren diese Schwierigkeiten mitbestimmend für A n a x a g o r a s ,
wenn er alle Qualitäten für ungeworden ansah und danach zahllose Elemente
statuirte. Ihm erwuchs nun aber die entgegengesetzte Schwierigkeit, wie, wenn
Alles in Allem enthalten sein sollte, es kommen konnte, dass dem einzelnen Dingo
nur einige von diesen Quahtäten beizuwohnen scheinen. Zum Theil erklärte er
dies daraus, dass viele Bestandtheile wegen ihrer Kleinheit nicht wahrnehmbar
seien, und dass daher erst das Denken uns über die wahren Qualitäten der Dinge
belehren könne *^); daneben aber scheint er auch den Gedanken verfolgt zu haben,
der schon in Anaximander^s Vorstellung vom otTrstpov sich findet : dass nämlich
eine vollkommene Mischung bestimmter Qualitäten etwas Unbestimmtes ergebe.
So beschrieb er wenigstens die der Weltbildung vorangehende Urmischung aller
Stoffe als völlig qualitätlos ^), und ein ähnlicher Gedanke scheint ilim erlaubt zu
haben, die vier empedokleischen Elemente nicht als Urstoffe anzuerkennen, son-
dern bereits für Mischungen zu halten*).
Der gemeinsame Rationalismus der vorsophistischen Denker nimmt nun
bei den Py thagoreern die besondere Form an, dass für sie die Erkenntniss im
mathematischen Denken besteht, und das ist, wenn auch an sich eine Ver-
engerung, so doch andrei'seits ein grosser Fortschritt insofern, als damit zum
ersten Mal eine positive Bestimmung des Denkens im Gegensätze zur Wahrneh-
mung gegeben wird. Nur durch die Zahl, lehrte Philolaos^), ist das Wesen der
Dinge zu erkennen, d. h. sie sind erst begriffen, wenn die ihnen zu Grunde liegende
mathematische Bestimmtheit erkannt ist. So hatten die Pythagoroer es in der
Musik und in der Astronomie erfahren, und so verlangten und versuchten sie es
für alle anderen Gebiete. Wenn sie dann aber schliesslich zu dem Resultate kamen,
dass diese Anforderung vollständig nur in der Erkenntniss der vollkommenen
Welt der Gestirne erfüllt werden kann, so folgerten sie daraus, dass die Wissen-
schaft (aoyia) sich nur auf das Reich der Ordnung und der Vollkommenheit, d. h.
auf den Himmel zu beziehen habe, und dass in dem Reiche des Unvollkommenen,
des ungeordneten Wechsels, d. h. auf Erden nur die praktische Tüchtigkeit
(apsTTj) gelte *^).
Eine andere positive Bestimmung des Denkens, das die Früheren ohne
nähere Angabe dem Wahrnehmen gegenübergest<;llt hatten, dämmeiii in den Ar-
gumentationen Zenon's herauf: die logische Gesetzmässigkeit. Allen seinen
Angriffen gegen die Vielheit und die Bewegung liegt, wenn auch nicht abstract
ausgesprochen, so doch sehr klar und sicher angewendet der Satz des AVider-
spruchs und die Voraussetzung zu Grunde, dass das nicht wirklich sein könne,
wovon dasselbe bejaht und auch verneint werden müsse. Die hochgradige Paro-
doxie der eleatischen Weltansicht zwang ihre Vertreter mehr als andere zur
Polemik, und von der ausgebildeten Technik des Widerlegens, zu der es die Schule
in Folge dessen brachte, bieten die Berichte über Zenon's, wie es scheint, auch
1) Es ist äusserst unwahrscheiüli(;h, dass die Lösung des Problems durch die Subjectivitat
der Sinnesqualitäten, welche sich bei Dcmokrit findet, schon von Lcukipp, also vor Protagoras,
der allgemein als Begründer dieser Theorie nrilt, vorgetragen sein sollte. — 2) Scxt. Enip. adv.
matli. VII, 90 1". — S) Fr. (Schorn) 4. Von dieser Stelle dürfte auch das rechte Licht auf den
Sinn fallen, in welchem schon Auaxiniander das ÄTtsipov als otopisxov l)ezeichnet. — 4) Arist,
de gen. et corr. I 1, 314 a 24. — 5) Fragm. (Müll.) 13. — 6) Stob. Ecl. I, 488.
§ 6. BegriflFe des Erkennens. (Zenon.) 47
logisch wohlgeordnete und eingetheilte Schrift ein rühmliches Zeugniss. Aller-
dings scheint diese formale Schulung, welche in den eleatischen Kreisen herrschte,
zu abstracter Aufetellung logischer Gesetze noch nicht geführt zu haben.
2. Die Gegenüberstellung von Denken und Wahrnehmen entsprang also
dem Postulat einer erkenntnisstheoretischen Werthbestimmung: im
entschiedenen Widerspruche damit stehen nun aber durchgängig die psycholo-
gischen Bestimmungen, mit denen dieselben Forscher den Ursprung und den
Process des Erkennens aufzufassen suchten. Obwohl nämlich ihr Denken zunächst
und hauptsächlich auf die Aussenwelt gerichtet war, so fiel doch auch die seeUsche
Thätigkeit des Menschen insofern unter ihre Aufmerksamkeit, als sie auch darin
eine der Gestaltungen und Verwandlungen oder eines der Bewegungserzeugnisse
des Universums sehen mussten. Die Seele und ihr Thun wird also in dieser Zeit
nur im Zusammenhange des ganzen Weltlaufs, dessen Product sie so
gut ist wie alle anderen Dinge, wissenschaftlich betrachtet, und da die all-
gemeinen Erklärungsprincipien überall bei diesen Männern noch körperlich ge-
dacht werden, so begegnen wir auch einer durchgängig materialistischen
Psychologie*).
Seele ist nun zunächst Bewegungskraft: Thaies schrieb eine solche dem
Magneten zu und erklärte, die ganze Welt sei voller Seelen. Das Wesen der
Einzelseele wurde daher zunächst in Demjenigen gesucht, was als das bewegende
Princip im Ganzen erkannt worden war: Anaximenes fand es in der Luft, Heraklit
und gleichfalls Parmenides (in seiner hypothetischen Physik) im Eeuer, ebenso Leu-
kipp in den Peueratomen ^), Anaxagoras in dem weltbewegenden Vernunftstoff, dem
voöc Wo ein körperliches Bewegungsprincip fehlte, wie bei Empedokles, da wurde
der Mischstoff, der den lebendigen Leib durchströmt, das Blut, als Seele angesehen :
Diogenes von ApoUonia fand das Wesen der Seele in der dem Blut beigemischten
Luft ^). Auch bei den Pythagoreem konnte die Einzelseele nicht mit dem iv,
welches sie als weltbewegendes Princip dachten, gleichgesetzt oder als Theil davon
angesehen werden: statt dessen lehrten sie, die Seele sei eine Zahl, und bestimmten
diese sehr vage Behauptung näher dahin, sie sei eine Harmonie, ein Ausdruck,
den man ^) nur so auffassen kann, dass sie darunter eine Harmonie des Leibes, d. h.
das lebendige Zusammenspiel der Theile desselben verstanden.
Wurden nun dieser Bewegungskraft, welche im Tode den Leib verlässt,
zugleich diejenigen Eigenschaften beigelegt, welche wir jetzt als „seelische"
bezeichnen, socharakterisirt sich das specifisch theoretische Interesse, von dem diese
älteste Wissenschaft erfüllt war, sehr deutlich dadurch, dass unter diesen fast aus-
schliesslich das Vorstellen, das „Wissen" beachtet wird^). Von Gefühlen und
1) Neben denjenigen BeBtimmiingon über die Seele, welche aus der allgemeinen wissen-
schaftlichen Ansicht sich ergaben, finden sich in der Ucberlieferung bei mehreren dieser
Männer (Heraklit, Parmenides, Empedokles und den Pythagoreem) noch andere Lehren, welche
mit jenen nicht nur ohne Zusammenhang, sondern im directen Widerspruche sind. Auffassung
des Leibes als Kerkers der Seele (oajfxa = G^jJia), persönliche Unsterblichkeit, Vergeltung
nach dem Tode, Seelenwanderung : das alles sind Vorstellungen, welche die Philosophen ihren
Beziehungen zu den Mysterien entnahmen und in ihrer priesterlichen Lehre beibehielten, so
wenig sie mit den wissenschaftlichen zusammen stimmten. Von solchen Aeusscrungen ist
oben Abstand genommen. — 2) Aehnlich erklärten einige der Pythagoreer die Sonnenstäub-
chen in der Luft für Seelen. — 3) Da er mit Hinblick darauf den Unterschied venösen und
arteriellen Bluts erkannte, so meinte er mit seinem TCV£U(jia das, was die heutige Chemie Sauer-
stoff nennt. — 4) Nach Piaton, Phaed. 85 ff. — 5) Der voü<; des Anaxagoras ist nur Wissen,
die Luft bei Diogenes von Apollonia ein grosser, kräftiger, ewiger, vieles wissender Körper,
48 J« Philosophie der Griechen. 1. Kosmologische Periode.
Willensthätigkeiten ist kaum gelegentlich die Rede *). Wie aber die Einzelseele,
sofern sie Bewegungskraft ist, ein Theil der das ganze Weltall bewegenden Kraft
sein sollte, so konnte auch das Wissen des Einzelnen nur als ein Theil des Welt-
wissens ^) aufgefasst werden. Am deutlichsten ist diesbeiHeraklit und Anaxagoras :
jeder Einzelne hat so viel Wissen, wie in ihm von der allgemeinen Weltvemunft,
dem Feuer bei Heraklit'), dem vof><; bei Anaxagoras, enthalten ist. Auch bei
Leukipp und Diogenes von Apollonia sind die Vorstellungen ähnlich.
Dieser physicaUschen, bei Anaxagoras besonders rein quantitativen Auf-
fassung hat jedoch Heraklit eine Wendung gegeben, bei der wieder das erkenntniss-
theoretische Postulat durchdringt und sich als verinnerlichende und vertiefende
Kraft geltend macht. Die Weltvernunft, an der der Einzelne in seiner Erkenntniss
participirt, ist überall dieselbe ; der XöYo<;des Heraklit *) und der vofi<; des Anaxagoi*as
sind als die in sich gleichartige Veniunft durch das ganze Weltall als bewegende
Kraft vertheilt. Das Wissen also ist das Allen Gemeinsame. Es ist deshalb
das Gesetz und die Ordnung, der sich Jeder zu fügen hat. Im Traum, in der
persönlichen Meinung hat Jeder seine eigene Welt : das Wissen ist Allen gemein
l^ovöv]. Vermöge dieses Merkmals des allgemein geltenden Gesetzes erhält der
Begriflf des Wissens einen normativen Sinn^), und die Unterordnung unter
das Gemeinsame, das Gesetz, erscheint als Pflicht auf dem intellectuellen Gebiete
ebenso wie auf dem politischen, sittlichen und religiösen®).
3. Fragen wir nun aber, wie man unter diesen Voraussetzungen sich erklärte,
dass das „Wissen" in den einzelnen Menschen, d. h. in seinen Leib hineinkommt,
so hat auchHeraküt und die ganze Schaar seiner Nachfolger keine andere Antwort,
als die: durch das Thor der Sinne. Beim wachen Menschen strömt durch die
geöffneten Sinne (Gesicht und Gehör werden natürlich hauptsächlich berück-
sichtigt '') die Weltvemunft in den Leib ein, und darum weiss er. Freilich nur,
das Sein bei Parmeuides zugleich voetv etc. Nur «fiXot-rj? und vstxog bei Empedoklcs sind
mythisch hypostasirte Triebe; sie haben aber auch mit seinen psychologischen Ansichten
Nichts zu thun.
1) Es hängt damit zusammen, dass im Allgemeinen nicht einmal von Ansätzen ethischer
Untersuchung in dieser Periode gesprochen werden kann. Denn einzelne moralisireude Re-
flexionen oder Ermahnungen können nicht als Anlange der Ethik gelten. Ueber die einzige
Ausnahme vgl. unten Anm. 6. - 2) Den Ausdruck „Weltscele** hat zuerst Piaton oder
frühestens (in dem allerdings gerade auch deshalb angezweifelten Fr. [Mull.] 21) Philolaos
gebraucht. Die Vorstellung ist l)ei Anaxiraeues, Heraklit, Anaxagoras und wohl auch bei den
Pythagoreem sicher vorhanden. — 8) Daher der paradoxe Ausspruch, die trockenste Seele
sei die weiseste, und die Mahnung, die Seele vor Nässe (llausch) zu schützen. --- 4) Vgl.
hier/u und weiter M. Heinze, Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie
(Oldenburg 1872). — 5) Fragm. (Schüst.) 123. — ö) Dies ist der einzige Begriff in der
Entwicklung des vorsophistischen Denkens, bei welchem man von dem Versuch der Auf-
stellung eines wissenschaftlichen IVincips der Ethik sprechen kann. Wenn Heraklit bei
dieser Unterordnung unter das (Icsetz einen allgemeinen Ausdruck für alle moralischen
Pflichten im Auge hatte oder wenigstens traf, so knüpfte er denselben zugleich an den Grund-
gedanken seiner Metaphysik, wt^lche dies Gesetz für das bleibende AVesen der Welt erklärte.
Doch ist oben (§ 4) darauf hiugewiesen worden, dass er in dem Begriff der Weltordnung, der
ihm vorschwebte, die verschiedenen Motive (namentlich eben das physische vom ethischen)
noch nicht bewusst sonderte, und so arbeitet sich auch die ethische Untersuchung noch nicht
klar aus der physischen zur S«'lbständigkeit heraus. Dasselbe gilt von den Pythagoreem,
welche den Begriff der Ordnung durch den (übrigens auch von Heraklit zu übernehmenden)
Terminus Harmonie ausdrückten, und deshalb auch ihrei-seits die Tugend als „Harmonie" be-
zeichneten. Freilich nannten sie eine Harmonie auch die Seele, die Gesundheit und vieles
andere. — 7) Daneben noch Geruch (Eui^iedokles) und Geschmack (Anaxagoras). Auf den Tast-
sinn scheinen nur die Atomisten, insbesondere aber erst Dcmokrit Werth gelegt zu haben.
§ 6. Begriffe des Erkennens. (Heraklit — Anaxagoras.) 49
wenn in ihm selbst noch so viel Vernunft oder Seele ist, dass der von aussen
kommenden Bewegung eine innere entgegenkommt ^): aber auf dieser durch die
Sinne bewirkten Wechselwirkung zwischen der äusseren und der inneren Vernunft
beruht das Erkennen.
Einen psychologischen Unterschied also zwischen Wahrnehmen und
Denken, die in ihren erkenntnisstheoretischen Werthen so schroflf einander gegen-
übergestellt werden, weiss Herakht nicht anzugeben: ebensowenig aber ist dazu
Parraenides^) im Stande gewesen **). Vielmehr hat er die Abhängigkeit, in
welcher sich das Denken des einzelnen Menschen von seinen leiblichen Ver-
hältnissen befinde, noch viel schärfer ausgesprochen, wenn er sagte, dass jeder so
denke, wie es durch die Mischung der Stoffe in seinen Leibesgliedern bedingt
würde, und wenn er darin eine Bestätigung seines allgemeinen Gedankens von
der Identität der Körperlichkeit und des Denkens überhaupt fand*). Noch aus-
drücklicher wird von Empedokles bezeugt*), dass er Denken und Wahrnehmen
für dasselbe erklärt, von der Veränderung des Leibes diejenige des Denkens
abhängig gedacht und für die intellectuelle Befähigung des Menschen die Mischung
seines Bluts als massgebend angesehen habe.
Auch zögerten beide nicht, diese Auffassung durch physiologische Hypo-
thesen anschauUcher zu machen. Parmenides lehrte in seiner hypothetischen
Physik, das Gleiche werde überall durch das Gleiche, das Warme aussen durch
das Warme im Menschen, das Kalte aussen sogar noch durch das Kalte imLeichnam
wahrgenommen, und Empedokles führte den Gedanken, dass jedes Element in
in unserem Leibe dasselbe Element in der Aussen weit wahrnehme, unter Benutzung
seiner Theorie der Ausflüsse und Poren in dem Sinne aus, dass danach jedes
Organ nur dem Eindruck derjenigen Stoffe zugänglich wäre, deren Ausflüsse in
seine Poren hineinpassten : d.h. er leitete die specifische Energie der Sinnesorgane
aus Aehnlichkeitsverhältnissen zwischen ihrer äusseren Gestalt und ihren Gegen-
ständen her, und er hat dies für das Sehen, Hören und Riechen mit theilweise
recht feinen Beobachtungen ausgeführt *).
Dieser Ansicht, dass Gleiches durch Gleiches aufgefasst werde, ist Anaxa-
goras — man sieht nicht sicher, aus welchem Grunde^) — entgegengetreten,
indem er lehrte, es werde nur Entgegengesetztes durch Entgegengesetztes, das
Warme ausserhalb durch das Kalte im Menschen u. s. w. wahrgenommen ^) : jeden-
1) Arist. de an. I 2, 405 a 27. — 2) Theophr. de sens. 3 f. — 3) Ebenso wird zwar von
Alkmaion, dem pythagoreisirenden Arzte, berichtet (Theoph. de sens. 25), er habe das Denken
oder das Bewusstsein (5ti jjlovo? 5» vtiq oi) für das unterscheidende Merkmal des Menschen den
übrigen Animalien gegenül)er erklärt. Aber eine genauere Bestimmung fehlt auch hier, wenn
man nicht dem Ausdruck nach an etwas ähnliches, wie das aristotelische xotviv aiid^xr^piov
denken will. Damit würde übereinstimmen, dass in den Kreisen der Pythagoreer und der
ihnen nahe stehenden Aerzte die ersten Versuche gemacht worden zu sein scheinen, die ein-
zelnen seelischen Thätigkeiten an einzelne Theile des Leibes zu localisiren: das Denken in das
Gehirn, die Wahrnehmung an die einzelnen Organe und das Herz, in das letztere auch die Ge-
müthsbewegimgen u. s. w. Von hier scheint Diogenes von Apollonia und na(ih ihm Demokrit
diese Anfange einer physiologischen Psychologie übernommen zu haben. — 4) Fragm. (Karst.)
V. 146-149. — 5) Arist. de an. I 2, 404 b 7. Hl 3, 427 a 21. Met. ni 5, 1009 b 17. Theophr.
de sens. 10 f. -- 6) Theophr. de sens. 7. — 7) Vielleicht liegt eine Erinnerung an Heraklit vor,
der auch die Wahrnehmung aus der evavTtoxpoicta — Bewegung gegen Bewegung — erklärte und
bei dem der Gegensatz das Princip aller Bewegung war. — 8) Theophr. de sens. 27 ff. Inter-
essant ist, dass Anaxagoras daraus den Schluss zog (ibid. 29), jede Wahrnehmung sei mit
Unlust (XüicYj) verbunden.
Wiudelband, Geschichte der Philosophie. 4
50 !• Philosophie der kriechen.
w
falls ist auch seine Lehre ein Beweis davon, dass diese metaphysischen
Rationalisten in ihrer Psychologie sämmtlich einen groben Sensualis-
mus vertraten.
2. Kapitel Die anthropologische Periode.
G. Grote, Hiatory of Greece. VITI (London 1850). 474^544.
C. F.Hermann, Geschichte und System der platonischen Philo8ophieI(Heidelbei*gl839).
p. 179—231.
Ela8s, Die attische Eoredaamkcit von Gorgias bis zu Lysias (Jjeipzig 1868).
H. KöcHLY, Sokrates und sein Volk, 1855, in ,, Akad. Vorträgen und Reden" I (Zürich 1859).
p. 2fl9 ff.
H. SiBBECK, Ueber Sokrates' Vcrhältniss zur Sophistik, in ^^Untersuchungen zur Philo-
sophie der Griechen" 1873. 2. Aufl. (Freiburg i. B. 1888).
W. Windelband, „Sokrates" in ,Praeludien" (Freiburg i. B. 1884). p. 54 ff.
Die Weiterentwicklung der griechischen Wissenschaft ist durch den Um-
stand bestimmt worden, dass dieselbe in dem gewaltigen allgemeinen Aufschwung
des geistigen Lebens, den die Nation nach dem siegreichen Erfolge der Perser-
kriege gewann, aus dem stillen Betriebe eng in sich geschlossener Schulverbände
auf den leidenschaftlich bewegten Boden der Oeffentlichkeit hinausgerissen
wurde.
Die Kreise, in denen die wissenschaftliche Forschung gepflegt wurde,
hatten sich von Generation zu Generation erweitert, und die Lehren, welche
zunächst im kleineren Verbände vorgetragen und in schwer verständlichen
Schriften verbreitet worden waren, hatten angefangen, in das allgemeine Bewusst-
sein durchzusickern. Schon fingen die Dichter (Euripides, Epicharm) an,
wissenschaftliche Begrifl'e und Ansichten in ihre Sprache zu tibersetzen ; schon
wurden die Kenntnisse, welche die Naturforschung erworben hatte, zur prak-
tischen Verwerthung (Hippodamos und seine Bauten) herangezogen. Selbst
die Med i ein, welche früher nur eine traditionell geübte Kunst gewesen war,
wurde mit den allgemeinen Begriffen der Naturphilosophie und mit den beson-
deren Lehren, den Erkenntnissen und den Hypothesen der physiologischen For-
schung, die im Laufe der Zeit einen immer breiteren Raum in den Systemen der
Wissenschaft eingenommen hatte, deraitig durchsetzt, dass sie von ätiologischen
Theorien über>vuchert wurde ^) und erst in Hippokrates den Reformator fand,
der diese Tendenz auf das rechte Mass zurückführte und der ärztlichen Kunst
ihren alten Charakter im Gegensatz zur wissenschaftlichen Doctrin zurückgab *).
Dazu kam, dass die griechische Nation, durch schwere innere und
äussere Schicksale gereift, in das Alter der Männlichkeit getreten war. Sie hatte
den naiven Glauben an das Althergebrachte verloren, und sie hatte den Werth
des Könnens und Wissens für das praktische Leben erfahren. Sie verlangte jetzt
von der Wissenschaft, die bisher in der Stille nur dem reinen Triebe des For-
schens, der edlen Neugier des Wissens um seiner selbst willen nachgegangen
war, Aufschluss über die ITragen, die sie bewegten, Rath und Hilfe in den Zwei-
1) Diese Neuerung in der Medicin begann bei den dem Pythagoreismus nahe stehen-
den Aerzten, besonders bei Alkmaion. Als literarischer Typus davon gilt die fälschlich
unter dem Namen de« Hippokrates gehende Schrift irspl StatxT]? : vgl. H. Siebeck, Gesch. der
Psychol. I 1, 94 &\ — 2) Vgl. hauptsächlich seine Schriflen «epl ap/atrji; ifiTptxY]<; und Kspl
2. Anthropologische Periode. 51
fein, in welche sie die üeberlebendigkeit ihrer eigenen Cidturentwicklung stürzte.
Und während in der fieberhaften Wetterregung der geistigen Kräfte, welche diese
grösste Zeit der Weltgeschichte mit sich fiihrte, überall die Ansicht zum Durch-
bruch kam, dass auf jedem Gebiet des Lebens der Wissende der Tüchtigste,
Branchbarste und Erfolgreichste sei, während in allen Sphären praktischer Thä-
tigkeit an die Stelle alter Gewöhnung die fruchtbare Neuerung selbständiger
Ueberlegung und eigenen ürtheils trat, wurde die Masse des Volkes von
dem Drange ergriffen, sich die Ergebnisse der Wissenschaft zu
eigen zu machen. Besondere aber genügten jetzt für denjenigen, der eine poli-
tische Rolle spielen wollte, nicht mehr wie früher Familientradition, Gewöhnung
und persönliche Vorzüge des Charakters und der Geschicklichkeit, sondern die
Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit der Dinge sowohl wie der intellectuelle Zu-
stand derjenigen, mit denen und auf die er wirken wollte, machte ihm auch eine
theoretische Vorbildung für die politische Laufbahn unerlässlich.
Nirgends war diese Bewegung so mächtig wie in Athen, der damaligen Haupt-
stadt Griechenlands, und hier fand denn auch dies Drängen seine beste Befrie-
digung.
Denn der Anfrage folgte das Angebot. Aus den Schulen heraus traten die
Männer der Wissenschaft, die Sophisten (oo^wrat), in die Oeffentlichkeit und
lehrten das Volk, was sie selbst gelernt oder in eigener Arbeit erforscht hatten.
Sie thaten es zum Theil gewiss aus dem edlen Triebe, die Mitbürger zu belehren ') ;
aber es Wieb nicht aus, dass ihnen diese Belehrung zum Geschäft wurde. Aus
allen Theilen Griechenlands strömten die Männer der verschiedenen Schulen
nach Athen herbei, um ihre Lehren vortragen und aus diesem Vortrage in dem
Centrum, wie in den geringeren Städten, Ruhm und Reichthum zu erwerben.
Hierdurch änderte sich in kurzer Zeit nicht nur die sociale Stellung
der Wissenschaft, sondern auch ihr eigenes, inneres Wesen, ihre Tendenz
und ihre Aufgabe von Grund aus. Sie wurde eine sociale Macht, ein bestim-
mendes Moment im politischen Leben (Perikles); aber sie kam eben dadurch in
Abhängigkeit von den Anforderungen des praktischen und ins-
besondere des politischen Lebens.
Die letzteren zeigten sich hauptsächlich darin, dass die demokratische
Staatsform von dem Politiker in erster Linie die Fähigkeit der Rede verlangte,
und dass daher der Unterricht der Sophisten hauptsächlich als Vorbildung dazu
gesucht wurde und sich mehr und mehr auf diesen Zweck zuspitzte. Die Männer
der Wissenschaft wurden Lehrer der Beredsamkeit.
Als solche aber verloren sie das Ziel derNaturerkenntniss, das der Wissen-
schaft ursprünglich vorgeschwebt hatte, aus den Augen : sie trugen höchstens
noch die überlieferten Lehren in möglichst anziehender und gieschmackvoUer
Form vor. Ihre eigenen Untersuchungen aber, wenn sie sich nicht auf formale
Routine beschränkten, richteten sich nothwendig auf das Denken und Wollen
des Menschen, das ja durch die Rede bestimmt und beherrscht werden sollte,
auf die Art, wie Vorstellungen und Willensbestimmungen entstehen, wie sie mit
einander ringen und gegen einander ihr Recht geltend machen. So nahm die
griechische Wissenschaft eine wesentlich anthropologische oder subjective,
I) Vgl. Protagoras bei Piaton, Prot. 316 d.
52 I- Pbilosophie der Griechen.
auf die inneren Thätigkeiten des Menschen, sein Vorstellen und Wollen bezüg-
liche Kichtung, und zugleich verlor sie ihren rein theoretischen Charakter und
bekam eine vorwiegend praktische Bedeutung*).
Indem nun aber so die Thätigkeit der Sophisten sich vor die Mannigfaltig-
keit menschlichen WoUens und Vorstellens gestellt sah, indem die Lehrer der
Beredsamkeit die Kunst des Ueberredens vortragen und den Wegen nachgehen
sollten, auf denen man jeder Ansicht zum Siege, jeder Absicht zum Erfolge helfen
könnte, tauchte vor ihnen die Frage auf, ob es denn überhaupt über diesen indi-
viduellen Ansichten und Absichten, die jeder in sich als ein Nothwendiges lühlt
und den anderen gegenüber vertheidigen kann, etwas an sich Rechtes und Wahres
giebt. Diese Frage, ob es etwas AUgemeingiltiges giebt, ist das Problem
der anthropologischen Periode der griechischen Philosophie oder der griechischen
Aufklärung.
Denn es ist zugleich das Problem der Zeit, — einer Zeit, in welclier der
religiöse Glaube und die alte Sitte in's Schwanken gerathen war, das Ansehen
der Autorität mehr und mehr sank und Alles einer Anarchie der selbstherrhch
gewordenen Individuen zutrieb. Sehr bald kam diese innere Zersetzung des
griechischen Geistes in den Wirren des peloponnesischen Krieges zum offenen
Ausbruch, und mit dem Sturz der athenischen Vormacht war die Blüthe der
griechischen Cultur geknickt.
Die Gefahren dieser Zustände sind durch die Philosophie zunächst ent-
schieden gesteigert worden. Denn indem die Sophisten die formale Kunst des
Darstellens, Begründens und Widerlegens, welche sie zu lehren hatten, wissen-
schaftlich ausbildeten, schufen sie zwar mit dieser Rhetorik zugleich einerseits
die Anfänge einer selbständigen Psychologie und hoben diesen Zweig der
Forschimg aus der Nebenstellung, welche er in den kosmologisclien Systemen ein-
genommen hatte, zur Bedeutung der Grundwissenschaft empor, und entwickelten
sie zwar andrerseits auch die Vorbereitungen für eine systematische Besinnung auf
die logische und ethische Norm : aber angesichts der Geschicklichkeit, welche
sie übten und lehrten, um jede beliebige Ansicht durchzusetzen ^), kam ihnen
die Relativität menschlicher Vorstellungen und Absichten mit solcher Deut-
lichkeit und mit so überwältigendem Eindruck zum Bewusstsein, dass sie die
Frage nach dem Bestehen einer allgemeingiltigen Wahrheit in theoretischer wie
in praktischer Hinsicht venieinten und damit einen Skepticismus vertraten,
der anfangs eine eniste wissenschaftliche Theorie war, aber bald in ein frivoles
Spiel überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatenthums machten
sich die Sophisten zu den Sprechern all* der zügellosen Tendenzen, welche die
Ordnung des öffentlichen Lebens untergruben.
Das geistige Haupt der Sophistik ist Protagoras, derjenige wenigstens,
von welchem allein philosophisch bedeutsame und fruchtbare Begriffsbildungen
ausgegangen sind. Ihm gegenüber erscheint Gorgias, den man ihm zur
Seite zu stellen pflegt, nur als ein Rhetor, der sich gelegentlich auch einmal auf
dem Gebiete der Philosophie versuchte und die Kunststücke der eleatischen
Dialectik überbot. H i p p i a s vollends und P r o d i k o s sind nur der eine als
1) Cicero's (Tusc. V 4, 10) bekannter Ausspruch ül)er Sokrates gilt für die fi^auze Philo-
sophie dieser Periode. — 2) Vgl. das bekannte xbv yjtxu) Xo^ov xpsitxco irotelv, Aristoph. Nub.
112 ff. 893 ff*. Aristot. Rhet. H 24, 1402 a 23.
2. Anthropologische Periode. 53
Typus popularisirender Polyhistorie, der andere als Beispiel seichten Morali-
sirens zu erwähnen.
Dem wüsten Treiben und der Ueberzeugungslosigkeit der jüngeren Sophisten
hat Sokrates den Glauben an die Vernunft und die üeberzeugung von einer
allgemeingiltigen Wahrheit gegenübergehalten. Diese Üeberzeugung war bei ihm
wesentUch praktischer Art, sie war seine sittlicheGesinnung: aber sie führte
ihn auf eine Untersuchung vom Wissen, das er von Neuem den Meinungen
gegenüberstellte und dessen Wesen er im begrifflichen Denken fand.
Sokrates und die Sophisten stehen somit auf dem Boden desselben Zeit-
bewusstseins und behandeln dieselben Probleme: aber wo die Sophisten mit
ihrer Kunst und Gelehrsamkeit im Gewirr der Tagesmeinungen stecken bleiben
und mit einem negativen Ergebniss endigen, da findet der einfache, gesunde Sinn
und die edle, reine Persönlichkeit des Sokrates die Ideale der Sittlichkeit und
der Wissenschaft wieder.
Der grosse Eindruck, den die Lehre des Sokrates machte, zwang die
Sophistik in neue Bahnen : sie folgte ihm mit dem Versuch, durch wissenschaft-
liche Einsicht sichere Principien sittlicher Lebensführung zu gewinnen, und
während die alten Schulen sich zum grösstenTheil in die rhetorische Lehrthätig-
keit verzettelt hatten, wurden jetzt von Männern, welche den Umgang des athe-
nischen Weisen genossen hatten, neue Verbände gestiftet, in deren wissenschaft-
licher Arbeit sich Sokratisches und Sophistisches oft wunderhch genug durch
einander mischte, während die ledigUch anthropologische B.ichtung der Unter-
suchung dieselbe blieb.
Unter diesen, nicht ganz richtig meist mit dem Namen „Sokratiker"
bezeichneten, Schulen ist die meg arische, von Eukleides gegründet, noch
am meisten den unfruchtbaren Spitzfindigkeiten der späteren Soß)iistik ver-
fallen: ihr schhesst sich als die unbedeutendste die elisch-eretrisc he Schule
an. Der Grundgegensatz aber der Lebensauffassung, welcher im griechischen
Leben jener Tage obwaltete, hat seuien wissenschaftlichen Ausdruck in den Lehren
der beiden Schulen gefunden, deren Gegensatz sich von da durch die ganze
antike Literatur hindurchzieht: der kyni sehen und der ky renaischen, den
Vorgängern der stoischen und der epikureischen. Erstere zählt neben ihrem
Gründer Antisthenes die populäre Gestalt des Diogenes zu ihren Ver-
tretern: in letzterer, die auch die hedonische Schule heisst, sind auf den
Stifter Aristippos sein gleichnamiger Enkel, später Theodoros, Anni-
keris, Hegesias und Euemeros gefolgt.
Die sophistischen Wanderlehrer sind zum TheU aus den früheren Schulgcnossenschaften
hervorgegangen; diese haben, sich dann in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts meist
verloren und einem freieren Vertrieb der gewonnenen Ansichten Platz gemacht, welcher der
Detailforschung, namentlich der physiologischen (Hippon, Kleidemos, Diogenes von
Apollonia)nichtungünstig, abermit einer Erlahmung der allgemeinen Spcculation verbunden
war. Nur die abderitische und die pythagoreische Schule haben diese Zeit der Auflösung über-
dauert; eine Gesellschaft von Herakliteern, welche in Ephesos sich erhielt, scheint bald in
sophistisches Treiben ausgeartet zu sein (Kratylos) *).
Aus der atomistischen Schule erwuchs Protagoras von Abdera (etwa 480—410), einer
der ersten und der mit Recht berühmteste dieser Wanderlehrer. Zu verschiedenen Zeiten in
Athen thatig, soll er, nachdem er daselbst wegen Asebie verurtheilt war, auf der Flucht um-
gekommen sein. Von den zahlreichen Schriften grammatischen, logischen, ethischen, politischen
und religiösen Inhalts, ist sehr wenig erhalten.
1) Bei Piaton (Theaet. 181a) heissen sie ol ^eovxsc; : vgl. Aristot. Met. IV 5, 1010a 13.
54 !• PbiloBophie der Griechen. 3. Anthropologische Periode.
Gorgias von Leontinoi (483—375) war 427 als Gesandter seiner Vaterstadt in Athen,
wo er grossen literarischen Einfluss gewann ; im Alter hat er zu Larissa in Thessalien gelebt.
Er war aus der sicilischen Rednerschule, der auch Empedokles nahe gestanden hatte, hervor-
gegangen*). ... • . .
Von Hippias von Elisist ausser einigen Ansichten (worunter wohl auch die in dem
platonischen Dialog Hippias major kritisirten) nur bekannt, dass er mit seiner Viclwisserei
prunkte. Von Prodikos aus (Julis aup Keos ist die bekannte Allegorie „Herakles am
Scheidewege" bei Xenophon, Memor. II 1, 21 erhalten. Die übrigen Sophisten, meist nur
aus Piaton bekannt, sind ohne eigne Bedeutung; es wird nur dem einen oder dem anderen diese
oder jene charakteristische Behauptung in den Mund gelegt.
Die Auffassung der Sophistik hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass man über sie
fast ausschliesslich durch ihre siegreichen Gegner, Platou und Aristoteles, unterrichtet ist.
Ersterer hat im Protagoras noch eine aunmthig lebendige, von feiner Ironie durchhauchte
Schilderung eines Sophistencongresses, im Gorgias schon eine ernstere, im Theaetet eine
schärfere Kritik, im Kratylos und Euthydem eine übermüthige Verhöhnung der Lehrweise
der Sophisten gegeben. In dem unter Platon's Namen gehenden Dialog Sophistes ist sodann
eine überaus hämische Begriffsbestimmung des Sophisten versucht worden, und zu dem Resul-
tat derselben kommt auch Aristoteles in dem Buch über die sophistischen Trugschlüsse (cap. 1,
I65a21).
Die Geschichte der Philosophie hat die abschätzigen Bcurtheilungen der Gegner lange
nachgesprochen und dem Wort GOffiarr^ (das eigentlich nur einen „Gelehrten", wenn mau
will, einen Professor" bedeutet) den tadelnden Sinn gelassen, welchen ihm jene gegeben hatten.
Heuel hat die Sophisten rehabilitirt; und darauf ist, wie es zu gehen pflegt, zeitweihg eine
Ueberschätzung gefolgt (Grote).
M. Schanz, Die Sophisten. Göttingen 1867.
Sokrates von Athen (469 — 399) macht in der Geschichte der Philosophie schon ausser-
lieh durch seine originelle Persönlichkeit und durch seine neue Art des Philosophirens Epoche.
Er war weder Gelehrter noch Wanderlehrer, gehörte keiner Schule an und hielt sich zu keiner.
Er war ein einfacher Mann aus dem Volke, der Sohn eines Bildhauers und anfangs selbst mit
dem Meissel beschäftigt. Mit tiefem Wissensdrang hatte er die neuen Lehren, von denen die
Strassen seiner Vaterstadt wiederhallten, in sich auigenommen, aber sich durch diese glänzende
Redeweisheit nicht blenden lassen und sich durch sie nicht gefördert gefunden. Seinem scharfen
Denken entgingen die Widersprüche nicht, und sein sittlicher Ernst nahm au der Oberfläch-
lichkeit und Frivolität dieses Bildungsgetriebes Anstoss. Er erachtete es für seine Pflicht,
sich selbst und seine Mitbürger über die Nichtigkeit des vermeintlichen Wissens aufzuklären
und durch ernste Prüfung der Wahrheit nachzugehen. So hat er, ein Philosoph der Gelegen-
heit und des t%lichen Lebens, unablässig unter seinen Mitbürgern gewirkt, bis Missverstand
und persönliche Intrigue ihn vor das Gericht führte, welches ihn zum Tode verurtheilte, der
sein grösster Ruhm werden soUte.
Die Berichte über ihn liefern ein deutliches und zweifelloses Bild seiner Persönlichkeit:
hierin ergänzen sich Platon's feinere und Xenophon's gröbere Zeichnung sehr glücklich. Der
orstere führt den verehrten Lehrer fast in allen seinen Schriften mit dramatischer Lebendig-
keit vor; bei dem letzteren kommen die Memorabilien ('Airoji.vYj|i.ovsüji.axa Xtt>xpdtou(;) und das
Symposion in Betracht. Schwieriger steht es hinsichtlich der Lehre : hierin sind Xenoplion's
wie Platon's Darstellungen Parteischriften, von denen jede den berühmten Namen für die eigene
Lehre (bei Xenophon ein gemildeter Kynismus) in Anspruch nimmt. Massgebend sind wegen
der grösseren historischen Entfernung und des freieren Gesichtspunktes in allen wesentlichen
Punkten die Angaben des Aristoteles.
E. Alberti, Sokrates (Göttinnen 1869). — A. Labbiola, La dottrina di Socrate
(Napoli 1871). — A. FouiLLfiE, La philosophie de Socrate (Paris 1873).
Eukleides aus Megara gründete seine Schule bald nach dem Tode des Sokrates.
Aus derselben sind die beiden Eristiker (s. unten) Eubulides von Milet und Alexinos
aus Elis, femer Diodoros Kronos aus Karien (gest. 307), sowie Stilpon (380—300) zu
nennen. Die Schule hatte nur kurzen Bestand und lief später in die kyuischo und stoische aus.
Dasselbe gilt von der Genossenschaft, welche Phaidon, der Lieblingsschüler des Sokrates,
in seiner Heimath Elis gründete und bald darauf Meuedemos nach Eretria verpflanzte.
Vgl. E. Mallet, Histoire de Tecole de Megäre et des ecoles d'Elis et d'Erctrie (Paris 1845).
Der Stifter der (nach dem Gymnasium Kynosarges benannten) kynischen Schule ist
Autisthenes von Athen, wie Euklid ein älterer Freund des Sokrates. Der Sonderling
Diogenes von Sinope ist mehr eine culturhistorisch charakteristische Nebcngestalt, als
ein Mann der Wissenschaft. Neben ihm sei noch Krates von Theben genannt. Später ver-
schmilzt die Schule mit der stoischen.
1) Vgl. über diese Beziehungen H. Diels» Berichte der Berl. Akademie, 1884, p. 343 ff.
§7. Problem der Sittlichkeit. 55
F. DüHMLER, Antisthenica (Halle 1882). — K. W. Göttling, Diogenes der Kyniker,
oder die Philosophie des griechischen Proletariats (Ges. Abhandl. I, 251 ff.).
AristipposvonKyrene, ein sophistischer "Wanderlehrer, etwas jünger als Euklid
und Antisthenes, und mit dem sokratischen Kreise nur vorübergehend verbunden, hat seine
Schule wohl erst im Alter gegründet und scheint die systematische Ausbildung der Gedanken,
die ihm selbst mehr ein praktisches Lebensprincip waren, seinem Enkel überlassen zu haben.
Die oben genannten Nachfolger reichen schon in das 3. Jahrhundert hinein und bilden den
Uebergang zu der epikureischen Schule, welche die Reste der hedonischen in sich aufnahm.
A. Wendt, De philosophia Cyrenaica (Göttingen 1841).
§ 7. Das Problem der Sittlichkeit.
Wie schon die Reflexionen der Gnomiker und die Sentenzen der sog. sieben
Weisen zu ihrem Mittelpunkte die Mahnung zum Masshalten haben ^ so richten
sich auch die pessimistischen Klagen, denen wir bei Dichtern, Philosophen und
Moralisten des 5. Jahrhunderts begegnen, am meisten gegen die Zügellosigkeit
der Menschen, den Mangel an Zucht und Gesetzlichkeit. Ernstere Geister durch-
schauten die Gefahr, welche das leidenschaftUche Aufschäumen des öflFentlichen
Lebens mit sich brachte, und die poUtische Erfahrung, dass der Parteikampf nur
da sittlich erträglich ist, wo er die gesetzliche Ordnung unangetastet lässt, liess
die Beugung unter das Gesetz als oberste Pflicht erscheinen. Heraklit und die
Pythagoreer haben dies mit voller Klarheit ausgesprochen und an die Grund-
begriffe ihrer metaphysischen Theorie anzuknüpfen gewusst*).
Zweierlei tritt uns dabei als selbstverständliche Voraussetzung auch bei
diesen Denkern entgegen. Das erste ist die Geltung der Gesetze. Der Gehor-
sam des naiven Bewusstseins befolgt das Gebot, ohne zu fragen, woher es kommt
und wodurch es berechtigt ist. Die Gesetze sind da, die der Sitte so gut wie die
des Rechts: sie bestehen einmal, und der Einzelne hat sie zu befolgen. Niemand
hat in der vorsophistischen Zeit daran gedacht, das Gesetz zu prüfen und zu
fragen, worin sein Anspruch auf Geltung besteht. Das zweiteist eineUeberzeugung,
welche in dem Moralisiren aller Völker und aller Zeiten zu Grunde liegt, diejenige
nämlich, dass die Befolgung des Gesetzes Vortheil, seine Missachtung Nach-
theil bringt: aus diesem Gedanken heraus nimmt die Mahnung den Charakter
eines überredenden Rathes an *), der sich an die Klugheit des Ermahnten ebenso
wie an die in ihm schlummernden Wünsche richtet.
Mit der griechischen Aufklärung gerathen diese beiden Voraussetzungen in's
Schwanken, und damit wird ihr die Sittlichkeit zum Problem.
1. Der Anstoss dazu ging von den Erfahrungen des öffentlichen
Lebens aus. Schon der häufige und rasche Wechsel der Verfassungen war
geeignet, die Autorität des Gesetzes zu untergraben: er nahm nicht nur dem
einzelnen Gesetze den Nimbus unbedingter, fragloser Geltung, sondern er gewöhnte
zumal den Bürger der demokratischen Repubhk, in Berathungen und Abstimmungen
über den Grund und die Geltung der Gesetze nachzudenken und zu entscheiden.
Das politische Gesetz wurde discutirbar, und der Einzelne stellte sich mit seinem
Urtheil darüber. Beachtet man dann ausser diesem zeitlichen Wechsel auch noch
die Verschiedenheit, welche nicht nur die politischen Gesetze, sondern auch die
durch die Sitte vorgeschriebenen Gewohnheiten in den verschiedenen Staaten und
1) Vgl. oben S. 48 Anm. 6. — 2) Ein typisches Beispiel hierfür ist die Allegorie des
Prodikos, dessen wählendem Herakles die Tugend ebenso wie das Laster goldene Berge ver-
sprichty für den Fall, dass er sich ihrer Führung anvertraut.
56 !• Philosophie der Griechen, 2. Anthropologische Periode.
gar bei verschiedenen Völkern aufweisen^ so folgt daraus, dass den Gesetzen nicht
mehr der Werth allgemeiner Geltung für alle Menschen zugeschrieben werden
kann^). Wenigstens gilt das zunächst für alle Gesetze, die von Menschen
gemacht sind; jedenfalls also von den politischen.
Erhob sich nun diesen Erfahrungen gegenüber die Frage, ob es denn über-
haupt etwas überall und immer Geltendes, ein von der Verschiedenheit der Völker,
Staaten und Zeiten unabhängiges und damit für Alle massgebendes Gesetz gäbe,
so begann die griechische Ethik mit einem Problem, welches dem
Anfangsproblem der Physik völlig parallel lief. Das ewig gleiche, alle
Veränderungen überdauernde Wesen der Dinge hatten die Philosophen der ersten
Periode die Natur (yoatc) genannt *) : jetzt fragt man, ob durch diese ewig gleiche
Natur (<p6a6i) auch ein über allen Wechsel und alle Verschiedenheiten erhabenes
Gesetz bestimmt sei, und im Gegensatz dazu weist man darauf hin, dass alle die
bestehenden, nur zeitweiUg und in beschränktem Umfange geltenden Vorschriften
durch menschliche Satzung (^d?ei oder vöi^ij)) gegeben und begründet sind.
Der Gegensatz von Natur und Satzung ist die am meisten charakteristische
Begriffsbildung der griechischen Aufklärung : er beherrscht ihre ganze Philosophie,
und er hat von vorn herein nicht etwa nur den Sinneines Princips der genetischen
Erklärung, sondern die Bedeutung einer Norm der Werthschätzung. *
Wenn es etwas Allgemeingiltiges giebt, so ist es das, was „von Natur" für alle
Menschen ohne Unterschied des Volkes und der Zeit gilt : was von Menschen im
Lauf der Geschichte festgesetzt worden ist, das hat auch nur historischen, einmaligen
Werth. Berechtigt ist nur, was die Natur bestimmt, aber die Menschensatzung geht
darüber hinaus. Das „Gesetz" (vö{to<;) tyrannisirt den Menschen und zwingt ihn
zu vielem, das der Natur zuwiderläuft^). Die Philosophie formulirte begrifflich
jenen Gegensatz eines natürhchen, „göttUchen" Rechts gegen das geschriebene
Recht, welcher das Thema der sophokleischen Antigene bildete.
Hieraus ergaben sich die Aufgaben, einerseits festzustellen, worin dies
überall gleiche Recht der Natur bestehe, andrerseits aber zu begreifen, wie daneben
die Satzungen des historischen Rechts entstehen.
Der ersten Aufgabe hat sich Protagoras nicht entzogen. In der mythischen
Darstellung, die Piaton von ihm aufbewalu:t hat *), lehrte er, dass die Götter allen
Menschen gleichmässig Gerechtigkeitssinn und sittliche Scheu (StXTj und
aiSwc) gegeben hätten, damit sie im Kampf des Lebens zu gegenseitiger Erhaltung
dauernde Verbindungen schliessen könnten. Er fand also die y{)Oi<; des praktischen
Lebens in sittlichen Grundgefühlen, welche den Menschen zu gesell-
schaftlicher und staatlicher Vereinigung treiben. Die nähere Ausführung
dieses Gedankens und die Abgrenzung dieses yoost Geltenden von den positiven
Bestimmungen der historischen Satzung sind uns leider nicht erhalten.
Dass aber von solchen Grundlagen aus die Theorie der Sophisten zu einer
weitgehenden Kritik der gegebenen Zustände und zur Forderung
tiefgreifender Umwälzungen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens
1) Hippias bei Xenoph. Memor. IV 4, 14 ff. — 2) Ilepl <p6ae(oq ist der Titel, den die
Schriften aller älteren Philosophen trugen. Es ist hervorzuheben, dass das constitutive Merk-
mal des Begriffs tpoat? ursprünglich nur dasjenige des Ewig-sich-gleich-Bleibens war. Der
Gegensatz dazu ist also das Vorübergehende, das Einmalige. — 3) Hippias bei Piaton, Prot.
337 c. — 4) Plat. Prot. 320 ff. Vgl. A. Harpff, Die Ethik des Protagoras (Heidelberg 1884).
§ 7. Problem der Sittlichkeit. (Sophisten.) 57
schritt, dafür liegen mancherlei Anzeichen vor. Schon damals brach sich der
Gedanke Bahn^ dass alle rechtlichen Unterschiede zwischen den Menschen nur
auf Satzung beruhten und die Natur gleiches Recht für Alle verlange«
Lykophron begehrte die Abschaffung des Adels, Alkidamas ^) und Andere^)
bekämpften aus diesem Gesichtspunkt die Sklaverei, Phaleas forderte Gleichheit
des Besitzes wie der Bildung für alle Bürger, und Hippodamos entwarf als der
Erste die Grundzüge eines vernünftigen Staatsideals ^). Selbst der Gedanke
einer politischen Gleichstellung der Frauen mit den Männern ist in diesem
Zusammenhange aufgetaucht^).
Weicht nun die positive Gesetzgebung von diesen Anforderungen der Natur
ab, so ist ihre Begründung nur in den Interessen derjenigen zu suchen, welche
die Gesetze machen. Sei es nun, dass dies, wie Thrasymachos*') von Chalkedon
meinte, die Gewalthaber sind, welche die Unterworfenen durch das Gesetz zwingen,
zu thun, wie es ihrem Vortheil entspricht, sei es umgekehrt, dass nach der Aus-
fuhrung des Kallikles ^) die Gesetze von der grossen Masse der Schwachen als
ein Schutzwall gegen die dem Einzelnen überlegene Kraft der starken Persön-
lichkeiten errichtet werden, und dass damit nach der Ansicht Lykophron's^) alle
die, welche Anderen kein Leides thun, sich gegenseitig Leben und Besitz ver-
bürgen, — immer liegt der Grund der Gesetze in den Literessen derjenigen,
welche sie machen.
2. Ist also das persönhche Interesse der Grund für die Aufstellung der
Gesetze, so ist es auch das einzige Motiv ihrer Befolgung. Auch der Mora
hst will ja den Menschen davon überzeugen, dass es in seinem Interesse liege,
sich dem Gesetze zu fugen. Daraus folgt aber, dass der Gehorsam gegen das
Gesetz nur so weit zu reichen hat, als er im Interesse des Einzelnen Hegt.
Und es giebt Fälle, wo das nicht zutrifft. Es ist nicht wahr, dass nur die Unter-
ordnung imter das Gesetz glückUch macht: grosse Verbrecher, so fuhrt Polos®)
aus, giebt es, die durch die schreckhchsten Uebelthaten die glückhchsten Erfolge
erreicht haben. Die Erfahrung widerspricht der Behauptung, dass nur Recht-
thun zur GlückseUgkeit führe; sie zeigt vielmehr, dass eine kluge, durch keine
Kücksichten auf Kecht und Gesetz gehemmte Lebensführung die beste Gewähr
des Glücks ist®).
Durch solche Betrachtungen greift allmäUg die anfanglich, wie es scheint '^),
nur auf die Geltung des staatlichen Gesetzes gerichtete Skepsis auch diejenige
der sittlichen Gesetze an. Was Polos, Kallikles und Thrasymachos in den pla-
tonischen Dialogen Gorgias und Politeia über die Begriffe des Rechten und
Unrechten (Sixatovund SStxov) vortragen, bezieht sich (durch die Mittelstellung
der strafrechtUchen Bestimmungen) gleichmässig auf das sittliche, wie auf das
poUtische Gesetz und beweist, dass das Naturgesetz nicht nur dem bürgerlichen
Gesetz, sondern auch den Forderungen der Sitte gegenübergestellt wurde.
Hinsichtlich beider aber schritt der Naturalismus und RadicaJismus der
jüngeren Sophisten zu den äussersten Consequenzen. Mag der Schwache,
1) Arist. Rhet. 1 13, 1373 b 18, v^l. dazu Orat. Attic. (cd. Bekker) 11, 154. — 2) Arist.
Pol. I 3, 1253b 20. — 3) Aristot. Pol. II 7 (Phaleas) imd 8 (Hippodamos). - 4) Die Persiflage
in den Ecclesiazusen des Aristophanes kann sich nur darauf bezieben. — 5) Plat. Rep. 338c. —
6) Plat. (lorg. 483b. — 7) Arist. Pol. HI 9, 1280 b 11. — 8) Bei Plat. Gorg. 471. — 9) Vgl.
das Lob der ddixca von Thrasymachos bei Plat. Rep. 344 a. — 10) Es gilt dies namentlich von
Protagoras, vielleicht auch von Hippias.
58 I- Philosophie der Griechen. 2. Anthropologische Periode.
SO hiess es^ sich dem Gesetz unterwerfen*, er ist ja doch nur der Dumme^ der
damit fremdem Nutzen dient ') ; der Starke aber, der zugleich der Weise ist,
lässt sich durch das Gesetz nicht irre machen, er folgt ledigUch dem Triebe
seiner eigenen Natur. Und das ist das Rechte, wenn nicht nach menschlichem
Gesetz, so nach dem höheren Gesetz der Natur. An allen Lebewesen zeigt sie,
dass der Stärkere über den Schwächeren herrschen soll; nur dem Sklaven ziemt
es, ein Gebot über sich anzuerkennen, der freie Mann soll seine Begierden nicht
zügeln, sondern sie sich voll entfalten lassen ; nach Menschenrecht mag es eine
Schande sein, Unrecht zu thun, ~ nach dem Naturgebot ist es eine Schande,
Um-echt zu leiden^).
In solchen Formen wurde die natürliche Triebbestimmtheit des Indi-
viduums als Naturgesetz proclamirt und zum höchsten Gesetz des
Handelns erhoben, und Archelaos, ein der sophistischen Zeit angehöriger
Schüler des Anaxagoras, verkündete, dass die Prädicate gut und böse, „recht"
und „schimpflich^* (Sixotov — al<3)j[y5v) nicht der Natur, sondern der Satzung ent-
springen: alle sittliche ßeurtheilung ist conventioneil').
3. Selbstverständlich wui-den in diesen Umsturz auch die religiösen
Vorstellungen um so mehr hineingezogen, als dieselben, nachdem ihnen, wenigstens
in den gebildeten Kreisen, die theoretische Geltung durch die kosmologische
Philosophie entzogen worden war (Xenophanes), nur noch als allegorische Dar-
stellungen sittlicher Begriflfe Anerkennung behalten hatten: in dieser Hinsicht
war eine Zeit lang die Schule des Anaxagoras, namentlich ein gewisser Metro-
doros von Lampsakos, thätig gewesen. Es war nur eine Consequenz des ethischen
Relativismus der Sophisten, wenn Prodikos lehrte, die Menschen hätten aus
Allem, was ihnen Segen brachte, Götter gemacht, und wenn Kritias den Glauben
an die Götter für eine Erfindung kluger Staatskunst erklärte *). Wenn solche
Behauj)tungen bei der Masse und den staatlich-priesterlichen Gewalten noch
Unwillen erregten ^), so hatte es Protagoras leicht, sich diesen Fragen gegenüber
in den Mantel seines Skepticismus zu hüllen ^).
4. Die Stellung des Sokrateszu dieser ganzen Bewegung ist doppelseitig:
einerseits hat er das Princip derselben auf den klarsten und umfassendsten Aus-
druck gebracht, andrerseits hat er sich ihrem Ergebniss auf das Kräftigste ent-
gegengestellt. Und diese beiden Seiten seiner Wirksamkeit, so gegensätzUch sie
zu sein scheinen und so sehr dieser ihr äusserer Gegensatz das tragische Gescliick
des Mannes bestimmt hat, stehen doch in dem genauesten und folgerichtigsten
Zusammenhange : denn gerade dadurch, dassSokrates das Princip der Auf klärung
in seiner ganzen Tiefe erfasste und in seiner ganzen Energie formulirte, gelang
OS ihm, daraus ein positives Kesultat von gewaltiger Tragweite zu entwickeln.
Auch für ihn ist die Zeit fragloser Befolgung überlieferter Gewohnheiten
vorüber : an die Stelle der Autorität ist das selbständige Urtheil der Individuen
getreten. Während aber die Sophisten der Analyse der Gefühle und
Triebe nachgingen, welche den thatsächlichen Entscheidungen der Individuen
zu Grunde liegen, und sich schliesslich genöthigt sahen, allen diesen Motiven das
gleiche Recht einer naturnothwendigen Entfaltung zuzuerkennen, reflectirte
1) Thrasymachos bei Platon, Rop. 343 c. — 2) Kalliklos bei Platon, (loiy. 483 a und
491 c. - 3) Dioft. Lacrt. II 16. — 4) Sext. Emp. adv. math. IX 51—54. -~ 5) Wie die Vcr-
urthcilung des Diagora» vou Melos (Aristoph. Av. 1073) beweist. — 6) Diog. Laert. IX 51.
§7. Problem der Sittlichkeit. (Sokrates.) 59
Sokrates gerade auf dasjenige Moment, welches das entscheidende in der Cultur
•^iner Zeit war, nämlich auf die praktische, politische und socis^le Bedeutung,
Teiche Wissen und Wissenschaft errungen hatten. Gerade durch die Verselb-
^tandigung der Individuen, durch die Entfesselung der persönlichen Leidenschaften
war es zu Tage getreten, dass auf allen Gebieten die Tüchtigkeit des Men-
M'hen auf seiner Einsicht beruht. Hierin fand Sokrates den objectiven
Massstab für die Werthbeurtheilung der Menschen und ihrer Hand-
lungen, welchen die Sophisten in dem Getriebe der Gefühle und Begierden um-
sonst gesucht hatten.
Tüchtigkeit also (apstYj) ist Einsicht. Wer nach Gefühlen, nach unklaren
Voraussetzungen, nach hergebrachten Gewohnheiten handelt, der mag wohl ge-
legentlich auch einmal das Rechte treffen, aber er weiss es nicht, er ist des Erfolgs
nicht sicher; wer gar in Täuschung und Irrthum über das, worum sich's handelt,
l^egriffen ist, der greift sicher fehl: nur der wird recht handeln können, der die
richtige Einsicht von den Dingen und von sich selbst hat '). Daher ist die Er-
kenntniss (i7ci^Tfj\L7i) die Grundlage aller Eigenschaften, welche den Menschen
tüchtig und brauchbar machen, aller einzelnen apetat.
Diese Einsicht besteht einerseits in der genauen Kenntniss der Dinge,
auf welche sich das Handeln beziehen soll. Der Mensch soll seine Sache ver-
stehen. Wie man in jedem Geschäft den tüchtig findet, welcher dasselbe gründ-
lich erlernt hat und die Gegenstände kennt, mit denen er zu arbeiten hat, so sollte
ts auch im bürgerlichen und im politischen Leben sein: auch hier soll man nur
tler Einsicht vertrauen *). Danach unterscheiden sich also die einzelnen Tüchtig-
keiten nach den Gegenständen, welche das Wissen im einzelnen Falle betrifft*):
allen gemeinsam aber ist nicht nur diis Wissen überhaupt, sondern auch die
Selbst erkenntniss. Daher erklärte es Sokrates für seinen hauptsächlichsten
Beruf, sich selbst und seine Mitbürger zu ernster Selbstprüfung .zu erziehen : das
74ddi 3sa»ycöv galt ak das Stichwort seiner Lehre *).
5« Diese Betrachtungen, welche Sokrates aus den Werthbestimmungen der
praktischen Tüchtigkeit heraus entwickelte, übertrugen sich mit der Doppel-
^innigkeitdesWortesipeTT]*), auch auf die sittlicheTüchtigkeitjdieTugend,
und führten so zu der Grundlehre, dass Tugend in der Erkenntniss des
<i u t e n *) bestehe. So weit ist der Gedankengang des Sokrates klar und zweifellos ;
undeutlicher aber wird die Ueberlieferung, wenn wir fragen, was denn nun der
Mann, der so lebhaft auf Deutlichkeit der Begriffsbestimmung drang, unter dem
Guten habe verstanden wissen wollen. Nach der Darstellung Xenophon's
müsste ihm das Gute (af a6"6v) überall mit dem Zuträglichen, Nützlichen ((!)^^Xt(jLov)
1) Diesen Grundgedankeu dos Sokrates reprodueircn Xeuophon und Piaton in zahl-
r.*i<-hen Wendungen : bei Xenophon ist hauptsächlich Mera. III, cap. 9, bei Piaton der Dialog
Pnitagoras zu veiyleicheu. — 2) Daher auch die autideniokrati«che, für sein persönliches (ie-
M-hick so verhängnissvolle Parteistellunj? des Sokrates. der ausdrücklich verlangte, dass die
M-hwerste und verantwortungsvollste Kunst, diejenige der Regierung, nur von den Einsichts-
vollsten ausgeübt werden sollte, und der deshalb die Besetzung der Staatsämter durch Loos
"der Volkswahl durchaus verwarf. — 3) Ein System der einzelnen Tüchtigkeiten hat Sokrates
nicht versucht, dagegen beis))ielsweise die Definitionen der Tapferkeit (vgl. den platonischen
I^hes), Frömmigkeit (Plat. Euthyphron, Xen. Mem. IV 6, 3), Gerechtigkeit (Mem. IV 6, 6)
etc. gegeben. — 4} Wie dies seine theoretische Philosophie bestimmt hat, s. § 8. — 5) Derselbe
Doppelsinn, der zu zahllosen Schwierigkeiten Anlass gegeben hat, liegt im lateinischen virtus *,
ebenso in ifadov, bonum, gut.
60 !• Philosophie der Griechen. 2. Anthropologische Periode.
zusammengefiallen, Tugend also die Erkenntniss dessen gewesen sein, was jedes-
mal das Zweckmässige, Nützliche wäre. Diese Auffassung schliesst sich am leich-
testen an jene Analogie der sittlichen Tugend mit den Tüchtigkeiten des tägUchen
Lehens, welche Sokrates in der That gelehrt hat, und auch die Darstellung der
frühesten platonischen Dialoge, insbesondere des Protagoras, legt dem Sokrates
diesen Standpunkt des individuellen Nutzens bei. Die Einsicht (hier rppovrpK;
genannt) ist eine messende Kunst, welche mit genauer Abwägung des Nutzens
und des Schadens^ der sich aus der Handlung ergeben wird, das Zweckmässige
wählt. Dem entspricht weiter, dass Sokrates gerade im Gegensatz zu den Sophi-
sten, welche eine kraftgeniaUsclie EntfiUtung der Leidenschaften verlangten, keine
Tugend so sehr betonte und selbst in seinem Leben zur Darstellung brachte, wie
diejenige der Selbstbeherrschung (aoDypooovYj).
Danach aber wäre der sokratische Begrifl' des Guten inhaltlich unbestimmt;
es müsste von Fall zu Fall entschieden werden, was das Zweckentsprechende,
Nützhche wäre, und statt des Guten hätte man wieder immer nur dasjenige, was
zuEtwasgut^) wäre. Es darf als sicher angesehen werden, dass Sokrates über
diesen Relativismus hinausstrebte : aber ebenso auch, dass er vermöge der rein
anthropologischen Grundlage seines Denkens mit der begrififlichen Formulirung
nicht darüber hinaus kam. Seine Lehre, dass Unrecht leiden besser sei, als Un-
recht thun, seine strenge GesetzHchkeit, mit der er es verschmähte, sich dem
ferneren Leben und Wirken durch die Flucht zu erlialten und einem ungerechten
Richterspruche zu entziehen, seine Mahnung, dass der wahre Inhalt des Lebens
in der söspaöa, in dem dauernden Rechtthun, in der unablässigen Arbeit des
Menschen an seiner sitthchen Besserung, in der Theilnahme an allem Guten und
Schönen (xaXoxaYa^ta) bestehe, besonders aber seine Erotik, d. h. die Lehre,
wonach die Freundschaft und das Verhältniss der Neigung zwischen Lehrer und
Schüler nur den Lihalt haben sollten, dass beide in gemeinsamem Leben und
gegenseitiger Förderung sich bemühten, gut, bzw. immer besser zu werden, —
alles dies geht über die xenophontische Auffassung weit hinaus und lässt sich mit
dem Standpunkt der Utihtät nur vereinigen, wenn man dem Sokrates die Unter-
scheidung zwischen dem wahren Seelenheil und dem irdischen Nutzen beilegt,
die ihn Piaton im Phaidon vortragen lässt, von der sich aber sonst, da der histo-
rische Sokrates (auch nach Platon's Apologie) sich gegen den Glauben an die
persönliche Unsterbhchkeit durchaus skeptisch verhielt und die platonische
scharfe Scheidung zwischen Immaterialität und Körperlichkeit noch nicht kannte,
nur geringe Spuren linden. Zwar lehrt Sokrates auch bei Xenophon, das wahre
Glück des Menschen sei nicht in äusseren Gütern noch im Wohlleben, sondern
allein in der Tugend zu suchen : wenn aber dann diese Tugend wieder nur in der
Fälligkeit bestehen soll, das walirhaft Nützhche zu erkennen und danach zu han-
deln, so dreht sich die Ijehre im Kreise, sobald sie behauptet, dies walu'hafl
Nützliche sei eben Avieder die Tugend selbst. In diesem Cirkel ist Sokrates stecken
geblieben: die objective Begriffsbestimmung des Guten, die er suchte, hat er
nicht gefunden.
6. Jedenfalls aber — und das hat sich als viel bedeutsamer erwiesen — ,
so unbestimmt es auch bleiben mochte, worin eigentUch inhaltlich die Erkenntniss
1) Xen. Mem. UI 8, 5.
§ 7. Problem der Sittlichkeit. (Sokrates.) 61
des Guten, welche die Tugend ausmacht, bestehen sollte, davon war Sokrates
überzeugt, dass diese Erkenntniss allein ausreiche, um das Gute auch
zu thun und damit die Glückseligkeit herbeizuführen. Dieser Satz,
der als Typus einer rationalistischen Lebensanschauung gelten kann, enthielt zwei
folgenschwere Voraussetzungen : psychologisch den ausgesprochenen Intel-
lectualismus, ethisch den ausgesprochenen Eudämonismus.
Die Grundannahme, welche Sokrates dabei macht, ist schon der Ausdruck
seiner eigenen überlegenden, verständigen Natur : jeder Mensch, sagt er, handelt
so, wie er es am zweckmässigsten, förderlichsten, nützUchsten erachtet ; Niemand
thut dasjenige, was er für unzweckmässig oder auch nur für das weniger zweck-
mässige erkannt hat. Ist also Tugend die Erkenntniss des Zweckmässigen, so
folgt daraus unmittelbar, dass der Tugendhafte auch seiner Erkenntniss gemäss,
also zweckmässig^ richtig, in der für ihn erspriesslichen Weise handelt. Niemand
thut wissentlich und absichthch das Unrechte: nur wer nicht die rechte Einsicht
hat, der handelt auch nicht recht. Scheint es manchmal, als handle Jemand gegen
bessere Einsicht unrecht, so hatte er eben die bessere Einsicht doch nicht klar
und sicher besessen ; denn sonst hätte er ja absichtlich sich selbst geschädigt, was
absurd ist.
Hierin tritt zwischen Sokrates und den Sophisten eine psychologische Grund-
verschiedenheit zu Tage : diese behaupteten die Ursprünglichkeit (und deshalb
auch die naturalistische Berechtigtheit) des WoUens ; für Sokrates aber ist etwas
wollen und etwas für gut, für zuträglich und nützlich halten dasselbe. Die Ein-
sicht bestimmt unweigerlich den Willen ; der Mensch thut, was er für das Beste
hält. So sehr Sokrates mit dieser Meinung im Irrthum sein und so sehr die Wahr-
heit zwischen ihm und den Sophisten in der Mitte liegen mag, so bestimmend ist
doch diese seine intellectuaUstische Auffassung vom Willen für die ganze antike
Ethik geworden.
Sünde also ist Irrthum. Wer schlecht handelt, thut esaus verkehrtem Urtheil,
indem er das Schlechte, d. h. das Schädliche, für das Gute halt: denn jeder glaubt,
das Gute, d, h. das Erspriessliche, zu thun. Nur weil es so steht, hat es einen
Sinn, die Menschen sittlich zu belehren; nur deshalb ist die Tugend lehrbar.
Denn alle Lehre wendet sich an die Einsicht des Menschen. Weil man ihn be-
lehren kann, was das Gute ist, darum — und dadurch allein — kann man den
Menschen dazu bringen, dass er das Rechte thut. Wäre die Tugend keine Ein-
sicht, so wäre sie nicht lehrbar.
Von diesem Standpunkt aus hob nun Sokrates die Gewohnheit des popu-
lären Moralisirens auf wissenschaftUche Höhe. Allen seinen Scharfsinn, ja seine
Spitzfindigkeit und dialectische Gewandtheit verwendet er darauf*), um gegen die
Sopliisten zu beweisen, dass nicht nur die sicherste, sondern auch die eiuzig sichere
Art, zu dauernder Glückseligkeit zu gelangen, unter allen Umständen in der Befol-
gung der sittlichen Vorschriften, in derUnter Ordnung unter Gesetz und Sitte
bestehe. So giebt er der Autorität ihr Recht zurück. Das Princip der Aufklärung
duldet keine fraglose Unterwerfung unter das Bestehende und verlangt die Prü-
fung der Gesetze: aber diese Gesetze halten die Prüfung aus, sie erweisen
1) Man vergleiche bei Piaton die Widerlegung des Thrasymachos im ersten Buch der
Kepublik, die principiell als sokratisch gelten darf, aber doch dialectisch und sachlich theil-
weise auf sehr schwachen Füssen steht.
62 I- Philosophie der Griechen. 2. Anthropologische Periode.
sich als Forderungen der Einsicht in das Zweckmässige, und deshalb muss ihnen,
weil ihre Befolgung nun als das Rechte erkannt ist, unbedingter Gehorsam ge-
leistet werden *). Weit entfernt, mit den Satzungen des Rechts und der Moral in
Widerspruch zu sein, istSokrates vielmehr derjenige, welcher ihre Ver nun ftig-
keit und damit ihren Anspruch auf allgemeine Geltung zu beweisen
unternommen hat^).
F. WiLDAUKR, Sokrates' Lehre vom Willen. Innsbruck 1877.
M. Heinze, Der Eudämonismus in der pfricchischen Philosophie. Leipzig 1883.
7. Zu den psychologisch-ethischen Voraussetzungen, dass der Wille stets
auf das als gut Erkannte gerichtet ist und dass daher die Tugend als Erkennt-
niss des Guten das zweckentsprechende Handeln von selbst nach sich zieht, tritt
nun in den Argumentationen des Sokrates noch die weitere Ansicht hinzu, dass
dies zweckmässige Handeln des Tugendhaften auch den Zweck wirklich erreicht
und ihn glücklich macht. Die Eudämonie ist der nothwendige Erfolg der
Tugend: der Wissende erkennt und thut daher das, was ihm gut ist ; er muss
also durch sein Thun auch glücklich werden. Diese Annahme aber ist nur für
ein vollkommenes Wissen zutreffend, welches der Wirkungen, die eine beab-
sichtigte Handlung in dem Zusammenhange des Weltgeschehens haben wird,
absolut sicher wäre.
In der That machen die überlieferten Aeusserungcn des Sokrates den Ein-
druck, dass er überzeugt war, der Mensch könne diejenige Einsicht, welche durch
die Wirkung auf sein Handeln und die Folgen desselben zur Herbeiführung der
Eudämonie geeignet ist, besitzen, bzw. durch die Philosophie, d. h. durch unab-
lässige ernste Prüfung seiner selbst, der Andern und der menschlichen Lebens-
verhältnisse erwerben. Untersuchungen darüber, wie weit etwa der vom Menschen
nicht vorauszusehende Weltlauf die Wirkung auch der zweckmässigsten und ein-
sichtigsten Lebensführung zu durchkreuzen und zu zerstören vermöchte, sind bei
Sokrates nicht nachzuweisen. Bei dem geringen Mass von Zutrauen, welches er
sonst zu der menschlichen Erkenntniss hegte, sobald sie sich über die Peststellung
sittlicher Begriffe und praktischer Erfordernisse hinauswagen wollte, ist dies nur
dadurch zu erkläreh, dass er von der providentiellen Führung, die ihm
1) Im Einzelnen fällt diese Rehabilitirung der Volksmoral, namentlich wie sie Xcuo-
phon darstellt, der Natur der Sache nach stark in's triviale Moralisiren. Wenn aber
Sokrates gerade damit seinem Volk den rechten Dienst zu leisten hoffte, so war eben dies der
Punkt, wo er sich zwischen zwei Stühle setzte: den Sophisten und ihrem Anhanjf galt er
damit, wie politisch so auch wissenschaftlich, als Reaktionär: und die Männer, welche, wie
Ariatophanes, den Krebsschaden der Zeit gerade darin sahen, dass die Autorität von Gesetz
und Sitte überhaupt in Frage gestellt wurde, warfen ihn, der diese Autorität begründen
wollte, unbesehen zu denen, welche sie untergruben. So konnte es kommen, dass Sokrates
in den „Wolken" des Aristophanes als Typus der Sophistik erschien, die er bekämpfte.
Dass dies Verhältniss in letzter Instanz zu seiner Verurthcilung geführt hat, ist offenbar.
--2) Daher liegt es auch Sokrates durchaus fern, für jede einzelne Handlung eine
specielle Prüfung d(»r Gründe des staatlichen oder sittlichen Gebotes zu verlangen, oder
auch nur zu erlauben. Ist es z. B. einmal als recht erkannt, der obrigkeitlichen Verord-
nung unter allen Umständen zu gehorchen, so muss dies auch dann geschehen, wenn dieselbe
offenbar Unvernünftiges und Ungerechtes befiehlt: vgl. Platon's Kriton. Ist der Mensch, wie
Sokmtes selbst, davon überzeugt, dass sein Leben einer göttlichen Führung untersteht, und
dass, wo seine Einsicht nicht ausreicht, eine höhere Stimme ihn durch sein Gefühl wenigstens
von dem Unrechten abmahnt, da hat er dieser Stimme zu gehorchen. Vgl. über das Soipioviov
§ 8. - - Immer kommt es darauf an, dass der Mensch sich Rechenschaft über sein Thun gebe:
aber die Gründe, nach denen er dabei handelt, können auch in solchen Maximen bestehen,
welche eine Prüfung im einzelnen Falle ausschliessen.
§ 7. Problem der Sittlichkeit. (Antisthenes.) 63
ein Gegenstand zwar nicht der Einsicht, aber des Glaubens war, eine Vereitlung
der beglückenden Folgen des rechten Handelns nicht befürchtete (vgl. § 8).
8« Wenn Sokrates den sittUchen Grundbegriff der Tugend als Einsicht
und diese als Erkenntniss des Guten bestimmt; dem Begriff des Guten aber keinen
allgemeinen Inhalt gegeben und ihn in gewisser Hinsicht offen gelassen hatte^ so
war damit die Möglichkeit gegeben; dass die verschiedensten Lebensauffassungen
ihre Ansichten vom letzten Zweck (tiXoc) des Menschendaseins an dieser offenen
Stelle dem sokratischen Begriffe einfugten ; und so hat diese erste ethische Be-
griffsbildung sogleich eine Anzahl besonderer Ausgestaltungen gefunden ^). Die
wichtigsten darunter sind diekynische und diekyrenaische:in beiden liegt
der Versuch vor, den rechten Werthgehalt des individuellen Lebens in allgemein-
giltiger Weise zu bestimmen. Beide wollen zeigen, worin die wahre Glück-
seligkeit des Menschen bestehe und wie der Mensch beschaffen sein und han-
deln müsse, um sie sicher zu erreichen: beide nennen diese Beschaffenheit, durch
welche man der Glückseligkeit theilhaftig wird, Tugend. Die eudämonistische
Seite der sokratischen Ethik wird hier ganz einseitig entwickelt; und wenn auch
dem aufgestellten Begriffe AUgemeingiltigkeit vindicirt wird, so tritt doch der
Gesichtspunkt der individuellen Glückseligkeit als so allein massgebend
auf; dass ihm auch die Werthbeurtheilung aller Verhältnisse des öffentlichen Leiiens
unterstellt wird. Im Kynismus wie im Hedonismus geht der griechische Geist
daran; die Summe des Ertrages zu ziehen, welchen die Lebensgestaltung der
Civiiisation für das Glück des Individuums abwirft. Die von der Sophistik be-
gonnene Kritik der gesellschaftHchen und politischen Zustände und Mächte hat
durch Vermittlung des sokratischen Tugendbegiiffs einen festen Massstab ge-
wonnen.
Die Tugendlehre des Antisthenes-) nimmt anfänglich da, wo sie sich
unbehilflich in den Cirkel der sokratischen eingefangen findet, eine hohe und be-
stechende Wendung. Sie verzichtet darauf, den Begriff des Guten inhaltUch näher
zu bestimmen, und erklärt die Tugend selbst nicht nur für das höchste, sondern
für das einzige Gut, versteht aber dabei unter Tugend im Wesentlichen nur die
verständige Lebensführung selbst. Diese allein macht glücklich, aber
nicht etwa durch die Polgen, welche sie herbeifuhrt, sondern durch sich selbst.
Die dem rechten Leben selbst innewohnende Befriedigung ist somit von dem
Weltlauf durchaus unabhängig: die Tugend genügt sich selbst zur Glücksehgkeit;
der Weise steht dem Schicksal frei gegenüber.
Aber dieser kynische Begriff der sich selbst genügenden Tugend ist, wie die
weitere Ausführung zeigt, noch keineswegs so aufzufassen, als sollte der Tugend-
hafte in dem Thun des Guten um seiner selbst willen unter allen Schicksalslaunen
sein Glück finden. Zu dieser Höhe hat sich der Kynismus noch nicht erhoben,
so sehr es danach klingen mag, wenn die Tugend als der einzig sichere Besitz in
den Wechselfallen des Lebens gefeiert, wenn sie als das einzig zu Erstrebende,
Schlechtigkeit dagegen als das einzig zu Meidende bezeichnet wird. Vielmehr ist
1) So etwa bei Xenophon und Aischines; auch der philosophirende »Schuster Simon
scheint sich so an Sokrates anpfelehnt zu ha1)en. Was die mejjfarischo und die elisch-eretrischo
Schule in dieser Hinsicht leisteten, ist zu unbestimmt überliefert und berührt sich zu nahe mit
dem Kynismus, als dass es gesonderte Erwähnung verdiente. — 2) Hauptsächlich bei Diog.
Laert. VI erhalten.
64 !• Philosophie der Griechen. 2. Anthropolof|rische Periode.
diese Lehre ein mit grosser Folgerichtigkeit aus dem sokratischen Princip, dass
die Tugend nothwendig glücklich mache (vgl. oben 7) gezogenes Postulat, und
aus diesem Postulat hat umgekehrt Antisthenes die sachliche Begriffsbestimmung
der Tugend zu gewinnen gesucht.
Soll nämlich Tugend sicher und unter allen Umständen glücklich machen,
so muss sie diejenige Lebensführung sein, welche den Menschen vom Weltlauf
so unabhängig wie nur irgend möglich macht. Nun ist aber jedes Be-
dürfniss und jede Begierde ein Band, welches den Menschen vom Schicksal ab-
hängig macht, insofern als sein Glück oder Unglück darauf angewiesen wird, ob
ihm ein solcher Wunsch durch den Lauf des Lebens erfüllt wird oder nicht. Ueber
die Aussenwelt haben wir keine Gewalt, wohl aber über unsere Begierden. Wir
setzen uns den fremden Mächten um so mehr aus, je mehr wir von ihnen ver-
langen, hoffen oder fürchten : jede Begierde macht uns zu Sklaven der Aussen-
welt. Die Tugend also, die den Menschen auf sich selbst stellt, kann nur in der
Unterdrückung der Begierden und in der Beschränkung der Bedürfnisse auf das
denkbar geringste Mass bestehen. Tugend ist Bedürfnisslosigkeit *), — vom
Standpunkt des Eudämonismus sicher die consequentestc Folgerung, und zugleich
eine solche, welche Männern geringerer Lebensstellung, wie wir sie theilweise im
Kynismus finden, besonders nahe liegen musste.
Durch die radicale Ausführung dieses Gedankens kamen nun die Kyniker
in eine rein verneinende Stellung gegenüber der Civilisation, und, indem sie das
Mass der Bedürfnisse des tugendhaften Weisen auf das absolut UnvenneidHche
herabsetzen, alle anderen Bestrebungen aber als verderblich oder gleichgiltig an-
sehen wollten, verwarfen sie alle Güter der Oultur und gelangten zu dem Ideal
eines Naturzustandes, der aller höheren Werthe entkleidet war. Frühere
sophistische Theorien aufnehmend und fortspinncnd lehrten sie, dass der Weise
sich nur dem fuge, was die Natur unabw^eislich verlangt, alles das aber verachte,
was nur menschliche Meinung und Satzung begehrenswerth oder befolgcnswerth
habe erscheinen lassen, ßeichthum und feine Lebensgcstaltung, Ruhm und Ehre
schienen ihnen ebenso entbehrlich, wie die Genüsse der Sinne, die über die Be-
friedigung der elementarsten Bedürfnisse von Hunger und Liebe hinausgehen.
Kunst und Wissenschaft, Familie und Vaterland war ihnen gleichgiltig, und Dio-
genes verdankte seine paradoxe Popularität dem ostentativen Sport, mitten in
dem civilisirten Griechenland als Naturmensch, ledighch (poost leben zu wollen.
Zwang sich auf diese Weise der philosophirende Proletarier zur Verachtung
aller der Cultur werthe, von deren Genyss er mehr oder minder sich ausgeschlossen
fand, so erkannte er andrerseits aucli alle die Gesetze, welchen sich die civilisirte
Gesellschaft unterwarf, fiir sich nicht als bindend an, und wenn nur Einiges von
den schmutzigen Anekdoten wahr ist, die das Alterthum darüber erzählt, so hat
diese Sippe sich ein Vergnügen daraus gemacht, den elementarsten Anforderungen
der Sitte und des Anstandes öffentlich Hohn zu sprechen. Dieser forcirte und
zum Theil offenbar affectirte Naturalismus weiss von SixTj und alSw?, welche die
ältere Sophistik als natürliche Triebe hatte bestehen lassen, nichts mehr und
klügelt sich einen Tugendbegriff aus, der das Wesen des natüriichen Menschen
mit Gier und Brunst beschlossen glaubt.
1) Xen. Symp. 4, 34 ff.
§ 7. 'Problem der Sittlichkeit. (Aristipp.) 65
Doch waren die Kyniker nicht so schlimm, wie sie sich machten: Diogenes
sogar bewahrte einen Rest von Achtung vor der geistigen Bildung, die allein
den Menschen von den Vorurtheilen der Satzung und der Convention befreien
und durch die Einsicht in die Nichtigkeit der vermeintlichen Culturgüter zur
Bedürfiiisslosigkeit fuhren könne, und er hat nach den Grundsätzen des kynischen
Naturalismus die Erziehung der Söhne des Xeniades, eines korinthischen Sophisten,
nicht ohne Erfolg geleitet.
Im Ganzen ist diese Philosophie ein charakteristisches Zeichen der Zeit, das
Denkmal einer Gesinnung, welche der Gesellschaft, wenn nicht feindlich, so doch
gleichgiltig gegenübersteht und alles Verständniss für ihre idealen Güter verloren
hat : sie lässt uns von innen her sehen, wie um jene Zeit die griechische Gesellschaft
in die Individuen zerbröckelte. Wenn Diogenes sich einen KosmopoUten nannte,
so lag darin auch keine Spur de» idealen Gedankens einer Zusammengehörigkeit
aller Menschen^ sondern nur die Ablehnung seiner Zugehörigkeit zu irgend einer
Culturgemeinschaft, und wenn Krates lehrte, die Vielheit der Götter bestehe nur
in der Meinung der Menschen, „der Natur nach" gäbe es nur Einen Gott, so ist
in der kynischen Lehre keine Spur, woraus man schliessen dürfte, dass dieser
Monotheismus für sie eine klarere Vorstellung oder gar ein tieferes Gefühl
gewesen wäre.
9. Den vollen Gegensatz hierzu bildet der Hedonismus, die Philosophie
des rücksichtslosen Genusses. Aristipp schlug von der Unfertigkeit der
sokratischen Lehre her den entgegengesetzten Weg ein: er war schnell damit bei der
Hand, dem Begriffe des Guten einen deutlichen und einfachen Inhalt zu geben,
— den der Lust (i^Sovt^). Dabei fiingirt dieser Begriff zunächst in der allgemeinen
psychologischen Bedeutung des Gefühls der Befriedigung, welches aus der
Erfüllung eines jeden Strebens und Wünschens erwächst ^) : Glückseligkeit ist der
Zustand der Lust, der aus gestilltem Wollen entspringt. Wenn es sich nur um
sie handelt, so ist es gleichgiltig, welches der Gegenstand des Wollens und des
Wohlgefallens ist, dann kommt es nur auf den Grad der Lust, auf die Stärke des
Befriedigungsgefühls an '). Diese aber, meinte Aristipp, ist am meisten bei dem
sinnlichen, dem körperlichen Genuss vorhanden, der sich auf das unmittelbar
Gegenwärtige, auf die Befriedigung des Moments bezieht. Ist also Tugend die
auf Glückseligkeit gerichtete Erkenntniss , so muss sie den Menschen befähigen,
so viel und so lebhaft als mögHch zu gemessen. Tugend ist Genuss-
fähigkeit.
Geniessen mag und kann freilich ein jeder: aber nur der Gebildete, nur
der Wissende, der Einsichtige und Weise versteht recht zu gemessen. Nicht nur
um die Abschätzung (f pövTjotc) handelt es sich dabei, die unter den verschiedenen,
sich im Laufe des Lebens darbietenden Genüssen diejenigen auszuwählen weiss,
welche die höchste, reinste, am wenigsten mit Unlust gemischte Lust zu gewähren
im Stande sind, sondern um die innere Selbstgewissheit des Menschen, der nicht
blindlings jedem aufsteigendem Gelüste folgen und, wenn er geniesst, niemals
ganz darin aufgehen, sondern über dem Genüsse stehen und ihn beherrschen soll.
Verwerflich ist freilich, wie die Kyniker sagen, der Genuss, der den Menschen
zum Sklaven der Dinge macht; aber schwerer, als dem Genüsse, wie sie thun,
1) Das rfiü kommt übrigens auch bei Xenophon nicht selten im Munde des Sokrates
vor. — 2) Auch dies eine vollständig correcte Folgerung aus dem eudämonistischeo Princip.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 5
66 I- Philosophie der Griechen. 2. Anthropologische Periode.
entsagen^ ist es, sich seiner zu freuen^ und ihm doch nicht zu Terfallen. Dazu aber
befähigt allein die rechte Einsicht ').
Aus diesem Grunde haben die Kyrenaiker, insbesondere der jüngere
Aristippos ([jL7]TpoSl8axtoc, weil des Grossvaters Weisheit auf ihn durch seine
Mutter Arete übergegangen war), systematische Untersuchungen über den
Ursprung der icdftif], der Gefühle und Triebe angestellt. In einer physiologischen
Psychologie, die sich derjenigen des Protagoras (vgl. imten § 8) anschloss, führten
sie die Gefühlsverschiedenheiten auf die Bewegungszustände des Leibes zurück :
der Kühe sollte Gleichgiltigkeit, heftiger Bewegung Schmerz, sanfter Bewegung
dagegen Lust entsprechen. Neben solchen erklärenden Theorien aber ging diese
Philosophie der Lebemänner auf eine vorurtheilsfreie Weltkenntniss hinaus. Auch
für sie waren, wie Theodoros lehrte, schliesslich alle sittlichen Vorschriften und
gesetzlichen Bestimmungen nur Satzungen, die für die Masse gelten: der gebildete
Genussmensch kümmert sich um sie nicht und geniesst die Dinge, wie er ihrer
habhaft werden kann. Theodor, de)* den Beinamen des Atheisten führt, lehnte
auch alle religiösen Skrupel, welche sich der Hingabe an den Sinnengenuss ent-
gegenstellen, ab, und dass die Schule in diesem Sinne sich bemühte, den religiösen
Glauben so viel als mögUch seines Nimbus zu entkleiden, beweist die bekannte
Theorie des Euemeros, welcher in seiner Upd avaifpayii] den Glauben an die
Götter auf Ahnencult und Heroenverehrung zurückzuführen unternahm.
So kamen schliesslich die Kyrenaiker mit den Kynikern darin überein, dass
auch ihnen Alles, was vö(i(p, d. h. durch gesellschaftliche Convention der Sitte und
des Gesetzes bestimmt wird, als eine Einschränkung des Rechts auf Genuss galt,
welches der Mensch 'f 6ost, von Natur habe und welches der Weise, unbekümmert
um die historischen Satzungen, ausübe. Die Hedonisten nahmen die Verfeinerung
des Geniessens, welche die Cultur mit sich brachte, gerne mit ; sie &nden es bequem
und erlaubt, dass der verständige Mann den Honig geniesse, den Andere bereitet;
aber es band sie kein Gefühl der Pflicht oder der Dankbarkeit an die Cultur,
deren Früchte sie genossen. Dieselbe Vaterlandslosigkeit, dieselbe Abwendung
von politischem Verantwortlichkeitsgefühl, welche bei den Kynikern aus der
Verachtung der Culturgenüsse erwuchs, ergab sich für sie aus dem Egoismus des Ge-
niessens. Aufopferung für Andere, Patriotismus und Hingebung an ein Allgemeines
erklärte Theodoros für eine Thorheit, die zu theilen dem Weisen nicht zieme,
und schon Aristipp freute sich der staatlichen Ungebundenheit, die ihm sein
Wanderleben gewahre^). Die Philosophie der Schmarotzer, die am vollen Tische
hellenischer Schönheit schmausten, steht dem idealen Inhalt derselben so fern,
wie diejenige der Bettler, die auf der Thürschwelle lagen.
Indessen enthielt schon das Princip der sachverständigen Abwägung der
Genüsse ein Moment, welches über den Genuss des Augenblicks, den Aristipp
predigte, nothwendig hinausführte: nach zwei Seiten ist diese Consequenz gezogen
worden. Er selbst schon gab zu, dass bei der Abwägung die Lust und die Unlust,
welche sich für die Zukunft aus dem Genuss ergeben würden, mit in die Eechnung
gezogen werden müssten; Theodoros fand, dass das höchste Gut mehr in der
heiteren Gemüthsstimmung (x^p^^)? als im momentanen Genuss zu suchen sei, und
Annikcris kam zu der Einsicht, dass dies mehr als durch leibliche Genüsse durch
1) Vgl. Diog. Laert. U, 65 ff. ~ 2) Xen. Mem. H 1, 8 ff.
§ 8. Problem der Wissenschaft. (Sophisten.) Ö7
die geistigen Freuden menschlicher Gemeinschaft, der Freundschaft, der Famihe
und der Staatsgenossenschaft erreicht würde. Diese Erkenntniss, dass die
Genüsse der geistigen Cultur schliesslich doch noch feiner, gehaltreicher und
geschmackyoller seien als die des leiblichen Daseins, fuhrt direct in die Lehre
der Epikureer hinüber.
Andrerseits aber konnte schliesslich der hedonischen Schule auch die
Einsicht nicht erspart bleiben, dass der leidlose Genuss, zu welchem sie den
gebildeten Menschen erziehen wollte, nur ein seltenes Loos ist. Im Allgemeinen,
fand Hegesias, ist schon der glücklich zu preisen, der es zur Schmerzlosigkeit
bringt, der von Unlust frei ist. Bei der grossen Masse der Menschen überwiegt
die Unlust, der Schmerz unerfüllter Begierden : ihnen wäre es darum besser,
nicht zu leben. Die Eindringlichkeit, mit der er dies vortrug, hat ihm den Bei-
namen «stot^Avatcx; eingetragen: er überredete zum Tode. Er ist der erste Ver-
treter des eudämonistischen Pessimismus; damit aber widerlegt sich der
Eudämonismus in sich selbst. Er zeigt, dass, wenn Glückseligkeit, Wunsch-
befriedigung imd Genuss der Inhalt und Zweck des Menschenlebens sein soll, es
diesen Zweck verfehlt und als werthlos fortzuwerfen ist. Der Pessimismus ist die
letzte, aber auch die vernichtende Consequenz des Eudämonismus, seine imma-
nente Kritik.
% 8. Das Problem der Wissenschaft
P. Natorp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnissprobleras bei den Alten
(Berlin 1884).
Die Sophisten waren Lehrer der politischen Beredsamkeit: sie mussten in
erster Instanz darüber unterrichten, wie man gut spricht. Und indem sie die
Rhetorik aus einer traditionellen Kunst zu einer Wissenschaft umgestalteten,
wendeten sie sich zunächst sprachlichen Untersuchungen zu und wurden die
Schöpfer der Grammatik und Syntax. Sie stellten Untersuchungen über die
Satztheile, über den Wortgebrauch, über Synonymik und Etymologie an:
Prodikos, Hippias und Protagoras zeichneten sich in dieser Hinsicht aus ; über
den Ertrag ihrer Einsichten sind wir nur unvollständig unterrichtet.
1. Noch ungünstiger steht es mit unserer Kenntniss ihrer logischen
Errungenschaften, die bis auf wenige Andeutungen verloren sind. Denn dass
Lehrer der Rhetorik auch über den Gedankengang der Rede gehandelt haben,
versteht sich von selbt. Dieser Gedankengang aber besteht imBeweisen und
Widerlegen. Es war also unvermeidlich, dass die Sophisten eine Theorie des
Beweisens und Widerlegens entwarfen, und für Protagoras ist es auch *) aus-
drücklich bezeugt. Leider aber fehlen alle näheren Nachrichten darüber, wie
weit die Sophisten damit gekommen sind und ob sie schon die abstracte Heraus-
schälung der logischen Formen aus den inhaltlichen Bestimmungen des Denkens
versucht haben. Charakteristisch ist, dass die wenigen Nachrichten, welche wir
über die Logik der Sophisten haben, sich fast ausnahmslos auf ihre Betonung des
Satzes vom Widerspruche beziehen: dem advokatischen Wesen lag das
Widerlegen näher als das Beweisen. Protagoras hat über „Widerlegungs-
gründe^ eine besondere Schrift, vielleicht seine bißdeutendste ^), hinterlassen, und
1) Diog. Laert. IX, 51 ff. — 2) Es ist wahrscheinlich, dass KataßÄXXovTs^ (sc. X6f oi) und
'AvtiXoYiat nur zwei verschiedene Titel dieses Werkes sind, dessen erstes Kapitel von der
Wahrheit handelte.
68 I- Philosophie der Griechen. 2. Anthropologische Periode.
er hat das Gesetz des contradictorischen Gegensatzes wenigstens so weit formulirt,
dass er sagte, es gäbe über jeden Gegenstand zwei einander widerstreitende Sätze^
und daraus Folgerungen zog. Damit formulirte er in der That das Verfahren,
das Zenon praktisch angewendet hatte und das auch in der Lehrpraxis der So-
phisten eine sehr grosse KoIIe spielte, ja den breitesten Raum einnahm.
Denn zu den Hauptkünsten dieser Aufklärer gehörte es, die Menschen an ihren
bisher geltenden Vorstellungen irre zu machen, sie durch geschickte Fragen in
Widersprüche zu verwickeln und die so Verwirrten womöglich durch Consequenz
oder Consequenzmacherei zu absurden Antworten so weit zu zwingen, dass sie
sich selbst und Anderen lächerlich wurden. Dass es dabei logisch nicht immer allzu
reinlich, sondern recht gründlich so zuging, wie man es heut „sophistisch^ nennt,
dass diese Leute sich keine sprachliche Zweideutigkeit, keine Unbehilflichkeit des
populären Ausdrucks entgehen liessen, um daraus den Strick der Absurdität zu
drehen, das geht aus den Beispielen hervor, welche Piaton ') und Aristoteles ')
erhalten haben. Es sind oft nur sprachliche, grammatische und etymologische,
seltener eigentlich logische, vielfach aber recht grobe und frostige Witze, die
dabei herauskommen : charakteristisch sind auch hier die Vexi rfragen , bei denen
sowohl die bejahende als auch die verneinende Antwort nach den Gewohnheiten
und Voraussetzungen der in der Rede üblichen Wortbedeutung unsinnige, bzw.
vom Antwortenden nicht beabsichtigte Folgerungen zulässt^).
Neben den von Piaton geschilderten Brüdern Euthydemos und
Dionysidoros haben diese Kunst des Wortstreits, welche bei den ^del redenden
und an Sylbenstecherei gewöhnten Athenern grossen Erfolg hatte, diese Eristik,
hauptsächlich die Megariker betrieben, deren Schulhaupt Euklid sich mit
der Theorie des Widerlegens beschäftigte *). Seine Auliänger Eubulides und
Alexinos wurden durch ehie Reihe solcher Fangschlüsse, die grosses Auf-
sehen machten und eine ganze Literatur hervorriefen, berühmt*). Unter diesen
befinden sich zwei, der „Haufen ^^ und der „Kahlkopf"*), deren Grundgedanke
bereits auf Zenon zurückgeführt wird und bei diesem sich den Argumentationen
einfugt, durch welche gezeigt werden sollte, dass die Zusammensetzung der
Grössen aus kleinen Theilen unmöglich sei. Aehnlich haben auch Zenon's
Beweise gegen die Bewegung durch einen anderenMegariker,Diodoros Kronos,
noch Vermehrung, wenn auch nicht Vertiefung oder Verstärkung gefunden*).
Unermüdlich in der Auffindung solcher Aporien, Schwierigkeiten und Wider-
sprüche, erfand derselbe Diodor aucli den berühmten Beweis (xopisixov), welcher
den Begriff der MögUchkcit zersetzen sollte: möglich ist nur das Wirkliche ; denn
ein Mögliches, das nicht wirklich wird, erweist sich eben dadurch als unmöglich^).
Auch in anderer Weise zeigen die dem Eleatismus näherstehenden Sophisten
eine extreme Anwendung des Satzes vom Widerspruch und eine entsprechende
Uebertreibung des Princips der Identität. Schon Gorgias scheint seine
Meinung, dass alle Behauptungen falsch seien, auch dadurch gestützt zu haben^
dass es unrichtig sei, von Etwas irgend etwas Anderes als eben dies selbe auszu-
1) PlaioD im Euthydem und im Eratylos, AriBioteles in dem Buch „über die sophisti*
9(;hen Trugschlüsse". — 2) Typisch: „Hast Du aufgehört, Deinen Vater zu schlagen?** oder:
„Hast Du Deine Homer abgeworfen?" — 3) Diog. Laert. 11, 107. - 4) Vgl. Trantl, Gesch.
der Log. I, 33 ff. — 5) Welches Korn macht den Haufen? welches ausfallende Haar den Kahl-
kopf? — 6) Sext. Emp. adv. math. X, 85 ff. ~ 7) Cic. de fato 7, 13.
§ 8. Problem der 'Wissenschaft. (Gorgias, Protagoras.) 69
sagen : und die Kyniker sowie Stilpon; der Megariker^ haben diesen Gedanken
zu dem ihrigen gemacht. Danach bleiben nur so rein identische ürtheile, wie
gut ist gut, Mensch ist Mensch u. s. f. übrig ^). Damit ist consequenter Weise
auch das Urtheilen und Beden ebenso unmöglich gemacht, wie nach eleatischem
Princip Vielheit und Bewegung. So wie in der Metaphysik des Parmenides, die
übrigens auch gelegentUch sowohl bei den Megarikern wie bei den Kynikern
spukt (vgl. unten No. 5), der Mangel an Beziehungsbegriffen keine Verknüpfung
der Einheit mit der Vielheit gestattet und zur Leugnung der Vielheit geführt hatte,
so lie^s hier der Mangel logischer Beziehungsbegriffe die Aussage einer Mannig-
faltigkeit von Prädicaten über das Subject unmöglich erscheinen.
2. Dies alles sind nun schon Wendungen, in denen die skeptische
Richtung zum Ausdruck kommt, welche die Untersuchungen der Sophisten über
die Erkenntnissthätigkeit genommen haben. Wenn aus solchen Gründen die
logische Unmöglichkeit aller synthetischen Satzbildung behauptet wurde, so zeigte
sich, dass mit dem abstracten Princip der Identität, wie es die Seinslehre der
Eleaten formulirt hatte, das Erkennen selbst unvereinbar war: in denZenonischen
Dichotomien hatte sich die Lehre des Parmenides selbst unrettbar verstrickt.
Zum offensten Ausdruck kam dies in der Schrift des Gorgias^), welche Sein,
Erkenntniss und Mittheilung der Erkenntniss fiir unmöglich erklärte. Es ist
Nichts: denn sowohl das Sein, welches weder als ewig noch als vergänglich, weder
als einheitlich noch als vielfach gedacht werden kann, als auch das Nichtsein sind
in sich widerspruchsvolle Begriffe. Wäre aber etwas, so wäre es nicht erkennbar:
denn das Gedachte ist immer etwas anderes als das Sein, sonst könnten sie nicht
unterschieden werden. Wäre endUch Erkenntniss, so könnte sie nicht gelehrt
werden : denn jeder hat nur seine eigene Vorstellungen, und es giebt bei der Ver-
schiedenheit zwischen den Gedanken und den zu ihrer Mittheilung zu verwendenden
Zeichen keine Gewähr gegenseitiger Verständigung.
Dieser Nihilismus machte wohl kaum den Anspruch, ernst genommen zu
werden. Schon der Titel des Buchs Tcepl yoosox; oo Äspi toö {itj Svtoc sieht wie eine
groteske Farce aus. Der formgewandte Bhetor, der alle ernste Wissenschaft
verachtete und nur seine Bedekunst betrieb % machte sich den Spass, im Styl
von Zenon's contradictorischer Zwickmühle die ganze Arbeit der Philosophie
als nichtig zu ironisiren. Aber eben, dass er dies that und dass dies Anklang
fand, beweist, wie gerade unter den Männern, welche sich mit der Belehrung
des Volkes beschäftigten, in den Kreisen der wissenschaftlichen Bildung selbst
der Glaube an die Wissenschaft zu eben der Zeit verloren ging, wo die Masse des
Volkes in ihr das Heil suchte. Diese Verzweiflung aber an der Wahrheit ist um
so begreiflicher, je mehr die ernsthaft wissenschaftliche Untersuchung, die Prota-
goras ftlhrte, zu demselben Resultate gelangte.
E. Laas, Idealismus und Positivismus I (Berlin 1880).
W. Halbfass, Die Berichte des Piaton und Aristoteles über Protagoras (Strassb. 1882).
Sättig, Der protagoreische Sensualismus (Zeitschrift für Philosophie. Bd. 86—89).
3. Den Kernpunkt der Lehre des Protagoras bildet sein Bestreben, die
menschlichen Vorstellungen psychogenetisch zu erklären. Für den praktischen
Bedarf der Tugendlehre und namentlich der rhetorischen Ausbildung war die
1) Plat. Theaet. 201 e, vgl. Soph. 251 b. — 2) Auszüge theils im dritten Kapitel der
pseudo-aristotelischen Schrift De Xenophane, Zenone, Gorgia (vgl. S. 23), theils bei Sext.
Emp. VII, 65—86. — 3) Plat. Men. 95 c.
70 !• Philosophie der Griechen. 2. Anthropolo^sche Periode.
Einsicht in den Ursprung und die Entwicklung der Vorstellungen durchaus
erforderlich^ gentigten aber die von allgemeinsten Voraussetzungen herconstruirten
und damit vielfach durchsetzten Behauptungen, welche die Metaphysiker darüber
gelegentlich geäussert hatten, durchaus nicht; dagegen boten sich von selbst die
physiologisch-psychologischen Beobachtungen dar, welche man in den jüngeren,
mehr naturwissenschaftlichen Ej^eisen gemacht hatte. Da nunfurProtagoras die
Werthbestimmungen zunächst fortfielen, Ton denen aus Denken und Wahrnehmung
einander gegenübergestellt worden waren , so bheb für ihn nur die Ansicht von
der psychologischen Idendität des Denkens mit dem Wahrnehmen übrig, zu welcher
sich ja auch jene Metaphysiker, sobald sie das Vorstellen aus dem Weltlauf
erklären wollten, durchweg bekannt hatten (vgl. § 6). In Folge dessen erklärte er,
dass das ganze Seelenleben nur aus den Wahrnehmungen bestehe').
Dieser Sensualismus erläuterte sich sodann durch die ganze Menge der
Thatsachen, welche die physiologische Psychologie in Verbindung mit den Lehren
der wissenschaftlich forschenden Aerzte gesammelt hatte, und mit den zahlreichen
Theorien, welche insbesondere über den Process der Sinnesthätigkeit aufgestellt
worden waren.
Allen diesen aber war die Vorstellungsweise gemeinsam, dass, sowie jeder
Vorgang des Geschehens in der Welt, auch die Wahrnehmung in letzter
Instanz auf Bewegung beruht. Darin waren sogar mit den Atomisten, aus
deren Schule vermuthlich Protagoras als Abderit hervorging, Anaxagoras und
Empedokles einig, und diese Einmüthigkeit erstreckte sich noch weiter, dahin
nämhch, dass man allerseits bei der Wahrnehmung nicht nur einen Bewegungs-
zustand des wahrzunehmenden Dinges, sondern auch einen solchen des wahr-
nehmenden Organs annahm. Mochte man über das metaphysische Wesen dessen,
was sich da bewegte, denken wie man wollte, — das scliien zweifellos anerkannt,
dass jede Wahrnehmung diese Doppelbewegung voraussetze. Und auch mit der
Lehre war schon Empedokles vorangegangen, dass die innere, organische Bewegung
der äusseren entgegenkomme *)•
Auf dieser Grundlage") baut sich die Erkenntnisslehre des Protagoras
auf. Ist nämlich die Wahrnehmung das Product dieser beiden auf einander
gerichteten Bewegungen, so ist sie offenbar etwas Anderes als das wahr-
nehmende Subject, aber auch etwas Anderes als das die Wahr-
nehmung hervorruf endeObject. Durch beide bedingt, ist sie doch von
beiden verschieden. Diese weittragende Einsicht bezeichnet man als die Lehre
von der Subjectivität der Sinneswahrnehmung.
Doch tritt dieselbe bei Protagoras in einer eigenthümlichen Verschränkung
auf. Da er nämlich offenbar so wenig wie irgend einer der früheren Denker ein
Bewusstsein ohne einen ihm entsprechend existirenden Bewusstseinsinhalt an-
nehmen mochte, so lelute er, dass bei jener Doppelbewegung auch ein Zwiefaches
1) Diog. Laert. IX, 51. — 2) Ob diese beiden Bewegungen schon von Protagoras
Leiden und Wirken (wotoöv und irAo/ov) bezeichnet worden sind, wie es bei Platon's D
als
Dar-
stellung Theaet. 156 a geschieht, bleibe dahingestellt. Jedenfalls sind so anthropologische
Kategorien im Munde des Sophisten nicht verwunderlich. — 3) Es liegt solchen Vorbereitungen
gegeniiber kein Grund vor, diese Theorie der einander entgegenlaufenden Bewegungen auf
eine directe Anknüpfung anHeraklit zurückzuführen. Ihr heraklitisches Moment, das Piaton
sehr richtig gesehen hat, ist schon genügend durch jene directen Vorgänger vertreten, welche
alles Geschehen auf Bewegungsverhältnisse reducirten.
§ 8, Problem der Wissenschaft. (Protagoras.) 7 1
entstünde: das Wahrnehmen (atb^Tjai^) im Menschen und der Wahr-
nehmungsinhalt (rö ala^töv) an dem Dinge. Daher ist die Wahrnehmung
zwar das völlig adäquate Wissen von dem Wahrgenommenen, aber gar
kein Wissen von dem Dinge. Jede Wahrnehmung ist also insofern wahr, als in
dem Augenblicke, wo sie entsteht, auch der in ihr vorgestellte Inhalt an dem
Dinge als aladYjröv entsteht: aber keine Wahrnehmung erkennt das Ding selbst.
Jeder erkennt folglich die Dinge, nicht wie sie sind, sondern so wie sie im Momente
der Wahrnehmung für ihn, aber auch nur für ihn sind : und sie sind in diesem
Momente in Bezug auf ihn so, wie er sie vorstellt. Das ist der Sinn des prota-
goreischen Kelativismus, nach welchem die Dinge für jeden Einzelnen so sind,
wi^ sie ihm erscheinen, und dies drückte er in dem berühmten Satze aus: dass
aller Dinge Mass der Mensch sei.
Danach ist also jede Meinung, die aus der Wahrnehmung erwächst, wahr,
aber im gewissen Sinne eben deshalb auch falsch. Sie gilt nur für den Wahr-
nehmenden selbst, aber auch für ihn nur in dem Momente ihrer Entstehung : es
geht ihr jede All gemeingiltigkeit ab. Und da nach der Ansicht des Protagoras
es kein anderes Vorstellen, also auch kein anderes Wissen giebt als die Wahr-
nehmung, so giebt es für die menschliche Erkenntniss überhaupt nichts Allgemein-
giltiges. Diese Ansicht ist Phänomenalismus, insofern als sie in diesem ganz
bestimmten Sinne eine auf das Individuum und auf den Moment beschränkte
Erkenntniss der Erscheinunglehrt; aberSkepticismus, insofern sie jede darüber
hinausgehende Erkenntniss ablehnt.
Wie weit Protagoras selbst praktische Consequenzen aus diesem Satze,
dass für Jeden seine Meinung wahr sei, gezogen hat, wissen wir nicht. Jüngere
Sophisten folgerten, danach sei Irrthum nicht möglich, Allem komme Alles und
wieder auch Nichts zu, besonders aber : es sei kein wirklicher Widerspruch möglich ;
denn da Jeder von seinem Wahrnehmungsinhalt rede, sohätten niemals verschiedene
Aussagen denselben Gegenstand. Jedenfalls verzichtete Protagoras auf jede
positive Behauptung über das Seiende; er sprach nicht von dem Wirklichen, was
sich bewegte, sondern nur von der Bewegung und von den Erscheinungen, welche
sie für die Wahrnehmung hervorbringe.
In dieser Hinsicht hat nun, sei es Protagoras selbst, sei es die voii ihm
abhängige Sophistik, die Versuche begonnen, auf die Verschiedenheiten dieser
Bewegung die Verschiedenheiten der Wahrnehmung und damit auch der Er-
scheinung zurückzuführen. Es war vennuthlich auch die Form, hauptsächüch
aber die Geschwindigkeit der Bewegung, welche dabei in Betracht gezogen wurde ^).
Interessant ist femer, dass unter den Begriff der Wahrnehmung nicht nur die
Empfindungen und Anschauungen, sondern auch die sinnlichen Gefühle und
Begierden subsumirt wurden, merkwürdig besonders deshalb, weil auch diesen
Zuständen ein alo^Yjtöv, eine momentane Qualification des die Wahrnehmung
erzeugenden Dinges entsprechen soUte. Die Prädicate der Annehmlichkeit und
Begehrungswürdigkeit erfahren auf diese Weise dieselbe erkenntnisstheoretische
Werthung, wie die Prädicate der sinnlichen Vereigenschaftung. Was Jemandem
1) Zweifellos macht sich hierin die Entwicklung der pro tagoreischen Erkenntnisstheorie
aus der atomistischen Schule, der diese Reduction des Qualitativen auf das Quantitative wesent-
lich war (vgl. oben § 5), geltend, wenn auch der Sophist sich auf solche metaphysischen
Theorien, wie den Atomismus, principiell nicht einliess.
72 I* Philosophie der Ghiechen. 2. Anthropologische Periode.
angenehm; niitsdicb^ wünschenswerth erscheint^ ist fiir ihn angenehm; nützlich und
wünschenswertb. Das individuelle Befinden ist auch hierin das Mass der Dinge,
und eine andere allgemeingiltige Bestimmung des Werths der IHnge giebt es
nicht. In dieser Bichtung hat sich der aristippisphe Hedonismus aus der prota-
goreischen Lehre entwickelt; wir kenneQ; lehrt er, nicht die Dinge, sondern nur
ihren Werth fiir ims und die Zustände (ica^), in die sie uns versetzen. Diese aber
sind Ruhe und Gleichgiltigkeit, heftige Bewegung und Schmerz, oder sanfte
Bewegung und Lust. Von diesen aber ist nur die letztere erstrebenswerth
(vgl. oben § 7, 9).
4. So mündeten alle Gedankengänge der Sophistik bei dem Verzicht auf
die Wahrheit: Sokrates aber brauchte Wahrheit, und deshalb glaubte er,
dass sie zu eiTeichen sei, wenn man sie redlich suche. Tugend ist Wissen, und da
es Tugend geben muss, so muss es auch Wissen geben. Hier tritt zum ersten
Mal in der Geschichte mit voller Klarheit das sittliche Bewusstsein als
erkenntnisstheoretisches Postulat auf. Weil Sittlichkeit nicht ohne Er-
kenntniss mögUch ist, so muss es Erkenntmss geben: und wenn das Wissen nicht
da ist, so muss es gesucht werden, so muss es erstrebt werden, wie der Liebende
nach dem Besitz des GeUebten trachtet. Wissenschaft ist die sehnende, ringende
Liebe zum Wissen: ^iXooof la (vgl. Piaton, Symp. 203 e).
Aus dieser Ueberzeugung entwickeln sich alle Eigenthümlichkeiten der
sokratischen Wissenschaftslehre ^), in erster Linie die Grenzen, innerhalb deren
er das Wissen für iiothwenig und deshalb ftir möglich hielt. Es ist nur eine
Kenntniss der menschlichen Lebensverhältnisse (ra avd'pütTceia), welche für das
sittliche Leben nothwendig ist: nur ftir diese ist ein Wissen nöthig, und nur ftir
diese reicht auch die Erkenntnisskraft des Menschen aus. Die naturphilosophischen
und metaphysischen Hypothesen haben mit der sittlichen Aufgabe des Menschen
Nichts zu thun, und sie werden von Sokrates um so mehr unbeachtet gelassen,
als er die Ansicht der Sophisten theilte, dass es unmögUch sei, darüber eine sichere
Erkenntniss zu gewinnen. Wissenschaft ist nur als praktische Einsicht , als Er-
kenntniss des sittlichen Lebens möglich. — Diese Ansicht haben die sophistischen
Nachfolger des Sokrates unter dem Einflüsse seines eudämonistischen Princips
noch schroffer zugespitzt. Den Kynikem wie den Kyrenaikern hatte die Wissen-
schaft nur so weit Werth, als sie dem Menschen die rechte Einsicht gewährt,
welche dazu dient, glücklich zu werden. Bei Antisthenes und Diogenes wurde das
Wissen nicht an sich, sondern als Mittel zur Beherrschung der Begierden und zur
Erkenntniss der natürlichen Bedürfnisse des Menschen geschätzt; die Kyrenaiker
sagten, die Ursachen der Wahrnehmung (td TüSÄOtrjxÖTa xä äA^) seien fiir uns
ebenso gleichgiltig wie unerkennbar; das zur Glückseligkeit fiihrende Wissen habe
es nur mit unseren Zuständen, die wir sicher erkennen, zu thun. Gleichgiltigkeit
gegen Metaphysik imd Naturwissenschaft ist bei Sokrates, wie bei den Sophisten
die Folge ihrer Beschäftigung mit dem inneren Wesen des Menschen.
5. Es wird fiir alle Zeiten eine merkwürdige Thatsache bleiben , dass ein
Marm, der sich den Gesichtskreis der wissenschaftlichen Untersuchung so verengte,
wie Sokrates, doch innerhalb desselben das Wesen der Wissenschaft selbst
in so klarer imd für alle Zukunft massgebender Weise bestimmte. Er verdankte
1) V)2:l. Fb. ScHL£a;RUAC^EB, Heber den Werth des Sokrates als Phüosophen, Ges.W. in,
2 Bd., S. 287 ff.
§ 8. Problem der Wissenschaft. (Sokrates.) 73
dies wesentlich seinem instinctiven und überzeugungsvoUen Gegensatz gegen
den Relativismus der Sophisten. Sielehrten, dasse8nurMeinungen(SöSai)
gebe, welche für den Einzelnen mit psychogenetischer Nothwendigkeit
gelten, er aber suchte ein Wissen, das für alle in gleicher Weise massgebend
sein sollte. Dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der individuellen Vorstellungen
gegenüber verlangte er nach dem Bleibenden imdEünheitlichen, das alle anerkennen
sollen. Er suchte die logische Physis, und er fand sie im Begriff. Auch
hier wurzelte die Ansicht in der Forderung, die Theorie im Postulat.
Auchdie alten Denker hatten ein Gefühl davon gehabt, dass das vernünftige
Denken, dem sie ihre Erkenntnisse verdankten, etwas wesentlich anderes sei,
als das alltägliche sinnUche Weltauffassen und hergebrachte Meinen : aber sie
hatten diesen Werthunterschied weder psychologisch noch logisch ausfuhren
können. Sokrates ist dies gelungen, weil er auch hier die Sache durch die Leistung
bestimmte, welche er von ihr erwartete. Die Vorstellung, die mehr als Meinung
sein, die als Wissen für alle gelten soll, muss dasjenige sein, was in allen den
besonderen Vorstellungen, die den Einzelnen in einzelnen Verhältnissen sich auf-
gedrungen haben, gemeinsam ist: die subjective Allgemeingiltigkeit ist nur für
das objectiv Allgemeine zu erwarten. Wenn es daher Wissen geben soll, so ist
es nur in demjenigen zu finden, worin alle einzelnenVorstellungen übereinkommen.
Dies sacUich Allgemeine, welches die subjective Gemeinsamkeit des Vorstellens
ermöglicht, ist der Begriff (Xöifoc), und Wissenschaft ist somit begriffliches
Denken. Die allgemeine Geltung, welche für das Wissen in Anspruch genommen
wird, ist nur dadurch möglich, dass der wissenschaftliche Begriff das Gemeinsame
heraushebt, welches in allen einzelnen Wahrnehmungen und Meinungen ent-
halten ist.
Daheristda^ZielallerwissenschaftUchen Arbeit die Begriffsbestimmung,
die Definition. Der Zweck der Untersuchung ist festzustellen, d&caoTov sitj,
was jedes Ding ist, und den wechselnden Meinungen gegenüber zu bleibenden
VorsteUungsgebilden zu kommen.
Vorbereitet war diese Lehre einiffermassen durch die Untersuchungen der Sophisten
über die Wortbedeutung, über Synonymik und etymologische Verhältnisse. In letzterer Hin-
sicht gingen die Hypothesen der Sophisten in den Anfangen der Sprachphilosophie (vgl. Pia-
ton's Kratylos) auf die Frage hinaus, ob eine natürliche oder nur eine conventionelle Beziehung
zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen obwalte ((puatt ^ ^eoei). Erfolgreich scheint
in dieser Fixirung der Wortbedeutungen besonders Prodikos gewesen zu sein, den Sokrates
lobend erwähnt.
Bei den späteren Sophisten hat sich das sokratische Verlangen nach festen Begriffen
sogleich mit der eleatischen Metaphysik und ihrem Postulat der Identität des Seins mit sich
selbst verquickt. Euklid nannte die Tugend oder das Gute das einzige Sein, welches, von den
Menschen nur mit verschiedenen Namen bezeichnet, in sich unveränderlich dasselbe bleibe.
Antisthenes erklärte zwar den Begriff dahin, er sei es, welcher das zeitlose Sein des Dinges
bestimme ^) ; aber er fasste diese allen Beziehungen überhobene Identität des Seienden mit sich
selbst so schroff, dass er jedes wahrhaft Seiende nur durch sich selbst bestimmbar dachte. Die
Prädication ist unmöglich, es giebt nur analytische Urtheile (vgl. oben No. 1). Danach war
nur das Zusammengesetzte begiifBich bestimmbar, das Einfache ist nicht zu definiren'). Von
ihm giebt es also keine begriiHiche Einsicht, es kann nur in sinnlicher Gegenwärtigkeit auf-
gewiesen werden. So kamen die Kyniker aus der sokratischen Begriffslehre zu einem Sensua-
lismus, der als EinÜEiches, Ursprüngliches nur das mit Händen zu Greifende, mit Augen zu
Sehende anerkannte, und dies ist der Grund ihrer Opposition gegen Piaton.
6. Aufsuchung der Begriffe (seinem Zwecke nach freilich nur der
ethischen) war somit für Sokrates das Wesen der Wissenschaft, imddies bestimmte
1) Xo^oq soxtv 6 xb zi yjv yj laxt 8y|>.(üv: Diog. Laert VI, 3. — 2) Plat. Theaet 202b.
74 !• Philosophie der GhiecheD. 2. Anthropologische Periode.
zunächst die äussere Gestalt seines Philosophirens. Der Begriff sollte das sein^
was für alle gilt: er musste also in gemeinsamem Denken gefunden werden.
Sokrates ist weder ein einsamer Grübler, noch ein Lehrer, der ex cathedra docirt,
sondemein wahrheitsdurstiger Mann, der sich ebenso belehren will, wie dieanderen.
Seine Philosophie ist dialogisch, sie entwickelt sich im Gespräch, das er mit
Jedem, der ihm Rede stehen wollte, zu beginnen bereit war ^). Zu den sittlichen
Begriffen, die er allein suchte, war ja der Zugang von jedem beliebigen Gegen-
stand alltäglichster Beschäftigung leicht zu finden. In dem Austausch der
Gedanken sollte sich das Gemeinsame herausstellen, der SiaXoYia{i.d(; war der Weg
zum XÖ70C. Aber diese Unterhaltung stiess auf mannigfaltige Schwierigkeiten : auf
die Trägheit der gewohnheitsmässigen Vorstellungsweise, andrerseits auf die eitle
Neuerungssucht und Paradoxie der Sophisten, auf den Hochmuth des Schein wissens
und des gedankenlosen Nachredens. Hier sprang Sokrates ein, indem er selbst als
der Lernbegiiarige sich einführte, durch geschickte Fragen die Ansichten heraus-
lockte, mit unerbittlicher Consequenz ihre Mängel aufdeckte und schliesslich
dem bildungsstolzen Athener zu Gemüthe führte, dass die Einsicht in die
eigene Unwissenheit der Anfang alles Wissens sei. Wer dann noch bei
ihm aushielt, mit dem begann er ernsthaft in gemeinsamem Denken zur Begriffs-
bestimmung überzugehen, und indem er die Führung der Unterhaltung unternahm,
brachte er den Bedegenossen Schritt für Schritt zu klarerer, widerspruchsloserer
Entfaltung seiner eigenen Gedanken, und Hess ihn das, was in ihm als unfertig
Geahntes schlummerte, zu festem Ausdruck bringen. Er nannte dies seine geistige
Entbindungskunst und jene Vorbereitung dazu seine Ironie.
7. Die mäeutische Methode hat aber noch einen anderen sachlichen
Sinn: in der Unterredung kommt die vernünftige Gemeinsamkeit zu Tage,
welcher sich alle Theile trotz ihrer auseinander gehenden Meinungen unterwerfen.
Der Begriff soll ja nicht gemacht, er soll gefunden werden : er ist schon da, er
muss nur aus den Hüllen der individuellen Erfahrungen und Meinungen, in denen
er steckt, entbunden werden. Darum ist das Verfahren der sokratischen Begriffs-
bildung epagogisch oder inductorisch: es führt durch die Vergleichung der
besonderen Ansichten und sinnlichen Einzelvorstellungen zu dem begrifflich
Allgemeinen; es entscheidet jede Einzelfrage, indem es durch Heranziehung
analoger Fälle, durch Aufsuchung verwandter Verhältnisse zu einer allgemeinen
begrifflichen Bestimmung vorzudringen sucht, die sich dann auf das vorgelegte
Sonderproblem entscheidend anwenden lässt, und es bringt diese Unterordnung
des Besonderen unter das Allgemeine als das Grundverhältniss der
wissenschaftlichen Erkeuntniss zur Durchfuhrung.
Freilich ist das inductorische Verfahren, wie es Sokrates (bei Xenophon und
Piaton) anwendet, noch von kindlicher Einfachheit und Unfertigkeit. Es fehlt ihm
noch die Vorsicht des Verallgemeinerns und die methodische Behutsamkeit der
Begriffsbildung. Das Bedürfni^s nach dem Allgemeinen ist so lebhaft, dass es
sich sogleich an schnell zusammengerafftem Material befriedigt, und die Ueber-
zeugung von der bestimmenden Geltung des Begriffs ist so stark, dass danach
sofort die vorgelegte einzelne Frage entschieden wird. So gross aber die Lücken
1) Dies Moment hat sich mit dem Einfluss der Zenonischen Dialectik vereinigt, um der
nachfolgenden philosophischen Literatur den Charakter des Dialogischen aufzuprägen.
§ 8. Problem der Wissenschaft. (Sokrates.) 75
in den Beweisführungen des Sokrates sein mögen, so wenig wird damit die
Bedeutung derselben yerringert Seine Lehre von der Induction hat keinen
methodologischen; sondern logischen und erkenntnisstheoretischen
Werth. Sie fixirt in einer fiir alle Zukunft massgebenden Weise, dass es die
Aufgabe der Wissenschaft ist, aus der Vergleichung der That-
sachen zur Feststellung allgemeiner Begriffe hinzustreben.
8, Wenn Sokrates so das Wesen der Wissenschaft als das begriffliche Denken
bestimmte, so setzte er auch die Grenzen ihrer Anwendung fest: diese
Aufgabe ist seiner Meinung nach nur auf dem Gebiet des praktischen Lebens zu
erfüllen. Wissenschaft ist ihrer Form nach Begriffsbildung und ihrem Inhalte
nach Ethik.
Indessen bleibt doch nun die ganze Masse der Vorstellungen über die Natur
und alle die sich daranknüpfenden Fi'agen und Probleme bestehen^ und wenn diese
auch zum grössten Theil für das sittliche Leben gleichgiltig sind, so lassen sie sich
doch nicht ganz abweisen : nachdem aber Sokrates darauf verzichtet hat, über
solche Fragen zu begrifflicher Einsicht zu gelangen, bleibt ihm um so mehr die
Möglichkeit; sich über das Weltall eine Vorstellung zu bilden, welche seinen
wissenschaftlich begründeten, sittlichen Bedürfnissen genügt.
So kommt es, dass Sokrates zwar jede Naturwissenschaft ablehnt, dabei
aber sichzu einer teleologischen Naturbetrachtung bekennt, welche die
Weisheit der Welteinrichtung, die Zweckmässigkeit der Dinge bewundert ') und
welche da, wo das Verständniss aufliört, gläubig der Vorsehung vertraut. Mit
diesem Glauben hat sich Sokrates möglichst nahe an den religiösen Vorstellungen
, seines Volkes gehalten und auch von der Vielheit der Götter gesprochen, obwohl
er dem ethischen Monotheismus, der sich in seiner Zeit vorbereitete, wohl auch
zuneigte. Aber er trat in solchen Dingen nicht als Reformator auf, er lehrte
sittliche Bildung, und wenn er seinen Glauben auseinandersetzte, so liess er den
der Anderen unangetastet.
Aus diesem Glauben stammte aber auch die üeberzeugung, mit der er so-
gar den Rationalismus seiner Ethik einschränkte : das Vertrauen auf das 3ai|tövtov.
Je mehr er auf Klarheit der Begriffe und auf vollkommene Erkenntniss der sitt-
lichen Verhältnisse drang, und je mehr er dabei wahr gegen sich selbst war, um
so weniger konnte er sich verbergen, dass der Mensch in seiner Beschränktheit
damit nicht auskommt, dass es Zustände giebt, in denen die Erkenntniss zur
sicheren Entscheidung nicht ausreicht, und wo das Gefühl in seine Rechte tritt.
Hier nun glaubte Sokrates in sich das Dämonien zu hören, eine berathende, meist
warnende Stimme. Er meinte, dass die Götter auf diese Weise den, der ihnen
sonst diente, in schwierigen Lagen, wo seine Erkenntniss aufhörte, vom Schlech-
ten abmahnten.
So stellte der Weise von Athen neben die sittliche Wissenschaft den Glauben
und das Gefühl.
1) Es ist nicht wahrscheinlich, dass Sokrates in dieser Hinsicht starke Einflüsse von
Anaxagoras erfaliren hat, da dessen Teleologie sich auf die Harmonie der Gestimwelt, nicht
auf das Menschenleben bezieht, während die Betrachtungen, welche dem Sokrates (nament-
lich von Xenophon) zugeschrieben werden, den Nutzen des Menschen zum Massstabe der
Weltbewunderung machen. Dem sokratischen Glauben viel verwandter sind die religiösen
Anschauungen der grossen Dichter Athens, insbesondere der Tragiker.
76 !• Philosophie der Griechen.
3. Kapitel. Die systematische Periode.
Die dritte, vollendende Periode der griechischen Wissenschaft erntete die
Früchte von heiden vorangegangenen Entwickelungen: sie stellt sich wesentlich
als eine gegenseitige Durchdringung der kosmologischen und der
anthropologischen Gedankenmassen dar. Diese Vereinigung aber er-
scheint nur zu geringem Theile als sachliche Nothwendigkeit, noch weniger aber
als eine Forderung der Zeit: sie ist vielmehr in der Hauptsache dieThat grosser
Persönlichkeiten und ihrer eigenartigen Erkenntnissrichtung.
Der Zug der Zeit ging vielmehr auf praktische Auswerthung der Wissen-
schaft: ihm folgte sie, wenn ihre Forschung in Einzeluntersuchungen über mecha-
nische, physiologische, rhetorische und politische Probleme aus einander ging
und wenn ihre lehrhafte Darstellung sich den Vorstellungen des gemeinen Mannes
anbequemte. Die allgemeinen Fragen der Welterkenntniss hatten das Interesse,
welches ihnen anfängUch zugewendet war, für die grosse Masse nicht nur des Volks,
sondern auch der Gelehrten verloren, und ihre skeptische Ablehnung durch die
sophistische Erkenntnisslehre tritt nirgends in der Form eines Verzichtens oder
Beklagens auf.
Wenn daher die griechische Philosophie von den Untersuchungen über
menschliches Wissen und Wollen, womit sich die Forschung der Auf klärungszeit
beschäftigte , mit erneuter Kraft zu den grossen Problemen der Metaphysik zu-
rückgekehrt und auf diesem Wege zu ihrer Höhe gelangt ist, so verdankte sie
dies dem persönlichen Wissensdrange der drei grossen Männer, welche die Träger
dieser werthvollsten Entfaltung des antiken Denkens gewesen sind : Demokritos,
Piaton, Aristoteles.
Die Schöpfungen dieser drei Heroen des griechischen Denkens unterscheiden
sich von den Lehren aller Vorgänger durch ihren systematischen Charakter:
alle drei haben umfassende, in sich geschlossene Systeme der Wissenschaft
geUefert. Diesen Charakter gewannen ihre Lehren einerseits durch die Allseitig-
keit ihrer Probleme und andrerseits durch die bewusste Einheitlichkeit der Be-
handlung derselben.
Während jeder der früheren Denker nur einen begrenzten Kreis von Fragen
aufgriff und dementsprechend sich auch nur in gewissen Gebieten der Wirk-
lichkeit unterrichtet zeigte, während namentlich physicalisches und psychologisches
Interesse der Forschimg nur gesondert aufgetreten waren, richtete sich die Arbeit
dieser drei Männer gleichmässig auf den ganzen Umfang der wissen-
schaftlichen Probleme. Sie trugen das, was Erfahrung und Beobachtung
gewonnen hatte, zusammen; sie verghchen und prüften die Begriffe, die daraus
gebildet worden waren, und sie brachten das, was bisher gesondert zu Stande
gekonmien war, in fruchtbare Verbindung und Beziehung. Schon in dem Umfang
und in der Mannigfaltigkeit ihrer schriftstellerischen Thätigkeit tritt diese All-
seitigkeit ihres wissenschaftlichen Interesses zu Tage : und die Massenhaftigkeit
des Materials, welches darin verarbeitet ist, erklärt sich zum Theil nur durch die
lebendige Mitwirkung ihrer ausgebreiteten Schulen, in denen sie
nach Neigung und Begabung der Einzelnen eine Theilung der Arbeit eintreten
Hessen.
3. Systematische Periode. 7 7
Dass aber diese gemeinsame Arbeit nicht in das Einzelne zerfloss^ dafür
war durch den principiellen Grundgedanken gesorgt^ mit welchem jeder dieser
drei Männer die einheitliche Verarbeitung des ganzen Kenntnissmaterials
unternahm und leitete. Zwar führte dies an mehr als Einem Punkte zu einseitiger
Auffassung und zu einer Art von Vergewaltigung einzelner Gebiete, und damit
zu Problemverschhngungen , welche vor der Kritik nicht Stand halten : aber
andrerseits erfuhr gerade durch die Ausgleichung, welche dabei zwischen den
Erkenntnissformen verschiedener Wissensgebiete stattfinden musste, die meta-
physische Begriffsbildung eine solche Steigerung, das abstracte Denken eine solche
Verfeinerung und Vertiefung, dass in der kurzen Zeit von kaum zwei Gene-
rationen die typischen Grundzüge von drei verschiedenen Welt-
anschauungen ausgearbeitet wurden. So traten die Vorzüge und die Nach-
theile philosophischer Systembildung bei diesen ersten genialen Urhebern der-
selben gleichmässig zu Tage.
Die Systematisirung des Wissens zu einer philosophischen Ge-
sammtlehre hat sich in aufsteigender Linie von Demokrit und Piaton zu Ari-
stoteles vollzogen und erst bei dem Letzteren dieForm einer organischen Glie-
derung der Wissenschaft in die einzelnen Disciplinen gefunden. Damit hat
dann Aristoteles die Entwicklung der griechischen Philosophie abgeschlossen
und das Zeitalter der Specialwissenschaften inaugurirt.
Ln Besonderen ist der Gang dieser Entwicklung der gewesen, dass aus der
Anwendung der durch die Sophistik imd die sokratische Lehre gewonnenen Prin-
cipien auf die kosmologischen und metaphysischen Probleme zunächst die beiden
gegensätzlichen Systeme von Demokrit und Piaton entsprangen, und dass aus
dem Versuch der Versöhnung dieser Gegensätze die abschliessende Lehre des
Aristoteles hervorging.
Bei Demokrit und Piaton ist das WesentUche dies, dass sie die erkenntniss-
theoretischen Einsichten der Aufklärungsphilosophie zur Neubegründung
der Metaphysik benutzten. Die gemeinsame Abhängigkeit von den Lehren
der kosmologischen Periode und von der Sophistik, insbesondere der Theorie des
Protagoras, prägt dabei beiden Lehren einen gewissen ParalleUsmus und eine
partielle Verwandtschaft auf, die um so interessanter ist, je tiefer andrerseits der
Gegensatz zwischen beiden ist. Dieser aber beruht darauf, dass die sokratische
Lehre ohne jede Wirkung auf Demokrit, aber von entscheidendem Einfluss auf
Pl£^ton gewesen ist, dass daher das ethische Moment in dem System des letz-
teren ebenso überwiegt, wie in dem des ersteren zurücktritt. So entwickeln sich
aus demselben Grunde parallel Demokrit's Materialismus und Platon's
Idealismus.
Aus diesem Gegensatz erklärt sich auch die Verschiedenheit ihrer Wirkung.
Die rein theoretische Auffassung der Wissenschaft, welche bei Demokrit vor-
waltet, behagte dem Zeitalter nicht: seine Schule verschwindet nach ihm schnell.
Piaton dagegen, dessen wissenschaftliche Lehre zugleich ein Lebensprincip be-
gründete, erfreute sich in der Akademie einer umfangreichen und dauernden
Schulbildung. Aber diese Schule, die sog. ältere Akademie, verlief sich,
der allgemeinen Zeitströmung nachgebend, sogleich theils in Specialforschung,
theils in populäres Moralisiren.
Aus ihr hob sich sodann die grosse Gestalt des Aristoteles heraus, des
78 I* Philosophie der Griechen.
erfolgreichsten Denkers, den die Geschichte gesehen hat. Die gewaltige Con-
centration, mit der er, um den vorgefundenen Gegensatz zwischen seinen beiden
grossen Vorgängern auszugleichen^ den gesammten Gedankengehalt der griechi-
schen Wissenschaft um den Begriff der Entwicklung (bteX^xeta) zusam-
menkrystallisiren lies, hat ihn zum philosophischen Lehrer der Zukunft und sein
System zu dem vollkommensten Ausdruck des griechischen Denkens gemacht.
Demokrit von Abdera (etwa 460-360), in der wissenschaftlichen Genossenschaft
seiner Heimath und durch langjährige Keisen gebildet, hat während des geschäftigen Lärms
der Sophistenzeit ein stilles, scheinloses Forscnerleben in seiner Vaterstadt geführt und ist
dem geräuschvollen Treiben Athens ferngeblieben. Er hatte weder politische noch sonstige
Tüchtigkeit zu lehren, er war wesentlich theoretisch veranlagt und besonders der Natur-
forschung zugeneigt. Mit riesiger Gelehrsamkeit und umfassenden Kenntnissen verband er
grosse Klarheit des begrifflichen Denkens und, wie es scheint, starke Neigung zu schematischer
Vereinfachung der Probleme. Die Fülle seiner Arbeiten beweist, dass er einer ausgebreiteten
Schule vorstimd, aus der auch einige, obwohl unbedeutende Namen erhalten sind. Doch
charakterisirt sich die Abwendung seines Zeitalters von interesseloser Forschung durch nichts
mehr, als durch die Gleichgiltigkeit, der sein System mechanischer Naturerklärung begegnete :
seine Lehre wurde für zwei Jahrtausende durcli die teleologischen Systeme in den Hintergrund
gedrängt und hat nur in der epikureischen Schule ein auch da unverstandenes Dasein gefristet.
Das Alterthum hat Demokrit auch als grossen Schriftsteller gefeiert : um so mehr ist
der fast vollständige Verlust seiner Werke zu beklagen, von denen ausser den zahlreichen
Titeln nur sehr geringe und zum Theil. zweifelhafte Fragmente erhalten sind. Die wichtigsten
Schriften scheinen theoretisch der ^i^ci^ und Mcxpö^ diaxoGfio^, nepl vo5 und icspl ISsdJt^, praktisch
icspl e&^u{iiY)< und 6ico^xai gewesen zu sein. Nach den Sammlungen von W.Bürchard (Minden
1830 und 34) und Loutzinq (Berlin 1873) hat W. Kahl (Diedenhofen 1889) eine Durch-
arbeitung der Quellen begonnen.
\g\, P. Natobp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnissprobfcms im Alterthum
(Berlin 1884). G. Hart, Zur Seelen- und Erkenntnisslehre des Demokrit (Leipzig 1886).
Flaton von Athen (427 *347), aus vornehmen Geschlecht, war in die künstlerische
und wissenschaftliche Bildung seiner Zeit auf das glücklichste hineingewachsen, als die Per-
sönlichkeit des Sokrates auf ihn einen so entscheidenden Eindruck machte, dass er von seinen
poetischen Versuchen abliess und sich ganz dem Umgange des Meisters widmete. Er war
sein treuester und verständnissvollster, dabei aber auch sein selbständigster Schüler. Die
Hinrichtung des Sokrates veranlasste ihn, zunächst der Einladung des Euklid nach Megara zu
folgen; dann bereiste er Kyrene und Aegypten, kehrte für einige Zeit nach Athen zurück und
begann hier schriftstellerisch, vielleicht auch schon mündlich zu lehren. Gegen 390 finden
wir ihn in Grossgriechenland und Sicilien, wo er Verbindungen mit den Pythagoreem einging
und sich auch an politischen Händeln betheiligte. Diese brachten ihn am Hofe des Herrschers
von Syracus, des älteren Dionys, auf den er mit Hilfe seines Freundes Dion einzuwirken
suchte, in ernste Gefahr: er wurde als Kriegsgefangener an die Snartaner ausgeliefert und
nur durch Freundeshilfe losgekauft. Diesen Versuch praktischer Politik in Sicilien hat er
später noch zweimal, 367 und 361, aber stets mit unglücklichem Erfolge wiederholt.
Nach der ersten sicilischen Reise gründete er im Haine Akademos seine Schule, in der
er sehr bald eine grosse Anzahl hervorragender Männer zu gemeinsamer wissenschaftlicher
Arbeit um sich vereinigte. Doch war das Band dieser Genossenschaft noch mehr in einer auf
die Gemeinschaft sittlicher Ideale begründeten Freundschaft zu suchen. Seine Lehrthätigkeit
hatte anfiuigs in sokratischer Weise den dialogischen Charakter gemeinsamen Suchens und
nahm erst im Alter mehr demjenigen des lehrhaften Vortrages an.
Den aesthetisch-literarischen Niederschlag dieses Lebens bilden Platon*s Werke '), in
denen der Process des Philosophirens selbst mit dramatischer Lebendigkeit, mit plastischer
Zeichnung der Persönlichkeiten und ihrer Lebensanschauungen dargestellt wird. Als Kunst-
werke sind das Symposion und der Phaidon die schönst gelungenen; den grossartigsten Ein-
druck von der Gesammtheit der Lehre bietet die Politeia. Die Form ist, mit Ausnahme der
Apologie des Sokrates, überall der Dialog: doch lässt die künstlerische Beliandlung desselben
1) In's Deutsche übersetzt von Hirr. Müller, mit Einleitungen von K. STEiNEtART,
8 Bde. (Leipzig 1850—66). Dazu als 9. Band: Platon's Leben von K. Steinhart (Leipzig 1873).
Unter den neueren Ausgaben, in denen überall die beim Citiren übliche Seitenangabe der-
jenigen von Stephanus (Paris 1578) wiederholt ist, sind hervorzuheben die von J. Bbkker
(Berlin 1816 f.), Stallbaüm (Leipzig 1850), Schneider und Hikschig (Paris, Didot. 1846 flf.),
M. Schanz (Leipzig 1875 ff.).
3. SystemaÜBche Periode. 79
im Alter nach, und der Dialoe bleibt nur als schematischer Rahmen eines Vertrag übrig
(Timaios, Gesetze). Meist ist Sokmtes der Leiter der Unterredung und auch deijemge, dem
Piaton seine Entscheidung, wenn es zu einer solchen kommt, in den l^i^id legt: erst die spätesten
Schriften machen davon eine Ausnahme.
Auch die Darstellung ist im Ganzen mehr künstlerisch als wissenschaftlich. In vollendeter
sprachlicher Form zeigt sie höchste Lebendigkeit und Flüssigkeit der Anschauung, aber keine
Strenge der Problemsonderung oder der methodischen Untersuchung. Der Lihalt der einzelnen
Dialoge ist nur nach dem darin vorwiegenden Gegenstand zu bezeichnen. Wo die begriff-
liche Darstellung nicht möglich oder nicht am Platsee ist, greift Piaton zu den sogen. Mythen,
allegorischen Darstellungen, welche Motive aus Märchen und Göttersagen in freier Dichtung
benutzen.
Die Ueberlieferung ist nur zum Theil sicher ; ebenso zweifelhaft ist die Reihenfolge der
Entstehung und die Auffassung des Zusammenhanges der Werke unter einander.
Ueber diese Fragen haben, nachdem Schlkiermacher in seiner Uebersetzung (Berlin
1804 fiD die Anregung gegeben, hauptsächlich gearbeitet: J. Sochbr (München 1820),
0. Fr. Hermann (Heidelberg 1839), E. Zbller (Tübingen 1839), Fa. Suckow (Berlin 1856),
Fr. Susemihl (Berlin 1855/56), E. Mukk (Berlin 1886), Fr. Ueberweg (Wien 1861), E. Schaar-
SCHMIDT (Bonn 1866), H. Bonitz (Berlin 1875), G. Teichmüllbr (Gotha 1876, Leipzig 1879,
Breslau 1881), A. Krohn (Halle 1878), W. Dittenberqer (im Hermes 1881), H. Siebbck
(Freiburgi. B. 1889).
Die für echt platonisch geltenden Schriften sind: a) Jugendwerke, welche den sokra-
tischen Standpunkt noch kaum überschreiten : Apologie, Kriton, Euthyphron, Lysis, Laches
(vielleicht auch Charmides, Hippias minor und Alkibiades I); b) Schriften zur Auseinander*
Setzung mit der Sophistik : Protagoras, Gorgias, Euthydemos, Kratylos, Mcnon, Theaitetos;
c) Hauptwerke zur Darstellung der eigenen Lehre : Phaidros, Symposion, Phaidon, Philebos
und die Politeia (Republik), deren Ausarbeitung, früh begonnen und schichtenweise sich voll-
endend, bis in die spätesten Jahre des Philosophen sich hingezogen hat ; d) die Schriften des
Alters: Timaios, Nomoi und das Bruchstück des Eritias. Unter den zweifelhaften Schriften
sind die wichtigfsten Sophistes, Politikos und Parmenides. Sie stammen vermuthlich nicht
von Piaton, aber von Männern seiner Schule, welche mit der eleatischen Dialectik und Eristik
nahe vertraut waren. Die beiden ersteren haben denselben VerfiEtsser. '
Vgl. H. V. Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des Piatonismus (Göttingen 1861 ff.),
G. Grote, Piaton and the other companions of Socrates (London 1865), A. E. C^aionet, I^
vie et les Berits de Piaton (Paris 1873), E. Heitz (0. Müller 's Gesch. der griech. lit. 2. Aufl.
II 2, 14a— 235).
Platon's Schule heisst die Akademie, und ihre Entwicklung, welche bis zum Sohluss
des antiken Denkens reicht und an den continuirlichen Besitz des akademischen Hains und
des darin bestehenden Gymnasiums sich anlehnte, pflegt in drei, bzw. fünf Perioden zerlegt
zu werden : 1) Die ältere Akademie, Platon's nächster Schülerkreis und die folgenden Genera-
tionen; etwa bis 260 v. Chr., 2) die mittlere Akademie, welche eine skeptische Richtung nahm
und in der noch eine ältere Schule des Arkesilaos und eine jüngere des Earneades (etwa
seit 160) unterschieden werden^ 3) die jüngere Akademie, welche mit Philon von Larissa
(um 100) zum alten Dogmatismus zurückkehrte und mit Autiochus von Askalon (etwa 25 Jahre
später), in die Wege des Eklekticismus gerieth. üeber die beiden, bzw. vier jüngeren Formen
vgl. Thl. II, cap. 1. Später hat von der Akademie die neuplatonische Schule (Tbl. II, cap. 2)
Besitz genommen.
Zur älteren Akademie gehörten Männer grosser Gelehrsamkeit und würdiger Per-
sönlichkeit: die Schulhäupter waren Speusippos, der Neffe Platon\ Xenokrates von
Chalkedon, P o 1 e m o n und K r a t e s von Athen ; daneben sind unter den älteren Philippos
von Opus und Herakleides aus dem pontischen Heraklea, unter den jüngeren Krantor zu
nennen. In loserem Verhältniss zur Schule standen der Astronom Eudoxos von Knidos
und der Pythagoreer Archytas von Tarent.
Weit empor ragt über alle seine Genossen in der Akademie Aristoteles von Stageira
(384 — 322). Als Sohn eines makedonischen Leibarztes brachte er Neigung für medicinisches
und naturwissenschaftliches Wissen mit, als er achtzchi^jährig in die Akademie eintrat, in der
er früh als literarischer Vertreter und auch als Lehrer, zunächst der Rhetorik, eine verhältniss-
mässig selbständige Rolle spielte, ohne dabei den Tact einer pietätvollen Unterordnung unter
den Meister zu verleugnen. Erst nach Platon^s Tode trennte er sich äusserlich von der Aka-
demie, indem er zunächst mit Xenokrates seinen Freund Hermeias, den Herrscher von Atameus
und Assos in Mysien, besuchte, dessen Verwandte Pythias er später heirathete. Nach einem,
wie es scheint, vorübergehenden Aufenthalte in Athen und in Mitylene übernahm er 343 auf
Wunsch Philipp's von Makedonien die Erziehung von dessen Sohn Alexander, welche er etwa
drei Jahre mit grÖsstem Erfolge leitete. Nachher lebte er einige Jahre in seiner Vaterstadt
den wissenschaftlichen Studien mit seinem Freunde Theophrastos und gründete dann 335 mit
80 I* Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
diesem zusammen in Athen seine eigene Schule, welche ihren Sitz im Lyceum hatte und (ver-
muthlich nach dessen schattigen Laubgängen) dieperipatetische genannt worden ist.
' Nach zwölQähriger grossartigster Wirksamkeit verUess er in Folge politischer Wirren
Athen und ging nach Ohalkis, wo er bereits im folgenden Jahre an einem Magenleiden starb.
Vgl. A. Stahb, Aristotelia I. (Halle 1830).
Von der ganz ausserordentlich umfangreichen schriftstellerischen Thätikeit des Aristo-
teles ist nur das geringste, aber das wissenschaftlich Wichtigsie erhalten. Verloren sind bis auf
wenige Bruchstücke die von ihm selbst herausgegebenen Dialoge, welche ihn in den Augen
des Alterthums auch als Schriftsteller ebenbürtig neben Piaton stellten, und ebenso die grossen
Sammelwerke, welche er für die verschiedensten Wissenszweige mit Hilfe seiner Schüler an-
gelegt hatte, und erhalten sind nur seine wissenschaftlichen Lehrschriften, welche dazu
bestimmt waren, den Vorlesungen im Lyceum als Lehrbücher zu Grunde' gelegt zu werden.
Doch ist die Ausführung sehr verschieden: an manchen Stellen liegen nur skizzenhafte Notizen,
an andern fertige Ausarbeitungen vor; ausserdem finden sich verschiedene Redactionen des-
selben Entwurfs, und es darf angenommen werden, dass in die Lücken des Manuscripts Nach-
schriften verschiedener Schüler eingefügt worden sind. Da die erste (lesammtausgabe, welche
im Alterthum (wie es scheint, aus Anlass einer Neuauffindung der Originalmanuscripte) An-
dronikos von Rhodos (60—50 v. Chr.) veranstaltete, diese Theile nicht gesondert hat, so
bleiben auch hier viele kritische Fragen in der Schwebe.
Vgl. A. Stahr, Aristotelia fl (Leipzig 1832), V. Rosk (Berlin 1854), H. Bonitz
(Wien 1862 ff.), J. Bernays (Berlin 1863), E. Hkitz (Leipzig 1865 und in der 2. Auflage von
0. MüUer's Gesch. der griech. Liter. II 2, 236—321), E. Vahlrn (Wien 1870 ff.)-
Diese Lehrbüchersammlung ^) ist folgendermassen zusammengesetzt: a) zur Logik:
die Kategorien, vom Satz, die Analytik, die Topik mit Einschluss des Buchs über die Trug-
schlüsse, — von der Schule als „Organon" zusammengefasst, b) zur theoretischen Philosophie:
die Grundwissenschaft (Metaphysik), die Physik, die Thiergeschichte und die Psychologie;
an die drei letzteren schliessen sich noch eine Anzahl besonderer Abhandlungen, c) zur
praktischen Philosophie : die Ethik in der nikomachisohen und in der endemischen Ausgabe,
und die (ebenfalls nicht abgeschlossene) Politik, d) zur poietischen Philosophie: die Rhetorik
und die Poetik.
Fr. Biese, Die* Philosophie des Aristoteles (2 Bde., Berlin 1835 42), A. Rosmini-
Serbatt, Aristotele esposto ed esaminato (Torino 1858), G. H. Lewbs, Aristotlc, a chapter
from the history of science (London 1864), G. Grote, Aristotle (aus dem Nachlass heraus^
gegeben, London 1872).
% 9. Die Neubegrfiiidaiig der Metaphysik durch Brkenntiiisstheorie
und Ethik.
Die grossen Systematiker der griechischen Wissenschaft haben an der
Sophistik eine schnelle; aber gerechte Kritik geübt : sie haben sogleich gesehen^
dass unter den Lehren derselben nur eine einzige den Werth dauernder Geltung
und wissenschaftUcher Fruchtbarkeit besass — die Wahrnehmungstheorie
des Protagoras.
1. Diese ist daher der Ausgangspunkt für Demokrit und für Piaton gewor-
den; und zwar haben beide sie angenommen, um darüber hinauszugehen und die
Folgerungen anzugreifen^ welche der Sophist daraus gezogen hatte. Beide geben
zu, dass die Wahrnehmung, wie sie selbst nur ein Product des Geschehens ist,
auch nur die Erkenntniss von etwas sein kann, was mit ihr zusammen ebenfalls
als vorübergehendes Product desselben Geschehens entsteht und vergeht. Die
Wahrnehmung giebt also nur Meinung (S6£a), sie lehrt, was nach menschlicher
Ansicht (vö|ju|) heisst es mit echt sophistischer Ausdrucksweise bei Demokrit)
erscheint, nicht das was wahrhaft (ets-j) bei Demokrit, 5vta>c bei Piaton) ist.
Für Protagoras, dem die Wahrnehmung die einzige Erkenntnissquelle war,
gab es in Folge dessen keine Erkenntniss des Seienden. Dass er den weitereu
1) Von den neueren Ausgaben wird die der Berliner Akademie (J. Bekker, Brandls,
Kose, Usener, Bonitz), 6 Bde., Berlin 1831 - 70, beim Citiren zu Grunde gelegt; daneben ist
die Pariser (DrooT) zu erwähnen (Dübner, Busseuak^r, Heitz), 5 Bde., Paris 1848 -74.
§ 9. Neubegründung der Metaphysik. (Demokrit und Piaton.) 81
Schritt gethan hätte^ das Sein überhaupt zu leugnen und die "Wahmehmungs-
gegenstände für das einzig Wirkliche zu erklären^ hinter dem man kein Sein zu
suchen hätte, diese ^positivistische'' Folgerung ist bei ihm nicht nachzuweisen:
der „Nihilismus" („es giebt kein Sein") wird ausdrücklich nur von Gorgias über-
liefert.
Wenn nun doch wieder aus irgend welchen Gründen den Meinungen eine
allgemeingiltige Erkenntniss (ifvifjotT] ^^-q bei Demokrit, iman^jiTj bei Piaton)
gegenübergestellt werden sollte, so musste der Sensuahsmus des Protagoras ver-
lassen und wieder die Stellung der alten Metaphysiker eingenommen werden,
welche das Denken (Stdvoia) als höhere und bessere Erkenntniss von der
Wahrnehmung unterschieden (vgl. § 6). So gehen denn Demokrit und Piaton
parallel über Protagoras hinaus, indem sie die Relativität der Wahrnehmung an-
erkennen und die Erkenntniss des wahrhaft Seienden wieder vom Denken erwarten.
Beide sind ausgesprochene Rationalisten').
2. Doch unterscheidet sich dieser neue metaphysische Rationalismus von
dem älteren der kosmologischen Periode nicht nur durch die breitere psycholo-
gische Grundlage, welche er der protagoreischen Analyse der Wahrnehmung
verdankte, sondern in Folge dessen auch durch eine andere erkenntnisstheo-
retische Werthung der Wahrnehmung selbst. Die früheren Meta-
physiker hatten die Wahmehmungsinhalte, wo dieselben in ihre begrifSiche Welt-
vorstellung nicht passten, einfach als Trug und Schein verworfen, ohne sich viel
darum zu kümmern, woher solch ein Schein kommen sollte. Jetzt war dieser
Schein (durch Protagoras) erklärt, aber so, dass für den Wahmehmungsinhalt
unter Preisgebung seiner Allgemeingiltigkeit wenigstens der Werth einer vor-
übergehenden und relativenWirklichkeit in Anspruchgenommen wurde.
Dies führte im Zusammenhange mit der Richtung der wissenschaftlichen
Erkenntniss auf das bleibende, „wahre" Sein zu einer Spaltung im Begriffe
der Realität, und damit war das Grundbedürfniss des erklärenden Denkens,
welches unwillkürlich schon den Anfängen der Wissenschaft zu Grunde gelegen
hatte, zum klaren, ausdrücklichen Bewusstsein gekommen. Den beiden Er-
kenntnissarten — so lehrten Demokrit und Piaton — entsprechen zwei ver-
schiedene Arten der Wirklichkeit: der Wahrnehmung eine wechselnde,
relative, vorübergehende, dem Denken eine in sich gleiche, absolute, bleibende
Wirklichkeit. Für die erstere scheint Demokrit den Ausdruck Erscheinungen, ra
f atvotisva eingeführt zu haben, Piaton bezeichnet sie als die Welt des Werdens,
Y^soic ; die andere nennt Demokrit za Irs-g Ävia, Piaton tö ÄvTcog 5v oder oooia.
Auf diese Weise wird für Wahrnehmung und Meinung eine analoge Rich-
tigkeit, wie für das wissenschaftliche Denken gewonnen : die Wahrnehmung er-
kennt die veränderliche Wirkhchkeit ebenso wie das Denken die bleibende Wirk-
lichkeit. Den beiden Erkenntnissweisen entsprechen zwei Gebiete der Wirk-
lichkeit *).
Aber zwischen diesen beiden Gebieten besteht deshalb auch dasselbe
1) Vgl. Sext. Emp. adv. math. VIIT, 66. — Demokrit's Lehre von der „echten" Erkennt-
niss ist am schärfsten bei Sext. Emp. adv. math. VII, 189 formuiirt; Platon's Bekämpfung des
protafforeisohen Sensualismus findet sich hauptsächlich in seinem Theaetet, die positiv-ratio-
nalistische Stellungnahme im Phaedros, Symposion, Republik und Phaedon. — 2) Am besten
formuiirt bei Piaton, Tim. 27 d ff., besonders 29c.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 0
82 I* Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
Werthverhältniss, wie zwischen den beiden Efkenntnissweiaen. So viel wie
das Denken als das allgemeingUtige Vorstellen über dem Wahrnehmen als der
nnr für den Einzelnen und für das Einzelne geltenden E^rkenntniss steht^ so viel
höher^ reiner^ ursprünglicher steht das wahre Sein über der niederen Wirklichkeit
der Erscheinungen und des zwischen ihnen wechselnden Geschehens. Dies Ver-
hältniss hat zwar Piaton aus weiterhin zu entwickelnden Gründen besonders be-
tont und ausgeführt: aber es tritt auch bei Demokrit nicht nur in der Erkennt-
nisstheorie, sondern auch in der Ethik zu Tage.
Auf diese Weise treffen die beiden Metaphysiker mit dem Ergebniss zu-
sammen, welches die Pythagoreer (vgl. § 5, 7 und § 6, 1) von ihren Voraus-
setzungen her gleichfalls gewonnen hatten, der Unterscheidung einer höheren und
einer niederen Art der Wirklichkeit. Doch ist bei dieser Aehnlichkeit nicht an
Abhängigkeit zu denken; auf keinen Fall bei Demokrit, welcher der astronomi*
sehen Anschauung der Pythagoreer ganz fern stand, aber auch kaum bei Piaton,
der die letztere allerdings später aufgenommen hat, dessen Vorstellung von der
höheren Wirklichkeit (Ideenlehre) aber einen ganz anderen Inhalt hatte. Es hat
vielmehr das gemeinsame Grundmotiv, das aus dem Seinsbegriffe des Parmeuides
stammte, in diesen drei ganz verschiedenen Formen zu der Theilung der Welt in
eine Sphäre der höheren und eine der niederen Wirklichkeit geführt.
3. Der pragmatische Parallelismus in den Motiven der beiden gegen-
sätzlichen Systeme von Demokrit und Piaton reicht noch einen Schritt weiter,
obwohl nur einen kleinen. Der Wahmehmungswelt gehören ohne Zweifel die
specifischen Qualitäten der Sinne aii, welche ihre Relativität schon darin erkennen
lassen , dass dasselbe Ding verschiedenen Sinnen verschieden erscheint. Was
aber nach Abzug derselben als Gegenstand für die Erkenntniss des wahrhaft
Wirklichen übrig bleibt, ist zunächst die Form bestimmtheit der Dinge, und
beide Denker haben denn auch als das walire Wesen der Dinge die reinen For-
men^ die Gestalten, IS^ai bezeichnet.
Allein es scheint fast, als walte dabei lediglich eine, freUich immerhin auf-
fallende Namensgemeinschaft ob: denn wenn Demokrit unter den iSica, die er
auch ayT(J[i.ata nannte, die Atomgestalten, Piaton aber unter seinen iS^at oder eXSti
die — Gattungsbegriffe verstand, so hat die scheinbar gleiche Behauptung^ das
wahrhaft Seiende bestehein den „Gestalten", bei beiden einen völlig verschiedenen
Sinn. Deshalb bleibt es auch hier zweifelhaft, ob darin eine parallele Anlehnung
an denPythagoreismus zu sehen ist, der freilich vorher das Wesen der Dinge
in den mathematischen Formen gefunden hatte und dessen Einfluss auf beide
Denker anzunehmen an sich auf keine Schwierigkeiten stösst. Jedenfalls aber
hat, wenn in dieser Hinsicht eine gemeinsame Anregung vorlag, dieselbe in den
beiden vorliegenden Systemen zu ganz verschiedenen Ergebnissen geführt, und
wenn auch in beiden die Erkenntniss mathematischer Verhältnisse in sehr nahen
Beziehungen zu der Erkenntniss des wahrhaft Wirklichen steht, so sind doch
eben diese Beziehungen völlig verschieden.
4. Die bisher entwickelte Verwandtschaft der beiden rationalistischen
Systeme springt nun aber in einen scharfen Gegensatz um, sobald man die
Motive, aus denen beide Denker über den protagoreischen Sensualismus und
Relativismus hinausgingen, und die daraus sich ergebenden Folgerungen betrachtet.
Hier wird der Umstand massgebend, dass Piaton der Schüler des Sokrates
§ 9. Neubegründung der Metaphysik. (Demokrii und Plston.) 83
war, während Demokrit von dem grossen athenischen Weisen auch nicht den
geringsten Einfluss erfahren hat.
Bei Demokrit erwächst, seiner persönlichen Natur gemäss, die über Pro-
tagoras hinaustreibende Forderung, dass es ein Wissen geben und dass dies,
wenn es in der Wahrnehmung nicht zu finden ist, im Denken gesucht werden
muss, lediglich aus theoretischem Bedürfniss : der Naturforscher glaubt, aller
Sophistik gegenüber, an die Möglichkeit einer die Erscheinungen erklärenden
Theorie. Piaton dagegen geht mit seinem Postulat von dem sokratischen Tugend-
begriffe aus. Tugend ist nur durch das rechte Wissen zu gewinnen, Wissen aber
ist Erkenn tniss des wahren Seins : wenn dasselbe also nicht in der Wahrnehmung
zu finden ist, so ist es durch das Denken zu suchen. Für Piaton erwächst die
Philosophie nach sokratischem Grundsatz ') aus sittlichem Bedürfniss : aber
während die sophistischen Freunde des Sokrates bemüht waren, dem Tugend -
vnssen irgend einen allgemeinen Lebenszweck, das Gute, die Lust u. s. w. zum
Gegenstande zu geben, gewinnt Piaton seine metaphysische Position mit Einem
Schlage, indem er folgert, dies Wissen, worin die Tugend bestehen soll, müsse,
den Meinungen gegenüber, die sich auf das Relative beziehen, die Erkenntuiss
des wahrhaft Wirklichen, der ooata, sein. Ihm fordert das Tugendwissen eine
Metaphysik.
Hier also bereits schieden sich die Wege. Für Demokrit war die Erkennt-
uiss des wahrhaft Wirklichen wesentlich, wie den alten Metaphysikem, eine Vor-
stellung von dem unveränderlich bleibenden Sein, aber eine solche, durch welche
nun die abgeleitete Wirklichkeit, die in der Wahrnehmung erkannt wird, begreif-
lich gemacht werden sollte : sein Rationalismus lief auf eine durch das Denken
zu gewinnende Erklärung der Erscheinungen hinaus, es war wesentlich
theoretischer Rationalismus. Für Piaton dagegen hatte die Erkenntniss
des wahrhaft Wirklichen ihren sittlichen Endzweck in sich selbst; die9e Erkennt-
niss sollte die Tugend sein, und sie hatte daher zu der durch die Wahrnehmung
gegebenen Vorstellungswelt zunächst kein anderes Verhältniss, als das der scharfen
Abgrenzung gegen dieselbe. Das wahre Sein hat für Demokrit den theoretischen
Werth, die Erscheinungen zu erklären, ftur Piaton aber den praktischen Werth,
der Gegenstand des Wissens zu sein, welches die Tugend ausmacht: seine Lehre
ist ihrem anfanglichen Princip nach wesentlich ethischer Rationalismus.
Darum beharrte nun Demokrit in der natarphilosophischen Metaphysik,
die er in der abderitischen Schule übernahm: er bildete den Atomismus mit
Hilfe der sophistischen Psychologie zu einem umfassenden System aus, und indem
er als das „wahrhaft Wirkliche'*, wie Leukipp, den leeren Raum und die in ihm
sich bewegenden Atome ansah, aus deren Bewegung er aber nicht nur alle quali-
tativen wie quantitativen Erscheinungen der Körperwelt, sondern auch alle geistigen
Thätigkeiten, mit Einschluss der auf jenes wahre Sein gerichteten Erkenntniss-
thätigkeit erklären wollte, schuf er das System des Materialismus.
Piaton aber wurde durch die Anlehnung an die sokratische Lehre, die sich
für ihn auch in der Auffassung vom Wesen der Wissenschaft entscheidend erwies,
auf das ganz entgegengesetzte Resultat gefuhrt.
5. Sokrates hatte gelehrt, das Wissen bestehe in allgemeinen Begriffen.
1) Am deutiichfiten dargestellt Menon 96 ff.
6
84 I- Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
Sollte aber dies Wissen, im Gegensatz zu den Meinungen^ die Erkenntniss des
wahrhaft Wirklichen sein, so musste dem Inhalt dieser Begriffe jenes höhere Sein,
jene wahre Wesenheit zukommen, die, im Gegensatz zum Wahrnehmen, nur durch
das Denken erfasst werden sollte. Die „Gestalten" der wahren Wirklichkeit,
deren Erkenntniss die Tugend ausmacht, sind die Gattungsbegriffe: siStj.
Damit erst gewinnt der platonische Begriff der „Idee" seine volle Bestimmung.
So verstanden, stellt sich Platon's Ideenlehre als den Höhepunkt der
griechischen Philosophie dar: in ihr schürzen sich alle die verschiedenen Gedanken-
gänge zusammen, welche auf das physische, das ethische, das logische Princip
(ipXfl oder yw3tc) gerichtet gewesen waren. Die platonische Idee, der Gattungs-
begriff, ist erstens das bleibende Sein im Wechsel der Erscheinungen, zweitens
das Object des Wissens im Wechsel der Meinungen, drittens der wahre Zweck
im Wechsel des Begehrens.
Diese ooaia aber ist ihrem Begriffe nach im Umkreise des Wahrnehmbaren
nicht zu finden : und wahrnehmbar ist alles Körperliche. Die Ideen sind also
etwas von der Körperwelt wesentlich verschiedenes. Die wahre Wirklichkeit
ist unkörperlich. Die Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit nimmt hiernach
eine feste Gestalt ian: die niedere Wirklichkeit des Geschehens (y^soic), welche
den Gegenstand der Wahrnehmung bildet, ist die Körperwelt; die höhere Wirk-
lichkeit des Seins, welche das Denken erkennt, ist die unkörperliche, die im-
materielle Welt: tÖTcoc voTjtöc. So wird das platonische System zum Immateria-
lismus oder, wie wir es nach seiner Bedeutung des Worts „Idee" nennen, zum
Idealismus.
6« Hiemach enthält das platonische System vielleicht die grossartigste
Problemverschlingung, welche die Geschichte gesehen hat: die Lehre des Demo-
krit dagegen ist durchgängig nur von dem Einen Interesse der Naturerklärung
beherrscht. Mochte daher auch diese fiir diesen Zweck noch so reiche Erfolge
erringen, die in einer späteren. ähnUch gestimmten Lage des Denkens wieder auf>
genommen werden und dann erst ihre ganze Fruchtbarkeit entfalten konnten, —
zunächst musste ihr die andere Lehre um so mehr überlegen sein , je mehr sie
allen Bedürfnissen der Zeit Genüge that und je mehr sie den ganzen Ertrag der
früheren Denkarbeit in sich vereinigte. Vielleicht bietet das platonische System
der immanenten Kritik mehr Angriffspunkte dar, als das demokritische : aber
für das griechische Denken war das letztere ein Rückfall in die Kosmologie der
ersten Periode, und musste andrerseits Platon's Lehre das System der Zukunft
werden.
% 10. Das System des Materialismus.
Der systematische Charakter der demokritischen Lehre besteht in der all-
seitigen Durchführung des Grundgedankens, dass die wissenschaftliche Theorie
die Erkenntniss der wahren Wirklichkeit, d. h. der Atome und ihrer Bewegungen
im Baume, so weit gewinnen muss, um daraus die erscheinende Wirklichkeit, wie
sie sich in der Wahrnehmung darstellt, erklären zu können. Es sind (schon nach
den Büchertiteln) alle Anzeichen vorhanden, dass Demokrit sich dieser Aufgabe
durch Untersuchungen über den gesammten Umfang der Erfahrungsgegenstände
unterzogen und dabei den psychologischen Problemen ein ebenso grosses Interesse
wie den physicalischen zugewendet hat. Um so mehr ist es zu beklagen, dass der
§ 10. System des MateriaHsmus. (Demokrit.) 86
grösste Theil seiner Lehren rettungslos verschüttet ist und dass das Erhaltene;
im Zusanunenhange mit anderen Berichten, nur eine hypothetische Reconstruction
der begrifflichen Grundzüge seiner grossen Leistung gestattet; eine Eeconstruction
jedoch, welche immer lückenhaft und unsicher bleiben muss.
1. Zunächst muss angenommen werden^ dass sich Demokrit dieser Aufgabe
der Wissenschaft, durch die Begriflfe von der wahren Wirklichkeit die Welt der
Erfahrung zu erklären, vollkommen bewusst gewesen ist. Das Seiende der Ato-
misteu; der Baum und die darin schwirrenden Körperstückchen; hat keinen anderen
Werth als den theoretischen. Es wird nur gedacht, um das Wahrgenommene
begreiflich zu machen : deshalb aber ist es die Aufgabe, das wahrhaft Wirkhche
so zu denken, dass es die erscheinende Wirklichkeit erklärt, dass dieselbe dabei
in ihrem Bestände als ein abgeleitet Seiendes „erhalten bleibt^ ^), dass die in ihr
bestehende Wahrheit anerkannt bleibt. Daher hat Demokrit recht gut gewusst;
dass auch das Denken die Wahrheit in der Wahrnehmung suchen; aus ihr heraus
gewinnen muss '). Sein Rationalismus ist weit entfernt; erfahrungswidrig oder
auch nur erfahrungsfremd zu sein. Das Denken hat aus der Wahrnehmung das-
jenige zu erschliessen, wodurch diese erklärt wird. Das Motiv, welches den auf
die eleatische Paradoxie des Akosmismus folgenden Vermittlungsversuchen zu
Grunde gelegen hatte; ist bei Demokrit zum deutlich erkannten Princip der
Metaphysik und der Naturwissenschaft geworden. Doch ist leider nichts darüber
bekannt geblieben; wie er das methodische Yerhältniss zwischen den beiden Er-
kenntnissweisen näher ausgeführt und wie er sich das Herauswachsen des Wissens
aus der Wahrnehmung im Besonderen gedacht hat.
Des Näheren besteht nun die theoretische Erklärung; welche Demokrit für
die Wahmehmungsiuhalte gegeben hat, ebenso wie bei Leukipp in der Reduction
aller Erscheinungen auf die Mechanik der Atome. Was in der Wahr-
nehmung als qualitativ bestimmt und ebenso in qualitativer Veränderung begriffen
(iXXotoojievov) erscheint, das ist „in Wahrheit" nur als quantitatives Verhältniss
der Atome, ihrer Ordnung und ihrer Bewegung vorhanden. Die Aufgabe der
Wissenschaft also ist es, alle qualitativen auf quantitative Verhältnisse
zurückzuführen und im Einzelnen zu zeigen, welche quantitativen Verhältnisse
der absoluten Wirklichkeit die qualitativen Bestimmungen der erscheinenden
Wirklichkeit hervorrufen. So wird das anschauliche Vorurtheil, als ob räum-
liche Gestaltung und Bewegung etwas Einfacheres; Selbstverständlicheres und
Problemloseres seien; als eigenschaftliche Bestimmung und Veränderung; zum
Princip der theoretischen Welterklärung gemacht.
Indem nun aber dies Princip mit voller Systematik auf die Gesammtheit aller
Erfahrung angewendet ivird, betrachtet der Atomismus auch das psychische
Leben mit allen seinen inhaltUchen Bestimmungen und Werthen als Erschei-
nung, für welche durch die erklärende Theorie die Form und die Bewegung der
Atome festgestellt werden muss, die das wahre Sein dieser Erscheinung aus-
machen. So wird die Materie in ihrer Formung und Bewegung als das allein
1) Der sehr glückliche Ausdruck dafür ist Siaou»Cetv xa ^aiv6jjL8va. Vgl. auch Aristo t.
Gen. et Corr. I 8, 326 a. — 2) Daher die Aussprüche, in denen er die Wahrheit in der Er-
scheinung anerkannt hat: z. B. Arist. de an. I 2, 404a 27 und ähnliche. Daraus aber einen
„Sensuahsmus** Demokrit's construiren zu wollen, wie E. Johnson (Plauen 1868) versucht hat,
vriderstreitet den Nachrichten über seine Stellung zu Protagoras durchaus.
86 I- Philosophie der Oriechen. 8. Systematische Periode.
wahrhaft Wirkliche'und das ganze geistige Leben als daraus abgeleitete, erscheinende
Wirklichkeit betrachtet. Damit erst nimmt das demokritische System den
Charakter des bewussten und ausgesprochenen Materialismus an.
2. In den eigentlich physicali sehen Lehren bietet daher Demokrit's
Lehre derjenigen von Leukipp gegenüber keine principielle Veränderung; wohl
aber eine grosse Bereicherung durch sorgfaltige Einzelforschung dar. Den
Gedanken der mechanischen Nothwendigkeit (avd'pcT]; die auch bei ihm gelegentlich
XÖ7o<; genannt wird) ausnahmslos allen Geschehens hat er womöglich noch schärfer
betont als sein Vorgänger und denselben dahin bestimmt, dass alle Einwirkung
der Atome auf einander nur durch den Stoss, durch unmittelbare Berührung
möglich sei und andrerseits auch nur in der Veränderung des Bewegungszustandes
der auch ihrer Gestalt nach unveränderlichen Atome bestehe.
Die Atome selbst als das eigentlich Seiende haben danach nur die Merk
male der abstracten Körperlichkeit: begrenzte Baumerfullung und Beweglich-
keit im Leeren. Obwohl alle unwahrnehmbar klein, weisen sie doch eine unend-
liche Mannigfaltigkeit von Gestalten (ISiaa oder <T/(fy^xa) auf. Zur Gestalt,
welche die eigentliche Grundverschiedenheit der Atome bildet, gehört in gewissem
Sinne auch schon die Grösse: doch ist zu beachten, dass dieselbe geometrische
Form, z. B. die Kugel, in verschiedenen Grössen vorkommen kann. Je grösser
das Atom ist, um so massiger ist es; denn die Eigenschaft des Seienden ist ja
Materialität, Raumbehauptung. Deshalb hat nun Demokrit^), offenbar mechanischen
Analogien des täglichen Lebens nachgebend, als eine Function der Grösse auch
die Schwere, bzw. Leichtigkeit angegeben. Bei diesen Bestimmungen (ßapo und
xou^pov) ist jedoch bei ihm nicht an die Fallbewegung, sondern lediglich an den
Grad der mechanischen Beweglichkeit oder an die Trägheit zu denken^):
daher meinte er denn auch, dass bei der Drehung der Atomcomplexe die leichteren
Theile nach aussen gedrängt, die trägereu aber mit ihrer schwerfälligeren Beweg-
barkeit in der Mitte angesammelt würden.
Die gleichen Eigenschaften theilen sich nun auch als metaphysische Bestim-
mungen den aus Atomen zusammengesetzten Dingen mit. Ihre Gestalt und Grösse
ergiebt sich aus der einfachen Summation der Gestalt und Grösse der sie zusammen-
setzenden Atome : doch ist in diesem Falle die Trägheit nicht von der Gesammt-
grösse allein abhängig, sondern von der geringen oder grösseren Menge leeren
Raumes, welcher bei derZusammenfugung zwischen den einzelnen Massentheilchen
übrig geblieben ist, also der grösseren oder geringeren Dichtigkeit. Und da
von dieser Unterbrechung der Masse durch den leeren Raum auch die Verschieb-
barkeit der Theilchen gegen einander abhängt, so gehören auch die Eigenschaften
der Härte und Weichheit zu dem wahrhaft Wirklichen, was das Denken erkennt.
Alle anderen Eigenschaften aber kommen den Dingen nicht an sich, sondern
nur insofern zu, als die von ihnen ausgehenden Bewegungen auf die Organe der
Wahrnehmung einwirken: sie sind ^Zustände der in qualitativer Aenderung
1) Als eingehendste Darstellung ist hier and zum Folgenden Theophr. de sens. 61 ff.
(Doxog. D. 616} zu vergleichen. — 2) £s ist kaum mehr zu entscheiden, oh Demokrit die
Eigcnhewegung, welche der Atomismus sämmtlichen Atomen als ursprünglich und ursachlos
zuschrieb, auch schon durch die Grösse, hzw. Masse hcdingt dachte, sodass etwa die grösseren
auch schon von vom herein geringere Geschwindigkeit hesessen hätten : jedenfalls galten ihm
diese Bcstimmangen innerhalb der mechanischen Wirkung der Atome auf einander. Was
grösser ist, lässt sich schwerer, was kleiner, leichter stossen.
§ 10. SyBtem des Materialismus. (Demokrit.) 87
begriffenen Wahrnehmung'^. Aber diese Zustände sind durchweg auch durch die
Dinge bedingt, an welchen die wahrgenommenen Eigenschaften erscheinen, und
dabei ist hauptsächlich di& Anordnung und die gegenseitige Lagerung mass-
gebend, welche die Atome bei der Zusammensetzung der Dinge eingenommen
haben ^).
Während also Gestalt, Grösse, Trägheit, Dichtigkeit und Härte ite-g, in
Wahrheit Eigenschaften der Dinge sind, ist alles dasjenige, was von den einzelnen
Sinnen als Farbe, Ton, Geruch, Geschmack an ihnen wahrgenommen wird, nur
)f6^ oder ^dasi, d. h. in der Erscheinung vorhanden. Diese Lehre ist bei ihrer
Erneuerung in der Philosophie der Renaissance (vgl. unten Theil IV. cap. 3)
und weiterhin als Unterscheidung der primären und der secundären
Eigenschaf ten der Dinge bezeichnet worden, und es empfiehlt sich, diese Aus-
drücke schon hier einzuführen, da sie dem metaphysisch-erkenntnisstheoretischen
Sinne, in welchem Demokrit die protagoreische Lehre für sich nutzbar machte,
durchaus entspricht. Während der Sophist alle Eigenschaften zu secundären,
relativen machen wollte, gab dies Demokrit nur für die Sinnesqualitäten zu
und stellte ihnen die quantitativen Bestimmungen als primär und absolut gegen-
über. Darum bezeichnete er dann auch die durch das Denken zu gewinnende
Einsicht in die primären Eigenschaften als „echte Erkenntnisse, dagegen die auf
die secundären Eigenschaften gerichtete Wahrnehmung als „dunkle Erkenntnisse
(7VYJOIT] — OXOTtT] 7Va){iY]).
3. Die secundären Eigenschaften erscheinen danach zwar von den primären
abhängig ; aber sie sind es nicht von diesen allein, sondern vielmehr von der Ein-
wirkung derselbenauf das Wahrnehmende. Das Wahrnehmende aber, die Seele,
kann in dem atomistischen System auch nur aus Atomen bestehen. Näher sind
es nach Demokrit dieselben Atome, welche auch das Wesen des Feuers aus-
machen, nämlich die feinsten, glattesten und beweglichsten. Sie. sind zwar auch
durch die ganze Welt zerstreut, und insofern können auch Thiere, Pflanzen und
andere Dinge als beseelt gelten, am meisten aber sind sie im menschlichen Leibe
vereinigt, wo während des Lebens zwischen je zwei anderen Atomen ein Feuer-
atom sich befinden und wo sie durch das Athmen zusammengehalten werden sollen.
Auf diese (den älteren Systemen, wie man sieht, analoge) Voraussetzung
hat nun Demokrit seine Erklärung der Erscheinungen aus dem wahren Wesen
der Dinge gebaut. Aus der Einwirkung nämlich der Dinge auf die Feueratome
(die Seele) entspringt die Wahrnehmung und mit ihr die secundären Qualitäten.
Die erscheinende Wirklichkeit ist ein nothwendiges Ergebniss der wahren
Wirklichkeit.
In der Ausfuhinmg dieser Lehre hat Demokrit die Wahrnehmungstheorien
seiner Vorgänger aufgenommen und verfeinert. Die Ausflüsse (vgl. oben § 6, 3),
welche von den Dingen ausgehen, um die Organe und durch sie die Feueratome
in Bewegung zu setzen, nannte er Bilder che n (eiSwXa) und betrachtete sie
als unendlich kleine Abbilder der Dinge : ihr Eindruck auf die Feueratome ist die
Wahrnehmung, für deren Inhalt damit die Aehnlichkeit mit ihrem Gegenstande
gewonnen werden sollte. Da Stoss und Druck das Wesen aller Atommechanik
ist, so galt der Tastsinn als der ursprünglichste Sinn: die besonderen Organe
1) Vgl Arist. Gen, et Corr. I 2, 315 b 6.
88 I. Philosophie der Griechen. 8. Systematische Periode.
dagegen sollten nur für solche Bilderchen empfanglich sein, welche ihrer eigenen
Gestaltimg und Bewegung entsprechen, und diese Theorie der specifi sehen
Energie der Sinnesorgane war von Demokrit sehr fein ausgearbeitet worden.
Aus ihr folgte auch, dass, falls es Dinge gäbe^ deren Ausflüsse auf keines der
Organe einzuwirken vermögen, diese für den gewöhnlichen Menschen unwahr-
nehmbar bleiben, und dafür vielleicht „anderen Sinnen" zugänglich sein können.
Diese Theorie der Bilderchen ist dem antiken Denken sehr plausibel
erschienen. Sie brachte die dem gemeinen Bewusstsein noch heute geläufige Vor-
stellungsweise, als ob unsere Wahrnehmungen „Abbilder" der ausser uns befind*
hohen Dinge seien, auf einen festen Ausdruck und gab derselben sogar eine gewisse
Erklärung. Wenn man nicht weiter danach fragte, wie die Dinge dazu kommen
sollen, solche Miniaturwiederholungen von sich selbst in die Welt hinauszuschicken,
so konnte man meinen, damit verstanden zu haben, wie unsere „Eindrücke" den
Dingen da draussen ähneln können. Darum ist auch diese Theorie in der physio*
logischen Psychologie sogleich zur Herrschaft gelangt und darin bis in die Anfänge
der neueren Philosophie hinein (Locke) gebUeben.
Ihre begrifBiche Bedeutung aber fiir das System Demokrit's hegt darin, dass
damit diejenige Atombewegung beschrieben sein sollte, in der die Wahrnehmung
bestehe. Dass das Wahrnehmen als seeUsche Thätigkeit etwas specifisch anderes
ist, als jede wie immer bestimmte Atombewegung, das ist diesem principiellen
MateriaUsmus, wie allen seinen späteren Umbildungen verborgen gebheben : aber
in der Aufsuchung der einzelnen Bewegungsformen, aus denen die einzelnen Wahr-
nehmungen der besonderen Sinne entspringen, hat der Philosoph von Abdera
manche scharfe Beobachtung und manche feine Vermuthung verlauten lassen.
4. Interessant ist es nun, dass die materialistische Psychologie Demokrit's
demselben Geschick verfallen ist, wie diejenige der vorsophistischen Metaphysiker
(vgl. § 6): auch sie hat in gewisser Hinsicht den erkenntnisstheoretischen Gegen-
satz von Wahrnehmung und Denken wieder verwischen müssen. Da nämlich
alles Seelenleben Bewegung der Peueratome. sein soll ^), Atombewegung aber im
zusammenhangenden System durch Berührung und Stoss bedingt ist, so kann
auch das Denken, welches das wahrhaft Wirkliche erkennt, nur aus einem Ein-
druck, den dies wahrhaft WirkUche auf die Feueratome macht, also auch nur
durch den Ausfluss solcher Bilderchen erklärt werden. Als psychologischer
Vorgang also ist Denken dasselbe wie Wahrnehmung : nämlich Eindruck von
Bilderchen auf Peueratome ; der Unterschied ist nur der, dass bei der Wahr-
nehmung die verhältnissmässig groben Bilderchen der Atomcomplexe wirksam
sind, während das Denken, welches die wahre Wirklichkeit erfasst, auf eine Be-
rührung der Feueratome mit den feinsten Bilderchen, denjenigen, welche die ato-
mistische Structur der Dinge repräsentiren, beruht.
So wunderHch und phantastisch dies klingt, so sehr sprechen doch alle An-
zeichen dafür, dass Demokrit diese Consequenz aus den Voraussetzungen seiner
materialistischen Psychologie gezogen hat. Dieselbe kannte keine selbständige,
innerliche Mechanik der Vorstellungen, sondern nur ein Entstehen der Vorstel-
lungen durch Atombewegung. Daher fasste sie auch offenbar trügerische Vor-
steUungen als „Eindrücke" auf und suchte für dieselben die erregenden Bilder-
1) Aristot. de ao. I 2, 405 a 8,
§ 10. System des Materialismus. (Demokrit.) 89
eben. Der Traum z. B. wurde auf eiScoXa zurückgeführt, welche entweder, schon
im wachen Zustande eingedrungen^ wegen ihrer schwachen Bewegung vorher
keinen Eindruck hervorgerufen oder erst im Schlaf mit Umgehung der Sinne die
Feueratome erreicht hätten ; eine geheimnissvolle („magnetische" oder „spirite"
würde man heutzutage sagen) Einwirkung der Menschen auf einander erschien
damit begreiflich, und dem Glauben an Götter und Dämonen wurde durch An-
nahme riesiger Gebilde in dem unendlichen Räume, von denen entsprechende
Bilderchen ausgeben sollten, eine objective Basis gegeben.
Dementsprechend scheint nun Demokrit die „echte Erkenntniss" als die-
jenige Bewegung der Feueratome aufgefasst zu haben, welche durch den Eindruck
der kleinsten und feinsten, die atomistische Zusammensetzung der Dinge wieder-
gebenden Bilderchen hervorgerufen wird. Diese Bewegung aber ist von allen die
zarteste, feinste, sanfteste, der Ruhe nächst kommende. Mit dieser Bestimmung
wurde der Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Denken — ganz im
Sinne des Systems — auf einen qan titativen Ausdruck gebracht. Die groben
Bilderchen der Gesammtdinge setzen die Feueratome in relativ heftige Bewegung
und erzeugen dadurch die „dunkle Einsicht", welche sich als Wahrnehmung dar-
stellt: die feinsten Bilderchen dagegen drücken den Feueratomen eine sanfte, feine
Bewegung auf, welche die „echte Einsicht" in den atomistischen Bau der Dinge,
das Denken, hervorruft. Von dieser Betrachtung her empfiehlt Demokrit, ganz
im Gegensatz zu der Auffassung, welche die Wahrheit aus der Wahrnehmung
entwickeln wollte, dem Denker die Ablenkung von der Sinnenwelt : jene feinsten
Bewegungen kommen nur da zur Geltung, wo die gröberen zurückgehalten wer-
den, und wo allzu heftige Bewegungen der Feueratome stattfinden, da kommt es
zum falschen Vorstellen, dem aXXoypovetv*).
5. Denselben quantitativen Gegensatz aber der starken und der sanften,
der heftigen und der leisen Bewegung^) hat Demokrit auch seiner ethischen
Theorie zu Grunde gelegt. Dabei stand er mit seiner Psychologie vollständig
auf dem intellectualistischen Standpunkt des Sokrates, insofern als er die
erkenntnisstheoretischen Werthe der Vorstellungen unmittelbar in ethische Werthe
der Willenszustände umsetzte. Wie aus der Wahrnehmung nur die dunkle Ein-
sicht folgt, welche die Erscheinung und nicht das wahre Wesen zum Gegenstand
hat, so ist auch die Lust, welche aus der Erregung der Sinne stammt, nur relativ
(v(5(Kj)), dunkel, ihrer selbst ungewiss und trügerisch. Das wahre Glück dagegen,
dem der Weise „der Natur nach" (yoast) lebt, die eö8at[i/«)via, welche Zweck (teXoc)
und Mass (o&po<;) des Menschenlebens ist, darf nicht in äusseren Gütern und sinn-
Ucher Befriedigung, sondern nur in jener sanften Bewegung, jener ruhigen Stim-
mung (eosarcö) gesucht werden, welche die rechte Einsicht, die leise Bewegtheit der
Feueratome bei sich führt. Sie allein gieb t der Seele Mass und Harmonie (4o|i(JLSTpia),
bewahrt sie vor affectvoUem Staunen (adao[xaaia), verleiht ihr Sicherheit und ün-
entwegtheit in sich selbst (aiapa^ta, a^afißia): es ist die Meeresstille (toXtijvt]) der
Seele, welche durch die Erkenntniss ihrer Leidenschaften Herr geworden ist.
Wahre GlückseKgkeit ist Ruhe (ipryyiyx), und Ruhe gewährt nur die Erkenntniss. So
1) Theophr. de sens. 58 (Dox. D. 515). — 2) Die Aehnlichkeit mit der Theorie Aristipps'
(§ 7, 9) ist 80 augenfällig, dass die Annahme eines causalen Zusammenhanges kaum zu um-
gehen ist. Doch dürfte derselbe eher in einer gemeinsamen Abhängigkeit von Protagoras, als
m Einwirkungen des Atomismus und des Hedonismus auf einander zu suchen sein.
90 I- Philosophie der Griechen. 3. Systematisclie Periode.
gewinnt Demokrit als Schlussstein seines Systems sein persönliches Lebensideal,
dasjenige reiner, wunschloser Erkenntniss: damit mündet dieser systematische
Materialismus in eine edle und hohe Lebensansicht. Und doch ist auch in ihr
ein Zug, der die Moral des Auf klärungszeitalters kennzeichnet : die auf Erkennt-
niss ruhende Gemüthsstille ist ein individuelles Lebensglück ; und wo Demokrit's
ethische Lehren über das Individuum hinausreichen, da ist es die Freundschaft,
das Verhältniss einzelner PersönUchkeiten zu einander, welche er preist, während
er dem staatlichen Zusammenhange gleichgiltiger gegenübersteht.
% 11. Das System des Idealismus.
Die Entstehung und Ausbildung der platonischen Ideenlehre ist wie einer
der wirkungsvollsten und fruchtbarsten, so andrerseits einer der schwierigsten
und verwickeltsten Vorgänge in der gesammten Geschichte des europäischen
Denkens, und die Auffassung desselben wird noch durch die Art ihrer literarischen
Ueberlieferung erschwert. Die platonischen Dialoge zeigen die Philosophie ihres
Urhebers in einer stetigen Umbildung begriffen : ihre Abfassung hat sich durch
ein halbes Jahrhundert hingezogen. Da aber die Reihenfolge der Entstehung der
einzelnen weder überliefert noch durchweg aus äusseren Kennzeichen festzustellen
ist, so müssen pragmatische Hypothesen zu Hilfe genommen werden,
1. Keine Frage ist es zunächst, dass den Springpunkt des platonischen
Denkens der Gegensatz zwischen Sokrates und den Sophisten gebildet hat. Einer
liebevollen und in der Hauptsache sicher sinngetreuen Darstellung der Tugend-
lehre des Sokrates waren Platon's erste Schriften gewidmet: an sie schloss sich,
mit zunehmender Schärfe, aber auch mit zunehmender Verselbständigung eigener
Ansicht die Bekämpfung der sophistischen Gesellschafts- und Wissenschaftslehre.
Die platonische Kritik derselben ging aber im Wesentlichen auch von dem sokra-
tischen Postulat aus : sie gab die Relativität aller Wahmehmungserkenntniss im
Sinne des Protagoras vollständig zu, aber sie fand eben darin die Unzulänglich-
keit der Sophistik für eine wahrhafte Tugendlehre *). Das Wissen, das für die
Tugend nothwendig ist, kann nicht in Meinungen bestehen, wie sie aus den
wechselnden Bewegungszuständen von Subject und Object entspringen, auch nicht
aus einer verständigen Ueberlegung und Rechtfertigung solcher Wahrnehmungs-
ansicliten^), sondeni es muss ehie ganz andere Quelle und ganz andere Gegen-
stande haben. Von dei' Körperwelt und ihren wechselnden Zuständen — an dieser
protagoreischen Ansiclit hat Piaton bis zum Schluss festgehalten — giebt es keine
Wissenschaft, sondern nur Wahrnehmungen und Meinungen: den Gegenstand
der Wissenschaft bildet somit eine unkörperliche Welt, und diese muss neben
der Körperwelt ebenso selbständig vorhanden sein, wie die Erkenntniss neben
der Meinung^).
Zum ersten Mal wird damit ausdrücklich und voUbewusst die Behauptung
von einer immateriellen Wirklichkeit aufgestellt, und es ist klar, dass die-
selbe dem ethischen Bedürfniss nach einer über alle Wahrnehmungsvorstellungen
erhabenen Erkenntniss entspringt. Die Annahme der Immaterialität hatte für
Piaton zunächst nicht den Zweck, die Erscheinungen zu erklären, sondern viel-
1) In dieser Hinsicht fasst der Theaetct die ganze Kritik der Sophistik zusammen. —
2) 86^01 aXY]0-r]<; fxexa Xo^oo. Theaet. 201 e. ( Vemmthlich eine Ansicht des Antisthenes.) —
3) Aristot. Met I 6, 987 a 32, XIU 4, 1078 b 12.
§ 11. System des Idealismns. (Platon.) 91
mehr den, ein Object für die sittliche Erkenntniss zu gewähren. Darum baut sich
die idealistische Metaphysik in ihrem ersten Entwurf ^) ohne jede Berücksichtigung.
der auf Erforschen und Verstehen der Erscheinungen gerichteten Arbeit dei^
früheren Wissenschaft ganz auf eigenem, neuem Boden auf: sie ist ein im-
materieller Eleatismus, der in den Ideen das wahre Sein sucht, ohne sich
um die Welt des G-eschehens zu kümmern, die er der Wahrnehmung und Mei-
nung überlässt^).
Dabei ist jedoch zur Vermeidung vielfacher Missverständnisse ') ausdrück-
lich daraufhinzuweisen, dass der platonische Begriff derImmaterialität(a(3(i>[i.atov)
sich keineswegs mit demjenigen des Geistigen oder Seelischen deckt, wie das
nach moderner Vorstellungsweise leicht angenommen wird. Die einzelnen psychi-
schen Functionen gehören für die platonische Auffassung gerade so zur Welt des
Werdens wie die des Leibes und der übrigen Körper, und andrerseits finden in der
wahren Wirkhchkeit die „Gestalten" der Körperlichkeit, die Ideen sinnlicher
Eigenschaften und Verhältnisse gerade so Platz, wie diejenigen der geistigen
Beziehungen. Die Identification von Geist und Unkörperlichkeit, die Scheidung
der Welt in Geist und Körper ist unplatonisch. Die unkörperliche Welt, die
Piaton lehrt, ist noch nicht die geistige.
Vielmehr sind die Ideen für Piaton das unkörperliche Sein, welches
durch die Begriffe erkannt wird. Da nämlich die Begriffe, in welchen
Sokrates das Wesen der Wissenschaft gefunden hatte, als solche nicht in der
wahrnehmbaren Wirklichkeit gegeben sind, so müssen sie eine von derselben ver-
schiedene, für sich bestehende „zweite", „andere" Wirklichkeit bilden, und diese
inmiaterielle Wirklichkeit verhält sich zu der materiellen wie das Sein zum Wer-
den, wie das Bleibende zum Wechselnden, wie das Einfache zum Mannigfaltigen,
kurz — wie die Welt desParmenides zu derjenigen Heraklit's. Der Gegenstand
des sittlichen Wissens, durch die allgemeinen Begriffe erkannt, ist das wahrhaft
Seiende: ethische, logische und physische oLpx^ sind dasselbe. Dies ist der Punkt,
an welchem alle Fäden der früheren Philosophie zusammenlaufen.
2. Sollen danach die Ideen „etwas anderes" als die wahrnehmbare Welt
sein, so kann ihre Erkenntniss durch die Begriffe auch nicht aus dem Wahr-
nehmungsinhalte gefunden werden; denn sie können darin nicht enthalten sein.
Mit dieser der schärferen Trennung der beiden Welten entsprechenden Wendung
wird die platonische Erkenntnisslehre viel rationalistischer als die demokritische,
und sie geht damit auch entschieden über Sokrates hinaus. Denn wenn dieser das
Allgemeine aus den Meinungen und Wahrnehmungen der Einzelnen inductiv ent-
wickelt und darin als das gemeinsam Enthaltene gefunden hatte, so fasst Piaton
den Process der Induction nicht in dieser analytischen Weise auf, sondern er
sieht in den Wahrnehmungen nur die Veranlassungen, mit Hilfe deren sich die
Seele auf die Begriffe, auf die Erkenntniss der Ideen besinnt.
Piaton hat dies rationalistische Princip dahin ausgesprochen, dass die
philosophische Erkenntniss Erinnerung sei (avdt|ivT]ai(;). An dem Bei-
spiel des pythagoreischen Lehrsatzes zeigte er *), dass die mathematische Erkennt-
1) Wie sie in den Dialogen Fhaidros und Symposion dargestellt ist. — 2) Unter-
suchungen zur theoretischen Naturwissenschaft finden sich erst in den spätesten Dialogen
Platon's. — 3) Zu denen die neuplatonische Umdeutung der Ideenlebre Anlass gegeben hat:
vgl. Thl. n, cap. 2, § 18. -- 4) Men. 80 ff.
92 I* Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
niss nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung herausgeschält wird^ sondern dass
diese nur die Gelegenheit darbietet, bei welcher sich die Seele an die in ihr schon
vorher vorhandene, d. h. rein rational geltende Erkenntniss erinnert. Er deutet
dabei daraufhin, dass die reinen mathematischen Verhältnisse in der körperlichen
Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind, sondern dass die Vorstellung derselben
nur auf Veranlassung ähnlicher Gebilde der Wahrnehmung in uns entsteht; und
er hat diese für mathematische Einsichten völlig zutreffende Beobachtung auf die
Gesammtheit der wissenschaftlichen Erkenntniss ausgedehnt.
Dass nun aber diese Besinnung auf das rational Nothwendige als Elrinne-
rung aufgefasst wird, hängt damit zusammen, dass Piaton ebensowenig wie irgend
einer seiner Vorgänger eine schöpferische, den Inhalt erzeugende Thätigkeit des
Bewusstseins anerkennt. Dies ist eine allgemeine Grenze der ganzen griechischen
Psychologie: der Inhalt für die Vorstellungen muss der „Seele" irgendwie ge-
geben sein. Sind daher die Ideen nicht in der Wahrnehmung gegeben und findet
die Seele dieselben doch bei der Wahrnehmung in sich vor, so muss sie die Ideen
irgendwie vorherschon empfangen haben. Für diese Au&ahme aber findet Piaton
nur die mythische Darstellung ^), dass die Seelen vor dem irdischen Leben in der
unkörperlichen Welt selbst die reinen Gestalten der Wirklichkeit geschaut
haben, dass dann die Wahrnehmung ähnlicher körperlicher Dinge die Erinnerung
an jene in dem körperUchen Erdenleben vergessenen Bilder zurückruft, und dass
daraus der philosophische Trieb, die Liebe zu den Ideen (Ipox;) er-
wacht, womit die Seele sich wieder zur Erkenntniss jener wahren Wirklichkeit
erhebt. Auch hier zeigt sich, wie bei Demokrit, dass der gesammte antike Ratio-
nalismus sich von dem Vorgange des Denkens eine Vorstellung nur nach Analogie
der sinnlichen, insbesondere der optischen Wahrnehmung machen konnte.
Was Sokrates in der Lehre von der Begriffsbildung alslnduction bezeichnet
hatte, verwandelte sich also für Piaton in eine erinnernde Intuition (oüvaYCöYTj),
in die Besinnung auf eine höhere und reinere Anschauung. Diese bezieht sich
aber der Mannigfaltigkeit von Anlässen gemäss auf eine Vielheit von Ideen, und
der Wissenschaft erwächst daraus die weitere Aufgabe, auch das Verhältniss
der Ideen unter einander zu erkennen. Dies ist ein zweiter Schritt Platon's
über Sokrates hinaus und darum besonders wichtig , weil derselbe zunächst zur
Auffassung der logischen Beziehungen zwischen den Begriffen geführt
hat. Dabei sind es hauptsächlich die Verhältnisse der Unterordnung und Neben-
ordnung der Begriffe, auf welche Piaton aufmerksam \Mirde: die Eintheilung der
Gattungsbegriffe in ihre Arten spielte in seiner Lehre*) eine grosse Rolle; auch
die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Begriffe findet sich genauer in Be-
tracht gezogen*), und als ein methodisches Hilfsmittel emp&hl er die hypothe-
tische Erörterung, welche einen versuchsweise aufgestellten Begriff durch Ent-
wicklung aller möglichen Polgerungen auf seine Vereinbarkeit mit den bereits
erkannten Begriffen prüfen soll.
Die Gesammtheit dieser logischen Operationen, durch welche die Ideen und
1) Phacdr. 246 ff. — 2) Vgl. Phileb. 16 c. Doch tritt das Eiutheilen in den sicher
platonischen Schriften nicht irgendwie bedeutend hervor; mit schülerhafter Pedanterie ist es
in den Dialogen Sophistes und Politikos gehandhabt. Das Alterthum hat „Definitionen" und
„Diäresen" aus der platonischen Schule erhalten : eine Verspottung dieser akademischen Be-
griffsspalterei durch einen Komiker ist bei Athenaeus II, 59 c erhalten, — 3) Phaed. 102 C
§11. System des Idealismns. (Piaion.) 93
ihre Beziehungen zu einander (xotvcovta) gefunden werden sollen, hat Piaton mit
dem Namen Dialectik bezeichnet. Was sich in seinen Schriften darüber
findet, hat durchweg methodologischen, aber noch keinen eigentlich logischen
Charakter.
3. Die Lehre von der Erkenntniss als Erinnerung stand aber im genauesten
Zusammenhange mit Platon's Auffassung von dem Yerhältniss der Ideen
zu der Erscheinungswelt. Zwischen der höheren Welt der oooia und der nie-
deren Welt der Y^eoic, zwischen dem Seienden und dem Werdenden fand er das-
jenige Verhältniss der Aehnlichkeit, welches zwischen Urbildern (irapaSetYiiata)
und ihren Nachbildungen (ei8<i)Xa) besteht. Auch hierin erweist sich ein starker
Einfluss der Mathematik auf die platonische Philosophie : wie schon die Pytha-
goreer die Dinge als Nachahmungen der Zahlen bezeichnet hatten, so fand Piaton,
dass die einzelnen Dinge ihren Gattungsbegriffen immer nur bis zu einem gewissen
Grade entsprechen, dass der Gattungsbegriff ein logisches Ideal ist, dem keines
seiner empirischen Exemplare völlig gleichkommt. Das drückte er durch den
Begriff der Nachahmung (|j.t{nfjotc) aus : damit aber war zugleich festgesetzt, dass
jene zweite Welt, diejenige der unkörperlichen Ideen, die höhere, werthvollere,
ursprüngHchere Welt sein sollte.
Doch gab diese Vorstellungsweise mehr eine Werthbestimmung als eine
für die metaphysische Betrachtung brauchbare Anschauung: daher suchte Piaton
noch nach anderen Bezeichnungen des Verhältnisses. Die logische Seite der Sache,
wonach die Idee als Gattungsbegriff den einheitiichen Umfang darstellt, von dem
die einzelnen Dinge nur einen Theil bedeuten, kommt in dem Ausdruck Theil-
nahme ((jid's£t<;) zur Geltung, womit gesagt sein soll, dass das einzelne Ding an
dem allgemeinen Wesen der Idee nur Theil hat; und den Wechsel dieses Theil -
habens hebt derBegriff der Gegenwärtigkeit (irapoooux) hervor: der Gattungs-
begriff ist an dem Dinge so lange gegenwärtig, als es die der Idee innewohnenden
Eigenschaften besitzt. Die Ideen gehen und kommen, und indem sie sich den
Dingen bald mittheilen, bald wieder entziehen, wechseln diese ßlr die Wahr-
nehmung die den Ideen ähnUchen Eigenschaften.
Indessen war die genaue Bezeichnung dieses Verhältnisses für Piaton ein
Gegenstand nur secundären Interesses, sofern nur die Verschiedenheit der Ideen-
welt von der Körperwelt und die Abhängigkeit der lezteren von der ersteren
anerkannt wurde*): ihm genügte zunächst die Ueberzeugung, dass durch die Be-
griffe diejenige Erkenntniss des wahrhaft Seienden gewonnen werden konnte,
deren die Tugend bedarf.
A. Peipers, Ontologia Platonica (Leipzig 1883).
4. Allein das logisch-metaphysische Interesse, welches Piaton auf die
sokratische Lehre vom Wissen anpfropfte, ftihrte ihn auch inhaltlich weit über
den Meister hinaus. Die allgemeinen Bestimmungen, welche er für das Wesen
der Ideen entwickelte, trafen für sämmtliche Gattungsbegriffe zu, und die
immaterielle Welt bevölkerte sich daher mit den Urbildern der gesammten
Erfahrungswelt. So viele Gattungsbegriffe, so viele Ideen: auch für Piaton sind
der „Gestalten" unzählige. Insofern hatte die Kritik*) Recht, wenn sie sagte,
Platon's Ideenwelt sei die Wahrnehmungswelt, noch einmal gedacht im Begriffe.
1) Phaed. 100 d. — 2) Arist. Met. I 9, 990b 1.
94 I* Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
In der That giebt es nach dem ersten Entwarf der platonischen Philosophie
Ideen von allem nur irgend Möglichen, von Dingen, Eigenschaften und Verhält-
nissen, vom Guten und Schönen so gut, wie vom Bösen und Hässlichen. Da die Idee
methodologisch rein formal als Gattungsbegriff bestimmt ist, so gehört jeder
beliebige Gattungsbegriff in die höhere Welt der reinen Formen : und in dem
Dialoge Paimenides ^) wurde Piaton von einem in der eleatischen Sophistik
geschulten Mann nicht nur auf allerlei dialectische Schwierigkeiten aufmerksam
gemacht, welche in dem logischen Verhältniss der Einen Idee zu ihren vielen
Exemplaren stecken, sondern auch höhnisch genug mit all' den schmutzigen
Gesellen aufgezogen, welche sich in seiner Welt der reinen begrifflichen Gestalten
antreffen Hessen.
Gegen solchen Einwurf war Platon's Philosophie principiell wehrlos, und
es findet sich in den Dialogen auch keine Andeutung darüber, dass er versucht
hätte, ein bestimmtes Kriterium für die Auswahl derjenigen Gattungsbegriffe,
welche als Ideen, als Bestandtheile der höheren, unkörperlichen Welt angesehen
werden sollten, anzugeben. Auch die Beispiele, die er anführt, lassen ein solches
Princip nicht erkennen; nur scheint es, als habe er mit der Zeit immer mehr die
Werthbestimmungen (wie das Gute und Schöne), die mathematischen Verhältnisse
(Grösse und Kleinheit, numerische Bestimmtheiten etc.) und die Gattungstypen
der Naturwesen hervorgehoben, blosse Beziehungsbegriffe dagegen, besonders
negative Vorstellungen und Artefacten nicht mehr zu den Ideen gerechnet-*).
5. Ebenso dunkel bleibt schliesslich unsere Kenntniss von dem systemati-
schen Zusammenhange und derOrdnung, welche Piaton im Reiche der Ideen
statuirt wissen wollte. So sehr er darauf drang, Coordination und Subordination
der Begriffe festzustellen, so wenig scheint doch der Gedanke einer logisch geord-
neten Begriffspyramide, welche in dem allgemeinsten, inhaltsärmsten Begriffe
gipfeln müsste, zur Durchfiihrung gekommen zu sein. Einen sehr problematischen
Versuch, eine beschränkte (5) Anzahl allgemeinster Begriffe ^) aufzustellen, bietet
der Dialog Sophistes (254ff.) dar: aber diese Versuche, die auf die aristotelische
Kategorienlehre zutreiben, sind nicht einmal mit Sicherheit auf Piaton selbst
zurückzuführen.
Bei ihm findet sich vielmehr nur die im Philebos wie in der Republik vor-
getragene Lehre, dass die Idee des Guten die höchste, alle andern umfassende,
beherrschende, verwirklichende sei. Dabei hat Piaton diese Idee so wenig wie
Sokrates inhaltlich detinirt, sondern sie nur durch die Beziehung bestimmt, dass
sie den höchsten, absoluten Zweckinhalt aller Wirklichkeit, derunkörper-
lichen wie der körperlichen, darstellen solle. Die Unterordnung der übrigen
Ideen unter diese höchste ist somit nicht die logische Subordination eines
Besonderen unter das Allgemeine, sondern die teleologische der Mittel unter
den Zweck.
Die Unfertigkeit dieser Lösung des logischen Problems scheint Piaton in
der letzten Zeit seines Philosophirens , über die wir nur Andeutungen in den
„Gesetzen" und in kritischen Bemerkungen des Aristoteles *), sowie in den Lehren
1) Parm. 130c. — 2) VrI. auch Aristot. Met. XII 3, 1070c 18. — 3) Sein, Ruhe, Be-
wegung, Selbigkeit (xaoxorr]«;) und Anderheit (iteporr]^) — d.h. die Eintheilung des Seins in das
sich selbst immer gleiche, ruhende (o&aia) und das in steter Veränderung begriffene, bewegte
(fevsai^). — 4) Vgl. A. Trendklknbürg, Piatonis de ideis et numeris doctrina (Leipzig 1826).
§ 11. System des Idealismus. (Piaton.) 95
seiner nächsten Nachfolger haben^ auf den unglücklichen Gedanken geführt zu
haben, das System der Ideen nach der Methode der pythagoreischen
Zahlenlehre zu entwickeln. Auch die Pythagoreer hatten freilich die Absicht
gehabt, die bleibenden Ordnungen der Dinge symbolisch an die Entwicklung der
Zahlenreihe anzuknüpfen. Aber das war doch nur ein erster Nothbehelf dafür
gewesen, dass sie von der logischen Ordnung der Begriffe noch keine Vorstellung
hatten: wenn daher Piaton im Zusammenhange mit anderen Gedanken darauf
zurückfiel; die Idee des Guten als das sv, die Eins, bezeichnete^ aus ihr die Zwei-
heit (8od<;) des Unendlichen und des Masses (äitsipov und ^pac = gerade und
ungerade, vgl. § 4, 11) und daraus dann weiter die übrigen Ideen so ableiten
wollte, dass sie eine Stufenfolge des Bedingenden und des Bedingten darstellten,
so würde weder diese bedauerliche Construction noch dieThatsache, dass Männer,
wie Speusippos, Xenokrates, Philippos, Archytas, sie im Einzelnen durchzu-
führen unternahmen, einer näheren Erwähnung werth sein, wenn nicht gerade
daran die Speculation derNeupythagoreer und der Neuplatoniker in bestimmtem
Sinn sich angeschlossen hätte. Durch diese Abstufung innerhalb der ou<3ia, der
Welt wahrer Wirklichkeit, nämlich, die damit schon Piaton begann, wurde die
Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit, welche sich aus dem Gegensatze
der Wahrnehmung und des Denkens entMrickelt hatte, vervielfältigt und damit
der Dualismus wieder aufgehoben. Denn wenn dem Einen oder der Idee des
Guten die höchste, absolute Realität, den verschiedenen Schichten der Ideenwelt
aber immer um so geringerwerthige Realität zugeschrieben wurde, je weiter sie
in dem Zahlensystem von der Eins entfernt zu stehen kamen, so entstand daraus
eine Stufenleiter von Wirklichkeiten, welche von der Eins herab bis zu
der niedersten Wirklichkeit, derjenigen der Körperwelt, reichte. So phantastisch
dieser Gedanke sein mag, so kräftig und wirksam hat er sich in der Entwicklung
des Denkens bis an die Schwelle der neueren Philosophie erwiesen : seine Macht
aber steckt zweifellos überall in der Verquickung von Werthbestimmungen mit
diesen verschiedenen Schichten der Realität.
6. Während die Ideenlehre als Metaphysik in derartige bedenkliche Schwierig-
keiten gerieth, hat sie eine überaus glückliche, einfache und durchsichtige Aus-
führung auf demjenigen Gebiete gefunden, welches ihren eigentlichen Herd
bildete: dem ethischen. Zur systematischen Bearbeitung desselben aber bedurfte
Piaton einer Psychologie, einer anderen freilich als diejenige war, welche in der
bisherigen Wissenschaft aus naturphilosophischen Voraussetzungen mit einzelnen
Wahrnehmungen oder Meinungen zu Stande gekommen war. Wenn er nun
dem gegenüber seine Psychologie aus den Postulaten der Ideenlehre entwickelte,
so war das freilich eine rein metaphysische Theorie , welche mit jener Voraus-
setzung stand und fiel, zugleich aber doch vermöge des Inhalts der Ideenlehre ein
erster Versuch, das Seelenleben von innen heraus und nach seiner innerlichen
Bestimmtheit und Gliederung zu begreifen.
Der Begriff der Seele bildete in dem Dualismus der Ideenlehre eine eigene
Schwierigkeit*). „Seele" war auch für Piaton einerseits das Lebendige, dasjenige,
was von selbst bewegt ist und Anderes bewegt, andrerseits dasjenige, was wahr-
nimmt, erkennt und will. Als Princip des Lebens und der Bewegung gehört also
1) Phaed. 76 ff.
96 I* Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
die Seele zu der niederen Welt des Werdens, und in derselben bleibt sie, wenn
sie wahrnimmt und auf die Gegenstände der Sinne ihre Begierden richtet. Aber
diese selbe Seele wird doch durch die wahre Erkenntniss auch der Ideen, der
höheren Wirklichkeit bleibenden Seins theilhaf tig. Es muss ihr daher eine Zwischen-
stellung zugestanden werden: nicht die zeitlos unveränderte Wesenheit der
Ideen, aber eine den Wechsel überdauernde Lebendigkeit, d. h. Unsterblich-
keit. Zum ersten Mal wird liier von Piaton die persönliche Unsterblichkeit als
philosophisches Lehrstück vorgetragen. Von den Beweisen, welche der Phaedon
dafür erbringt, sind aus dem Geiste des Systems heraus die zutreflFendsten die-
jenigen, welche aus der Erkenntniss der Ideen auf die Verwandtschaft der Seele
mit der Ewigkeit schliessen; der Form des Systems entspricht der dialectische
Fehlschluss, dass die Seele, weil ihr wesentliches Merkmal das Leben sei, nicht
todt sein könne; das haltbai-ste der Argumente ist der Hinweis auf die einheit-
liche Substantialität, welche die Seele in der Regierung des Leibes beweise.
Bei dieser Zwischenstellung muss die Seele die Züge beider Welten an
sich tragen ; es muss in ihrem Wesen etwas sein, was der Ideenwelt, und etwas,
was der Wahmehmungswelt entspricht. Das Erstere ist das Vernünftige
(Xo^tattxöv oder voöc), der Sitz des Wissens und der ihr entsprechenden Tugend ;
in dem Anderen aber, dem Unvernünftigen, unterschied Piaton wieder zweierlei :
das Edlere, das der Vernunft zuneigt, und das Niedere, das ihr widerstrebt. Das
Edlere fand er in der affectvollen Willenskraft (Muth, doiwc), das Niedere in
der sinnlichen Begehrlichkeit (Begierde, iTadn^äa), So sind Vernunft, Muth
und Begierde die drei Bethätigungsformen der Seele, die Arten (st 5?]) ihrer
Zustände.
So aus ethischen Werthbestimmungen erwachsen, werden diese psycho-
logischen Grundbegriffe von Piaton zur Darstellung des sittlichen Geschicks des
Individuums verwendet : Folge zugleich und Strafe der sinnlichen Begehrlichkeit
ist die Fesselung der Seele an den Leib. Piaton dehnt das unsterbliche Da-
sein der Seele über die beiden Grenzen des irdischen Lebens gleichmässig aus :
in der Präexistenz *) ist die Schuld zu suchen, um deren willen die Seele in die
Sinnenwelt verstrickt ist; in der Postexistenz *) wird ihr Geschick davon abhangen,
inwieweit sie sich im Erdenleben von der sinnlichen Begehrlichkeit frei gemacht
und ihrer höheren Bestimmung, der Erkenntniss der Ideen, zugewendet hat. Inso-
fern aber danach als letztes Ziel der Seele die Abstreifung der Sinnlichkeit er-
scheint, so werden jene drei Thätigkeitsformen auch als Theile der Seele
bezeichnet. Im Timaeus schildert Piaton sogar die Zusammensetzung aus diesen
Theilen und behält die Unsterbhchkeit nur fiir den vernünftigen Theil zurück.
Schon aus diesen wechselnden Bestimmungen erhellt, dass das Verhältniss
dieser drei Grundformen des psychischen Lebens zu der (freiUch nicht allzu stark
betonten) Einheitlichkeit der Seele nicht zur Klarheit gebracht ist; und eben-
sowenig ist es möglich, diesen aus ethischem Bedürfniss geformten Begriffen den
Sinn rein psychologischer Unterscheidungen, wie sie die spätere Zeit gemacht
hat, unterzuschieben *).
1) Die Ausnialung dieser Lehren geschieht in der Form der mythischen Allegorien*
welche Motive aus dem Volksglauben und aus den Mysterienculten benutzen : sie finden sich
Phaedr. 246 ff., Gorgias 523 fl'., Rep. 614 ff., Phaedon 107 ff. — 2) Dass es sich für Piaton
dabei wesentlich um Werthabstufungen des Psychischen handelte, zeigt sich ausser in der
§ II. System des Idealismus. (Flaton.) 97
7. Jedenfalls aber folgte auf diese Weise aus der Zweiweltenlehre eine
Degative, weltflüchtige Moral, in welcher der Rückzug aus der Sinnenwelt und
die Vergeistigung des Lebens als Ideale der Weisheit gepriesen wurden. Es ist
nicht nur der Phaedon, der in der Schilderung vom Tode des Sokrates diese
ernste Stimmung athmet, sondern auch Dialoge wie der Gorgias, der Theaetet
und zum Theil die Republik, worin die gleiche ethische Ansicht vorwaltet. Aber
in Flaton's eigener Natur war dem schweren Blute des Denkers der leichte Herz-
schlag des Künstlers beigesellt, und es wohnte in ihm der Zwiespalt, dass,. während
seine Philosophie ihn in das Reich der körperlosen Gestalten lockte, doch der
ganze Zauber hellenischer Schönheit in ihm lebendig war. So sehr er deshalb
die aristippische Theorie, welche in der Sinnenlust das Streben des Menschen
beschlossen finden wollte, von Grund aus bekämpfte, so meinte er doch, dass die
Idee des Guten sich auch in der Sinnen weit realisire. Die Freude am Schönen,
die schmerzlose, weil wunschlose Lust an der sinnlichen Nachahmung der Idee,
die Ent<ung der Kenntnisse und der praktischen Kunstfertigkeit, das Verstand-
niss der Massbestitnmungen der empirischen Wirklichkeit und die zweckvolle
Einrichtung individuellen Lebens, — alles das galt ihm wenigstens als Vor-
stufen und Antheile zu jenem höchsten Gut, welches in der Erkenntniss der
Ideen und der höchsten unter ihnen, der Idee des Guten, besteht. Im Sym-
posion und im Philebos hat er dieser seiner Werthung der Lebensgüter Ausdruck
gegeben.
In anderer Form hat Piaton denselben Gedanken, dass die sittliche Werth-
bestimnuing den ganzen Umkreis des menschlichen Lebens zu durchleuchten habe,
in der Darstellung des Systems der Tugenden zur Geltung gebracht, welches er
in der Repubhk entwickelte. Hier zeigte er nämlich, dass jeder der Seelen-
theile eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und damit seine Vollkommenheit zu
erreichen habe: der vernünftige Theil in der Weisheit (ooyEa), der muthhafte
(0»j|iosi8d<;) in der Willensenergie (Tapferkeit, ovSpta), der begehrliche (erndt)-
ItTjnxöv) in der Selbstbeherrschung (Masshalten, ocöypooovT]), — dass aber
dazu noch als Gesammttugend der Seele das richtige Verhältniss dieser Theile,
die volle Rechtschaffenheit (Gerechtigkeit, 8txatoa&vY)) hinzutreten müsse.
Der wahre Sinn aber dieser vier Cardinal tugenden entwickelt sich erst
auf einem höheren Gebiete, demjenigen der Politik.
8. Die auf das Allgemeine gerichtete Tendenz der Ideenlehre hat ihre höchste
Wirkung darin entfaltet, dass das ethische Ideal der platonischen Philosophie
nicht in det Tüchtigkeit und dem Glück des Individuums, sondern in der sitt-
lichen Vollkommenheit der Gattung lag. Getreu dem logischen Princip der
Ideenlehre ist das im ethischen Sinne Wahrhaft Seiende nicht der einzelne Mensch,
sondern die Menschheit, und ihre Erscheinung ist die organische Verbindung der
Individuen im Staat. Das ethische Ideal wird ftir Piaton zum politischen, und
mitten in der Zeit, welche die Auflösung des griechischen Staatslebens sah, richtete
er den Lehren gegenüber, welche nur noch das Princip der individuellen Glück-
seKgkeit verkündeten, den Begriflf des Staates zu allbeherrschender Hoheit auf.
Verwendtong in der Ethik und Politik, auch in solchen Bemerkungen , welche diese Drei-
theilnng für die verschiedenen organischen Wesen (Pflanze, Thier, IV^nsch), oder andrerseits
^ die verschiedenen Volker (Südländer, Nordländer, Griechen) als charakteristisch kenn-
zeichneten.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 7
98 I* Philosophie der Grieohen. 3. Systematiscfae Periode.
Er betrachtete aber den Staat nicht von Seiten seiner empirischen Ent-
stehung^ sondern im Hinblick aof seine Aii%abe: das Ideal der Menschheit im
Grossen darzustellen und den Bürger zu derjenigen Tugend zu erziehen ; welche
ihn wahrhaft glücklich macht. Ueberzeugt, dass sich sein Entwurf, nöthigenfalls
mit Gewalt^ in Wirklichkeit umsetzen lasse, yerwob er in denselben nicht nur
Züge aus dem bestehenden griechischen Staatsleben, die er billigte, insbesondere
diejenigen der aristokratischen, dorischen Verfassungen; sondern auch allis die
Ideale, deren Erfüllung er von der rechten Gestaltung des öffentUchen Lebens
erhoffte.
E. F. Hkricann (Ges. Abhandlungen 122 ff.) — E. Zellsr (Vorträge tmd Abhand-
lungen I, 62 ff.).
Soll der Ideal-Staat den Menschen im Grossen darstellen, so muss er
aus den drei Theilen bestehen, die den drei Theilen der Seele entsprechen: dem
Lehrstand, dem Wehrstand, dem Nährstand. Dem ersteren allein, dem
Stande der Gebildeten (^iXöao^oi), kommt es zu, den Staat zu lenken und zu
regieren ^) (äp/ovrec), die Gesetze zu geben und ihre Befolgung zu überwachen:
seine Tugend ist die Weisheit, die Einsicht dessen, was dem Ganzen frommt,
was der sittliche Zweck des Ganzen erfordert. Ihn zu unterstützen, ist der zweite
Stand da, derjenige der Beamten (iictxoüpot; Wächter, ^öXaxsc), der in der Auf-
rechterhaltung der Staatsordnung nach innen und aussen die Tugend uner-
schrockener Pflichterfüllung (ovSpta) zu bewähren hat. Der grossen Masse des
Volks aber, den Handwerkern und Bauern (ys^py^'^ ^*^ STQjitoopYOt), die fiir die
Beschaffung der äusseren Mittel des Staates durch Arbeit und Erwerb *) zu sorgen
haben, ziemt der Gehorsam, der die Begierden im Zaume hält, die Selbstbeherr-
schung (aoxppoa&vY]). Erst wenn so jeder der Stände da,s Seine thut und das
Seine erhält, entspricht das Staatswesen dem Ideal der Gerechtigkeit (SixaioaovT]).
Das Princip der Aristokratie der Bildung, welches für das plato-
nische Staatsideal massgebend ist, kommt aber vor Allem darin zu Tage, dass
für die grosse Masse des dritten Standes nur die gewohnheitsmässige Tüchtigkeit
des praktischen Lebens in Anspruch genommen, diese aber auch für ausreichend
befunden wird, während die Erziehung, welche der Staat, um die Bürger zu seinen
Zwecken zu bilden, selbst in die Hand zu nehmen Recht und Pflicht hat, sich
nur den beiden anderen Ständen zuwendet. Mit einer von der Geburt an bis in
späte Jahre sich immer wiederholenden Auslese, soll die Regierung schichten-
weise die beiden oberen Stände sich fortwährend erneuern lassen; und damit
diesen eigentlichen Organen der Gesammtheit kein individuelles Interesse in der
Erfüllung ihrer Aufgabe hemmend bleibe, so sollen sie auf das Familienleben und
auf den Privatbesitz verzichten. Für sie gUt Staatserziehung, Familienlosigkeit,
Lebens- und Gütergemeinschaft. Wer den Zwecken des Ganzen, der sitthchen
Erziehung des Volks leben soll, den dürfen keine persönUchen Interessen an das
Einzelne binden. Auf diesen Gedanken, der in dem Priesterstaat der mittel-
alterlichen Hierarchie seine historische Verwirklichung gefunden hat, beschränkt
sich, was man von Communismus, Weibergemeinschalt etc. in der platonischen
Lehre entdeckt haben will. Der grosse Idealist führt den Gedanken, dass der
Zweck des Menschenlebens in der sittlichen Erziehung bestehe und dass die
1) Daher wird das Xoftattxöv auch •^'^eikoviy.ov genannt. — 2) Daher heisst der dritte
Seeleu theil auch das (piXoxpTjpi'xtov.
§ 11. System des Idealismus. (Piaton.) 99
ganze Organisation des gemeinsamen Daseins nur für diesen Zweck eingerichtet
sein müsse^ bis in die äussersten Consequenzen aus.
9. Damit war nun ein neues und das dem Geiste des platonischen Systems
am vollkommensten entsprechende Verhältniss zwischen der Ideenwelt und der
Erscheinungswelt gefunden : die Idee des Guten erwies sich als die Aufgabe, als
der Zweck (t^Xoc), den die Erscheinung der menschlichep Lebensgemeinschaft
zu erfüllen hat. Diese Einsicht ist für die endgiltige Gestaltung von Platon's
metaphysischem System entscheidend geworden.
Denn in ihrem ersten Entwurf war die Ideenlehre zur Erklärung der empi-
rischen Wirklichkeit gerade so unfähig gewesen, wie die eleatische Seinslehre.
Durch die Gattungsbegriffe sollte die absolute "Wirklichkeit *) erkannt werden,
welche rein für sich, einfach und veränderungslos, unentstanden und unvergäng-
lich eine Welt für sich bildet und als unkörperlich von der Welt des Entstehens
völlig getrennt ist. Sie bildete daher, wie in dem Dialog Sophistes ^) mit scharf-
sinniger Polemik gegen die Ideenlehre nachgewiesen wurde, weil sie alle Bewe-
gung und Veränderung von sich ausschloss, kein Princip der Bewegung und
deshalb keine Erklärung der Thatsachen.
So wenig aber Platon's Interesse darauf gerichtet gewesen sein mochte, der
Begriff der Idee als des wahren Seins verlangte schliesslich doch, dass die Er-
scheinung nicht nur als etwas Anderes, etwas Nachahmendes, etwas Theilhaben-
des, sondern als etwas Abhängiges betrachtet, dass die Idee als Ursache des
Geschehens (attta) angesehen wurde. Was aber selbst absolut unveränderUch,
unbeweglich ist und jede besondere Function von sich ausschliesst, das kann
nicht im mechanischen Sinne, sondern nur so Ursache sein, dass es den Zweck
darstellt, um dessen willen das Geschehen stattfindet Hiermit erst ist das Ver-
hältniss zwischen den beiden Welten des Wesens und des Werdens (ooota und
Y^vsok;) völKg bestimmt: alles Geschehen ist um der Idee willen da *), die Idee
ist die Zweckursache der Erscheinungen.
Diese Begründung der teleologischen Metaphysik hat Piaton im
Philebos und in den mittleren Büchern der Republik gegeben, und es schliesst
sich daran sogleich eine, weitere Zuspitzung, indem er als die Zweckursache alles
Geschehens zwar die gesammte Ideenwelt, im Besonderen aber die oberste Idee,
der ja alle übrigen sich in demselben Sinne als Mittel unter den Zweck unter-
ordneten, dieldeedesGuten einführte und diese (unter Bezugnahme auf Ana-
xagoras) als die W e 1 1 v e r n u n f t (vod<;) oder als die G o 1 1 h e i t bezeichnete *) .
Neben diesem anaxagoreischen Motiv erweist sich aber in der späteren
Gestalt der Ideenlehre immer mehr auch das pythagoreische wichtig, wonach au^
die Unvollkommenheit der Erscheinung dem wahren Sein gegenüber hingewieser»
wurde. Diese Unzulänglichkeit aber konnte aus dem Sein selbst nicht ab-
geleitet werden, und mit einer ähnlichen Consequenz, wie diejenige gewesen war.
1) Symp. 211b: aöto xa«-' aö-ci jjls^' a6tOü jiovoeiSi« äsl ov. — 2) p. 246 ff. Die dort
kritisirte Lehre von den äatoftata etS-r) kann den einzelnen wörtlichen Uebereinstimraungen
nach nur die platonische sein; eben dies entscheidet mit gegen die Echtheit des Dialogs.
ScHLEiKRMACHER^s zur Rettung der Echtheit ersonnen e Hypothese von einer megarischen
Ideenlehre hat sich nicht aufrecht halten lassen. — 3) Phileb. 54 c. — 4) Doch ist dabei nicht
an Persönlichkeit oder ein geistiges Wesen, sondern an den absoluten sittlichen Weltzweck zu
denken, wobei der Begriff des äfa^ov ebensowenig eine genaue Definition findet, wie bei
Sokrates: er wird vielmehr als der einfachste, selbstverständlichste vorausgesetzt.
100 L Philosophie der Griechen. 8. Systematische Periode.
mit der Leukipp^ um Vielheit und Bewegung zu begreifen, neben dem Sein des
Parmenides auch das Nichtseiende für ^ wirklich^; seiend erklärt hatte^ sah sidi
nun Piaton genöthigt, zur Erklärung der Erscheinungen und der ünangemessen-
heit, welche dieselben zu den Ideen zeigen^ neben der Welt des Seins oder der
Ursache; der Ideenwelt und der Idee des Guten, noch eine Nebenursache
(SovaCttov) in dem Nichtseienden anzunehmen. Ja, der Parallelismus dieser
Gedankengänge ging so weit, dass diese nicht-seiende Nebenursache (tb t^'i] Sv) für
Piaton ganz dasselbe ist, wie für Leukipp und Philolaos: der leere Raum ').
Der Raum also war fiir Piaton das ^Nichts", aus dem, um der Idee des
Guten, der Gottheit, willen die Erscheinungswelt gestaltet wird. Diese Ge-
staltung aber besteht in der mathematischen Formung. Daher lehrte Piaton
im Philebos, die Welt der Wahrnehmung sei eine „Mischung" aus dem „Unbe-
grenzten" (ä^retpov), dem Räume, und der „Begrenzung" (ic^pac), den mathemati-
schen Formen^), und die Ursache dieser Mischung, das höchste, göttliche Welt-
princip, sei die Idee des Guten. Um der Ideenwelt ähnlich zu werden, nimmt der
Raum die mathematische Formung an.
Vermöge dieser Einfügung der Zahlenlehre in die Ideenlehre gewinnt die
Mathematik ihre eigenartige Stellung in der platonischen Philosophie. Die
mathematischen Gebilde sind das Zwischenghed, vermöge dessen der nicht-seiende
leere Raum die reinen „Gestalten" der Ideenwelt in den Erscheinungen nach-
zuahmen vermag. Die mathematische Erkenntniss (Sidvota) betrifft daher ebenso
wie die rein philosophische (l7rtotT]|i7j) ein bleibend Seiendes (o&ob) und wird
darum mit dieser als rationale Erkenntniss (vöyjok;) zusammengefasst und der
Erkenntniss der Erscheinungen (Sofa) gegenübergestellt : aber sie nimmt deshalb
in dem Erziehungssystem der Republik auch nur die Stellung einer letzten Vor-
bereitung auf die Weisheit der „Herrscher" ein.
10. Damit nun waren die metaphysischen Vorbereitungen dafür gegeben,
dass Piaton schliessUch im Timaios eine naturphilosophische Skizze ent-
werfen konnte, fiir welche er dann freilich, seinem erkenntnisstheoretischen Princip
getreu, nicht denWerth der Gewissheit, sondern nur denjenigen derWahrschein-
Uchkeit in Anspruch nehmen durfte ^). Ausser Stande nämlich, diese Erklärung
des Geschehens aus dem Weltzweck dialectisch durchzuführen und begrifiBich
festzustellen, gab Piaton nur in mythischer Form eine Darstellung seiner teleo-
1) Unter dem Einfluss der ariBtotelischen Terminologie ist diese nicht-seiende Neben-
ursache als „Materie*^ (^^''l) bezeichnet worden, und es hat erst der neueren Forschungen be-
durft, um klar zu machen, dass die platonische „Materie*' eben nur der Raum ist: vgl. H. Sie-
beck, Untersuchungen z. Philos. d. Gr, (2. Aufl. Freiburg i. B. 1889). — 2) Es ist wahr-
scheinlich, dass Piaton dabei die Zahlen in die Ideenwelt selbst versetzte, ihre Darstellimg
aber in den geometrischen Gebilden als die dem Raum hinzutretende „Begrenzung" an-
sah. — 3) Die platonische Physik ist also ähnlich hypothetisch wie die parmenideische. Auch
hier scheinen Rücksicht auf die Ansprüche der Schüler und polemische Absicht sich vereinigt
zu haben. Daher finden sich im Timaeus Anlehnung an Demokrit und Bekämpfung desselben
ähnlieh gemischt, wie das bei Parmenides hinsichtlich Heraklit's der Fall war. Doch ist der
Unterschied nicht zu vergessen, dass der Eleat die Realität der Erscheinungswelt, Piaton aber
nur ihre wissenschaftliche, d. h. begriffliche Erkennbarkeit leugnete. In der Darstellung seiner
Ansicht abergeht Piaton dani^ auf astronomische, mechanische, chemische, organische, physio-
logisch-psychologische, schliesslich sogar auf medicinische Fragen ein, giebt also eine Art von
compendiöser Darstellung seiner naturwissenschaftlichen Meinungen, welche im Einzelnen
ausserordentlich phantastisch und den exacten Vorstellungen selbst seiner Zeit gegenüber un-
zulänglich sind, in ihrem ganzen priiicipiellen Zusammenhange aber eine weit über die Absicht
ihres Urhebers hinausgehende Wirkung ausgeübt haben.
§ 11. System dee Idealismas. (Piaton.) 101
logischen Naturansicht, die eben nur Ansicht^ aber keine Wissenschaft
sein soll.
Dabei stellt sich dieselbe jedoch mit aller Schärfe der mechanischen
Naturerklärung gegenüber, und wie sie diese darstellt^ so kann Piaton
kaum etwas Anderes als die Lehre Demokrit's dabei im Auge gehabt haben.
Der Theorie nämlich, welche aus „zufälligem^ (soll heissen absichtslosem) Zu-
sammentreffen des „ordnungslos Bewegten^ hie und da allerlei Welten entstehen
und wieder vergehen lässt, stellt er die seinige entgegen, dass es nur diesen Einen,
einheitlichen und der Art nach einzigen, vollkommensten und schönsten Kosmos
gebe, und dass dessen Ursprung nur auf eine zweckthätige Vernunft zurück-
geführt werden könne.
Wenn man sich also über diesen Ursprung eine Ansicht bilden will, so muss
man den Grund der Erscheinungswelt in ihrem Zweckverhaltmds zu den Ideen
suchen. Dies Yerhaltniss drückte Piaton durch die Vorstellung eines „welt-
bildenden Gottes" (SujjjLtoopYÖc, Demiurg) aus, welcher „im Hinblick auf die
Ideen" das Nichtseiende, den Baum geformt habe. Dieser wird dabei als die
unbestimmte Bildsamkeit bezeichnet, welche alle Körperformen in sich aufnimmt
(Se£a|iiv7]), aber dabei doch den Grund dafür bildet; dass die Ideen in ihm keine
reine Darstellung finden. Diese Gegenwirkung der Mitursache oder der einzelnen
Mitursachen bezeichnet Piaton als die mechanische Nothwendigkeit
(avdpcY)): er nimmt also den demokritischen Begriff als einzelnes Moment in seine
Physik mit auf, um daraus dasjenige zu erklären, was sich nicht teleologisch
begreifen lässt. Göttliche Zweckthätigkeit und Natumothwendigkeit werden als
Erklärungspnncipien einerseits für das Vollkommene, andrerseits für das Unvoll-
kommene der Erscheinungswelt einander gegenübergestellt. Der ethische Dua-
lismus überträgt sich aus der Metaphysik in die physikalische Ansicht.
Der charakteristische Grundgedanke der platonischen Physik ist nun der
atomistischen gegenüber der, dass, während Demokrit die Gesammtbewegungen
als mechanische Resultanten aus den ursprünglichen Bewegungszuständen der
einzelnen Atome auffasste, Piaton umgekehrt die in sich geordnete Gesammt-
bewegung des Weltalls als das einheitlich Ursprüngliche betrachtete und
alles Einzelgeschehen aus diesem zweckvoll bestimmten Ganzen ableitete. Aus
diesem Gedanken entsprang die wunderliche Construction des Begriffs der Welt-
seele, welche Piaton als das einheitliche Princip aller Bewegungen, damit aber
auch aller Formbestimmungen und zugleich aller Wahrnehmungs- und Vor-
steUungsthätigkeiten in der Welt bezeichnete ^). In phantastisch dunkler Dar-
stellung trug er als die mathematische „Eintheilung" dieser Weltseele seine
astronomische Ansicht vor, welche sich im Ganzen an diejenige der jüngeren
Pythagoreer anschloss, aber durch die Annahme des Stillstandes der Erde hinter
derselben zurückblieb. Das Hauptkriterium dieser Eintheilung war der Unter-
schied zwischen dem, was sich gleich bleibt (raotöv) und dem, was sich ändert (^dts-
pov), ein Gegensatz, in welchem man leicht den pythagoreischen der vollkommenen
Gestimwelt und dfer unvollkommenen terrestrischen Welt wiedererkennt.
1) In dieser Hinsicht charakterisirt der Timaeus ganz wie Demokrit die psychischen Un-
terschiede durch solche der Bewegung, führt z. B. das rechte Vorstellen auf das to^tov, das
bloss individuelle Wahrnehmen auf das ^tepov zurück etc. „Seele** ist eben für den Griechen
zugleich Princip der Bewegung und der Wahrnehmung (xtvYjttxov und alodiQttxov, Aristot. de
an. 1 2, 403 b 25), und auch Piaton macht das zweite Merkmal vom ersten abhängig.
102 I« Philosophie der Grieohen. 8. Syetematieche Periode.
Eine ähnliche Fortbildung der pythagoreischen Lehre enthält der platoni-
sche Timaeus auch hinsichtlich der rein mathematischen Construction der Körper-
welt. Auch hier werden die vier Elemente nach den einfachen , regelmässigen
stereometrischen Figuren charakterisirt (vgl. S. 35), dabei aber ausdrücküch
gelehrt, dass dieselben aus Dreiecksflächen bestehen, und zwar recht-
winkligen, welche theils gleichschenklig, theils so gestaltet seien, dass die kleinere
Kathete die Hälfte der Hypotenuse darstellt. Aus solchen rechtwinkligen Drei-
ecken lassen sich die Begrenzungsflächen jener stereometrischen Formen,
Tetraeder, Kubus etc., zusammengesetzt denken, und die Zusammensetzung dieser
Begrenzungsflächen wollte Piaton als das Wesen der Raumerfullung, d. h. der
Dichtigkeit der Körper angesehen haben. Indem so der physicalische Körper
als ein rein mathematisches Gebilde aufgefasst wurde, kam auch in der Physik
jener metaphysische Gedanke des Philebos zum Durchbruch, dass die Erschei-
nungswelt eine den Ideen nachgebildete Baumbegrenzung sei. Diese noch dazu
als untheilbar aufgefassten Dreiecksflächen haben eine bedenkliche AehnUchkeit
mit den Atomgestalten (ay;fi^xa) des Demokrit.
% 12. Die aristotelisohe Logik.
Die Breite der Anlage, welche in den Systemen der beiden grossen Gegen -
füssler Demokrit und Piaton hervortritt und mit der schulmässigen Ausbildung
der Lehren zusammenhängt, machte nicht nur eine Theilung der Arbeit, sondern
auch eine Sonderung der Probleme unerlässlich. Die Titel von Demokrit^s
Schriften lassen vermuthen, dass er auch in dieser Hinsicht klar und bestimmt
verfahren ist. Piaton freilich fasste die schriftstellerische Thätigkeit wesentlich
unter dem Gesichtspunkte des Künstlers auf; aber die trennende Disposition der
Probleme, welche wir in seinen Dialogen vermissen, hat seiner Lehrthätigkeit
offenbar nicht gefehlt. In seiner Schule ist die Eintheilung der Philosophie in
Dialectik, Physik und Ethik herrschend gewesen.
Wenn dabei unter Dialectik wesentlich die Ideenlehre in ihrer metaphysi-
schen Ausbildung zu verstehen ist, so hat Aristoteles den grossen Fortschritt
gemacht, dass er der sachlichen Untersuchung auf allen drei Gebieten eiiie Unter-
weisung über das Wesen der Wissenschaft, eine Lehre von den Formen
und Gesetzen des wissenschaftlichen Denkens vorausschickte. Schon bei den
Sophisten und Sokrates hatte die Besinnung darauf begonnen, worin eigentlich
die wissenschaftliche Thätigkeit bestehe, und die geschärfte Aufmerksamkeit auf
die inneren Vorgänge hatte es dem abstrahirenden Denker ermöglicht, die all-
gemeinen Formen des Denkprocesses selbst von den jeweiligen Inhalten, auf die
sich derselbe bezieht, abzulösen. Alle diese Ansätze und Versuche — denn
darüber hinaus war es auch bei Piaton nicht gekommen — hat nun Aristoteles
in seiner Logik zusammengefasst und zu einem System vollendet, in dem wir
die reife Selbsterkenntniss der griechischen Wissenschaft zu sehen haben.
1. Der nächste Zweck der aristotelischen Logik ist nach den ausdrücklichen
Erklärungen des Philosophen durchaus methodologisch. Es soll der Weg
gezeigt werden, auf dem in allen Gebieten des Wissens das Ziel wissenschaft-
licher Erkenntniss erreicht werden kann. Wie in der Rhetorik die Kunst des
Ueberredens, so wird in der Logik die Kunst des wissenschaftlichen Forschens,
Erkennens und Beweisens gelehrt. Deshalb hat Aristoteles die Logik, die seine
§ 13. Aristotelische Logik. 103
grösste Schöpfung war, unter den philosophischen Disciplinen selbst nicht auf-
gezahlt^ sondern sie im Zusammenhange seiner Vorträge als Propädeutik behau«
delt; und deshalb hat seine Schule diese Lehre als das allgemeine Werkzeug
(SpYoivov) für alle wissenschaftliche Arbeit betrachtet.
Aber diese Vorbereitung selbst ist nun von Aristoteles schon zu einer
Wissenschaft gemacht worden; statt der Aufstellung einzelner praktisch ver-
werthbarer Regeln^ wie es wohl bei den Sophisten der Fall gewesen sein mag,
statt der allgemeinen Fixirung eines Princips^ welche das Verdienst des Sokrates
gewesen war, bietet er eine allseitige Durchforschung der Denkthätigkeit; eine
umfassende Untersuchung ihrer gesetzmässigen Formen. Er erfüllt die metho-
dologische Aufgabe durch die formale Logik.
Dabei aber erweist sich, dass die Erkenntniss der Formen des richtigen
Denkens nur aus demVerständniss seiner Aufgabe gewonnen, diese Aufgabe aber
wiederum nur aus einer bestimmten Vorstellung von dem allgemeinen Verbal tniss
des Erkennens zu seinem Gegenstande entwickelt werden kann. So hängt die
aristotelische Logik auf das Engste mit der metaphysischen Voraussetzung zu-
sammen, die auch seiner Bearbeitung der übrigen Disciplinen zu Grunde ge-
legen hat: sie ist ihrem Princip nach durchaus erkenntnisstheoretisch.
2. Damit aber wurzelt sie in der sokratisch-platonischen Ideenlehre. Das
wahrhaft Seiende ist das Allgemeine, und seine Erkenntniss ist der Begriff.
Li dieser Hinsicht ist Aristoteles immer Platoniker geblieben. Was er an seinem
grossen Vorgänger bekämpfte '); war nur die eleatische Beziehungslosig-
keit, welche derselbe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen
Ideen und Erscheinungen, zwischen Begriffen und Wahrnehmungen angenommen
und trotz aller Bemühungen auch in der späteren Phase seiner Lehre nicht über-
wunden hatte. Auch als die Zweckursache des Geschehens blieben die Ideen
eine Welt für sich neben (icapd) den Erscheinungen. Dies Auseinanderreissen
(XcopiCeiy) des Wesens und der Erscheinung, des Seins und des Werdens ist neben
den einzelnen dialectischen Einwänden ^) der Gegenstand des Hauptvorwurfs, wel-
chen Aristoteles gegen die Ideenlehre erhebt. Wenn Piaton aus dem Allgemeinen,
das der Begriff erkennt, und dem Besonderen, das wahrgenommen wird, zwei
verschiedene Welten gemacht hatte, so ist das ganze Bestreben des Aristoteles
darauf gerichtet, diese Spaltung im Begriffe der Wirklichkeit wieder aufzuheben
und zwischen Idee und Erscheinung diejenige Beziehung aufzufinden, welche die
begriffiche Erkenntniss zur Erklärung des Wahrgenommenen befähigt.
Daraus erwächst für die Logik vor Allem die Aufgabe, das rechte Ver-
hältniss zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu erkennen,
und deshalb steht diese schon von Sokrates erkannte Grundform des begrifSichen
Denkens im Mittelpunkte der aristotelischen Logik.
Die Bedeutung desselben erwächst aber auch noch auf einem anderen Wege.
Wenn Aristoteles irgend welche Vorarbeiten für seine Theorie der Wissenschaft
1) Hauptsächlich Met. I 9 und XITI 4. — 2) Von diesen sind nebenbei hauptsächlich
zwei erwähnenswerth : der eine folgert aus der logischen Subordination, die wieder zwischen
den Ideen obwaltet, dass jedes Wahrnehmungsding unter eine Menge von Ideen subsumirt
werden muss; der andere macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, dass die Aehnlichkeit,
welche zwischen Idee und Erscheinung bestehen soll, noch ein höheres Allgemeineres über
beiden nothwendig macht, u. s. f. in infinitum (ÄvO-pioicoi; — aötayd-ptoito? — t p 1 1 o ^
S V ^ p (0 IC 0 ^),
104 ^* Philosophie der Gkieohen. 8. Systematische Periode.
vorgefunden hat; so bestanden sie in den Ueberlegungen der Sophisten über die
(zunächst rhetorische) Kunst des Be weise ns und Widerlegens. Fragte aber
nun Aristoteles, wie man wissenschaftlich; d. h. in aUgemeingiltiger, auf die
wahre Erkenntniss gerichteter Weise etwas beweisen könne, so fand er, dass dies
nur in der Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen bestehen
kann. Wissenschaftlich beweisen, heisst die Gründe für die Geltung des Behaup-
teten angeben, und diese sind nur in dem Allgemeineren zu finden, dem das Ein-
zelne unterstellt ist.
Hieraus ergab sich nun die eigenthümliche Verwicklung, welche den aristo-
telischen Begriff der Wissenschalt ausmacht. Das Allgemeine, die Idee, ist als
das wahrhafte Sein die Ursache des Geschehens, dasjenige also, woraus und wo-,
durch das wahrgenommene Einzelne begriffen oder erklärt werden soll. Die
Wissenschaft hat darzustellen, wie aus dem begrifflich erkannten Allgemeinen das
wahrgenommene Einzelne folgt. Das Allgemeine ist aber andrerseits im Denken
der Grund, durch welchen und aus welchem das Besondere bewiesen wird.
Danach ist das Begreifen und das Beweisen dasselbe : Ableitung des Beson-
deren aus dem Allgemeinen.
In dem Begriffe der Ableitung (aitöSeiStc, Deduction) concentrirt
sich somit die Wissenschaftstheorie des Aristoteles: die wissenschaftliche Erklä-
rung der Erscheinungen aus dem wahrhaften Sein ist derselbe logische Process
wie das wissenschaftliche Beweisen, nämlich die Ableitung des in der Wahr-
nehmung Gegebenen aus seinem allgemeinen Grunde. Erklären und Beweisen
werden deshalb mit demselben Worte „Ableitung" bezeichnet, und der rechte
Beweis ist derjenige, welcher zum Beweisgrund die wirkliche, allgemeine Ursache
des zu Beweisenden nimmt *). Die Aufgabe der Wissenschalt ist also , die
logische Nothwendigkeit aufzuzeigen, mit der wie die besonderen Erschei--
nungen aus den allgemeinen Ursachen, so auch die besonderen Einsichten (der
Wahrnehmung) aus den allgemeinen Einsichten (der Begriffe) folgen.
Diese aus den metaphysischen Voraussetzungen entwickelte Bestimmung
der Aufgabe der Wissenschaft hat nun aber im Fortgange der Untersuchungen
eine wesentliche Veränderung erfahren.
3. Die nächste Aufgabe der Logik ist hiernach die genauere Feststellung
darüber, was eigentÜch Ableitung, d. h. einerseits Beweis, andrerseits
Erklärung ist, oder die Darstellung derjenigen Formen, in denen das Denken
die Abhängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen erkennt. Diese
Theorie hat Aristoteles in der Analytik gegeben, dem logischen Grundwerke,
welches in synthetischem Aufbau im ersten Theil vom Schluss, im zweiten vom
Ableiten, Beweisen und Begreifen handelt. Denn bei der Zerlegung der Denk-
thätigkeiten, aus welchen alles Ableiten besteht, ergiebt sich als einfache Grund-
form die Ableitung eines Satzes, einer Behauptung aus anderen, d. h. der Schluss
((3t)XXo7i(3[i6c).
Die Syllogistik (Schlusslehre) ist damit der Kernpunkt der aristoteli-
1) Diese BegrifTsbestimmong des 'wissenschaftlichenBeweisesist sichtlich gegen
den rhetorischen Beweis (der Sopliisten) gerichtet. In der Kunst des Ueberredens sind alle
Beweise willkommene, so äusserlich sie dem wahren Wesen der Sache bleiben mögen, sofern
sie nur formell so weit genügen, um den Zuhörer zur Zustimmung zu bringen. Der wissen-
schaftliche Beweis aber soll von der inneren, logischen Nothwendiffkeit der Sache ausgehen
mid deshalb zugleich die Einsicht in die wahre Ursache des zu Beweisenden wiedergeben.
§ 12. Aristotelische Logik. 105
sehen Logik geworden: auf sie ist alles zugespitzt^ was er (wie es scheint nur in
allgemeinsten Zügen) über die dem Schluss zu Grrunde liegenden Denkformen
gelehrt hat; aus ihr ergeben sich alle Gesichtspunkte seiner Methodologie.
Die Grundzüge dieser Lehre, welche den Grundstock der traditionellen
Logik bis auf den heutigen Tag bilden^ sind folgende. Der Schluss ist die Ab-
leitung eines Urtheils aus zwei anderen. Da in einem Urtheile ein BegriflF (das
Prädicat) Ton einem anderen Begriffe (dem Sübject) ausgesagt wird, so kann
diese Aussage nur begründet werden, indem die zu beweisende Verbindung zwi-
schen beiden durch einen dritten Begriff, den Mittelbegriff ((liaov, medius ter-
minus) vermittelt wird. Dieser dritte Begriff muss also mit den beiden anderen
in irgend welchen Beziehungen stehen, und diese müssen in zwei Urtheilen aus-
gedrückt sein, welche die Prämissen (wpotdiosK;) des Schlusses heissen. Das
Schliessen besteht in dem Denkprocess, welcher aus den Verhältnissen, worin
sich ein und derselbe Begriff (der Mittelbegriff) zu zwei anderen Begriffen befin-
det, das Verhältniss dieser beiden Begriffe zu einander ausfindig macht.
Von den zwischen Begriffen möglichen Verhältnissen ist es nun aber nur
eins, auf welches, ihren allgemeinen Voraussetzungen gemäss, die aristotelische
Syllogistik ihr Augenmerk gerichtet hat: das Verhältniss der Unterordnung
des Biesonderen unter das Allgemeine. Es fragt sich für diese Theorie immer
nur darum, ob der eine Begriff (das Subject) dem anderen (dem Prädicat) unter-
geordnet werden soll oder nicht. Die Syllogistik hat es nur mit der Erkenntniss
derjenigen Denkformen zu thun, nach denen mit Hilfe eines Zwischenbegriffs
entschieden werden soll, ob eine Unterordnung eines Begriffs unter
einen anderen stattfindet oder nicht. Diese Frage hat Aristoteles in
geradezu erschöpfender Weise gelöst : darin besteht der bleibende Werth seiner
Syllogistik, aber auch die Grenze ihrer Bedeutung.
Dementsprechend hat denn auch Aristoteles in seiner Theorie des
Urtheils wesentlich nur die beiden Momente behandelt, welche für diesen Zweck
in Betracht kommen: erstens die Quantität, welche die Art der Unterordnung
des Subjects unter das Prädicat dem Umfange nach bestimmt und die Unter-
schiede des generellen, particularen und singularen Urtheils ergiebt, und zweitens
die Qualität, wonach diese Unterordnung entweder behauptet oder verneint,
zwischen den Umfangen beider Begriffe also das Verhältniss entweder der Ver-
bundenheit oder der Trennung ausgesprochen wird.
Darum bestimmen sich nun auch die Arten (cj)(>]jAoiTa, Figuren) der Schlüsse
wesentlich nach der Art und Weise, wie die Unterordnungsverhältnisse der
Begriffe, in den Prämissen gegeben, die im Schlusssatz gesuchte Unterordnung
bestimmen, ein Verhältniss, das äusserlich in der Stellung des Mittelbegriffs in den
beiden Prämissen zum Ausdruck kommt, indem derselbe entweder einmal Subject
und einmal Prädicat oder beidemal Prädicat oder beidemal Subject ist. Als die
werthvoUste und ursprünglichste dieser drei Figuren aber bezeichnete Aristoteles
fölgerichtlich die erste, weil in ihr das Princip der Unterordnung rein und klar zum
Ausdruck kommt, indem das Subject des Schlusssatzes dem Mittelbegriff und mit
demselben, in dessen Umfang es fallt, dem Prädicat untergeordnet wird *).
1) Die einzelnen Bestimmungen können hier nicht entwickelt werden. Vgl. im All-
gemeinen : F. Kampe, Die Erkenntnisstheorie des Aristoteles (Leipzig 1870). R. Eugken, Die
Methode der aristotelischen Forschung (Berlin 1872).
106 !• Philosophie der Griechen. 8. Systematische Periode.
4. War aber dasSchliesseii; und damit das Ableiten; Beweisen und Erklären
in dieser Weise bestimmt, so ergab sich, dass durch diese der Wissenschaft
wesentliche Thätigkeit nur immer Sätze von geringerer Allgemeinheit von solchen
höherer Allgemeinheit abgeleitet; d. h. dass durch das Schliessen aus den
Prämissen niemals gleich Allgemeines, geschweige denn Allgemeineres begründet
werden kann. Die eigen thümliche Gebundenheit der antiken Vorstellung vom
Wesen des Denkens, wonach dasselbe nur Gegebenes auffassen und aus einander
legen, aber nichts Neues erzeugen kann, kommt auch in dieser Bestimmung der
aristotelischen Logik zur Geltung. Daraus folgte aber unmittelbar, dass die
ableitende, beweisende und erklärende Wissenschaft zwar im Einzelnen das, was
im Syllogismus als Prämisse gedient hatte, wieder als Schlusssatz eines noch all-
gemeineren Syllogismus abzuleiten vermochte, aber schliesslich dochvon Prämissen
ausgehen musste, welche selbst keines Ableitens, Beweisensund Begreifens, keiner
Zurückführung auf Mittelbegriffe mehr fähig sind, und deren Wahrheit daher
unmittelbar ($|JLsaa), unableitbar, unbeweisbar und unbegreiflich ist. Alles
Ableiten bedarf eines ursprünglichen, alles Beweisen eines unbeweisbaren Grundes,
alles Erklären eines unerklärlich Gegebenen.
Die apodeiktische, beweisende und erklärende Thätigkeit der Wissenschaft
hat also eine Grenze : die letzten Gründe des Beweisens sind nicht zu beweisen ;
die letzten Ursachen des Erklärens sind nicht zu erklären. Soll daher die
Wissenschaft ihre Aufgabe, dieim Erklären desBesonderen durch das Allgemeine
besteht, erfüllen, so muss sie vorerst von dem Besonderen aus bis zu demjenigen
Allgemeinen vordringen, bei dem sich das Beweisen und Erklären von selbst ver-
bietet, weil es, unmittelbar gewiss, sich als unableitbar und unbeweisbar geltend
macht. Dem Ableiten also. Beweisen und Erklären, worin die letzte Aufgabe
der Wissenschaft besteht, muss das Aufsuchen der Ausgangspunkte der Ableitung,
der letzten Beweisgründe und der höchsten Erklärungsprincipien vorausgehen.
Die darauf gerichtete Thätigkeit des Denkens nennt Aristoteles Dialectik, und
ihre Grundsäzte hat er in der Topik niedergelegt.
Diesem Aufsuchen der Gründe wohnt, der Natur der Sache, nicht
die gleiche „apodictische" Gewissheit bei, wie dem^ Ableiten der Polgen aus den
einmal festgestellten Gründen. Das Forschen geht von dem in der Wahrnehmung
gegebenen Besonderen und von den in der gewöhnlichen Ansicht umlaufenden
Vorstellungen (&/8o$ov) aus, um das Allgemeine zu finden, aus dem dann das
Besondere bewiesen imd erklärt werden kann. Die Forschung also geht den
umgekehrten Weg wie die Ableitung: diese ist deductiv, jeneinductiv, e p ago gis eh.
Diese geht beweisend und erklärend vom Allgemeinen zum Besonderen, jene
suchend und probirend vom Besonderen zum Allgemeinen *). Nur die fertige
Wissenschaft ist „apodeiktisch": die werdende ist epagogisch.
Bei allen diesen Untersuchungen und den darin auftretenden Gegensätzen
handelt es sich für Aristoteles zwar meist um die Urtheile, aber im Zusammen-
hange damit doch auch um die B egriffe. Wie ein Urtheil bewiesen, abgeleitet
1) Dies umgekehrte Verhältniss zwischen Ableitung und Aufsuchung hat Aristoteles
dahin ausgesprochen, dass das, was der Natur der Sache nach das Ursprüngliche (jcpotspov t^
(p'jae:), also das Allgemeine ist, für die menschliche Erkcnutniss das SpäterCi erst zu Ge-
winnende (uatepov Tzpbq "W^^) ^^d dass umgekehrt das für uns Nächstliegende (icporepoy icpö^
•Jjpi&^), das Einzelne, dem wahren "Wesen nach das Abgeleitete^ Spätere (ootepov x^ 'foott) sei.
§ 18. System der Entwicklung. (Aristoteles.) 107
wird; indem es vennöge des Mittelbegriffs aus allgemeineretiUrtheilen erschlossen
wird, so wird ein Begriff abgeleitet, indem er aus einem allgemeineren
(der nächst höheren Gattung, '(^oc;, genus) durch Hinzuiiigung eines besonderen
Merkmales (Sta^opd, differentiaspecifica) gebildet wird : diese Ableitung des Begriffs
ist die Definition (öptojiö^). Wie aber die Ableitung der Sätze schliesslich
allgemeinste Prämissen voraussetzt, die nicht mehr bewiesen werden können,
so geht auch die Definition der niederen Begriffe zuletzt auf allgemeinste Begriffe
zurück, welche sich jeder Ableitung und Erklärung entziehen : auch diese Begriffe
müssen, wie die höchsten Prämissen des Beweisens, epagogisch gesucht *) werden^
und es scheint, als habe Aristoteles jene allgemeinsten Sätze für die Erläuterungen
dieser allgemeinsten Begriffe angesehen.
5. Unter den Lehrbüchern, die Aristoteles hinterlassen hat, sind die beiden
logischen Hauptschriften, die Analytik und die Topik, die bei weitem am meisten
dem Abschluss nahe gebrachten^): daraus mag es sich erklären, dass die logischen
Anforderungen, welche der Philosoph an die Wissenschaft stellte, so klar und sicher
entwickelt sind, dass aber die vorliegende Ausführung seines Systems die danach
zu stellenden Erwartungen nur in geringerem Masse eriuUt.
Offenbar nämlich sollte hiemach eine sichere Angabe darüber gemacht
werden können, was nun der Philosoph für jene unmittelbar gewissen, höchsten
Sätze oder Begriffe erklärt habe, die das Resultat der Forschung und der Aus-
gangspunkt des Beweisens und Erklärens sein sollen. Wer aber danach fragt,
sieht sich der Lehre des Aristoteles gegenüber in grosser Verlegenheit. Von all-
gemeinen Sätzen ist es nur ein einziges Princip, der Satz vom Widerspruch'),
welchen er theils in der rein logischen Fassung, dass Bejahung und Verneinung
derselben Begriffsverknüpfung sich gegenseitig ausschliessen, theils in der meta-
physischen Wendung, dass ein Ding nicht dasselbe sein und auch nicht sein
könne, als einen unbeweisbaren Obersatz für alle Beweise hingestellt hat: daneben
aber macht er lieber darauf aufmerksam, dass jedes Gebiet des Erkennens seine
eigenen letzten Voraussetzungen habe, ohne dieselben näher anzugeben.
Sucht man aber nach den obersten Begriffen, so hat man — abgesehen
von dem auch hier statthaften Verweis auf die Besonderheit der einzelnen Dis-
ciplinen — die von Aristoteles nicht entschiedene Wahl zwischen den vier „Prin-
cipien" (ap^aQ der Metaphysik oder den „Kategorien", welche als die Grund-
formen der Aussage über das Seiende bezeichnet werden. In beiden Fällen
aber befindet man sich damit bereits mitten in den sachUchen Bestimmungen
seiner Lehre.
% 18. Das System der Entwicklang.
Der Eindruck des vollkommen Neuen, welchen die Logik des Aristoteles
sämmtlichen früheren Erscheinungen der griechischen Wissenschaft gegenüber
1) Der Determination (irposd^soi^), als der Ableitung eines Be^rnffs aus dem höheren durch
Hinzufügung eines neuen Merkmals, steht also als Frocess der Bildung von (Tattungsbegriffen
die Abstraction (i(pa''psa'.^) gegenüber, welche durch Fortnahmc einzelner Merkmale den in-
haltlich ärmeren, aber nm&nglich reicheren BegriflT gewinnt. Die Begriffsbildung ist danach bei
Aristoteles wieder durchaus analytisch, während sie bei Piaton intuitiv gewesen war. Aristo-
teles hat sich zuerst von der optischen Analogie, nach der auch bei Demokrit und Piaton der
Erkenntnissvorgang des Denkens betrachtet wurde, frei gemacht. — 2) Bei der Topik scheint
derselbe sogar erreicht. — 3) Met. IV 3 if .
108 I. Philosophie def GWechen. 3. Systematische Periode.
macht, beruht hauptsächlich auf der hochgradigen Fähigkeit des abstracten
Denkens, welche diese geniale Ablösung der allgemeinen Formen des Denkens
von jedem nur immer möglichen Inhalte voraussetzt. Diese Virtuosität der abs-
trahirenden BegrifFsbildung hat Aristoteles auf allen Gebieten seiner wissien-
schaftlichen Arbeit bethätigt, und wenn der „Vater der Logik** der philosophische
Lehrer für zwei Jahrtausende geworden ist, so verdankt er diesen Erfolg in
erster Linie der Sicherheit, Klarheit und Consequenz seiner Begriffsbestimmungen.
Er hat die von Sokrates gestellte Aufgabe erfüllt, und er hat damit die Sprache
der Wissenschaft geschaffen. Der Grundstock der wissenschaftlichen Begriffe
und der Ausdrücke, die wir noch heute überall gebrauchen, geht auf seine Formu-
lirungen zurück.
Mit dieser Neigung zur Abstraction hängt es nun auch zusammen, dass Ari-
stoteles das Grundproblem der griechischen Philosophie, wie hinter der
wechselnden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ein einheitliches und bleibendes
Sein zu denken sei, durch einen ^^ziehungsbegriff, denjenigen der Entwick-
lung gelöst hat. Noch seine beiden grossen Vorgänger hatten eine besondere
Inhaltsbestimmung ftir den Begriff des wahren Seins versucht: Demokrit hatte die
Atome und ihre Bewegung, Piaton die Ideen und ihre Zweckbestimmung für die
von den Erscheinungen selbst verschiedene Ursache derselben angesehen. Aristo-
teles aber bestimmte das Seiende als das sich in den Erscheinungen selbst
entwickelnde Wesen. Er verzichtete darauf, etwas von den Erscheinungen
selbst Verschiedenes (eine zweite Welt) als ihre Ursache auszudenken, und er lehrte,
dass das im Begriff erkannte Sein der Dinge keine andere Wirklichkeit besitze,
als die Gesammtheit der Erscheinungen, in denen es sich verwirkliche. So
betrachtet nimmt das Sein (ooola) den Charakter des Wesens (tö ti -^v etvat) an,
welches den alleinigen Grund seiner einzelnen Gestaltungen bildet, aber nur in
diesen selbst wirklich ist, und alle Erscheinung wird zur Verwirklichung
des Wesens. Dies ist der Beziehungsbegriff, durch welchen Aristoteles den
Gegensatz der heraklitischen und der eleatischen Metaphysik überwunden hat.
1, Im Besonderen aber stellt sich nun für Aristoteles die Entwicklung als
dasVerhältniss vonFormund Stoffdar(eI8o<;, [i.op^TQ — oXtj). Hatte Piaton *)
die Erscheinungswelt für eine Mischung des „ Unbegrenzten " und der „ Begrenzung"
erklärt, so hält sich Aristoteles an die Beobachtung, dass in jedem Dinge der Er-
scheinungswelt geformter Stoff vorliegt. Nur ist ihm dieser Stoff zwar auch an
sich unbestimmt, aber doch nicht der blosse gleichgiltig leere Raum, sondern ein
korperüches Substrat (i)7cox6t[tsvov) : nur ist ihm diese Form nicht bloss die
mathematische Grenze, sondern die inhaltlich durch das Wesen bestimmte Ge-
stalt. Der Stoff oder die Materie ist die Möglichkeit dessen, was in dem fertigen
Dinge vermöge der Form wirklich geworden ist. In der Materie also ist das
Wesen (oioia) nur der Möglichkeit nach (8üvdt|i6t, potentia) gegeben, erst ver-
möge der Form ist es in Wirklichkeit (svspYsicf, actu). Das Geschehen aber
ist derjenige Vorgang, in welchem das Wesen aus der blossen Möglichkeit durch
die Form in die Verwirklichung übergeht. Das Wesen hat nicht neben den
Erscheinungen irgend eine zweite, höhere Wirklichkeit, sondern es ist nur in der
1) Die Grundzüge der aristotelischen Metaphysik entwickeln sich am einfachsten aus
derjenigen Phase der platonischen, welche im Philebos vorgetragen ist (vgl. oben § 11, Nr. 9).
Vgl. J. C. Glasee, Die Metaphysik des Aristoteles (Berlin 1841J.
§ 13. System der Entwicklung. (Aristoteles.)
109
Reihenfolge seiner Erscheinungen, vermöge deren es seine eigene Möglichkeit
verwirklicht. Das Allgemeine ist nur im Besonderen wirklich, das Besondere ist
nur, weil in ihm sich das Allgemeine verwirkUcht.
Mit dieser Umbildung der Ideenlehre löst Aristoteles das Grundproblem
der theoretischen Philosophie der Griechen : das Sein so zu denken, dass aus ihm
das Geschehen erklärt wird. Vom Hylozoismus der Milesier an bis zu den gegen-
sätzlichen Theorien seiner beiden grossen Vorgänger sind alle Standpunkte der
griechischen Metaphysik als Momente in dieser Lehre des Aristoteles enthalten :
das im Begriff erkannte Sein ist das allgemeine Wesen, welches sich in seinen
besonderen Erscheinungen aus der Möglichkeit her durch die Form verwirklicht,
und der Vorgang dieser VerwirkUchung ist die Bewegung. Das Sein ist das, was
im Geschehen zu Stande kommt. Diese Selbstverwii-klichung des Wesens in den
Erscheinungen nennt Aristoteles Entelechie (ivusXdxsta).
2. Der Schwerpunkt der aristotelischen Philosophie liegt also in diesem
neuen Begriffe des Geschehens als der Verwirklichung des Wesens
in der Erscheinung, und ihr Gegensatz gegen die frühere Naturerklärung
besteht deshalb in der begrifflichen Durchführung der Teleologie,
welche Piaton nur als Postulat, aufgestellt und in mythischer Bildlichkeit ent-
wickelt hatte. Während die frühere Metaphysik als das typische Grundverhältniss
des Geschehens den mechanischen Vorgang von Druck und Stoss angesehen
hatte, betrachtete Aristoteles als solches die Entwicklung der Organismen und die
bildende Thätigkeit des Menschen. Aus diesen beiden Gebieten entnahm er seine
Beispiele, wo er den metaphysischen Charakter des Geschehens erläutern wollte ^).
Doch ist das Verhältniss von Form und Stoff in beiden Arten des zweck-
mässigen Geschehens nicht völlig das gleiche, und die Verschiedenheit beider
macht sich daher in der Ausfulirung des aristotelischen Grundgedankens überall
geltend. In dem Falle des organischen Geschehens nämlich sind Stoff und Form
in der That die beiden nur durch die Abstraction trennbaren Seiten einer und
derselben von Anfang bis zu Ende mit einander identischen Wirklichkeit: schon
im Keim, der in der Entwicklung das Wesen zur Entfaltung bringt, ist die Materie
innerlich durch die Form gestaltet. Beim künstlerischen Bilden dagegen besteht
zunächst das Material, das die Möglichkeit enthält, für sich, und erst die zweck-
thätige Arbeit des Künstlers tritt hinzu, um durch die Bewegung daraus die Ge
stalt zu erzeugen.
Im letzteren Falle ist daher die Entwicklung unter vier Principien zu
betrachten: es sind die Materie, die Form, der Zweck des Geschehens und
die Ursache desselben.
Im ersteren Falle dagegen sind der Materie gegenüber die drei anderen
Principien nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, indem die Form so-
wohl die Ursache als auch das Ergebniss des Geschehens bildet.
Hiemach findet nun in der Anwendung auf die Welterkenntniss jene Grund-
beziehung von Form und Stoff eine doppelte Ausführung : einerseits werden die
einzelnen Dinge als sich selbst realisirende Formen, andrerseits werden die
Dinge im Verhältniss zu einander das eine als Materie, das andere als Form
betrachtet. Diese beiden Verwendungen des Grundprincips gehen durch das
1) Ausser der Metaphysik ist nameptlicb die Physik auf diese Fragen eingegangen.
110 !• Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
ganze aristotelische System neben einander her und stossen in den allgemeinen
Bestimmungen zum Theil so auf einander, dass nur durch ihre Scheidung schein-
bare Widersprüche aus dem Wege geräumt werden können.
3. In ersterer Hinsicht ergiebt sich, dass für die aristotelische WeltaufFas-
sung, im Gegensatze sowohl zur demokritischen als auch zur platonischen, das
wahrhaft WirkUche das durch seine Form in sich bestimmte Einzel ding ist.
Ihm gebührt daher zunächst der Name des Wesens oder der Substanz: ooota.
Das Wesen aber entwickelt sich und verwirklicht sich in den einzelnen Bestim-
mungen, welche theils seine Zustände (tc^l^), theils seine Beziehungen zu
anderen Dingen (ta zp6<; tt) sind '). Die Erkenntniss hat daher dies, was dem
Dinge zugehört (ta oofißsßTjxÖTa), von ihm auszusagen, während das Einzelding
selbst von nichts Anderem ausgesagt werden, d. h. im Satze nur Subject und nie
Prädicat sein kann*). Von diesen Erscheinungsweisen der Substanz oder von den
über sie möglichen Aussagen, Kategorien zählt Aristoteles auf: Quantität
(7C0(3Öv), Qualität (;roiöv), Relation (irpöc tt), räumliche und zeitliche Bestimmung
(ttoö, i:Qzi)j Thun (iroisfv) und Leiden (icao/stv); und daneben auch Sichbefinden
(xsiod-at) und Sichverhalten (S/etv). Diese Zusammenstellung (mit Einschluss der
Substanz also 10 Kategorien), bei der vielleicht grammatische Beobachtungen
mitgewirkt haben, soll die obersten Gattungen darstellen, unter welche alle
möglichen Yorstellungsinhalte zu subsumiren sind : doch hat Aristoteles davon
keinen methodischen Gebrauch gemacht, und seine Kategorienlehre hat daher,
abgesehen von jenem Yerhältniss der Substanz zu ihren Bestimmungen, in seiner
Metaphysik keine Bedeutung gewonnen.
Je schärfer so Aristoteles den wissenschaftlichen Substanzbegriff in seiner
logischen und metaphysischen Bestimmung ausgebildet hat, so verwunderhch
kann es auf den ersten Blick erscheinen, dass er weder ein methodisches noch ein
sachliches Princip angegeben hat, nach dem zu entscheiden wäre, welches nun
eigentlich diese wahrhaft seienden Einzeldinge in seinem Sinne sind. Klar ist
nur, dass er einerseits nicht jedes Beliebige, was gelegentlich in der Erfahrung
als ein von den übrigen getrenntes Ding erscheint, als Wesen gelten liess, andrer-
seits, dass er den organischen Individuen, den einzelnen Menschen diesen Charak-
ter zuschrieb. Im Sinne seiner Lehre wäre es, zu meinen, dass er nur da hätte
von einem „Wesen" reden können, wo eine innere Pormbestimmtheit den Grund
der Zusammengehörigkeit der einzelnen Merkmale bildet, wo also die Erkenntniss
dieses Wesens die Aufgabe der Wissenschaft, das Seiende durch den allgemeinen
Begriff zu bestimmen, insofern löst, als das bleibende Einzelding den Gattungs-
begrifffür alle seine besonderen in der Walirnehmung sich zeigenden Erscheinungs-
weisen bildet.
Aber die sokratisch- platonische Ansicht von der Aufgabe der Wissenschaft
brachte es nun doch mit sich, dass Aristoteles daneben noch wieder das Wesen
des Einzeldinges als dasjenige bestimmte, wodurch dasselbe seiner Gattung zu-
gehört. Wenn die Substanz iliren wahrnehmbaren Erscheinungen und Bestim-
mungen gegenüber das Allgemeine darstellt, so ist andrerseits die Gattung (^ivoc
oder wieder platonisch etSoc) das Allgemeine, welches sich in den einzelnen Sub-
stanzen verwirklicht. Auch hier wiederholt sich dasselbe Yerhältniss: die Gattung
_ . _ »
1) Met. XIV 2, 1089 b 23. — 2) Analyt. post. I 22, 83 a 24.
§13. System der Entwicklung. (Aristoteles.) Hl
besteht nur, insofern sie sich in den einzelnen Dingen als deren wahrhaft seien-
des Wesen verwirklicht, und das einzelne Ding besteht nur, indem in ihm die
Gattung zur Erscheinung kommt. Eben deshalb haben aber auch die Gattungen
den Anspruch auf die metaphysische ßedeutung, Wesenheiten (o&alai) zu sein.
Hierdurch erhält der Begriff der Substanz bei Aristoteles eine eigenthümlich
schillernde Doppelbedeutung. Die eigentlichen Substanzen sind die begrifflich be-
stimmten Einzeldinge; aber eine zweite Art von Substanzen (Seotepai oüauxi')
sind die Gattungen, welche das Wesen der Einzeldinge ebenso ausmachen, wiediese
das Wesen der wahrnehmbaren Erscheinungen.
Ist nun so die wissenschafthche Erkenntniss theils auf den Begriff des Ein-
zeldinges, theils auf den Gattungsbegriff gerichtet, so findet sich in den Erschei-
nungen, worin der eine und gar der andere sich verwirklicht, zwar Manches, was
als direct dem Begriffe zukommend (au(iß6ßY]xöta im engeren Sinne) aus demselben
abgeleitet werden kann, Manches aber auch, was, dem Begriffe fremd, nur neben-
sächlich an ihm als Folge der Materie, worin er sich realisirt, im Besonderen
erscheint, und von diesem begrifiiich Gleichgiltigen oder „Zufälligen" (oofji-
ßsßijxÖTa im gewöhnlichen Sinne des Wortes) giebt es den Voraussetzungen der
aristotelischen Lehre nach keine „Theorie", keine wissenschafthche Erkenntniss.
Daher hat auch Aristoteles — und hierin liegt eine charakteristische Grenze der
antiken Naturforschung — auf eine wissenschaftliche Einsicht in die gesetzliche
Nothwendigkeit, mit der auch das Einzelste, Besonderste aus dem Allgemeinen
folgt, sogar principiell verzichtet, dies vielmehr fiir ein realiter Zufalliges, Be-
griffloses erklärt und die wissenschaftliche Betrachtung auf dasjenige beschränkt,
was allgemein (xad-' oXod) oder wenigstens meist (itd tö noki) gilt.
4. Wenn hierin entschieden ein Festhalten an der Tradition der Ideenlehre
zu sehen ist, so zeigt sich dasselbe auch in der anderen Richtung. Wird nämlich
das Verhältniss von Stoff und Form zwischen verschiedenen Dingen oder Ding-
gattungen statuirt, von denen jedes an sich schon als geformter Stoff wirkUch ist,
so wird dies Verhältniss insofern relativ, als Dasselbe, was dem Niederen gegen-
über als Form zu betrachten ist, dem Höheren gegenüber als Stoff erscheint. In
dieser Hinsicht wird der Begriff der Entwicklung zum Princip einer metaphy--
sischen Werthordnung der Dinge, welche in ununterbrochener Reihenfolge
von den niedersten Gestaltungen der Materie bis zu den höchsten Formen auf-
steigen. In dieser Stufenleiter wird jeder Dinggattung ihre metaphysische Dignität
dadurch angewiesen, dass sie als die Form der niederen und als der Stoff der
höheren betrachtet wird.
Dies Systemder Einzeldinge und ihrer Gattungen hat aber sowohl eine untere,
als auch eine obere Grenze, — jene in der blossen Materie, diese dagegen in der
reinen Form. Die vöUig ungeformte Materie freilich (xpwtT) oXt)) ist an sich, als
blosse MögUchkeit, nicht wirklich, sie existirt nirgends ohne schon irgendwie als
Form verwirkhcht zu sein. Aber sie ist doch nicht nur das Nicht-seiende (das
platonische [xy] Sv oder der leere Baum), sondern die durch reale Wirkungen sich
bethätigende Mitursache (tö od o&x Svsd). Ihre Realität erweist sich aber darin,
dass die Formen sich in den einzelnen Dingen nicht vollständig realisiren, dass
1) So heissen aie wenigstens in der Schrift über die Kategorien, deren Echtheit freilich
nicht ganz unangefochten ist : doch heg^ die Bezeichnung ganz in der Hichtung von Aristoteles'
gesammter Lehre.
112 I- Philosophie der Griechen. 3. Systematische Periode.
aus ihr Nebenwirkungen (irapa^f i>dc) hervorgehen^ welche mit der zweckthätigen
Form ohne Zusammenhang oder im Widerspruche sind. Aus der Materie also
erklärt es sich^ dass die Formen sich nur nach Möglichkeit (xata xb Suvatöv)
reaUsiren: aus ihr stammt das begrifflich nicht Bestimmte (aofißsßifpcöc) oder das
Zufallige (aütöfiarov), das Gesetz- und Zwecklose in der Natur. Daher unter-
scheidet die aristotelische Lehre (wie Piaton im Philebos) in der Naturerklärung
zwischen den Zweckursachen (t6 oo evsxa) und den mechanischenUrsachen
(tö s4 avdYXTjc): jene sind die Formen, welche sich im Stoflf reahsiren, diese be-
ruhen in dem Stoff, aus welchem Nebenwirkungen und Gegenwirkungen hervor-
gehen. So wird das Weltgeschehen bei Aristoteles in letzter Instanz unter der
Analogie des bildenden Künstlers betrachtet, der für die Verwirklichung
seines gestaltenden Gedankens in dem spröden Material eine Grenze findet. Zwar
ist dies Material der Idee soweit verwandt, dass sie wenigstens im Allgemeinen
sich darin darstellen kann ; aber es ist doch insofern ein Fremdes und dabei
Selbständiges, dass es der Itealisirung der Formen zum Tbeil als hemmendes
P r i n c i p entgegensteht. Diesen Dualismus zwischen der Z weci^thätigkeit der
Form und dem Widerstände der Materie hat die antike Philosophie nicht über-
schritten: sie verband mit der Forderung der teleologischen Weltbetrachtung
die naive Ehrlichkeit der Erfahrung von der zwecklosen und zweckvridrigen Noth-
wendigkeit, die sich in den Erscheinungen der Wirklichkeit geltend macht.
5. Dagegen versteht es sich andrerseits bei der reinen Form, da mit dem
Begriffe derselben unmittelbar derjenige wahrer Wirklichkeit verbunden ist, ■ von
selbst, dass sie, ohne irgend welcher Materie zu bedürfei), an sich die höchste Wirk-
lichkeit besitzt. Die Annahme einer solchen reinen Form ist aber nach dem
Systeme des Aristoteles deshalb nothweudig, weil die Materie, als das bloss
Mögliche, in sich allein kein Princip der Bewegung oder des Geschehens besitzt.
Zwar kann in dem System der Entwicklung, welches sich um den Begriff des sich
selbst verwirklichenden Wesens concentrirt, nicht von einem zeitlichen Anfange
der Bewegung gesprochen werden, da, vielmehr die Bewegung so ewig wie
das Sein selbst sein muss^ zu dessen wesentlichen Merkmalen sie gehört: aber
es muss doch dasjenige im Sein aufgezeigt werden, was Ursache der Bewegu^g ist.
Dies ist aber überall die Einwirkung der Form auf den Stoff, worin Aristoteles Jün-
sichtUch der Einzeldinge zwei Momente unterscheidet : einen Trieb des Stoffes,
geformt zu werden, und die von der Form selbst ausgehende zweckmässige Be-
wegung. Insofern aber die Form selbst bewegt ist, muss sie wieder als Stoff für
eine höhere Form angesehen werden: und, da von der letzteren dasselbe u. s. f.
gilt, so wäre die Bewegung nicht begriffen, wenn nicht die Kette der Bewegungs-
ursachen ein Anfangsglied in der reinen Form hätte, welche selbst nicht mehr
bewegt ist. Das Erste Bewegende (Tcpoitov xivoöv) ist selbst ui)bewegt. Bej
seiner Einwirkung auf den Stoff kommt daher nur das erste jener beiden Momente
in Betracht: es wirkt nicht durch eigene Thätigkeit, sondern dadurch, dass seine
absolute Wirklichkeit in dem Stoff den Trieb erregt, sich nach ihm zu formen, —
nicht als mechanische, sondern als reine Zweckursache (xivsi &<; spcbfisvGv,
00 xtvo6[isvov).
Das Erste Bewegende oder die reine Form bedeutet also in der aristote-
lischen Metaphysik ganz dasselbe, wie die Idee des Guten in der platonischen,
und für sie allein nimmt Aristoteles aJle Prädicate der platonischen Idee in An:
§ 13. System der Entwicklung. (Aristoteles.) 113
Spruch: sie ist ewig, unveränderlich, unbeweglich, ganz für sich, getrennt (^(opiatöv)
von allem Uebrigen, unkörperlich — und dabei doch die Ursache alles Geschehens.
Sie ist das vollkommene Sein (iydp76ta), in dem alle Möglichkeit zugleich Wirk-
lichkeit ist, von allem Seienden das höchste {xb ri 'ijv slvot t6 ^rpö^tov) und beste,
— die Gottheit ').
Das so seinen Beziehungen nach bestimmte höchste Wesen wird aber von
Aristoteles auch seinem Inhalte nach charakterisirt: eine solche, auf keine Mög-
lichkeit bezogene, rein in sich selbst ruhende Thätigkeit (actus purus) ist nur das
Denken: freilich nicht das auf die einzelnen Dinge und ihre veränderlichen Er-
scheinungen gerichtete Vorstellen, sondern das mit sich selbst und seinem ewigen
Wesen beschäftigte reine Denken, dasjenige Denken, welches nichts Anderes
als Gegenstand voraussetzt, sondern sich selbst zum immer gleichen Inhalt hat,
das Denken des Denkens (yörpuz voi^aeax;), — das Selbstbewusstsein.
Diesen BegrifGsbestimmungen wohnt eine gewaltige weltgeschichtliche Be-
deutung inne. Einerseits ist damit der Monotheismus begrifiQich formulirt und
wissenschaftlich begründet, andrerseits ist er aus der pantheistischen Form, die
er bei Xenophanes und auch noch bei Piaton hatte, in die theistische Form
übergegangen, indem Gott als ein von der Welt verschiedenes, selbstbewusstes
Wesen aufgefasst wird. Neben dieser Transscendenz aber involvirt die Lehre,
dass Gott der absolute Geist sei, zugleich den metaphysischen Fortschritt,
dass das Immaterielle, das unkörperhche reine Sein, mit dem Geistigen
gleichgesetzt wird. Der Monotheismus des Geistes ist die reife Frucht
der griechischen Wissenschaft. .
Dabei ist die AufEsissung dieser göttlichen Geistigkeit rein intellectualistisch :
ihr Wesen ist lediglich das auf sich selbst gerichtete Denken. Alles Thun, alles
Wollen ist auf ein von dem Thuenden, dem Wollenden verschiedenes Object als
auf seine Materie gerichtet. . Der göttUche Geist als die reine Form bedarf keines
Gegenstandes, er genügt sich selbst, und sein Wissen von sich selbst (d-scopEa),
das auch kein anderes Ziel hat als sich selbst, ist seine ewige Seligkeit. Er wirkt
auf die Welt nicht durch seine Bewegung oder Thätigkeit, sondern durch ihre
Sehnsucht nach ihm: die Welt, und was in ihr geschieht, stammt aus der Sehn-
sucht der Materie nach Gott.
6. Die Materie (das nur Mögliche) ist das, was bewegt wird, ohne selbst
zu bewegen; Gott (das nur WirkKche) ist das, was nur bewegt, ohne selbst be-
wegt zu werden: zwischen beiden hegt die ganze Reihe der Dinge, welche Be-
wegung sowohl erleiden als auch hervorrufen, und deren Gesammtheit bezeichnet
Aristoteles als Natur (9&0K;; nach jetzigem Sprachgebrauch also = Welt). Sie
ist somit der einheitliche Lebenszusammenhang, in welchem sich die
Materie durch die Fülle ihrer Gestalten hindurch, von Form zu Form höher
sich entwickelnd, dem ruhenden Sein der Gottheit nähert und dasselbe, nach-
bildend, nach Möglichkeit in sich aufnimmt.
1) Die Darstellung dieses Ghedankenj^fanges, dem wesentlich der spater sog. kosmo-
logische Beweis für das Dasein G-ottes entsprangen ist, findet sich hauptsächlich im
12. Buche der Metaphysik. In seinen populären Dialogen hat ihn schon Aristoteles mit Werth-
bestimmungen verquickt, indem er ihm die Form gab, dass der Unterschied zwischen UnvoU-
kommnerem und Vollkommnerem, den die firfahrungsdinge zeigen, die Realität eines YolI>
kommensten voraussetze: vgl. Schol. in Arist. 487a 6.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 3
114 I* Philosopbie der Gkiechen. 3. Systematische Periode.
Dabei zeigt nun aber die Stufenleiter der Dinge, in deren Darstellung
die aristotelische Naturphilosophie besteht, einem zwiefachen Massstab der
Werthbeurtheüungy und sie entwickelt sich deshalb auch in zwei von einander
verschiedenen Reihen, die nur am Schluss eine zwar den Grundbegriffen des
Systems nach consequente, aber sachlich dennoch überraschende Vereinigung
finden.
Im Begriffe der Gottheit begegnen sich nach Aristoteles als Hauptmerk-
male diejenigen des in sich ruhenden und sich gleichbleibenden Seins (atStov) und
der Geistigkeit oder Vemünftigkeit (voöc). Daher nehmen die einzelnen „Formen"
der Natur einen um so höheren Rang ein, je mehr sie einerseits die eine, andrer-
seits die andere dieser höchst^i Werthbestimmungen erfüllen. In der einen
Richtung steigt die Reihe der Erscheinungen von dem ungeordneten Wechsel
des terrestrischen Geschehens bis zu dem immer gleichmässigen Umschwung der
Gestirne auf; in der anderen Richtung werden wir von der bloss mechanischen
Ortsveränderung bis zu den Thätigkeiten der Seele und ihrer werthvollsten Ent-
wicklung, der vernünftigen Erkenntniss, geführt: und beide Reihen haben nur
denselben Endpunkt insofern, als die in gleichmässigster Bewegung befind-
lichen Gestirne als die höchsten InteUigenzen, die vemunftvollsten Geister auf-
gefasst werden.
7. In ersterer Beziehung hat Aristoteles sich den altpjthagoreischen Gegen-
satz der irdischen und der himmlischen Welt, unter Aufnahme der astronomischen
Ansichten Platon's, zu eigen gemacht, und dem siegreichen Einflüsse seiner Philo-
sophie ist es zuzuschreiben, dass die reiferen Vorstellungen der späteren Pytha-
goreer trotz ihrer Anerkennung durch astronomische' Gelehrte der Folgezeit im
Alterthum nicht durchgedrungen sind. Wie das ganze Weltall die vollkommenste,
überall gleiche Gestalt, diejenige der Kugel hat, so ist auch unter allen Bewe-
gungen die vollkommenste die in sich zurücklaufende Kreisbewegung. Diese
gebührt dem Aether, dem himmlischen Element, aus welchem die Gestirne
und die durchsichtigen Kugelschalen gebildet sind, in denen sich jene mit ewig
unverändertem Gleichmasse bewegen : zu äusserst und in absoluter Unveränder-
Uchkeit, die dem göttiüchen Sein am nächsten kommt, derFixstemhimmel, darunter
die Planeten, die Sonne und der Mond, deren scheinbare Abweichung von der
Kreisbewegung durch eine complicirte Theorie von in einander geschachtelten
Kugelschalen erklärt wurde, welche der der Akademie nalie stehende Astronom
Eudoxos und sein Schüler KaUippos aufgestellt hatten ^). Die Gestirne selbst
aber galten dem Aristoteles als Wesen von übermenschlicher Intelligenz, als ver-
körperte Gottheiten, sie erschienen ihm als die reineren, der Gottheit ähnlicheren
Formen, von denen ein zweckvoll vernünftiger Einfluss auf die niedere Welt des
Erdenlebens ausgehe: dieser Gedanke ist die Wurzel der mittelalterlichen Astro-
logie geworden.
1) ScHiAPARELLi, Le sfere omocentriche diEudosso, Gallippo ed Ari8totele(MiIano 1876).
Vgl. auch 0. Gruppe, Die kosmiBcben Systeme der Griechen (Berlin 1851)« Als methodo-
logischer Grundsatz ist für die Aufstellung dieser Fragen aus der älteren Akademie die für die
mathematisch-metaphysische Voraussetzung der speculativen Naturerklärung typische Bestim-
mung erhalten: die gleichmässig geordneten Bewegungen der Gestirne ausfindig zu machen,
durch welche die scheinbaren Bewegungen derselben erklärt werden (SiaaduCstv); Simpl. in
Arist. de coelo (Karst.) 110.
§ 13. System der Entwicklung. (Aristoteles.) 115
Die niederen Formen des terrestrischen Daseins sind dagegen die vier
Elemente (des Empedokles)^ welche durch die Tendenz geradliniger Bewe-
gung charakterisirt sind. Die geradlinige Bewegung aber involvirt sogleich den
Gegensatz zweier Richtungen^ der centrifugalen^ welche dem Feuer, und der
centripetalen^ welche der Erde zukommen soll: geringer sei die erstere der Luft,
die letztere deroTVasser beigegeben^ und so fuge sich die im Ganzen ruhende INIittel-
masse, unsere Erde, derart zusammen; dass um das Erdige sich zunächst Wasser
und dann Luft anlagere, während das Feuer der hinmüischen Aussenwelt zustrebe.
Die wechselnden Verbindungen aber, welche die vier Elemente eingehen,
machen das Unvollkommene, Begrifflose, Zufällige der irdischen Welt aus:
hier ist die Neben- und Gegenwirkung der Materie stärker als in der himmUschen
Region, wo die mathematische Bestimmtheit der ungestörten Kreisbewegung
sich verwirklicht.
8. In den Veränderungen der irdischen Welt aber bauen sich zunächst
mechanisches, chemisches und organisches Geschehen so über einander
aof, dass das höhere immer die niederen als seine Bedingungen voraussetzt. Ohne
Ortsveränderung (yopa oder xCvYjoig im engsten Sinne) ist die Eigenschaftsver-
wandlung (oXXotiooic) und ohne beide die organische Verwandlung, die im Wachs-
thum und in der Kückbildung (oS^Yjatc — f^oi<;) besteht , nicht mögUch. Die
höhere Form aber ist niemals nur ein Product der niederen, sondern etwas Selb-
ständiges, wodurch jene nur in zweckmässiger Weise verwendet werden.
Hieraus entwickelt sich ein wichtiger principieller Gegensatz des Aristoteles
gegen Demokrit, den er in Bezug auf naturwissenschaftUche Einzelforschung
sehr hoch geachtet und viel, auch mit ausdrücklicher Erwähnung, benutzt hat.
Aristoteles ') protestirt gegen den schUessUch ja auch von Piaton acceptirten
Versuch einer Zurückfährung aller qualitativen auf quantitative Bestimmungen,
er bestreitet die erkenntnisstheoretisch -metaphysische Gegenüberstellung von
secundären und primären QuaUtäten; er erkennt den ersteren keine geringere,
sondern eher eine höhere Realität als den letzteren zu, und in der Reihenfolge
der ;,Fonnen^ ist ihm die innere begriffliche Bestimmung offenbar werthvoller, als
die äussere; mathematisch ausdrückbare ^). Der Versuch Demokrit^s, ftir die
Welterklärung die Reduction aller quaUtativen auf quantitative Unterschiede zum
Princip zu erheben, hat an Aristoteles und seiner Lehre von den „Entelechien^,
den inneren Formen der Dinge, seinen siegreichen Gegner gefunden. Der scharfe
Logiker hat eingesehen, dass es niemals möglich ist, die Qualitäten aus Quan-
titätsverhältnissen analytisch zu entwickeln, sondern dass die Qualität (von welchem
Sinn sie auch wahrgenommen werden möge) ein Neues ist, das die gesammten
Quantitätsbeziehungen nur als Veranlassung voraussetzt.
9. Ganz dasselbe gilt denn auch folgerichtig bei Aristoteles für das Ver-
haltniss der seehschen zu den leiblichen Thätigkeiten : diese sind nur die Materie,
zu der jene die Formen bieten. Von solcher Abhängigkeit der psychischen von kör-
perlichen Functionen, wie sie nach dem Vorgang der älteren Metaphysik Demokrit
imd zum Theil (im Timaeus) auch noch Piaton gelehrt hatten, ist bei Aristoteles
1) Vgl. besonders das dritte Buch der Schrift De coelo. — 2) Aristoteles charakterisirt
deshalb auch die Elemente nicht nar durch die verschiedene Tendenz der Bewegung, sondern
snch durch ursprüngliche Qualitäten, und er entwickelt sie aus einer Ereuzuuf^ der (Gegensatz-
paare warm und kalt, trocken und feucht. Meteor. IV 1, 378 b 11.
8*
116 I* Philosophie der Griechen. 8. SystematiBche Periode.
keine Rede mehr. Ihm ist Tiehuehr die Seele die Entelechie des Leibes^
d. h. die sich in den Bewegungen imd Veränderungen des organischen Körpers
verwirklichende Form. Die Seele ist die zweckthätige Ursache der leiblichen
Gestaltung und Bewegung: selbst unkörperlich, ist sie doch nur als die den Körper
bewegende und regierende Kraft wirklich.
Aber auch das Seelenleben selbst baut sich nach Aristoteles in Schichten auf,
von denen jede wieder die Materie für die höhere darstellt. Die nächste Form
des organischen Lebens ist die vegetative Seele (^psirttxöv), welche die mecha-
nischen und chemischen Veränderungen zu den zweckthätigen Functionen der
Assimilation und der Fortpflanzung gestaltet. Auf diese rein physiologische
Bedeutung einer Lebenskraft beschränkt sich die Seele der Pflanzen: zu ihr
tritt im gesammten Thierreich ') die animale Seele hinzu^ deren constitutive
Merkmale räumUche Selbstbewegung (xivyjtixöv raxa törov) und Empfindung (alo-
^YjTtxöv) sind.
Die zweckthätige Eigenbewegung des thierischen Leibes geht aus dem Be-
gehren (Äpe&c) hervor, welches in der Form des Erstrebens oder des Verab-
scheuens aus den G-efühlen der Lust und Unlust entspringt. Diese aber setzen
überall die Vorstellung ihres Gegenstandes voraus und sind zugleich mit
der Vorstellung, dass dieser Gegenstand erstrebens- oder verabscheuenswürdig
sei, verbunden. Die der gesammten griechischen Psychologie eigenthümliche An-
sicht von der Abhängigkeit allen Begehrens vom Vorstellen ist bei Aristoteles
so stark, dass er diese Verhältnisse sogar ausdrücklich nach der logischen Function
des Urtheils und des Schlusses darstellte. Auch praktisch giebt es Bejahung
und Verneinung'^), giebt es die Folgerung von einem allgemeinen Zweck auf eine
besondere Handlungsweise.
Den Heerd des ganzen animalen Vorstellungslebens bildet die Empfin-
dung. In der physiologischen Psychologie, welche diese behandelt*); hat
Aristoteles in umfassender Weise alle die einzelnen Kenntnisse und Theorien
benutzt, welche seine Vorgänger, namentlich Demokrit, darüber besassen: aber
er hat die gemeinsame Unzulänglichkeit aller früheren Lehren dadurch über-
wunden, dass er der Selbstthätigkeit der Seele in dem Zustandekommen der
Wahrnehmung eine viel grössere Bedeutung einräumte. Nicht zufrieden, die alte
Theorie, dass die Wahrnehmung aus einem Zusammenwirken des Objects und
des Subjects bestehe, zu der seinigen zu machen, wies er auf die Einheitlich-
keit des Bewusstseins ([tsoÖDfjc) hin, mit der die animale Seele das in den
einzelnen Wahrnehmungen der einzelnen Sinne Gegebene zu Gesammtwahr-
nehmungen verknüpft und dabei auch die Verhältnisse der Zahl, Lage und Be-
wegung erfasst. So muss über den einzelnen Sinnen noch der Gemeinsinn
(xoivöv aiad'Tjnfjpiov) angenommen werden*), der dann auch vermöge des Um-
1) Die Thiergeschichte des Aristoteles (vgl. J. B. Meter, Berlin 1855) behandelt in
musterhafter Weise und mit bewunderungswürdiger Sorgfalt der Einzelforschung neben der
Systematik die anatomischen, physiologischen, morphologischen und biologischen Probleme.
Das parallele Werk über die Pflanzen ist zwar verloren, wird aber durch dasjenige seines
Freundes und Schülers Theophrast ersetzt. — 2) Eth. Nik. VI 2, 1139a 21. — 3) Es sind
ausser den betreflenden Abschnitten der Schrift über die Seele auch die kleineren sich daran
schliessenden Abhandlungen zu vergleichen: über Wahrnehmung, über Erinnerung, über
Sahlaf, über Träume etc. — 4) In Betreff der physiologischen Localisation fand Aristoteles —
und seine Schule bildete diese Lehre noch mehr aus; vgl. H. Sxebeck, Zeitschrift für Völker-
psychologie 1881, p. 361 fl. — die Seelenthätigkeit an £e Lebenswärme (s^cpuiov dspfiiov) ger
§ 18. System der Entwicklung. (Aristoteles.) 117
Standes^ dass in ihm die Wahrnehmungen als Vorstellungen (^vtaaiai) erhalten
bleiben, der Sitz der Erinnerung, der unwillkürlichen (|ivii)|jl7]) und der willkür-
lichen (avdiivyjoK;) , zugleich aber auch der Sitz unseres Wissens von unseren
eigenen Zuständen ist^).
10. Vegetative und animale Seele bilden aber nun im Menschen nur die
Materie zur Verwirklichung der ihm eigenthtimlichen Form: der Vernunft
(voöc — Stavosio^at). Durch ihre Einwirkung wird der Trieb (Spe&c) zum Willen
(ßooXYjoi«) und die Vorstellung zur Erkenntniss (iTTtati^iiT)). Sie kommt zu allen
den seelischen Thätigkeiten^ welche sich aus der Wahrnehmung auch bei den
Thieren entwickeln, als ein Neues und Höheres („von aussen", O-opa^v) hinzu,
kann sich aber wiederum nur an und in denselben verwirklichen. Dies Verhält-
niss drückte Aristoteles so aus, dass er die reine Vernunftthätigkeit selbst als die
thätige Vernunft (voö(; tcoiyjtixöc), dagegen das aus dem leibhchen Dasein ent-
stammende, der Vernunft die Möglichkeiten und Anlässe gewährende und darauf-
hin von ihr durcharbeitete und gestaltete Material der Wahrnehmungen als die
leidende Vernunft (voö^ wa^Tjtixög) bezeichnete.
Danach bedeutet die „leidende" Vernunft die in der Veranlagung des ein-
zelnen Menschen gegebene und durch die Anlässe seiner persönlichen Erfahrung
bestimmte individuelle Erscheinungsweise, die „thätige" Vernunft dagegen
die reine, allen Individuen gemeinsame, principielle Einheitlichkeit der Vernunft.
Diese allein ist, wie ungeworden, so auch unvergänglich, während jene mit den
Individuen, an denen sie zu Tage tritt, vergänglich ist. Die persönliche Unsterb-
lichkeit ist durch diese Consequenz ebenso in Frage gestellt, wie im platonischen
Timaeus, wo sie auch nur noch für den „vernünftigen", d. h. den überall gleichen,
unpersönlichen „Theil" der Seele in Anspruch genommen w^urde. Es ist klar,
dass es sich hier nicht mehr um empirische Psychologie handelt, sondern um
solche Lehren, welche aus dem systematischen Zusammenhange der ganzen Lehre
heraus in Folge von ethischen und erkenntnisstheoretischen Postulaten derselben
aufgepfropft werden.
11. Im Begriffe der Vernunft als der der menschlichen Seele eigenthüm-
lichen Form hat nun Aristoteles die Handhabe zu der inhaltlichen Lösung des
ethischen Problems gefunden, die auch Piaton noch vergebens gesucht hatte.
Das Glück des Menschen (säSaiiiovta), das auch bei ihm als höchster Zweck alles
Strebens (rdXoc), betrachtet wird, ist zwar zum Theil von dem äusseren Geschick
abhängig; es ist erst da vollkommen, wo auch dies seine Güter gewährt hat; aber
die Ethik hat qs nur mit dem zu thun, was bei uns steht (talf)'i^[jLiv), nur mit dem
Glück, das der Mensch durch eigene Thätigkeit erwirbt (Tcpaxtöv a^aO^v), Jedes
Wesen aber wird durch die Entfaltung seiner eigenen Natur und der ihm eigen-
thümlichen Thätigkeit glücklich, der Mensch also durch die V e r n u n f t. Die
Tugend des Menschen ist somit diejenige Beschaffenheit (S£t(;), durch welche er
zur Ausübung der vernünftigen Thätigkeit befähigt wird : sie entwickelt sich aus
banden, welche als beseelender Hauch (n veuu.a)dem Blute beiffemischt sei. In Folge dessen sah
er als Sitz des Gemeinsinns das Herz an und verdrängte damit die bessere Einsicht, mit der
Alkmaion, Diogenes von Apollonia, Demokrit und Piaton die Bedeutung des Gehirns erkannt
hatten.
1) Dieser Ansatz zu einer Lehre von der inneren Wahrnehmung findet sich Arist.
de an. m 2, 425b 12.
118 I. Philosophie der Griechen. 3. SysteinatiBche Periode.
den Anlagen seines natürlichen Wesens und hat zu ihrem Erfolge die Befiriedigung,
die Lust.
Wie nun in der animalischen Seele Trieb und Wahrnehmung als verschiedene
Aeusserungen zu unterscheiden waren, so entwickelt sich auch die Vernunft theils
als vernünftiges Handeln, theils als vernünftiges Denken, als Vollkommenheit
einerseits des Gemüths('^d'oc), andrerseits desVorstellens (ala^dvsa^ot im weitesten
Sinne des Worts). So ergeben sich als Tüchtigkeit des vernünftigen Menschen
die ethischen und die dianoetischen Tugenden.
12. Die ethischen Tugenden erwachsen aus derjenigen Erziehung des
Willens, durch welche derselbe gewöhnt wird, der rechten Einsicht (ypövnrjoic —
6p^(; Xö^oc) gemäss zu handeln: sie befähigen den Menschen, der praktischen
Vernunft, d. h. der Einsicht in das Richtige bei seiner Entschliessung zu folgen.
Mit dieser Lehre geht Aristoteles — mit offenbarer Rücksicht auf die That-
sachen des sittUchen Lebens — über die Bestimmungen des Sokrates hinaus;
nicht so freilich, dass er dem Willen eine psychologische Selbständigkeit gegen-
über der Erkenntniss zugesprochen hätte, sondern so, dass er die Meinung auf-
gab, als müsse die aus der vernünftigen Einsicht stammende Willensbestimmung
schon von selbst stärker sein als die aus mangelhafter Erkenntniss stammende
Begierde. Da vielmehr die Erfahrung oft das Umgekehrte zeigt, so muss der
Mensch durch Uebung diejenige Selbstbeherrschung (lY^pdtgta) sich erwerben,
vermöge deren er dem vernünftig Erkannten unter allen Umständen, auch gegen
die stärkere Begierde folgt ^).
Gehört so zur ethischen Tugend im Allgemeinen Anlage, Einsicht und
Gewöhnung, so unterscheiden sich die einzelnen Tugenden durch die verschiedenen
Lebensverhältnisse, auf welche sie sich beziehen. Eine systematische Entwicklung
derselben hat Aristoteles nicht gegeben, wohl aber eine umfassende und fein-
sinnige Behandlung der einzelnen. Das allgemeine Princip ist dabei dies, dass
die vernünftige Einsicht überall die rechte Mitte zwischen den unvernünftigen
Extremen findet, zu welchen das natürliche Triebleben führt. So ist Tapferkeit
die rechte Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit, u. s. w. Eine besonders
eingehende Darstellung hat einerseits die Freundschaft^), als das gemeinsame
Streben nach allem Guten und Schönen, andrerseits die Gerechtigkeit als die
Grundlage des politischen Zusammenlebens gefunden.
13. Denn auch Aristoteles war wie Piaton überzeugt, dass die sittliche
Tüchtigkeit des Menschen, da sie ja immer auf Thätigkeiten sich bezieht, die im
gemeinsamen Leben von Statten gehen, ihre Vollendung nur im gemeinsamen
Leben finden kann -, auch für ihn giebt es schUesslich keine vollkommene SittUchkeit
ausserhalb des Staates, als dessen wesentlichen Zweck auch Aristoteles die sitt-
liche Bildung der Bürger betrachtete. Wie sich jedoch bei dem einzelnen
Menschen die Tugend aus der natürlichen Veranlagung heraus entwickeln soll,
so behandelt Aristoteles auch die politischen Verhältnisse unter dem Gesichts-
punkte, dass die historisch gegebenen Verhältnisse zu möglichster Erfüllung jenes
höchsten Zwecks verarbeitet werden sollen.
1) In der Polemik gegen die sokratische Lehre, welche Aristoteles in diesem Sinne Eth.
Nik. lU 1 — 8 vorträgt, entwickeln sich die ersten Ansätze des Freiheitsproblems. — 2) Im
achten Buch der Nikomachi sehen Ethik.
§18. System der Entwicklang^. (Aristoteles.) 119
Jede Verfassung ist recht, wenn die Regierung das sittliche Wohl der
Gremeinsamkeit als oberstes Ziel im Auge hat; jede ist verfehlt, wenn das nicht
der Fall ist. An der äusseren Form, welche durch die Anzahl der Regierenden
bestimmt ist')^ hängt also die Oüte des Staates nicht: Herrschaft des Einzelnen
kann als Königthum (ßaotXeia) recht, als Despotie (topawt^) schlecht —Herrschaft
Weniger kann als Aristokratie der Bildung und der Gesinnung gut, als Oligarchie
der Greburt oder des Besitzes schlecht — Herrschait Aller kann als gesetzmässig
geordnete Republik (iroXitsia) gut, als Pöbelanarchie (S7]|jLoxpatia) schlecht sein.
Mit tiefem politischen Yerständniss trägt Aristoteles in diesen Darstellungen die
firfahrungen der griechischen Geschichte zusammen und giebt auf Grund der-
selben auch geschichtsphilosophisc^e Andeutungen über die Nothwendigkeit,
mit welcher die einzelnen Yerfassungsformen in einander übergehen und aus
einander sich entwickeln.
Nach diesen Voraussetzungen ist es begreiflich, dass Aristoteles nicht
daran denken konnte, in der Weise Platon^s die Verfassung eines Idealstaates
bis in das £inzelne hinein zu entwerfen: er begnügte sich mit einer kritischen
Herrorhebung deijenigen Bestimmungen, welche in den einzelnen Verfassungen
für die Erfüllung der allgemeinen Aufgabe des Staates sich als förderlich erweisen.
Dabei aber schliesst er sich der platonischen Forderung einer Verstaatlichung
der Erziehung an: das sittliche Gemeinwesen hat selbst für die Heranbildung der
Elemente seines zukünftigen Bestandes Sorge zu tragen; und die Aufgabe der
Erziehung (bei deren Behandlung das Fragment der Politik abbricht) ist es, den
Menschen aus seinem rohen Naturzustande mit Hilfe der edlen Künste zu sitt-
licher und intellectueller Bildung heranzufuhren.
14. Zur praktischen Vemunftbethätigung (XoYi^stixöv) im weiteren Sinne
des Wortes rechnete Aristoteles neben dem „Handeln^ (irpd^t^) auch das „ Schafifen^
(xoutv): doch statuirte er andrerseits zwischen dieser schöpferischen Thätigkeit,
die sich in der Kunst darstellt, und dem auf die Zwecke des täglichen Lebens
gerichteten Thun einen so grossen Unterschied, dass er gelegentlich die TVissen-
schaft von der Kunst, die poietische Philosophie, als eine dritte selbständig neben
die theoretische und die praktische stellte. Von dieser poietischen Philosophie
ist neben der Rhetorik nur unter dem Namen der Poetik das Bruchstück einer
Lfchre von der Dichtkunst erhalten , welche zwar von Bestimmungen über das
Wesen der Kunst im Allgemeinen ausgeht^ von ihrem besonderen Gegenstande
aber nur noch die Grundzüge einer Theorie der Tragödie darbietet. Hierbei treten
so eigenthümliche Beziehungen dieser Wissenschaft von der Kunst zu den beiden
anderen Haupttheilen der Philosophie hervor, dass in der That die Unterstellung
anter eine von beiden schwierig wird.
Kunst ist nachahmende Erzeugung^ und die Künste unterscheiden sich
ebenso durch das, was sie nachahmen, wie durch das, womit sie nachahmen. Die
Gegenstände der Dichtkunst sind Menschen und iln-e Handlungen ; ihre Mittel
sind Rede, Rhythmus und Harmonie. Die Tragödie insbesondere stellt eine
bedeutende Handlung in unmittelbarer Ausfuhrung durch redende und handelnde
Personen dar*).
1 ) Ein Gesichtspunkt, den schon der unter Platon's Namen sehende Dialog Politikos
bervoriiob, während Piaton selbst in der Republik die „schlechten*' Verfassungen aus psycho-
lofdichen Analogien einer VorherrscbÄft der niederen Seelentheile construirte. — 2) Poet. 6,
1419b 24.
1 20 I- Philosophie der Griechen. 3. SyBiematische Periode.
Aber der Zweck dieser nachahmenden Darstellung ist ein ethischer: die
Affecte des Menschen, insbesondere bei der Tragödie Furcht und Mitleid,
sollen derartig erregt werden, dass durch ihre Erregung und Steigerung die
Reinigung der Seele (xdd^oic) von diesen Affecten herbeigeführt wird.
Ueber die für die spätere Kunsttheorie so wichtig gewordene Lehre von der Katharsis
und die umfangreiche Literatur darüber vgl. A. DöazNO, Die Kunstlehre des Aristoteles
(Jena 1876).
Die Erreichung dieses Zweckes aber vollzieht sich so, dass in der künstleri-
schen Darstellung das Einzelne nicht als solches; sondern seinem allgemeinen
Wesen nach zur Anschauung gebracht wird. Aehnlich wie die Wissenschaft hat
die Kunst das Allgemeine in seiner besonderen Verwirklichung zu ihrem G-egen-
stände : sie bietet eine Art von Erkenntniss und mit dieser die Lust, die der
Erkenntniss beiwohnt. (Poet. 9, 1451b 5.)
15. Die höchste Vollkommenheit seiner Entwicklung endUch gewinnt das
vernünftige Wesen des Menschen in der Erkenntniss: die dianoetischen
Tugenden sind die höchsten und diejenigen, welche die vollendete Olückseligkeit
herbeiführen. Die Thätigkeit der theoretischen Vernunft (iiciotTfjjiovixöv)
ist aber auf die unmittelbare Erfassung jener höchsten Wahrheiten, der Begriffe
und Urtheile gerichtet, auf welche das inductive Suchen der wissenschafthchen
Forschung nur hinfuhrt, ohne sie beweisen zu können, und von denen alle Ableitung
ihren Anfang nehmen muss (vgl. § 12, 4).
Die Erkenntniss derselben aber, die volle EntMtung der „thätigen Vernunft"
im Menschen, bezeichnet Aristoteles abermals als ein „Schauen" (dea>p(a); und
mit diesem Schauen der höchsten Wahrheit gewinnt eben deshalb der Mensch
Antheil an jenem reinen Denken, worin das Wesen der Oottheit besteht, und
damit auch an dei: ewigen Seligkeit des göttlichen Selbstbewusstseins. Denn
dies „Schauen", das nur um seiner selbst willen da ist, ohne alle Zwecke des
WoUens und Thuns, diese wunschlose Versenkung in die Anschauung der höchsten
Wahrheit, ist das Sehgste und Beste von Allem.
131
n. Theü.
Die hellenistisch-römische Philosophie.
Hinsichtlich der allgemeinen Literatar gelten für diesen Theil dieselben Werke, welche
am Eingang des ersten Theils angeführt worden sind.
Mit der Zeit des Aristoteles trat die griechische Cultur aus ihrer nationalen
Geschlossenheit heraus und in die grosse Gesammtbewegung ein, mit der die das
Mittehneer umwohnenden Völker des Alterthums durch Austausch und Ausgleich
ihrer Yorstellungeu zu einem gemeinsamen Gulturleben zusammenschmolzen. In
den hellenistischen Staaten der Nachfolger Alexander's begann dieser Process
durch die Vereinigung griechischer und orientalischer G^dankenmassen; im
römischen Weltreich hat er seine äussere, im Ohristenthum seine innere Vollendung
gefunden: Hellenismus, Romanismus, Christianismus sind die Etappen, in denen
sich aus dem Alterthum heraus die Weltcultur der Zukunft entwickelt hat.
Das geistig bestimmende Element aber in dieser Vereinigung ist die
griechische Wissenschaft gewesen, und darin besteht ihre welthistorische Bedeu-
tung. Sie wurde, wie die griechische Kunst, das gemeinsame Culturgut des
Alterthums, an sie gliederten sich die höchsten inneren Bewegungen der Völker
Schritt für Schritt an, und sie wurde die gestaltende Kraft fiir Alles, was als
Sehnsucht und Trieb in der Seele der Völker lebte. Mit dem Untergang ihrer
politischen Selbständigkeit, mit dem Aufgehen in die Weltreiche hat die griechische
Nation diese Erfüllung ihrer Culturaufgabe erkauft : durch ihre Zerstreuung über
die Welt sind die Griechen die Lehrer der Welt geworden.
Bei diesem Eintritt aber in neue und grössere Verhältnisse hat die grie-
chische Wissenschaft eine Spaltung der verschiedenen Elemente erfahren, welche
in ihr vereinigt waren. Mit dem rein theoretischen Interesse, aus dem sie hervor-
gegangen war und das noch in der Persönlichkeit und der Lehre des Aristoteles
einen so klaren Ausdruck gefunden hatte, war in ihr mit der Zeit das praktische
Interesse verwachsen, welches in der Wissenschaft die Ueberzeugung suchte, die
das Leben bestimmen sollte. In Platon's Philosophie noch war beides unab-
trennbar mit einander verschmolzen. Aber diese beiden Tendenzen der Wissen-
schaft gingen nun aus einander.
Das wissenschaftliche Denken, das in der aristotelischen Logik seine Selbst-
erkenntniss gefunden hatte, war zum Bewusstsein der Grundbegriffe gelangt, mit
denen es die Fülle der Erscheinungen verarbeiten konnte. Die gegensätzlichen
Hauptformen der Welterklärung waren in den grossen Systemen entwickelt
worden, und damit war für die wissenschaftliche Behandlung des Einzelnen ein
fester Rahmen geschaffen. Je erfolgreicher die griechische Wissenschaft bei der
unfangs noch so geringen Ausdehnung des einzelnen Wissens in der Entwick-
122 n. Hellenistisch-römische Philosophie.
lang der Principien gewesen war^ um so mehr trat nun eine Erlahmung zugleich
des metaphysischen Interesses und der metaphysischen Kraft ein.
Demzufolge aber wandte sich die theoretische Tendenz der Wissenschaft
dem Einzelnen zu, und der wissenschaftliche Grundcharakter der hellenistisch-
römischen Zeit ist die Gelehrsamkeit und die Ausbildung der Special-
wissenschaften. Der einzelne Mann der Wissenschaft gewann durch seinen
Eintritt in eine der grossen Schulen einen festen Kückhalt der Gesammtansicht
und ein bestimmendes Princip für die Behandlung der besonderen Fragen und
Gegenstände, dieihninteressirten. Und die Gleichgiltigkeit gegen die allgemeinsten
metaphysischen Theorien wurde um so grösser, je mehr sich herausstellte, dass
eine fruchtbare Forschung auf den einzelnen Gebieten, Erweiterung des that-
sächhchen Wissens und Verständniss der einzelnen Zusammenhänge, von dem
Streit der metaphysischen Systeme unabhängig gemacht werden könne. Die
Sonderung der Probleme, welche vorbildhch in der aristotelischen Lehre und
Schule sich vollzogen hatte,, führte nothwendig zur Specialisirung, und das rein
theoretische Interesse des Wissens um seiner selbst willen entfaltete sich während
der hellenistisch-römischen Zeit wesentlich in den Einzelwissenschaften. Die
grossen Gelehrten des späteren Alterthimis standen zwar in loserem Verhältniss
zu der einen oder der anderen Schule, zeigten sich aber in der Metaphysik immer
indifferent. So kommt es, dass während dieser Zeit der Ertrag an theoretischen
Principien der Philosophie äusserst gering gewesen ist, während die mathematische,
die naturwissenschaftliche, die grammatische, die philologische, die literatur-
historische, die geschichtliche Forschung reiche und umfängliche Erfolge zu ver-
zeichneT> hatten. Mit der grössten Menge derjenigen Namen, welche als „Philo-
sophen^, sei es als Schulhäupter, sei es nur als MitgUeder der Schulen, aufgezählt
und in der schematischen Behandlung der „Geschichte der Philosophie" fort-
geführt werden, verbinden sich nur literargeschichtliche Notizen, dass sie dieses
oder jenes Fach besonders bearbeitet haben, oder die für die Philosophie schliess-
lich ganz gleichgiltige persönliche Nachricht, dass sie sich dieser oder jener unter
den früheren Lehren angeschlossen haben, höchst selten aber eigene und neue
Begriffsbildungen. In theoretischer Hinsicht hat diese Zeit die alten Probleme
der Griechen hin und her gewendet und sich in den begrifflichen Geleisen bewegt,
welche sie festgelegt vorfand.
Um so mächtiger aber entfaltete sich während dieser Jahrhunderte theo-
retischer Aneignung und Verarbeitung die praktische Bedeutung der
Philosophie. Das Bedürfniss nach einer wissenschaftlichen Lehre von den
Zwecken des Menschenlebens, nach einer solchen Weisheit, welche das Glück des
Individuums gewährleiste, konnte nur gesteigert werden, als der ideale Zusammen-
hang des griechischen Lebens zerfiel, die Volksreligion immer mehr zu einer
äusserUchen Tradition herabsank, das zerbröckelnde, seiner Selbständigkeit
beraubte Staatsleben keine begeisterte Hingabe mehr erweckte und das Indivi-
duum sich innerlich auf sich selbst angewiesen fühlte. So wurde die Lebens-
weisheit zum Grundproblera der nachgriechischen Philosophie, und die Veren-
gerung der philosophischen Problemstellung, welche Sokrates und nach ihm die
kynische und kyrenaische Sophistik begonnen hatten, ist der allgemeine Charakter
der Folgezeit.
Das schliesst nicht aus, dass auch in ihr sich allgemeine theoretische Lehren
U. HelleDistisch-römiscbe Philosophie. 123
und deren scharf verfochtene Gegensätze breit machen: aber einerseits finden die-
selben kein ursprüngUches Interesse um ihrer selbst willen, und werden deshalb
nur in den Richtungen ausgebildet, welche durch den Zweck der Lebensweisheit
bestimmt sind ; andrerseits fehlt es ihnen an Originalität, sie sind durchweg Ver-
schiebungen der älteren Lehren^ bedingt durch den praktischen Grundgedanken.
Selbst so umfassende Systeme, wie das stoische und das neuplatonische, arbeiten
durchaus nur mit den Begriffen der griechischen Philosophie, um eine theoretische
Grundlage für ihr praktisches Ideal zu gewinnen. Der Schlüssel auch zu ihren
theoretischen Lehren liegt stets in der praktischen Grundüberzeugung, und inso-
fern sind sie sämmtUch charakteristische Typen der Problemvermischung.
Mit diesem Vorwalten der praktischen Bedeutung hängt es nun aber auch
zusammen, dass die Abhängigkeit der Philosophie von der allgemeinen Cultur-
bewegung, welche mit den Sophisten schon in die stillen Kreise des interesse-
losen Forschens^ngebrochen war, in der hellenistisch-römischen Zeit zur dauern-
den Erscheinung geworden ist: und diese zeigt sich am entscheidendsten in der
wechselnden Stellung dieser Philosophie zur Religion.
Die Entwicklung, welche die griecliische Philosophie genommen hatte, und
der immer schärfer ausgesprochene Gegensatz, in welchen sie zur Volksreligion
gekommen war, brachte es mit sich, dass die Hauptaufgabe der Lebensweisheit,
welche die nacharistotelische Wissenschaft suchte, ein Ersatz des religiösen
Glaubens war. Die gebildete Welt, welche den Halt der Religion verloren
hatte und auch denjenigen des Staates aufgeben musste, suchte ihn in der Philo-
sophie. Daher war der Gesichtspunkt der hellenistisch-römischen Lebensweisheit
zunächst derjenige individueller Sittlichkeit, und die Philosophie, welche
sich damit beschäftigt, hat somit ein durchweg ethisch es Gepräge. Am schärfsten
ist der Gegensatz dieser Individualethik gegen die ReUgion bei den Epikureern
hervorgetreten : aber auch bei den anderen Schulen haben die Lehren von der Gott-
heit ein rein ethisches und vielleicht noch theoretisches, aber kein specifisch
religiöses Interesse.
Diese wesentlich ethische Entwicklung der Philosophie hat sich noch in
Griechenland, zumeist sogar in Athen, vollzogen, welches bei aller Ausbreitung
der griechischen Bildung nach Ost und West doch noch Jahrhunderte lang das
Centrum des wissenschaftUchen Lebens bildete. Bald aber erwuchsen, zunächst
namentlich für die gelehrte Einzelforschung, in den grossen Bibliotheken und
Museen neue Mittelpunkte, in Rhodos, in Pergamon, in Alexandria, in Tarsos,
in Rom, später in Antiochia und Byzanz. Von diesen ist namentlich Ale-
X a n d r i a wichtig geworden, wo nicht nur die verarbeitende Gelehrsamkeit eine
so typische Ausbildung erfuhr, dass diese ganze Zeitrichtung danach literar-
historisch benannt zu werden pflegt, sondern wo auch die philosophische Richtung
der Zeit ihre entscheidende Veränderung erfuhr.
Denn mit der Zeit konnte die Philosophie nicht gleichgiltig an jenem tiefen
Gefühl der Unbefriedigung vorübergehen, welches die antike Welt mitten in allem
Glanz des Römerreiches ergriffen hatte. Dies ungeheure Reich bot den Völkern,
die es in eine mächtige Einheit zusammengeschweisst hatte, keinen Ersatz für
den Verlust ihrer nationalen Selbständigkeit ; es gewährte ihnen weder inneren
Werth noch äusseres Glück. Der Trank des Erdenlebens war den alten Völkern
schal geworden , und sie lechzten nach Religion. Darum tasteten sie nach alU
124 n. Hellenistisch-römische Philosophie.
den verschiedeneDr Culten und Beligonsübungen hemm, welche die einzehien
Völker mitgebracht hatten^ nnd die Religionen des Orients mischten sich mit
denen des Ocddents.
In diese Bewegung wurde die Philosophie um so mehr hineingezogen, je
klarer es schliesslich wurde, dass sie auch den Gebildeten durch die Aufstellung
ihres ethischen Lebensideals nicht befriedigen, ihm das versprochene Glück nicht
gewähren konnte. So strömte denn — zuerst in Alexandrien — die ganze Fluth
der durcheinander wogenden religiösen Yorstellungsmassen in die Philosophie
ein, und diese suchte nun auf wissenschaftlichem Grunde nicht nur eine sittliche
Ueberzeugung, sondern eine Behgion aufzubauen. Sie yerwendete die Begriffe
der griechischen Wissenschaft, um die religiösen Vorstellungen zu klären und zu
ordnen, um dem Drange des reUgiösen Gefühls eine ihm genügende Weltror-
Stellung zu gewähren, imd so schuf sie in engerem oder loserem Anschluss an
die mit einander ringenden Religionen die Systeme der religiösen Meta-
physik.
Hiemach sind in der hellenistisch-römischen Philosophie zwei Perioden zu
unterscheiden: die ethische und die religiöse. Als die Zeit, in welcher die eine
allmählich in die andere übergeht, ist das erste Jahrhundert vor Chr. G. zu be-
zeichnen.
1. Kapitel. Die ethische Periode.
Dem Zuge der Zeit, welcher die Wissenschaft theils in ethische Philosophie,
theils in gelehrte Forschung verzweigte, folgten schon die Schulen der beiden
grossen Meister der attischen Philosophie: die akademische und die peri-
patetische. Wenn in der ersten, mit Aristoteles gleichaltrigen Generation der
Akademie eine pythagoreisirende Metaphysik vorgewaltet hatte, so machte
(vgl. S. 77) diese schon in der nächsten Zeit populärem Moralisiren Platz. Im
Lyceum hielt zwar Theophrastos und nach ihm Straten an der Ausbildung
und Umbildung der aristotelischen Metaphysik fest, aber wie Theophrast selbst,
so wendeten sich seine Genossen, ein Dikaiarchos, Aristoxenos und Andere
literargeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Studien zu. Später haben
gerade die Peripatetiker an der alexandrinischen Gelehrsamkeit einen grossen
Antheil gehabt, und insbesondere hat die Geschichte der Philosophie an ihnen
die fleissigsten Bearbeiter gefunden. In der Philosophie selbst aber spielten sie
nur die conservative Rolle, ihr Schulsystem gegen denAnlauf der übrigen, nament-
lich auf dem ethischen Gebiete, zu vertheidigen, und die Neuausgabe der aristo te-
Uschen Werke durch Andronikos gab nur erneuten Anlass zu einem eifrigen
Reproduciren der Lehre : Paraphrasen, Commentare, Excerpte, Interpretationen
bildeten die wesenüiche Beschäftigung der späteren Peripatetiker.
Die Wirkung der Akademie und des Lyceums wurde aber in Athen zu-
nächst durch die beiden neuen Schulen beeinträchtigt, welche gegen Ende des
4. Jahrhunderts gegründet wurden und ihren grossen Erfolg dem Umstände
verdankten, dass sie die Richtung der Zeit auf praktische Lebensweisheit mit der
Deutlichkeit und Eindringlichkeit der Einseitigkeit zum Ausdruck brachten: die
stoische und die epikureische.
Die erstere wurde von Zenon von Kition (auf Cypern) in der Stoa icoixEXy]
1. Ethische Periode. 125
erfechtet, imd hatte bei ihm wie beiseinemNachfoIger Kleanthesnochmehr Aehn-
Ucfakeitmit demKynismuS; als bei dem dritten ScbulhauptChrysippoS; welchem
es gelang^ die Schule in mehr wissenschaftliche Bahnen zu lenken. Epikuros
dagegen gründete eine Lebensgemeinschaft^ welche das hedonische Princip in ver-
feinerterund vergeistigter Form zu ihrem Mittelpunkte machte, abernur ein geringes
Mass Ton wissenschaftlicher Lebensfähigkeit entwickelte. Während ihr gesellig
ethisches Princip, wie es einmal festgestellt war, und die damit zusammenhangende
Weltanschauung durch das ganze Alterthum hindurch und besonders auch in
der römischen Welt fortgesetzt zahlreiche Anhänger gewannen^ blieb die Schule
wissenschaftlich; und zwar in den Specialwissenschaften ebenso wie in der Philo-
sophie entschieden unfruchtbarer^ als die übrigen: eine interessante Darstellung
hat ihre Lehre durch den römischen Dichter Lucretius gefunden.
Diese vier Schulen haben Jahrhunderte lang in Athen neben einander be-
standen und sind noch in der Eaiserzeit; als dort eine Art von Universität ge-
schaffen wurde, in verschiedenen Lehrstühlen aufrechterhalten worden; doch
lässt sich eine Reihenfolge der Schulhäupter nur in der Akademie, und auch da
nur mit grossen Lücken, verfolgen, während die Tradition hinsichtlich der Stoa
und der Epikureer schon mit dem 1. Jahrhundert v. Chr. und auch hinsichtlich
des Lyceums bald darauf abreisst.
Zunächst aber haben diese vier Schulen im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr.
sich gegenseitig auf das Lebhafteste bekämpft, und es waren hauptsächlich die
ethischen und nur die mit diesen zusammenhangenden metaphysischen, physischen
und logischen Fragen, in denen sie einander den Rang abzulaufen suchten ^).
Neben den dogmatischen Lehren aber ging während der ganzen Zeit eine
andere Richtung einher, welche ebenso wie die stoische und die epikureische
Philosophie aus der Sophistik stammte: der Skepticismus. Er nahm zwar
nicht die Gestalt einer eigenen Schulgenossenschaft an, fand aber gleichfalls eine
systematische Zusammenfassung und eine ethische Zuspitzung. Eine
solche zeitgemässe Coucentration der negativen Ergebnisse der Sophistik vollzog
Pyrrhon, dessen Lehren von Timon dargesteUt wurden. Dieser sophistische
Skepticismus hatte den Triumph, eine Zeit lang von dem Haine Platon's Besitz
zu ergreifen: die mittlere Akademie machte ihn, wenn nicht völlig zu ihrer
Lehre, so doch zu ihrem Kampfmittel in der Bestreitung des Stoicismus und der
Begründung ihrer eigenen Moral. Aus dieser Phase der Entwicklung der Aka-
demie treten, durch etwa ein Jahrhundert getrennt, die Schulhäupter Arkesi-
laos und Karneades hervor. In der Folgezeit, als die Akademie den Skepti-
cismus wieder abstiess, fand derselbe hauptsächUch bei den empiristischen
Aerzten Anklang, von denen schon zu Ende dieser Periode Ainesidemos
und Agrippa zu nennen sind. Eine vollständige Zusammenstellung der skep-
tischen Lehren aus viel späterer Zeit ist in den Werken des SextusEmpiricus
erhalten.
Die tiefere Bedeutung aber dieses Skepticismus war die, dass er die Grund-
stimmung zum Ausdruck brachte, welche die gesammte antike Civilisation ebenso
wie dereinst die griechische, ihrem eigenen ideellen Inhalt gegenüber ergriffen
1) Anschauliche Bilder dieser Schulstreitigkeiten giebt mit geschickter Benutzung der
Originalquellen Cicero in seinen philosophischen Dialogen.
126 n. Hellenistisch-römisbhe Philosophie.
hatte: und derselbe Mangel an Muth entschlossener Ueberzeugung fand nur eine
andere Form an dem Eclecticismus, der sich seit der zweiten Hälfte des
2. Jahrhunderts zu entwickeln begann. Mit der Ausbreitung der Schulen in die
grossen Lebensverhältnisse des Römerreiches schwand der Schulgeist^ erlahmte
die Polemik und stellte sich vielmehr das Bedürfniss der Ausgleichung und Ver-
schmelzung ein. Insbesondere bildete die teleologische Weltbetrachtung die Grund-
lage, auf der sich Piatonismus, Aristotelismus und Stoicismus in gemeinsamer
Gegnerschaft gegen den Epikureismus verständigen konnten.
Die Neigung zu solcher Verschmelzung, dem Synkretismus, ist zuerst
in der stoischen Schule erwacht und hat in Panaitios und Poseidonios
ihre wirkungsvollsten Vertreter gefunden, welche die Lehre der Stoa durch Auf-
nahme platonischer und aristo teUscher Momente allseitiger ausgestalteten. Ihnen
kam die jüngere Akademie entgegen, welche, nachdem Philon vonLarissa
der skeptischen Episode in der Schulentwicklung ein Ende gemacht hatte, durch
Antiochos den Versuch machte, die vielgespaltene Philosophie auf diejenigen
Lehren zu vereinigen, in denen Piaton und Aristoteles zusanunenkommen.
Unbedeutender, weil principloser, aber darum historischnicht weniger bedeut-
sam war diejenige Art des Eclecticismus, welche die Römer in der Aufiiahme
der griechischen Philosophie bethätigten, — die Zusammenstückelung nämlich,
mit der sie unter wesentlich praktischen Gesichtspunkten aus den verschiedenen
Schulsystemen die ihnen einleuchtenden Lehren an einander reihten: so geschah
es bei Cicero, Varro und zum Theil in der Schule der Sextier.
Aus der peri patetischen Schule (dem Lyceum) ist zunächst der Mitbegründer der-
selben, der wenig jUngere Freund des Aristoteles, Theophrastos von (Erebos auf) Lesbos
(etwa 370 — 287) zu erwähnen, der durch Lehre und Schriften der Schule grosses Ansehen ge-
wann. Von seinen Werken sind die botanischen, dazu ein Bruchstück der Metaphysik, Aus-
züge aus seinen „Charakteren", aus der Schrift über die Wahrnehmung, aus seiner Geschichte
der Physik und sonst Einzelnes erhalten (herausgcg. von F. Wimmer, Breslau 1842 — 62).
Neben ihm erscheinen E u d e m o s von Rhodos, Aristoxenos von Tarent, der historisch
und theoretisch über Musik arbeitete (Elemeute der Musik, deutsch von R. Wkstphal,
Leipzig 1883), Dikaiarchos von Messene, ein gelehrter Polyhistor, der eine Cultur-
geschichte Griechenlands (ßio^ ^BXXdSo^) schrieb, sodann Straton von Lampsakos, der
287—269 Schulhaupt war.
Unter den peripatetischen Doxographen sind Hermippos, Sotion, Satyros, Herakleides
Lembos (aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.), unter den späteren Commentatoren ist Alexander
von Aphrodisias (um 200 n. Chr. in Athen) zu nennen.
Die mittlere Akademie beginnt mit Arkesilaos (Arkesilas) aus Pitane in Aeolien
(etwa 315 — 241), dessen Lehren sein Schüler Lakydes verzeichnete, und endigt mit Karnea-
des (155 in Rom) und dessen Nachfolger Kleitomachos (gest. 110). Von ihren Schriften ist
nichts erhalten, Quellen sind neben Diogenes von Laerte hauptsächlich Cicero und Sextua
Empiricus.
Ebenso indirect und zudem nur ganz im Allgemeinen sind wir über die jüngere Aka-
demie unterrichtet. Philon vonLarissa war noch 87 in Rom ; seinen Nachfolger Antiochos
vonAskalon horte Cicero 78 in Athen. Zu den Vertretern des cclectischen Piatonismus in
dieser ersten, wesentlich ethischen Gestalt gehört u. A. Areios Didymos, der stark zum
Stoicismus neigte (zur Zeit des Augustus), und Thrasyllos (unter Tiberius), der sachlich ge-
ordnete Ausgaben der Schriften von Demokrit und von Piaton veranstaltete. Auch in der
Akademie hat sich eine ausgebreitete paraphrastische und commentatorische Literatur über
Platon's Werke entwickelt.
Bei den Persönlichkeiten der stoischen Schule föllt die Häufigkeit ihrer Abstam-
mung aus den hellenistischen Mischvölkem des Orients auf. So ist schon der Gründer Zenon
(etwa 340 — 265) aus seiner cyprischen Heimath als Kaufmann nach Athen gekommen und soll
dort, durch die Philosophie gefesselt, die Lehren der verschiedenen Schulen in sich aufge-
nommen haben, um dann im Jahre 30i8 die eigene zu stiften. Sein Hauptschüler war Kl.ean-
1. Ethische Periode. 127
thes aus Assos (in Troas), von dem ein monotheistischer H>innu8 auf Zeus erhalten ist, Stob.
Eclog. I dO (Wachsmüth p. 25). Das wissenschaftliche Haupt der Schule war Chrysippos
(280— -209) aus (Soloi oder Tarsos in) Kilikien; er soll ausserordentlich viel geschrieben haben,
doch sind ausser den Titeln nur ganz geringe Fragmente seiner Werke erhalten. Vgl. G. Baonet
(Loewen 1822). Unter den literarhistorischen Gelehrten der stoischen Schule sind D iogenes
der Babylonier (155 in Rom) und ApoUodoros zu nennen; auch Aristarchos und Erato-
sthenes standen der Schule nahe.
Die synkretistische Entwicklung der Stoa hat Panaitios (180 — 110), der stai*k von der
akademischen Skepsis beeinflusst war und nahe Beziehungen zu den römischen Staatsmännern
unterhielt, begonnen und Poseidonios aus dem syrischen Apamea (etwa 135 — 50) vollendet.
Der Letztere war einer der grössten Polyhistoren des Alterthums, namentlich auf geographisch-
geschichtlichem Gebiete; er lehrte in Rhodos und wurde viel von den jungen Römern, auch
von Cicero, gehört.
Ueber die Stoiker der Kaiserzeit vgl. das folgende Kapitel. — Quellen für die stoische
Lehre sind Cicero und Diogenes Laertius, Bch. YII, zum Theil auch die erhaltenen Schriften der
Stoiker aus der Kaiserzeit und die Funde von Herculanum.
D. TiEDEMANN, System der stoischen Philosophie (3 Bde., Leipzig 1776). — P. Wey-
GOLDT, Die Philosophie der Stoa (Leipzig 1883). — P. Ogereau, Essai sur le Systeme
philosophique des Stoiciens (Paris 1885). — L. Stein, Die Psychologie der Stoa (2 Bde.,
Berlin 1886—88).
Epikuros (341 — 270), in Samos als Sohn eines athenischen Schulmeisters geboren,
hatte schon in Mitylene und Lampsakos Lehrversuche gemacht, ehe er 806 in Athen die Ge-
nossenschaft gründete, die nach seinen „Gärten*' (xv]icoi, horti, wie auch die anderen Schulen
nach ihren Versammlungsorten) benannt worden ist. Er war ein ob seiner geselligen Vor-
züge viel gehebter Lehrer. Von seinen zahlreichen leicht hingeworfenen Schriften sind die
Kemsprüche (xöptat So^ai), drei Lehrbriefe, Stücke aus seiner Schrift nspl (poaeux; (in den
herculanensischen Funden) und sonst nur verstreute Fragmente erhalten; gesammelt und
systematisch geordnet bei H. Usenbr, Epicurea (Leipzig 1887).
Unter der grossen Masse seiner Anhänger hebt das Alterthum seinen nächsten Freund
Metrodoros von Lampsakos, ferner Zenon von Sidon (um 150) und Phaedrus (um 100 v. Chr.)
hervor; eine etwas deutlichere Gestalt ist für uns Philodemos aus (Gadara in) Koilesyrien
dadurch geworden, dass ein Theil seiner Schriften in Herculanum angefunden worden ist
(Herculanensium voluminum quae supersunt, erste Serie Neapel 1793 ff., zweite 1861 ff.); die
werthvollste irepl aYj^stuiv xal 0Y)2JLeta>as(uv (vgl. Fr. Bahüsch, Lyck 1879).
Das Lehi^edicht des Tit. Lucretius Carus (98 — 54) De natura rerum (6 Bchr.) ist
von Lachuann (Berlin 1850 und Jag. Bernats (Leipzig 1852) herausgegeben worden.
Weitere Quellen sind Cicero und Diogenes Laertius im 10. Buche.
Vgl. M. GuYAU, La morale d'Epicure (Paris 1878). — P. v. Gizycki, Ueber das
Leben und die Moralphilosophie des Epikur (BerL 1879). — W. Wallace, Epicureanism.
(London 1880).
Der Skepticismus tritt der Sache gemäss nicht als geschlossener Schulverband auf '),
sondern in loserer Form. Es bleibt zweifelhaft, ob der Systematisator der Skepsis, Pyrrhon
von Elis (etwa 365—275) mit der sokratisch-sophistischen Schule seiner Vaterstadt im näheren
Zusammenhange gestanden hat. Ein gewisser Bryson, der- als Sohn Stilpon's gilt, wird als
Zwischenglied angesehen. Er hat mit einem Demokriteer Namens Anaxarchos den Zug Ale-
xander^B nach Asien mitgemacht. Von Pyrrhon's Standpunkte aus hat der SillographTimon von
Phhus (320 — 230, zuletzt in Athen) die Philosophen verspottet. Fragmente bei C, Wachs-
müth, De Timone Phliasio (Leipzig 1859). Vgl. Ch. Waddinqton, Pyrrhon (Paris 1877).
Die äusseren Verhältnisse des späteren Skepticismus sind sehr dunkel und unsicher :
Ainesidemos aus Knossos hat in Alexandrien gelehrt und eine Schrift [Jup^cuvetoi Xoyoi ver-
fasst, von der nichts übrig ist. Sein Leben fällt wahrscheinlich in das 1. Jahrhundert v. Chr.
Geburt; doch ist es auch fast zwei Jahrhunderte später gesetzt worden. Von Agrippa ist gar
nichts Näheres festzustellen. Der literarische Vertreter des Skepticismus ist der Arzt Sextus
Empiricus, welcher um 200 n. Chr. lebte, und von dessen Schriften die Pyrrhonischen
Skizzen (Huj^^tuveiot &icoTuic(u3ei^) und die unter dem Namen Adversus mathematicos zu-
sammengefassten Untersuchungen erhalten sind, von denen Buch 7—11 die Darstellung der
skeptischenLehre mit vielen werthvoUen historischen Notizen enthalten (Ausgabe von J. Bekehr,
Berlin 1842).
Vgl. K. Stäüdun, Geschichte und Geist des Skepticismus (Leipzig 1794 — 95), —
1) Daher sind auch alle Berechnungen nach Diadochien von Schulhäuptem, welche zur
Feststellung der Chronologie der späteren Skeptiker vei'sucht werden, illusorisch.
128 n. HellemstiBch-rÖmiBche Philosophie. 1. Ethische Periode.
N. Maccoll, The greec soeptics (London 1869). — L. Haas, De philosophorum ecepticoram
successionibus (Würzburg 1875).
Bei den Römern stiess die Aufnahme der Philosophie Anfangs auf heftigen Widerstand;
aber schon im Anfange des 1 . Jahrh. v. Chr. war es allgemein üblich, dass der vornehme junge
Römer in Athen oder Rhodos studirte und den Vortrag der Schulhäupter zu demselben
Zwecke hörte, wie einst der Athener die Sophisten. Aus der Absicht heraus, für die allge-
meine wissenschaftliche Bildung bei seinen Landsleuten Neigung und VersUindniss zu er-
wecken, ist die schriftstellerische Thätigkeit des Marc.Tullius Cicero (106—48) zu beurtheilen
und hochzuschätzen: Geschick der Zusammenstelluug und Anmuth der Form entschädigen für
den Mangel eigener Kraft des Philosophirens, der sich in principloser Auswahl der Lehren er-
weist. Die Hauptschrifben sind De finibus. De officiis, Tusculanae disputationes, Academica,
De natura deorum, De fato, De divinatione. Vgl Hbrbart, lieber die Philosophie des Cicero ;
in Ges. W. Xn, 167 ff.
Gelehrter war sein Freund M. Terentius Varro (116 — 27), der bekannte Polyhistor
und Vielschreiber, von dessen Arbeiten zur Geschichte der Philosophie aber nur gelegentliche
Notizen erhalten sind.
Als Sextier werden die beiden QuintusSextus, Vater und Sohn, und S o t i o n von
Alexandria genannt: der Letztere scheint das Zwischenglied zu sein, durch welches die stoische
Moral mit dem alexandrinischen Pythagoreismus versetzt und zu der religiösen Wendung ge-
führt wurde, die sie in der Kaiserzeit charakterisirt. Einige ihrer (in syrischer Ueberseteung
aufgefundenen) Sentenzen hat GiLDEifBiSTfiR (Bonn 1873) herausgegeben.
Zu den ganzen literarischen Verhältnissen dieser Zeit ist zu vergleichen R. Hirzel,
Untersuchungen zu Cicero's philosophischen Schriften (3 Bde. Leipzig 1877 — 83).
% 14. Das Ideal des Weisen.
Der ethische Grundzug, den das Philosophiren dieser ganzen Periode be-
sitzt, ist noch enger dadurch charakterisirt^ dass es durchweg die Indiyidual-
ethik ist; welche den Mittelpunkt der Untersuchungen dieser Epigonenzeit bildet.
Die Erhebung zu den Idealen sittlicher Gemeinschaft, in welche die Moral sowohl
bei Piaton als auch bei Aristoteles endete, war eine ihrer Zeit fremd gewordene
Verherrlichung desjenigen, wodurch Griechenland gross geworden war, des leben-
digen Staatsgedankens. Dieser hatte die Macht über die Gemüther verloren,
und auch in den Schulen beider Männer fand er so wenig Anklang, dass Aka-
demiker wie Peripatetiker auch die Frage nach der individuellen Glückseligkeit
und Tugendhaftigkeit in den Vordergrund rückten. Was aus der Schrift des
Akademikers Krantor „über den Kummer" ^) oder aus Theophrast's Werken
unter dem Titel „ethische Charaktere" erhalten ist, steht ganz auf dem Boden
einer Philosophie, welche die rechte Abschätzung der Lebensgüter für ihre wesent-
liche Aufgabe erachtet.
Dabei befanden sich in den endlosen Discussionen über diese Fragen, welche
den Schulstreit der nächsten Jahrhunderte ausgefüllt haben, die Nachfolger der
beiden grossen Denker der attischen Philosophie in gemeinsamem Gegensatze
gegen die neuen Schulen: beide hatten die Realisirung der Idee des Guten durch
den ganzen Umfang der empirischen Wirklichkeit verfolgt und bei all' dem Idea-
lismus, mit dem namentlich Piaton über die Sinnenwelt hinausstrebte, doch den
relativen Werth ihrer Güter nicht verkannt. So hoch sie die Tugend im Werthe
stellten, so verschlossen sie sich doch der Einsicht nicht, dass zur vollkommenen
Glückseligkeit des Menschen ^) noch die Gunst des äusseren Geschicks, Gesund-
heit, Wohlhabenheit u. s. w. erforderlich seien, und sie verneinten namentlich die
kynisch-stoische Lehre, wonach die Tugend nicht nur das höchste (wie sie zu-
gaben), sondern auch das einzige Gut sein sollte.
1) Vgl. F. Kayser (Heidelberg 1841). — 2) Dieser aristotelisohen Ansicht sind die
älteren Akademiker, Speusippos und Xenokrates, durchaus beigetreten.
§ 14. Das Ideal des Weisen. (Epikur.) 129
Jedenfalls aber arbeiteten auch sie daran, die rechte Lebensführung festzu-
stellen, welche den Menschen glücklich zu machen verspricht, und während einzelne
Mitglieder der Schulen ihren speciellen Forschungen nachgingen, war die öffent-
liche Thätigkeit, namentlich der Schulhäupter in ihrer Bekämpfung der Gegner,
daraufgerichtet, das Bild des normalen Menschen zu zeichnen. Das war
es, was die Zeit von der Philosophie wollte: zeigt uns, wie der Mensch beschaffen
sein muss, der, was auch das Weltgeschick bringe, seiner Glückseligkeit sicher
ist! Dass dieser Normalmensch der Tüchtige, der Tugendhafte genannt werden
muss, und dass er diese seine Tugend nur der Einsicht, dem Wissen verdanken
kann, dass er also der ^ Weise'' sein muss, das ist die aus der sokratischen Lehre
stammende Voraussetzung, welche während dieser ganzen Zeit von allen Par-
teien als selbstverständlich anerkannt wird: und darum bemühen sich alle, das
Ideal desWeisen, d. h. des Menschen zu schildern, den seine Einsicht tugend-
haft und damit glücklich macht.
!• Das hervorstechendste Merkmal in der Begriffsbestimmung des „Weisen"
ist deshalb für diese Zeit die Unerschütterlichkeit (Ataraxie, azapaiia).
Stoiker, Epikureer und Skeptiker werden nicht müde, diese Unabhängigkeit
vom Weltlauf als den Vorzug desWeisen zu preisen: er ist frei, ein König, ein
Gott; was ihm auch geschieht, das kann sein Wissen, seine Tugend, seine Glück-
seUgkeit nicht angreifen; seine Weisheit beruht in ihm selbst, und die Welt küm-
mert ihn nicht. — Diese Zeichnung des Ideals charakterisirt ihre Zeit: der nor-
male Mensch ist für sie nicht der, welcher um grosser Zwecke willen arbeitet und
schafft, sondern der, welcher sich von der Aussen weit frei zu machen und sein
Glück in sich selbst allein zu finden weiss. Die innerliche Vereinzelung der
Individuen und ihre Vergleichgiltigung gegen allgemeine Zwecke kommt darin
zum scharfen Ausdruck: die Ueberwindung der Aussenwelt bedingt die
Glückseligkeit des Weisen.
Aber er muss die Welt, über die er ausserhalb keine Macht hat, in sich
selbst überwinden: er muss Herr werden über die Einwirkungen, welche sie auf
ihn ausübt. Diese Einwirkungen aber bestehen in den Gefühlen und Begehrungen,
welche Welt und Loben im Menschen erregen: sie sind Störungen seines eigenen
Wesens, Leidenszustände (nd^, affectus). Die Weisheit bewährt sich also in
der Art, wie sich der Mensch zu seinen Affecten ') verhält, sie ist wesentlich
Freiheit von den Affecten, Affectlosigkeit (Apathie, a7cdl>eia ist der stoische
Ausdruck). Unbewegt in sich selbst zu ruhen, das ist der Segen dieser „Weisheit".
Die sprachlichen Bezeichnungen, mit denen diese Lehre bei Epikur und
Pyrrhon eingeführt wird, weisen unmittelbar auf eine Abhängigkeit von Aristipp
und Demokrit hin. Es entspricht der allmählichen Umgestaltung, welche sich
in der hedonischen Schule vollzog (vgl. § 7, 9), dass Epikur^), welcher das Princip
derselben zu dem seinigen machte und ebenfalls die Lust als das höchste Gut
bezeichnete, doch dem momentanen Genuss auch seinerseits die dauernde Stim-
mungder Befriedigung und der Ruhe vorzog. Hatten auch die Kyrenaiker
1) Der antike, bis in die neuere Zeit (Spinoza) hinreichende Begriif des AfTects ist somit
weiter, als derjenige der heutigen Psychologie : er ist am besten durch die lateinische lieber-
Setzung „perturbationes animi: (Tcmiithsstörungen" definirt und umfasst alle Gefühls- und
Willenszustände , in denen der Mensch von der Aussenwelt abhängig ist. — 2) Als Zwischen-
glieder werden die jüngeren, stark sophistisch angehauchten Demokriteer, namentlich ein
gewisser Nausiphanes genannt, den Epikur gehört hat.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 9
130 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
das Wesen der Lust in der sanften Bewegung gefunden, so bleibt das doch immer,
meinte Epikur, eine ^Lust in der Bewegung'', und werthvoller ist der Zustand
schmerzloser und wunschloser Ruhe (fj8oW] xaxaotYjiiaTiXKj). Selbst der Muth
des Geniessens ist verloren gegangen : der Epikureer möchte zwar gern aller
Lust sich freuen, aber es darf Um nicht aufregen, ihn nicht in Bewegung setzen.
Seelenfrieden (YaXY]vto|iöc, vgl. S. 69) ist Alles, was er will, und er vermeidet
ängstUch die Stürme, welche denselben bedrohen, d. h. die Affecte.
Deshalb erkannte Epikur die Consequenz an, mit welcher die Kyniker Be-
dürfnisslosigkeit als Tugend und Glückseligkeit charakterisirt hatten; aber
er war weit entfernt, wie sie auf die Lust nun auch emsthaA zu verzichten. Zwar
müsse der Weise auch dies verstehen und ausführen, sobald es durch den Lauf
der Dinge erforderUch wird: aber seine Befriedigung wird um so grösser sein,
je reicher der Umfang der Wünsche ist, die er befriedigt findet. Eben deshalb
bedarf er der Einsicht (ypöv7]<3t<;), welche nicht nur die Abschätzung der durch
die Gefühle bestimmten Grade von Lust und Unlust ennöglicht, die im einzelnen
Falle zu erwarten sind, sondern auch entscheidet, ob und wie weit man den ein-
zelnen Wünschen Raum zu geben hat. In dieser Hinsicht unterschied der Epi-
kureismus drei Arten von Bedürfnissen : einige sind natürlich (^oaet), unentflieh-
bar vorhanden, sodass, da man ohne ihre Erfüllung überhaupt nicht zu existiren
vermag, auch der Weise von ihnen sich nicht losmachen kann; andere wieder sind
nur conventionell (vö|t(|)), künstlich und eingebildet, und ihre Nichtigkeit hat der
Weise zu durchschauen imd sie damit von sich abzuthun; zwischen beiden aber
(darin tritt Epikur der radicalen Einseitigkeit des Kynismus entgegen) hegt die
grosse Masse derjenigen Bedürfnisse, welche auch ihre natürUche Berechtigung
haben, aber zur Existenz freilich nicht unerlässUch sind. Auf sie kann der Weise
daher nöthigenfalls verzichten ; aber, da ihre Befriedigung glücklich macht, so
wird er sie so viel als mögUch zu erfüllen suchen. Die volle Seligkeit fallt dem
zu, welcher sich ohne stürmisches Streben in ruhigem Genüsse aUer dieser Güter
erfreut.
Unter ihnen schätzte aus dem gleichen Grunde Epikur die geistigen Genüsse
höher als die physischen, welche mit leidenschaftUcher Aufregung verbunden
seien: aber er sucht die geistigen Freuden nicht in der reinen Erkenntniss, son-
dern in der ästhetischen Feinheit des Lebens, in geistreichem und zartsinnigem
Umgang mit Freunden, in behaglieher Einrichtung des täglichen Daseins. So
schafit sich der Weise in der Stille die Seligkeit des Selbstgenusses, die Unab-
hängigkeit vom AugenbUck, von seinen Anforderungen und Ergebnissen: er weiss,
was er sich gewähren kann, und er versagt sich davon Nichts; aber er ist nicht
so thöricht, dem Schicksal zu grollen oder sich zu beklagen, dass er nicht Alles
zu besitzen vermag. Das ist seine Ataraxie: ein Geniessen, wie das hedonische,
aber feiner, geistiger und — blasirter.
2* In andrer Richtung hat sich Pyrrhon an den Hedonismus angelehnt,
indem er das praktische Resultat aus den skeptischen Lehren der Sophistik zu
ziehen suchte. Nach derDarstellung seines Schülers Timon meinte er, Aufgabe der
Wissenschaft sei es, die Beschaffenheit der Dinge zu untersuchen, um das sach-
gemässe Verhalten des Menschen dazu festzustellen und den Gewinn zu erkennen,
.den er von ihnen zu erwarten habe *). Nun hat sich aber nach Pyrrhon's An-
1) Euseb. praep. ev. XIV} 18, 2. Die Lehre Pyrrhon^s zeigt sich dadurch im genauesten
§ 14. Das Ideal des Weisen. (Skeptiker, Stoiker.) 131
sieht gezeigt, dass wir niemals die wahre Beschaffenheit der Dinge, sondern höch-
stens die Gefühlszustände (ira^) erkennen können, in welche dieselben uns ver-
setzen (Protagoras, Aristipp): giebt es aber keine Erkenntniss der Dinge, so kann
auch nicht bestimmt werden, welches das rechte Verhalten zu ihnen und welches
der Erfolg ist, der sich aus unserm Handeln ergeben wird. Dieser Skepticismus
ist die negative Kehrseite zu der sokratisch-platonischen Folgerung: wie dort
daraus, dass rechtes Handeln nicht ohne Wissen möghch sei, gefordert worden
war, dass Wissen möghch sein müsse, so zeigt sich hier, dass, weil es kein Wissen
giebt, auch das rechte Handeln unmöglich ist.
Unter diesen Umständen bleibt dem Weisen nur übrig, den Verleitungen
zam Meinen und zum Handeln, denen die Masse der Menschen unterliegt, so weit
wie möglich zu widerstehen. Alles Handeln geht (Sokrates) aus dem Vorstellen
über die Dinge und ihren Werth hervor; alle thörichten und unheilbringenden
Handlungen folgen aus den unrichtigen Meinungen: der Weise aber, der da weiss,
dass man nichts über die Dinge selbst aussagen kann (a^ aata) und keiner Mei-
nung zustimmen darf (axaxTXrf^icL) '), enthält sich raögUchst des Urtheils und da-
mit auch des Handelns. Er zieht sich auf sich selbst zurück, und in der Zu rück-
haltung (sico'/i^ ^) des Urtheils, die ihn vor dem Affect und vor dem falschen
Handeln bewahrt, findet er die Unerschütterlichkeit, die Ruhe in sich selbst,
die Ataraxie.
Das ist die skeptische Tugend, welche den Menschen auch von der
AVeit frei machen will, und sie findet ihre Grenze nur darin, dass es doch Ver-
hältnisse giebt, in denen sogar der auf sich selbst zurückgezogene Weise handeln
muss und wo ihm dann nichts anderes übrig bleibt, als nach dem, was ihm scheint,
und nach dem Herkommen zu handeln.
3. Tiefer ist die Ueberwindung der Welt im Menschen von den Stoikern
aufgefasst worden. Anfangs freilich haben sie sich ganz zu der kynischen Gleich-
gätigkeit gegen alle Güter der Aussen weit bekannt, und die Selbstherrlichkeit
des tugendhaften Weisen ist auch ihrer Ethik als ein unverlöschlicher Zug aufge-
prägt geblieben : aber dem radicalen Naturalismus der Kyniker haben sie durch
«ne einsichtsvolle Psychologie des Trieblebens, welche starke Abhängigkeit von
Aristoteles zeigt, sehr bald die Spitze abgebrochen. Noch mehr nämlich' als der
Stagirit betonen sie die EinheitUchkeit und Selbständigkeit der individuellen
Seele ihren einzelnen Zuständen und Thätigkeiten gegenüber, und so wird bei
ihnen zuerst die Persönlichkeit zu einem massgebenden Priucip. Die Leite-
kraft der Seele (t6 i^s|iovcxöv) ist ihnen nicht nur dasjenige, was die Empfindungs-
reize der einzelnen Organe erst zu Wahrnehmungen macht,, sondern auch das-
jenige, was die Gefiihlserregungen durch seine Zustimmung^) (GOY^axd^atc) in
WUlensthätigkeiten verwandelt. Dies zu einheitlicher Auffassung und Gestaltung
berufene Bewusstsein ist nun seinem eigenthchen und wahren Wesen nach Ver-
nunft (voöc); darum widersprechen die Zustände, in denen sich dasselbe durch
ZornnmeohaDg mit der Zeitrichtung ; sie fragt: was sollen wir denn nun thun, wenn es keine
Erkenntniss giebt?
1) Bin Ausdruck, der vermnthlich in der Polemik gegen den stoischen Begriff der
vKukri'^^ gebildet worden ist; vffi. § 17. — 2) Die Skeptiker wurden mit Rücksicht auf diesen
Hirsie charakteristischen Terminus auch dieEphektiker genannt. — 3) Diese Zustimmung
beruht freilich auch nach den Stoikern auf einem Urtheil, beim Affect also auf einem falschen,
ftber tie ist doch zugleich der mit dem Urtheil verbundene Willensact; vgl. § 17.
132 II. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
die Heftigkeit der Erregung zur Zustimmung fortreissen lässt^ gleicbmässig seiner
eigenen Natur und der Vernunft. Diese Zustände (affectus) sind deshalb solche
des Leidens (icd^) und der Seelenkrankheit, naturwidrige und vernunftwidrige ')
Seelenstörungen (perturbationes). Der Weise wird daher; wenn er sich auch dem
Weltlauf gegenüber jener Gefühlserregungen nicht erwehren kann, mit der Kraft
der Vernunft ihnen die Zustimmung verweigern : er lässt sie nicht zu Affecten wer-
den, seine Tugend ist die Affectlosigkeit (sTcdd^ia). Seine üeberwindung der
Welt ist diejenige seiner eigenen Triebe. Erst durch unsere Zustimmung werden
wir vom Lauf der Dinge abhängig: halten wir sie zurück, so bleibt unsere Per-
sönlichkeit unverrückbar auf sich selbst gestellt. Kann der Mensch nicht hindern,
dass das Schicksal ihm Lust und Schmerz bereitet, so vermag er doch, indem er
die erstere nicht für ein Gut und den letzteren nicht für ein Hebel erachtet, das
stolze Bewusstsein seiner Selbstgenügsamkeit zu bewahren.
An sich ist daher freilich für die Stoiker die Tugend das einzige Gut und
andrerseits das Laster, welches in der HeiTSchaft der AiFecte über die Vernunft
besteht, das einzige Uebel, und an sich gelten ihnen demnach alle anderen Dinge
und Verhältnisse als gleichgiltig (aStdyopa) *). Aber schon in ihrer Gtiterlehre
mildern sie den Rigorismus dieses Satzes durch die Unterscheidung des Wünschens-
werthen und des Verwerflichen (7cpOY]7|iiva und aicoTrpo-ijYiiiva). So sehr sie dabei
nun auch betonten, dass der Werth (aö«), welcher dem Wünschenswerthen zu-
komme, genau von dem an sich Guten der Tugend zu unterscheiden sei, so ergab
sich doch daraus von selbst im Gegensatze zu der kynischen Einseitigkeit eine
wenigstens secundäre Schätzung der Lebensgüter: denn indem das Wünschens-
werthe deshalb gewerthet wurde, weil es das Gute zu fordern geeignet schien,
und umgekehrt der Unwerth des Verwerflichen in den Hemmungen bestand, welche
es der Tugend bereitet, so wurden damit die Fäden zwischen dem selbstgenüg-
samen Individuum und dem Weltlauf, welche die kynische Paradoxie zerschnitten
hatte, mehr und mehr wieder angesponnen. Nur in demjenigen, was in gar keine
Beziehung zur Sittlichkeit gebracht werden konnte, blieb dann schliesslich das
Mittlere zwischen Wünschenswerthem und Verwerflichem, das absolut Gleich-
giltige übrig.
Wie diese Unterscheidungen allmähUch durch Verdrängung des kynischen
Elements den Stoicismus lebensfähiger und, sozusagen, weltmöglicher gemacht
haben, so ist eine ähnliche Wendung, durch welche er pädagogisch braucbbai'er
wurde, in der späteren Aufhebung des schroffen Gegensatzes zu sehen , welcher
anfanglich zwischen den tugendhaften Weisen und den lasterhaften Thoren
(yaöXot, |iü>po{) statuirt wurde. Der Weise, hatte es Anfangs geheissen, ist ganz
und in Allem weise und tugendhaft, der Thor ist ebenso ganz und in Allem
thöricht und sündhaft: ein Mittleres gicbt es nicht. Besitzt der Mensch die Kraft
und die Gesundheit der Vernunft, mit der er seine Affecte beherrscht, so besitzt
1) Diog. Laert. VIT, 110: xh «all'oc — t) 5Xoyo; xal Kitpa «pü^tv 'J'üxyj(; xivY|^t^ ^ ^PM-"*!
icXeovdCouaa. Die psychologische Theorie der Affecte ist namentlich von Chrysippos aus-
gebildet worden : als Grundformen unterschied schon Zenon Lust und Unlust, Begierde und
Furcht. Als Principien der Eintheilung scheinen bei den Spateren theils Merkmale der den
Affect hervorrufenden Vorstelhmgen und Urtheile, theils solche der daraus hcrvorgeheudeu
Gefühls- und Willenszustände gedient txi haben : vgl. Diog. Laert. VII, 111 ff. ; Stob. Ecl. II,
174 ff. — 2) Indem sie dazu auch das Leben rechneten, kamen sie zu ihrer bekannten Ver-
theidigung bzw. Empfehlung des Selbstmordes (e{a-fu>Y'rj). Vgl. Diog. Laert. VII, 130. Seneca,
Ep. 12, 10.
§ 14. Das Ideal des Weises. (Stoiker, Epikureer.) 133
er mit dieser Einen Tugend zugleich alle einzelnen, besonderen Tugenden ^), und
so ist dieser Besitz, der allein glücklich macht, unverlierbar: fehlt ihm dies, so ist
er ein Spielball der Dinge und seiner eigenen Leidenschafben, und diese Grund-
krankheit seiner Seele theilt sich seinem ganzen Thun und Leiden mit. Deshalb
standen nach der Ansicht der Stoiker die wenigen Weisen als vollkommene Men-
schen dem grossen Haufen der Thoren und Sünder gegenüber, und in gar manchen
Declamationen haben sie mit dem pharisäischen Pessimismus, der dem Selbst-
gefühl so wohlthut, über die Schlechtigkeit der Menschen geklagt. Aber dieser
ersten Meinung, welche alle Thoren als gleich verwerflich ansah, stellte sich denn
doch die Ueberleguug gegenüber, dass unter denselben hinsichtlich ihres Ab-
standes von dem Ideale der Tugend immerhin beträchtliche Unterschiede ob-
walten, und so wurde zwischen Weisen und Thoren der Begriff des in der Besse-
rung befindhchen, fortschreitenden Menschen (irpoxoictoov) eingeschoben. Zwar
hielten die Stoiker daran fest, dass auch von dieser Besserung aus kein allmäh-
licher Uebergang zur wahren Tugend stattfinde, dass vielmehr der Eintritt in
den Zustand der YoUkonmienheit durch einen plötzlichen Umschlag erfolge: aber
wenn die verschiedenen Stadien des sittUchen Fortschritts (irpoxo^) untersucht
wurden und als das höchste davon ein Zustand bezeichnet war, worin die Apathie
zwar erreicht, aber noch nicht zu voller Sicherheit und Selbstgewissheit gekommen
sei ^), so waren damit die rigorosen Abgrenzungen doch einigermassen verwischt.
4* Trotz dieser praktischen Concessionen bleibt doch schliesslich auch in
dem stoischen Lebensideal der Bückzug der Einzelpersönlichkeit auf sich selbst
ein wesentUches Merkmal: aber andrerseits hat dies gemeinsame Kennzeichen
der Weisheit der griechischen Epigonen nirgends eine so werthvoUe Ergänzung
gefunden, wie bei den Stoikern. Der Skepticismus hat, soweit wir sehen können,
eine solche positive Ergänzung (consequenter Weise) überhaupt nicht gewollt,
und der Epikureismus hat sie in einer Bichtung gesucht, welche die Einschrän-
kung des ethischen Interesses auf die individuelle Glückseligkeit in der schärfsten
Form zum Ausdruck brachte. Denn der positive Inhalt jener vor den Stürmen
der Welt geborgenen Seelenruhe des Weisen ist für Epikur und die Seinen doch
zuletzt nur die Lust. Dabei fehlt ihnen freilich der sinnlichkeitsfrohe Muth, mit
dem Aristippos den Genuss des Augenblicks und die Freuden des Leibes zum
höchsten Zweck erhoben hatte, und wir finden, wie schon oben erwähnt, in
ihrer Lehre vom höchsten Gut die blasirte, wohl abgewogene Feinschmec^erei
des Culturmenschen zimi sittlichen Lebensinhalt erklärt. Freilich reducirte
Epikur in der psychogenetischen Erklärung ausnahmslos alle Lust auf diejenige
der Sinne oder, wie man später sagte, des Fleisches ^); aber mit Bestreitung
der Kyrenaiker erklärte er^), dass gerade diese abgeleiteten und damit ver-
feinerten Freuden des Geistes denen der Sinne weit überlegen seien. Sehr richtig
erkannte er, dass das Individuum, auf dessen Unabhängigkeit von der Aussen-
welt ja Alles ankommen sollte, der geistigen Genüsse sehr viel sicherer und sehr
viel mehr Herr sei als der materiellen. Die Freuden des Leibes hängen an der
Gesundheit, dem Reichthum und anderen Gaben des Glücks : was aber Wissen-
1) Der systematischen Entwicklung der Tugcndlehre legten auch die Stoiker die
platonischen Cardinaltagenden zu Grunde: Stob. Ecl. 11, 102 ff, — 2) Vgl. den Bericht (ver-
muthlich über Chrysipp) bei Seneca, Ep. 75, 8 ff. — 3) Athen. XU, 546 (Us. fr. 409) Plut. ad.
Col. 27, 1122 (Us. fr. 411), id. contr. Epic. beat. 4, 1088 (U8.fr.429). — 4) Diog. Laert. X, 137.
134 ü. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
Schaft und Kunst^ was die freundschaftliche Lebensgemeinschaft edler Menschen,
was die bedürfnisslose ^ selbstzufriedene Ruhe des von Leidenschaften befreiten
Geistes gewälirt , das ist, vom Wechsel der Geschicke wenig oder gar nicht be-
rührt, des Weisen sicherer Besitz. Der ästhetische Selbstgenuss des ge-
bildeten Menschen ist daher das höchste Gut für den Epikureer. Gewiss war
damit das Grobe und Sinnliche aus dem Hedonismus fortgefallen^ und die Gärten
Epikur's waren eine Pflanzstätte schöner Lebensführung, feinster Sitten und edler
Beschäftigungen: aber dasPrincip individuellen Genusses war dasselbe geblieben,
und der Unterschied war nur der^ dass das alternde Griechenthum mit seineu
römischen Schülem raffinirter, geistiger, feinfühliger geuoss als die jugendlichen
und männlichen Vorfahren. Nur der Inhalt; den die reicher entfaltete und tiefer
ausgelebte Cultur dem Genüsse darbot, war werthvoUer geworden: die Gesinnung,
mit der man nicht mehr in hastigem Tranke, sondern in bedächtigen Zügen des
Lebens Becher lächelnd leerte, war derselbe pflichtlose Egoismus. Daher denn
auch hier, freilich mit noch grösserer Vorsicht, die innere Gleichgiltigkeit des
Weisen gegen sittliches Herkommen und landgewohnte Regeln, daher vor Allem
die Ablehnung aller religiösen oder metaphysischen Vorstellungen, welche den
Weisen in dieser selbstgefälligen Genügsamkeit des Geniessens stören und ihn
mit dem Gefühle der VerantwortUchkeit und der Pflicht belasten könnten.
5. Hierzu bildet nun die stoische Ethik den stärksten Gegensatz.
Schon der an Aristoteles (§ 13, 11) anklingende Gedanke, dass die Seele in der
Vernunftkraft, mit der sie den Trieben die Zustimmung versagt, ihr eigenes
Wesen zur Geltung bringe, lässt den eigenthümlichen Antagonismus zu Tage tre-
ten, den die Stoiker im menschlichen Seelenleben annahmen. Gerade das nämlich,
was man jetzt etwa die natürlichen Triebe nennt, die von Dingen der Aussenwelt
durch die Sinne hervorgerufenen und darauf bezüglichen Gefühls- und Willens-
erregungen, gerade dies erscheint ihnen, wie erwähnt, als das Widernatürliche
(Trapd fUGtv): die Vernunft dagegen gilt ihnen als die „Natur^ nicht nur des
Menschen, sondern des Weltalls überhaupt. Wenn sie deshalb die kynischen
Sätze zu den ihrigen macheu, wonach das Sittliche mit dem Natürlichen gleich-
gesetzt wird, so enthält der gleiche Ausdruck bei ihnen einen völlig veränderten
Gedanken. Als ein Theü der Weltvemunft schliesst die Seele von sich die sinn-
liche Triebbestimmtheit, worauf die Kyniker die Moralität reducirt hatten, als
ein Widerstrebendes aus : die Forderungen der Natur, mit denen der Vernunft
identisch, sind im Widerspruch mit denen der Sinne.
Hiernach erscheint nun der positive Lihalt der Sittlichkeit bei den Stoikern
als Debereinstimmung mit der Natur und damit zugleich als ein G e -
setz, welches dem Sinnenmenschen gegenül)er normative Geltung beansprucht
(vötio<;) *). In dieser Formel aber gilt „Natur^ zugleich in doppeltem Sinne'). Es
ist einerseits die aUgemeine Natur gemeint, die schaffende Weltkraft, der zweck-
thätige Weltsinn (vgl. § 15), der XÖ70(;: und dieser Bedeutung gemäss ist die
Moralität des Menschen seine Unterordnung unter das Naturgesetz, sein wilUger
Gehorsam gegen den Lauf der Welt, der ewige Nothwendigkeit ist, und sofern
als diese Weltvernunft in der stoischen Lehre als Gottheit bezeichnet wird, auch
1) Damit vollzieht sich eine iDtercssantc Wandlung der Bophistischen Terminolo^e,
welche (§ 7, 1) vofto^ und ^oi^ gleichgesetzt und der 9601^ gegenübergeBtellt hatte: bei den
Stoikern ist vielmehr vojio^ = «poai^. — 2) Vgl. Diog. Lacrt. vfl, 87.
§14. Das IdeHl des Weisen. (Stoiker.) 135
der Gehorsam gegen Gott und das göttliche Gesetz, sowie dieünteroi'dnung unter
den Weltzweck und das Walten der Vorsehung. Die Tugend des vollkommenen
Individuums, das den übrigen Einzelwesen und ihrer sinnlichen Einwirkung
gegenüber sich so selbstherrlich auf sich zurückziehen und in sich ruhen sollte,
erscheint damit unter ein Allgemeinstes, Allwaltendes gebunden.
Da jedoch nach stoischer Auffassung ein wesensgleicher Theil dieser gött-
Uchen Weltvemunft das i^Y&P'Ovtxov, die Lebenseinheit der menschUchen Seele, ist,
so muss das naturgemässe Leben auch dasjenige sein, welches der mensch-
lichen Natur, dem Wesen des Menschen angemessen ist, und zwar sowohl in
dem allgemeineren Sinne, dass Sittlichkeit mit echter, voller Menschlichkeit und
mit der für Alle gleichmässig geltenden Vemünftigkeit zusammenfallt, als auch
in der besonderen Richtung, dass mit der Erfüllung jenes Naturgebots jeder
Einzelne auch den innersten Kern seines individuellen Wesens zur Entfaltung
bringe. In der Verknüpfung beider Gesichtspunkte erschien den Stoikern die
von vernünftigen Gesichtspunkten geleitete Gonsequenz der Lebensführung als
das Ideal der Weisheit, und sie fanden die höchste Aufgabe darin, dass der
Tugendhafte diese durchgängige Uebereinstimmung mit sich selbst^) in allem
Wechsel des Lebens als seine wahre Charakterstärke zu bewähren habe. Der
politische Doctrinarismus der Griechen fand so seine philosophische FormuUrung
und wurde eine willkommene Ueberzeugung für die eisernen Staatsmänner des
republicanischen Bom.
Wie aber auch immer die einzelnen Wendungen sein mochten, in denen
die Stoiker ihrem Grundgedanken Ausdruck gaben, dieser selbst war überall
derselbe: dass das natur- und vernunftgemässe Leben eine Pflicht (xa^xov)
sei, welche der Weise zu erfüllen, ein Gesetz, dem er sich im Gegensatz zu seinen
sinnlichen Neigungen unterzuordnen habe. Und dies Verantwortlichkeits-
gefühl, dies strenge Bewusstsein des SoUens, diese Anerkeniying einer höheren
Ordnung giebt ihrer Lehre wie ihrem Leben Bückgrat und Mark.
Auch diese Forderung des pflichtgemässen Lebens tritt gelegentlich bei
den Stoikern mit jener Einseitigkeit auf, dass das ethische Bewusstsein Einiges
aus Vernunftgründen verlangt, das Entgegenstehende verbietet und alles Uebrige
iur sittlich gleichgiltig erklärt. Was nicht geboten und nicht verboten ist, bleibt
moralisch indifferent (aStd^opov), und daraus ziehen die Stoiker manchmal gar
laxe Folgerungen, die sie vielleicht mehr den Worten als der Gesinnung nach
vertreten haben. Aber auch hier hat die systematische Ausbildung der Theorie
werthvoUe Zwischenglieder geschaffen. Ist nämlich auch nur das Gute unbedingt
geboten, so muss doch secundär auch das Wünschenswerthe als sittlich rathsam
betrachtet werden, und wenn freUich die eigentliche Schlechtigkeit erst im Wollen
des unbedingt Verbotenen besteht, so wird doch der sittliche Mensch auch das
„Verwerfliche^ zu vermeiden suchen : so trat der Abstufung der Güter gemäss auch
eine solche der Pflichten ein, welche als absolute und „mittlere'' unterschieden
wurden. Ebenso aber wurde andrerseits hinsichtlich der Werthung menschlicher
Handlungen mit sachlich etwas verändertem Princip zwischen solchen unter-
schieden, welche die Forderung der Vernunft ^) äusserlich erfuUen, — diese heissen
1) So haben die Formeln ofJLoXoYoafJL^vux; xij (possi Cyjv und die andere biuoko-^oojdvio^
Cy}v schliesslich denselben Sinn: Stob. £cl. 11. 132. — 2) osa 6 Xoyo^ alpet noietv: Dioff. Laert.
VII, 108.
1
136 II. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
geziemend; pflichtmässig im weiteren Sinne (xa^xovta) — , und solchen, welche
dies lediglich aus der Gesinnung, das Gute thun zu wollen, vollziehen: nur im
letzteren Falle ') liegt eine vollkommene Pflichterfüllung (xatöp&a>(ta) vor, deren
Gegentheil die in einer Handlung bethätigte pflichtwidrige Gesinnung, die Sünde
(a|xi(/n]ii.a) ist So haben sich die Stoiker vom Pflichtbewusstsein aus auf das
ernsteste und zum Theil bis zu casuistischen Betrachtungen in die sittlichen
Werthbestimmungen menschUchen WoUens und Handelns vertieft, und es darf
als ihre werthvollste Leistung der nach allen Seiten hin gewendete Gedanke be-
trachtet werden, dass der Mensch mit all seinem Thun und Lassen, äusserUch
und innerlich, einem höheren Gebote verantwortlich ist.
6. Die grosse Verschiedenheit sittlicher Lebensaufifassung, welche somit
trotz einer Anzahl tief und auch weit gehender Gemeinsamkeiten zwischen den
Epikureern und den Stoikern besteht, kommt am deutlichsten in den beider-
seitigen Theorien von der Gesellschaft und vom Staat zur Geltung. Darin
freiUch sind beide bis zu fast wörUicher Uebereinstimnmng einig, dass der Weise
in der Selbstgenügsamkeit seiner Tugend des Staates ^) so wenig als irgend einer
anderen Lebensgemeinschaft bedarf, ja dass er solche im Interesse sei es des
Selbstgenusses sei es der Pflichterfüllung unter Umständen zu meiden habe. In
diesem Sinne rathen selbst Stoiker, namentlich spätere, vom Eintritt in das
Familienleben und in die poUtische Thätigkeit ab ; und dem Epikureer genügte
die Verantwortlichkeit, welche die Ehe und die öffentliche Wirksamkeit mit sich
bringen, um sich gegen beide sehr skeptisch zu verhalten und namentlich die
letztere für den Weisen nur in dem Falle rathsam erscheinen zu lassen, wo sie
unvermeidlich oder von ganz sicherem Vortheil ist. Im Allgemeinen gilt für die
Epikureer das Xad-e ßuoaa«; ihres Meisters, die Maxime, in der Stille zu leben %
worin die innerhche Zerbröckelung der alten Gesellschaft ihren typischen Aus-
druck gefunden hat.
Allein ein grosser Unterschied zwischen beiden Lebensauffassungen zeigt
sich doch darin, dass den Stoikern die Lebensgemeinschaft der Menschen als ein
Vernunftgebot erschien, welches nur gelegentUch hinter der Aufgabe der per>
sönlichen Vollkommenheit des Weisen zurückstehen müsse, während Epikur
jede natürliche Gemeinschaft zwischen den Menschen ausdrücklich verneinte *)
und deshalb jede Form des geselligen Zusammenschlusses auf utilistische Ueber-
legungen zurückführte. So findet die Theorie der in seiner Schule so eifrig und
bis zur Sentimentalität gepflegten Freundschaft nicht den idealen Rückhalt, wie
in der herrlichen Darstellung des Aristoteles ^), sondern im Grunde genommen
doch nur die Motive des in der Gemeinschaft gesteigerten Bildungsgenusses
der Weisen*).
Insbesondere aber hat nun der Epikureismus die schon in der Sophistik
(§ 7, 1 u. 2) entwickelten Vorstellungen über den Ursprung der staatlichen Ge-
1) Für den hier von den Stoikeru berührten Gegensatz hat Kant die Ausdrücke
Legalität und Moralität üblich gemacht : das Lateinische unterscheidet nach Oicero's Vor-
finj?e rectum und honestum. — 2) Epik, bei Flut, de aud. poot 14, 37 (Us. fr. 548^, —
) rlutarch schrieb dagegen das (1128 ff.) erhaltene Schriftcheu et xaXui^ Xi^etai xb Vdds
ßtmoa«;. — 4) Arnan, Epict. diss. I 23, 1 (Us. fr. 525); ibid. II, 20, 6 (523). — 5) Vgl. § 13,
12. Die umfangprciche Litteratur über die Freundschaft ist in dieser Hinsicht ein charaktensti-
sühes Zeichen der Zeit, welche auf die Einzelpersönlichkeit und ihre Beziehungen das
Schwetvewicht ihres Interesses legte. Gicero^s Dialog Laelius reproducirt wesentlich die peri-
patetische Auffassung. — 6) Diog. Lacrt. X , 120 (Us. fr. 540).
§ 14. Das Ideal des Weisen. (Epikureer, Stoiker.) 137
meinschafb aus dem wohl erwogenen Interesse der Einzelnen systematisch durch-
geführt. Der Staat ist kein natürliches Gebilde, sondern von den Menschen um
der Vortheile willen, die man von»ihm erwartet und auch erhält, mit Ueberlegung
zu Stande gebracht worden. Er wächst aus einem Vertrage (cjovOtjxt]) hervor,
den die Menschen mit einander eingehen, um sich gegenseitig nicht zu schädigen ^),
und die Staatsbildimg ist daher einer der mächtigen Vorgänge, durch welche das
Menschengeschlecht vermöge seiner wachsenden InteUigenz aus dem Stande der
Wildheit sich zur Civilisation heraufgearbeitet hat ^). Die Gesetze sind also in
jedem einzelnen Falle einer Uebereinkuuft über gemeinsamen Nutzen (a6(JLßoXoy
too (3t>{i^fiOvtoc) entsprungen ; es giebt nichts an sich Rechtes oder unrechtes,
und da bei dem Vertrage selbstverständlich die grössere Intelligenz sich zu eigenen
Gunsten geltend macht, so sind es meistens die Vortheile der Weisen, welche
sich als die Motive der Gesetzgebung erweisen ^). Und wie für den Ursprung
und Inhalt, so ist auch für die Geltung und die Anerkennung der Gesetze die
Summe der Unlust, welche sie zu verhindern, und der Lust, welche sie herbei-
zufuhren geeignet sind, allein massgebend. Alle Grundzüge der utilistischen
Gesellschaftslehre entwickeln sich bei Epikur folgerichtig aus der atomi-
stischen Voraussetzung, dass die Individuen zunächst auf sich und für sich be-
stehen und erst um der Güter willen, die sie allein nicht erreichen oder nicht
schützen können, freiwillig und absichtsvoll die Lebensgemeinschaft eingehen.
7. Den Stoikern dagegen gilt der Mensch schon vermöge der Wesens-
gleichheit seiner Seele mit der Weltvemunft als ein von Natur zur Gemeinschaft
bestimmtes Lebewesen *\ eben damit aber auch durch das Vemunftgebot zur
Geselligkeit in einer Weise verpflichtet, welche nur besondere Ausnahmsfalle zu-
lässt. Als das nächste Verhältniss erscheint nun auch hier die Freundschaft, der
sittliche Lebenszusammenhang tugendhafter Individuen mit einander, die in ge-
meinsamer Bethätigung des ethischen Gesetzes vereinigt sind ^). Aber von diesen
rein persönlichen Beziehungen springt die stoische Lehre sogleich auf das All-
gemeinste über, auf die Gesämmtheit der vernünftigen Wesen überhaupt. Als
Theile derselben Einen Weltvemunft bilden Götter und Menschen zusammen
Einen grossen, vernünftigen Lebenszusammenhang, ein TcoXtttxöv aoanjiia, worin
jeder Einzelne ein nothwendiges GUed ist ((liXoc), und daraus ergiebt sich für
das Menschengeschlecht die ideale Aufgabe, ein aUe seine Glieder um-
schlingendes Vernunftreich zu bilden.
Der Idealstaat der Stoiker, wie ihn schon Zenon in zum Theil polemischer
Parallele zu dem platonischen zeichnete, kennt somit keine Schranken der Natio-
nalität oder des historischen Staates, er ist eine vernünftige Lebensgemeinschaft
aller Menschen, — ein ideales Weltreich. Schon Plutarch hat erkannt®), dass die
philosophische Construction damit dasjenige als veniünftig construirte, was sich
historisch durch Alexander den Grossen anbahnte und was, wie wir wissen, durch
die Römer vollendet wurde. Aber es darf nicht unbeachtet bleiben, dass die
1) Vgl. unter Epikur's xoptat 866«: die lapidaren Sätze Diog. Lacrt. X, 150 f. — 2) Vgl.
die Schilderung bei Lucret. de rer. nat. V, 922 ff., besonders 1103 ff. — 3) Stob. flor. 43, 139
(ÜB. fr. 530). — 4) Xü>v «poaet izoKixiinmv Cü>ü)v: Stob. Ecl. II, 226 ff. — 6) Freilich wurde es
den Stoikern ausserordentlich schwer, die Bedürftigkeit, welche sie als eine dem Geselligkeits-
triebe EU Grunde liegende Thatsache anerkennen mussten, mit der gerade von ihnen so schroff
betonten Selbstherrlichkeit des Weisen in Einklang zu bringen. — 6) Plut. de Alex. M. fort. 1, 6.
138 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
Stoiker dies Weltreich erst secundär als politische Macht, dass sie es in erster
Linie als eine geistige Einheit der Erkenntniss und des Willens gedacht haben«
Es ist begreiflich, dass bei einem so hocbfliegenden Idealismus die Stoiker
für das eigentlich Politische nur ein sehr abgeschwächtes Interesse übrig belüelten.
Wenn auch dem Weisen, um seine Pflicht für die Gesammtbeit selbst in dieser
schlechten Welt zu erfüllen, die Betheiligung an einem besonderen Staatsleben ge-
stattet und sogar aufgegeben wurde, so sollten ihm doch sowohl die einzelnen Staats-
formen als auch die historischen Einzelstaaten schliesslich gleichgiltig sein. In ers-
terer Hinsicht vermochte sich die Stoa für keine der ausgeprägten Verfassungsarten
zu begeistern, hielt sich vielmehr, der aristotelischen Andeutung folgend, an ein
gemischtes System, etwa in der Weise, wie es auch Polybios *) auf Grund seiner
geschichtsphilosophischen Betrachtung über die nothwendigen Uebergänge der
einseitigen Formen in einander als wünschenswerth liinstellte. Der staatlichen
Zersplitterung der Menschheit aber hielten die Stoiker die Idee des W e 1 1 -
bürgerthums entgegen, welche sich ihnen unmittelbar aus jener Vorstellimg
von einer sittlichen Lebensgemeinschaft aller Menschen ergab. Es entsprach
den grossen Bewegungen der Zeitgeschichte, dass sie den Werthunterschied von
Hellenen und Barbaren, den noch Aristoteles vertreten hatte'), als überwunden
bei Seite schoben % und wenn sie auch gegen äussere Verhältnisse der Lebens-
stellung ihrem ethischen Frincip nach zu gleichgiltig waren, um für sociale B.e-
formen in agitatorische Thätigkeit zu treten, so verlangten sie doch, dass die G e -
rechtigkeit und die allgemeine Menschenliebe, welche sich als oberste
Pflichten aus der Idee des Vemunflreichs ergeben, auch den untersten Gliedern der
menschlichen Gesellschaft, den Sklaven, in vollem Masse zugewendet werden sollten.
Trotz ihrer Abwendung von dem griechischen Gedanken des National-
staates gebührt somit der stoischen Ethik der Ruhm, dass in ihr das Rei&te und
Höchste, was das sittliche Leben des Alterthums erzeugt und womit es über sich
selbst hinaus in die Zukunft gedeutet hat, zur besten Formulirung gelangt ist :
der Eigenwerth der moralischen Persönlichkeit, die Ueberwindung der Welt
in der Selbstüberwindung des Meuschen, die Unterordnung des Einzelnen unter
ein göttliches Weltgesetz, seine Einordnung in einen idealen Zusammenhang
der Geister, wodurch er weit über die Schranken seines irdischen Lebens hinaus-
gehoben wird, und dabei doch das energische Pflichtgefühl, das ihn thatkräfiig
seinen Platz in der Wirklichkeit ausfüllen lehrt, — alles dies sind die Merkmale
einer Lebensanschauung, welche, wenn sie auch wissenschaftlich mehr zusammen-
gefügt als einheitlich erzeugt erscheinen, doch eine der gewaltigsten und folge-
reichsten Bildungen in der Geschichte der menschlichen Lebensaufiassung
darstellen.
8. Concentrirt erscheinen alle diese Lehren in dem Begriffe des durch
Natur und Vernunft für alle Menschen gleichmässig bestimmten Lebensgesetzes :
TÖ ^0061 Stxaiov, und dieser Begriff ist durch Vermittlung Cicero 's*) zum gestal-
tenden Princip der römischen Jurisprudenz geworden,
1) In dem erhaltenen Theile des sechsten Buches. — 2) Aristot. Pol. I 2, 12521) 5. —
B) Sencc. Ep. 95, 52; cf. Strabon 1, 4, 9. Auch die persönliche Zusammensetzung der stoischen
Schule war von Anfang an entschieden international. — 4) Es kommen hauptsächlich zwei
nur theilweise erhaltene Scluriflen desselben in Betracht: De republica und de legibus. Vgl.
M. Voigt, Die Lehre vom jus naturale u. s. w. (Leipzig 1856) und K. UildenbbamDi Geschichte
und System der Rechts- und Staatsphilosophic I, 523 ff.
§ 15. Mechanismus und Teleologie. 139
Dieser nämlich hielt in seiner eclectischen Anlehnung an alle Grössen der
attischen Philosophie nicht nur objectiv an dem Gedanken einer sittlichen Welt-
ordnung; welche das Yerhältniss vernünftiger Wesen zu einander allgemeingiltig
bestimme^ mit aller Energie fest^ sondern er meinte auch in subjectiver Hinsicht
— seiner erkenntnisstheoretischen Ansicht (§ 17^ 4) entsprechend — , dass dies
Yemunftgebot allen Menschen gleichmässig eingeboren und mit ihrem Selbst-
erhaltungstriebe untrennbar verwachsen sei. Aus dieser lex naturae, dem all-
giltigen Naturgesetz ; welches über alle menschliche Willkür und über allen
Wechsel des historischen Lebens erhaben ist, entwickeln sich^ wie die Gebote der
Sittlichkeit überhaupt, so auch diejenigen der menschlichen Lebensgemeinschaft:
das jus naturale. Indem aber Cicero daran geht, von diesem Standpunkte aus
die ideale Form des politischen Lebens zu entwerfen, nimmt unter seinen Händen ^)
der stoische Weltstaat die Linien des Römerreichs an. Der Kosmopolitismus,
bei den Griechen als fernes Ideal im Niedergange ihrer eigenen politischen Be-
deutung entsprungen, wird bei den Römern zum stolzen Selbstbewusstsein ihrer
historischen Mission.
Aber schon in diese theoretische Entwicklung dessen, was der Staat sein
soll, flicht Cicero die Untersuchung darüber, was er ist. Nicht aus der Ueber-
legung oder der Willkür der Einzelnen hervorgegangen, ist er vielmehr ein Pro-
duct der Geschichte, und deshalb mischen sich in seinen Lebensformen die evrig
giltigen Bestimmungen des Naturgesetzes mit den historischen Satzungen des
positiven Rechtes : diese entwickeln sich theils als das innere Recht der einzelnen
Staaten, jus civile, theils als das Recht, welches die Genossen verschiedener
Staaten im Yerhältniss zu einander anerkennen, jus gentium. Beide Arten des
positiven Rechtes decken sich in ihrem ethischen Inhalt auf weite Strecken mit
dem Naturrecht, aber sie ergänzen dasselbe durch die Fülle historischer Be-
stimmungen, die in ihnen zur Geltung gelangen.
Diese Begriffsbildungen haben nicht nur die Bedeutung, dass sie für eine
neue, bald von der Philosophie sich auszweigende Specialwissenschaft das Gerippe
abgegeben haben, sondern auch den Sinn, dass in ihnen der Werth des Histo-
rischen zum ersten Mal zu voller philosophischer Werthung gelangt: und an
diesem Punkte hat Cicero die politische Grösse seines Volkes in eine wissen-
schaftliche Schöpfung zu verwandeln gewusst.
§ 15. Hechanismus und Teleologie.
Der Schulbetrieb der nacharistotelischen Zeit sonderte die philosophischen
Untersuchungen in drei grosse Haupttheile: Ethik, Physik und Logik (die letztere
bei den Epikureern Kanonik genannt). Unter diesen lag das Hauptinteresse über-
all bei der Ethik, und dem principiellen Zusammenhange nach wurde den beiden
anderen nur soweit Bedeutung zugestanden, als das richtige Handeln eine Er-
kenntniss der Dinge und diese wieder eine Klarheit über die rechten Methoden
des Erkennens voraussetzt. Daher sind allerdings auch die Hauptrichtungen
derphysicalischenundder logischen Ansichten in dieser Zeit durch die ethischen
Gesichtspunkte bestimmt, und das praktische Bedürfniss befriedigt sich leicht durch
Aufnahme und Umbildung der älteren Lehren: aber es machen dabei doch in der
wissenschaftlichen Arbeit die grossen Gegenstände, namentlich die metaphy-
1) Cic. de rep. 11, Iff.
140 n. HelleDistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
sischcD und physischen Probleme, ihre fesselnde Kraft geltend; und so sehen
wir trotzdem diese anderen Zweige der Philosophie sich vielfach in einer Weise
entwickeln, welche mit dem ethischen Stamme nicht völlig übereinstimmt. Ins-
besondere kommt hinsichtlich der Physik hinzu, dass die reiche Entwicklung der
Einzelwissenschaften schliessUch doch die allgemeinen Principien immer lebendig
und im Fluss erhalten musste.
In dieser Hinsicht hat zunächst die peripatetische Schule während der
ersten Generationen eine bemerkenswerthe Aenderung in den von ihrem Meister
überkommenen Grundlagen der Naturerklärung vorgenommen.
1. Der Anfang dazu findet sich schon bei Theophrastos, der allerdings
alle Hauptlehren des Aristotelismus, besonders gegen die Stoiker, vertheidigte,
aber doch auch theilweise eigene Wege ging. Das erhaltene Bruchstück seiner
Metaphysik bringt unter den Aporien hauptsächlich solche Schwierigkeiten zur
Sprache, welche in den aristotelischen Begriflfen über das Verhältniss der Welt
zur Gottheit enthalten waren. Der Stagirit hatte die Natur («pootc) als ein in sich
lebendiges Gesammtwesen (Cc^ov) und doch ihre ganze Bewegung als eine (teleo-
logische) Wirkung der göttlichen Vernunft aufgefasst; Gott war als reine Form
von der Welt getrennt, transscendent, und doch war er als beseelende, erst-
bewegende Kraft ihr immanent. Dies metaphysische Hauptproblem der Folgezeit
hat Theophrast gesehen, ohne jedoch eigene Stellung dazu anders als im Rahmen
der Lehre des Aristoteles zu nehmen. Dagegen zeigt er schon bestimmtere
Neigung in der damit sehr nahe zusammenhangenden Frage nach dem Verhältniss
der Vernunft zu den niederen Seelenthätigkeiten : der voöc sollte einerseits als
Form der animalen Seele immanent, eingeboren, andrerseits in seiner Reinheit
als wesensverschieden getrennt und in die Einzelseele von aussen hereingekommen
sein. Hier nun entschied sich Theophrast durchaus gegen die Transscendenz •,
auch den voö(; als eine sich entwickelnde Thätigkeit subsumirte er unter den Be-
griff des Geschehens '), der Bewegung (xivTjotc) und stellte ihn neben die Thier-
seele als etwas nicht generell sondern nur graduell davon Verschiedenes.
Noch energischer ging in derselben Richtung Strato n vor. Er hob die
Grenzen zwischen Vernunft und niederer Vorstellungsthätigkeit völlig auf: beide,
lehrt er, bilden eine untrennbare Einheit; es giebt kein Denken ohne Anschau-
ungen, und ebensowenig giebt es Wahrnehmung ohne die Mitwirkung des
Denkens; beide zusammen gehören zu dem einheitlichen Bewusstsein, das er mit
den Stoikern to T^s|j.ovtxöv nennt (vgl. § 14, 3). Aber Straten wendete nun den-
selben Gedanken, den er psychologisch ausführte, auch auf das analoge meta-
physische Verhältniss an. Auch das t!)7£(iovixöv der (pöot?, die Vernunft der Natur,
kann nicht als etwas von ihr Getrenntes angesehen werden. Mochte das nun so
ausgedrückt werden, dass Straten zur Erklärung der Natur und ihrer Erschei-
nungen der Hypothese der Gottheit nicht zu bedürfen geglaubt habe, oder so,
dass er die Natur selbst als Gott gesetzt, ihr aber nicht nur äussere Menschen-
ähnlichkeit, sondern auch das Bewusstsein abgesprochen habe *), — immer bildet
der Stratonismus, von der Lehre des Aristoteles aus gesehen, eine einseitig natu-
ralistische oder pantheistische Umbildung. Er verleugnet den Monotheismus
des Geistes, den Begriff der Transscendenz Gottes, und indem er lehrt, dass so
1) Simpl. Phys. 225 a. - 2) Cic. Acad. II, 38, 121. De uat. deor. I, 13, 35.
§ 15. Mechanismus und Teleologie. (Straten, Stoiker.) 141
wenig wie blosser Stoff, so wenig auch eine reine Form denkbar sei, schiebt er
das platonische Element der aristotelischen Metaphysik, welches eben in der
Trennung (y((üpia\k6<;) der Vernunft von der Materie stehengeblieben war, soweit
zurück, dass damit das demokritische Element wieder ganz frei wird : Straton
sieht im Weltgeschehen nur immanente NatumothWendigkeit und nicht mehr die
Wirkung einer geistigen, ausserweltlichen Ursache.
Doch bleibt dieser Naturalismus immer noch so weit in Abhängigkeit von
Aristoteles, als er die natürlichen Ursachen des Geschehens nicht in den Atomen
und ihren quantitativen Bestimmungen, sondern ausdrücklich in den ursprüng-
lichen Qualitäten (ÄOiönfjtsc) und Kräften (Sovdt(ist<;) der Dinge sucht. Wenn er
unter diesen besonders die Wärme und die Kälte hervorhob, so geschah das
ganz im Geiste der dynamischen Auffassungen, wie sie der ältere Hylozoismus
gehabt hatte : und diesem scheint auch Straton in seiner unentschiedenen Zwischen-
stellung zwischen mechanischer und teleologischer Welterklärung am nächsten
gestanden zu haben. Eben deshalb aber verläuft diese Seitenentwicklung mit
Straton selbst resultatlos : denn sie war, als sie begann, bereits durch die stoische
und die epikureische Physik überholt. Beide vertraten auch den Standpunkt im-
manenter Naturerklärung: aber die erstere ebenso ausgesprochen teleologisch,
wie die letztere mechanisch.
2. Die eigenthümlich verwickelte Position der Stoiker auf dem Gebiet
der metaphysischen und naturphilosophischen Fragen ist durch Vereinigung ver-
schiedener Elemente bestimmt. Im Vordergrunde steht das ethische Bedürfniss,
den Inhalt der individuellen Sittlichkeit, der nicht mehr wie zu Griechenlands
grosser Zeit in Staat und Nationalität wurzeln mochte, aus einem allgemeinsten,
metaphysischen Princip herzuleiten und deshalb den Begriff desselben so zu ge-
stalten, dass diese Herleitung möglich war. Dem stand aber als Erbtheil aus
dem Kynismus die entschiedene Abneigung entgegen, dies Princip als ein jenseitiges,
über die Erfahrungswelt hinauszusetzendes, übersinnliches und unkörperliches
anzusehen. Um so mehr aber traten die in der peripatetischen Naturphilosophie
angeregten Gedanken, welche die Welt als ein in sich selbst zweckmässig bewegtes
Lebewesen zu verstehen suchten, mit entscheidender Kraft hervor. Für alle diese
Motive schien sich nun gleichmässig die Logoslehre des Heraklit als Lösung
der Aufgabe darzustellen, und diese wurde daher ') zum Mittelpunkte der stoischen
Metaphysik.
So ist denn die Grundanschauung der Stoiker die, dass das ganze Weltall
einen einzigen, einheitlichen Lebenszusammenhang bilde und dass alle besonderen
Dinge die aus dem Ganzen bestimmten Gestaltungen einer in ewiger Thätigkeit
begriffenen göttlichen Urkraft seien. Ihre Lehre ist grundsätzlicher und (in Op-
position gegen Aristoteles) bewusster Pantheismus. Die unmittelbare Folge
davon ist aber das energische Bestreben, den platonisch-aristotelischen Dualismus
zu überwinden*) und den Gegensatz des Sinnlichen und des Uebersinnlichen, der
Natumothwendigkeit und der zweckthätigen Vernunft, der Materie und der Form
wieder aufzuheben. Die Stoa versucht dies durch einfache Identification jener
1) Vgl. H. SiEBKCK, Die Umbildung der peripatetischen Naturphilosophie in die der
Stoiker (Unters, z. Philosopliie der (Iriechen, 2. Aufl. p. 181 fl). — 2) Wenn ähnlich schon
das Verhältniss des Aristoteles zu Piaton aufgefasst werden musste (§ 13, 1 — 4), so zeigt eben
damit die stoische Naturphilosophie eine Weiterentwicklung in derselben Richtung wie die
peripatetische in Straton.
142 n. HelleniBtisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
Begriffe, deren gegensätzliche Ausprägung sie dadurch freiUch nicht aus der
Welt schaffen kann.
Sie erklärt daher das göttliche Weltwesen fiir die Urkraft, in der gleich-
massig die gesetzliche Bedingtheit und die zweckvolle Bestimmtheit aller Dinge
und alles Geschehens enthalten sind, fttr den Weltgrund und den Weltsinn. Als
lebendig erzeugende und gestaltende Kraft ist die Gottheit der 'k6^o<; onep^a-
Ttxöc, das Lebensprincip, welches sich in der Fülle der Erscheinungen als
deren eigenthümliche, besondere Xö^ot (Sirspitatixoi oder Bildungskräfte entfaltet.
In dieser organischen Function ist Gott aber auch die zweckvoll schaffende und
leitende Vernunft und damit hinsichtlich aller einzelnen Vorgänge die allwaltende
Vorsehung (Trpövota). Die Bestimmung des Besonderen durch das Weltganze
(auf welche die beherrschende Grundüberzeugung der Stoiker geht) ist ') eine
durchweg zweckvolle und vernünftige Ordnung, und sie bildet als solche die
höchste Norm (vö[jlo(;), nach der sich alle Einzelwesen in der Entwicklung ihrer
Thätigkeit zu richten haben ^).
Allein dies Alles bestimmende „Gesetz^ gilt nun den Stoikern, wie dereinst
Heraklit, zugleich als die Alles zwingende Macht, welche als unvcrbrüchUche
N oth wendigkeit (ovA^xt]) und damit als unentfliehbares Geschick (st|iap|tsv7],
fatum) in der unabänderlichen Reihenfolge der Ursachen und Wirkungen jede
einzelne Erscheinung hervorbringt. Nichts in der Welt geschieht ohne vorher-
gehende Ursache (aitia irpo7]Yoo|iivYj), und gerade vermöge dieser durchgängigen
causalen Bestimmtheit alles Besonderen besitzt das Weltall den Charakter seines
zweckvollen Zusammenhanges*). Daher bekämpfte Chrysippos auf das Nach-
drücklichste den Begriff des Zufalls und lehrte, dass scheinbare Ursachlosigkeit
des Einzelgeschehens nur eine der menschlichen Einsicht verborgene Art der
Verursachung bedeuten könne *). In dieser Annahme ausnahmloser Natur-
nothwendigkeit auch des Einzelsten und Geringsten (die natürlich auch
in der Form einer Geltung der göttUchen Vorsehung bis in die kleinsten Ereig-
nisse des Lebens hinein^) zum Ausdruck kam) stimmt die stoische Schule
bis zu wörtlicher Uebereinstimmung mit Demokrit überein, und sie ist die einzige,
welche im Alterthum diesen werthvollsten Gedanken des grossen Abderiten bis
in alle S^weige der theoretischen Wissenschaft durchgeführt hat.
In allen anderen Hinsichten freilich stehen die Stoiker dem Demokrit
gegenüber und näher bei Aristoteles. Während nämlich bei dem Atomismus
die Naturnothwendigkeit alles Geschehens aus den Bewegungsantrieben der Ein-
zeldinge resultirt, gilt sie den Stoikern als der unmittelbare Ausfluss der Leben -
digkeitdesGanzen, und gegenüber der Reduotion aller Qualitäten auf quanti-
tative Differenzen hielten sie an der Realität der Eigenschaften als der eigenthüm-
liehen Kräfte der Einzeldinge und der quaUtativen Veränderung (aXXototai^; im
Gegensatz zu der räumlichen Bewegung) fest. Besonders aber polemisirten sie
1) Wie schon der platonische Timaios lehrte: § 11, 10. — 2) Der normative Charakter
im Begriff des Xo'fog trat deutlich schon bei Heraklit hervor: § 6, 2, S. 48, Anm. 6. — 3) Plut.
de fato 11, 574. — 4) Ibid. 7, 572. — 5) Plut. lässt (comm. not. 34, 5, 1076) den Chrysipp
sagen, dass auch nicht das Geringste sich anders verhalte als nach dem Rathschluss des Zeus.
Vgl. Oic. de nat. deor. 11, 65, 164. Nur der Umstand, dass die Stoa die unmittelbare
Wirkung der göttlichen Vorsehung auf die zweckvolle Bestimmung des Ganzen beschränkte
und erst daraus diejenige des Einzelnen ableitete, erklärt solche Ausdrucksweisen, wie das
bekannte: Magna dii curant, parva uegiiguut. V^gl. § 16, 3.
§ 15. Mechanismus und|T6leo]o^e. (Stoiker, Epikureer.) 143
gegen die rein mechanische Elrklärung des Naturgeschehens durch Druck und
Stoss: aber in ihrer Ausführung der Teleologie sanken sie von der grossen
Auffassung des Aristoteles, der Überali die immanente Zweckmässigkeit der Form-
gestaltungen betont hatte^ zu der Betrachtung des Nutzens herab^ welchen die
Naturerscheinungen für dieBedürfiiisse der vernunftbegabten Wesen, „der Götter
und der Menschen*^, abwerfen *). Insbesondere übertreiben sie bis zu lächerlicher
Philisterhaftigkeit den Nachweis, wie Himmel und Erde und Alles, was sich drin
und drauf bewegt, so herrlich zweckvoll für den Menschen eingerichtet sei ^).
3. In allen diesen theoretischen Ansichten, und gerade in ihnen, stehen
den Stoikern die Epikureer diametral gegenüber. Bei diesen hatte die Be-
schäftigung mit metaphysischen und physischen Problemen überhaupt nur den
negativen Zweck % die reUgiösen Vorstellungen zu beseitigen, durch welche der
ruhige Selbstgenuss des Weisen gestört werden könnte. Daher kam es Epikur
vor Allem darauf an, aus der Naturerklärung jedes Moment auszuschliessen,
welches eine von allgemeineren Zwecken geleitete Regierung der Welt auch nur
möglich erscheinen liesse: daher fehlt es andrerseits der epikureischen Welt-
anschauung durchaus an einem positiven Princip. So erklärt es sich, dass Epikur
wenigstens fUr alle naturwissenschaftUchen Fragen, denen kein praktisches Inter-
esse abzugewinnen war, nur ein skeptisches Achselzucken hatte, und wenn auch
manche seiner späteren Schüler weniger beschränkt gewesen zu sein und wissen-
schaftlicher gedacht zu haben scheinen, so waren doch die Geleise der Schul-
meinung zu tief gefahren, als dass man zu wesentlich weiteren Zielen gelangt
wäre. Je mehr vielmehr im Laufe der Zeit die teleologische Naturauffassung
den gemeinsamen Boden bildete, auf dem sich akademische, peripatetische und
stoische Lehre in synkretistischer Verschmelzung begegneten, um so mehr be-
harrte der Epikureismus auf seinem vereinsamten Standpunkte der Negation ; er
war in theoretischer Hinsicht wesentlich antiteleo 1 o gis ch, und er hat in dieser
Hinsicht nichts positiv Neues zu Wege gebracht.
Glücklich war er nur in der allerdings sachlich nicht allzu schwierigen Be-
kämpfung der anthropologischen Auswüchse, zu denen die teleologische Welt-
anschauung namenthch bei den Stoikern führte^): aber zu einer pnncipiellen
Gegenschöpfung war er nicht im Stande. Epikur ergriff zwar zu diesem Zwecke
die äusseren Daten der materialistischen Metaphysik, me er sie von Demokrit
übernehmen konnte; allein er war weit entfernt, an dessen wissenschaftUche Höhe
heranzureichen. Nur soweit konnte er dem grossen Atomisten folgen, dass auch
er zur Erklärung der Welt nichts weiter zu bedürfen glaubte als des leeren Raumes
und der darin sich bewegenden, zahllosen, nach Gestalt und Grösse unendlich
verschiedenen, untheilbaren Körperstückchen; und auf deren Bewegung, Stoss
und Druck führte auch er alles Geschehen und alle dadurch entstehenden und
wieder vergehenden Dinge und Dingsysteme (Welten) derartig zurück, dass er
aus diesen rein quantitativen Verhältnissen auch alle qualitativen Differenzen
ableiten wollte ^). Er acceptirt somit die rein mechanische Auffassung des Ge-
1) Cic. de fin. III, 20, 67. de nat deor. II, 58 ff. — 2) Dürfte man Xenophon's Memora-
bilien trauen, so hätten die Stoiker ^rade hierin keinen Geringeren als Sokrates zu ihrem
Vorgänger: doch scheint es, dass schon in diesem kynisch angehauchten, wenn nicht gar
schon stoisch überarbeiteten (Krohn) Bericht der allgemeine Glaube des Sokrates an eine
zweckvolle Weltleitung durch göttliche Vorsehung stark in*s Kleinbürgerliche herabgezogen
sei: vgl. §8,8. — 3) Diog. Laert. X, 143. Us, p. 74. — 4) Vgl. bes. Lucret. de rer. nat. I,
1021 ; V, 156. Diog. Laert. X, 97. — 5) Sext. Emp. adv. math. X, 42.
144 n. Hellenistisch-römische Philosophie, l. Ethische Periode.
schehens; aber er leugnet ausdrücklich die unbedingte und ausnahmslose Noth-
wendigkeit desselben. Die Lehre Demokrit's ist daher nur soweit, als sie Ato-
mtsmus und Mechanismus ist, auf die Epikureer übergegangen; hinsichtlich des
viel tieferen und werthvolleren Princips der allgemeinen NaturgesetzUchkeit haben
seine Erbschaft, wie oben ausgeführt, die Stoiker angetreten.
Indessen hängt gerade dies eigenthümlicheVerhältniss mit der epikureischen
Ethik und dem entscheidenden Einfluss, den sie auf die Physik ausübte, auf das
Genaueste zusammen: ja, man darf sagen, dass die individualisirende Tendenz,
welche die sittliche Reflexion des nacharistotelischen Zeitalters nahm, gerade in
der Lehre Epikur's die ihr am meisten adäquate Metaphysik gefunden hat. Für
eine Moral, welche die Yerselbständigung des Einzelwesens und dessen Rückzug
auf sich selbst zu ihrem wesentUchsten Inhalt hatte, musste eine Weltanschauung
willkommen sein, welche die Urbestandtheile der Wirklichkeit als vollkommen
unabhängig ebenso von einander wie von einer einheitUchen Kraft und ihre Thä-
tigkeit als lediglich durch sie selbst bestimmt betrachtete ^). Nun enthielt aber
Demokrit^s Lehre von der unverbrüchlichen Naturnoth wendigkeit alles Geschehens
unverkennbar ein (heraklitisches) Moment, welches diese Selbstherrlichkeit der
Einzeldinge aufhebt, und gerade der Aufnahme dieses Moments verdankten die
Stoiker (vgl. § 14, 5) das Hinauswachsen ihrer Ethik über deren kynisch einseitige
Voraussetzungen. Um so begreiflicher ist es, dass Epikur eben dies Moment fallen
liess : und seine Weltanschauung charakterisirt sich der Stoa gegenüber gerade
dadurch, dass, während diese alles Einzelne aus dem (iranzen heraus bestimmt
sein liess, er vielmehr das Ganze als ein Erzeugniss ursprünglich seiender und
ebenso ursprünglich functionirender Einzeldinge betrachtete. Seine Lehre ist
in jeder Beziehung consequenter Atomismus.
So haite der Dcmokritismus das Unglück, dass er für die Tradition des
Alterthums und damit auch des Mittelalters in einem Systeme fortgepflanzt wurde,
welches zwar seine atomistische, auf die ausschliessliche Realität der Quantitäts-
verhältnisse und die mechanische Auffassung des Geschehens gerichtete An-
schauung beibehielt, aber seinen Gedanken des gesetzmässigen Naturzusammen-
hanges zur Seite schob.
4. In diesem Sinne gestaltete Epikur die Weltentstehungslehre des Ate-
mismus um^). Gegenüber der wohl schon von den Pythagoreern, jedenfalls aber
von Demokrit, Piaton und Aristoteles gewonnenen Einsicht, dass im Raum an
sich keine andere Richtung als die vom Centrum nach der Peripherie und umge-
kehrt gegeben sei, beruft er sich — seiner Erkenntnisslehre (vgl. § 1 7) gemäss —
auf die Aussage der Sinne*), wonach es ein absolutes Oben und Unten giebt, und
behauptet demgemäss, dass die Atome vermöge ihrer Schwere sich ursprüngUch
sämmtlich in der Bewegung von oben nach unten befanden. Um aber aus diesem
Landregen der Atome die Entstehung von Atomcomplexen herzuleiten, nahm er
an, dass einige derselben willkürUch von der geraden Fall-Linie abgewichen seien:
daraus sollten sich dann die Zusammenstösse, die Atomanhäufungen und schUess-
lich die Wirbelbewegungen erklären, welche zur Bildung von Welten führen und
l) So begründete Epikur seine Abweichung von der demokritiscben WelterklSrung
durch Berufung auf die menschliche Willensfreiheit: vgl. § 16; und dazu die Belege bei Zrller,
IV ■, 408, 1. — 2) Ps.-Plut. plac. I, 3. Dox. D. 2ö5; Cic. de fin. I, 6, 17. üdyäü, Morale
d'Epic. 74.-31 Diog. Laert. X, 60.
§ 15. Mechanismus nnd Teleologie. (Epikureer.) 145
welche der alte Atomismus aus dem ZusammentrefFen der regellos bewegten
Atome hergeleitet hatte *).
Merkwürdig ist es nun aber, dass Epikur, nachdem er in dieser Weise den
inneren Zusammenhang der demokritischen Lehre verdorben hatte , für die wei-
tere Erklärung der einzelnen Vorgänge des Naturgeschehens auf die Willkür der
Atome verzichtete und von dem Punkte an, wo ihm die Wirbelbewegung der
Atomcomplexe begriffen zu sein schien, nur noch das Princip mechanischer Noth-
wendigkeit gelten liess^). Er brauchte also die willkürliche Selbstbestimmung
der Atome nur als dasjenige Princip, welches den Anfang einer nachher rein
mechanisch sich vollziehenden (Wirbel-) Bewegung begreiflich machen sollte, d. h.
genau ebenso, wie etwa Anaxagoras den Kraftstoff vooc (vgl. S. 40). Denn auf
diesem metaphysischen Unterbau errichtete Epikur eine physicalische Lehre,
welche für die Erklärung ausnahmslos aller Erscheinungen der Natur lediglich
die Mechanik der Atome anerkannte, und er führte dies namentlich auch hin-
sichtlich der Organismen aus, indem er für das Begreifen von deren zweckmässiger
Gestaltung den empedokleischen Gedanken von dem Ueberleben des Zweck-
mässigen anwendete.
Das demokritische Princip der Natumothwendigkeit kommt endlich bei
Epikur auch darin zur Geltung, dass er annahm, bei dem fortwährenden Ent-
stehen und Vergehen der Welten, welche sich durch die Atomanhäufungen bilden,
müsse schliesslich — in einer Weise, die man jetzt unter dem Gesichtspunkt der
Wahrscheinlichkeitsrechnung begründen würde, — jede mögliche Oombination
und damit jede Form der Weltbildung sich vdederholen, sodass in Anbetracht
der Unendlichkeit der Zeit nichts geschehen könne, was nicht in derselben Weise
schon einmal -dagewesen sei^). In dieser Lehre begegnet Epikur sich dann wieder
mit den Stoikern, welche eine Vielheit zwar nicht coexistirender, aber in der Zeit
aufeinanderfolgender Welten lehrten, dabei jedoch sich zu der Behauptung ge-
nöthigt sahen, dass diese sich bis in die letzte Besonderheit der Einzelgestaltung
und des Einzelgeschehens immer völlig gleich sehen müssten. Wie die Welt
aus dem göttlichen Urfeuer hervorgeht, so wird sie nach vorher bestimmtem
Zeitmass jedesmal wieder in dasselbe zurückgenommen: wenn dann aber nach
der Weltverbrennung die Urkraft mit der Bildung einer neuen Welt beginnt, so
entfaltet sich diese ewig sich gleichbleibende yiK3t<; ihrer Vernünftigkeit und Noth-
wendigkeit gemäss immer wieder in derselben Weise. Diese Wiederkehr aller
Dinge (iraXtYYevsota oder aroxatdoraotc) erscheint danach als nothwendige Con-
sequeuz der beiden stoischen Wechselbegriffe Xö^oc und Ei|iap|iiyifj.
1) Vgl. §4, 9. Es scheint, dass spätere Epikureer, welche an den sinnlichen Grundlagen
dieser Vorstellung festhalten und doch die Willkör der Atome ausschliessen und wieder mehr
den demokritischen Gedanken der Naturgesetzlichkeit durchfuhren wollten, auf den Ausweg
verfielen, die Zusammenhäufung (aO-poiapiGi;) der Atome daraus zu erklären, dass die massigeren
im leeren Räume schneller fielen als die „leichteren": wenigstens polemisirt gegen solche
Ansichten Lucr. de rer. nat. II, 225 flf. — 2) Im gewissen Sinne könnte man daher — vom
Standpunkt heutiger Kritik — sagen, dass der Unterschied zwischen Demokrit und Epikur
nur relativ sei. Als unerklärte Urthatsache gilt dem ersteren die Bew^egungsrichtung, welche
jedes Atom von vom herein hat, dem letzteren eine willkürliche, zu irgend einem Zeitpunkte
eintretende Abweichung von einer für alle gleichmässigen Fallrichtung: der wesentliche Unter-
schied bleibt aber der, dass diese Urthatsache bei Demokrit etwas zeitlos Gegebenes, bei
Epikur dagegen ein einmaliger zeitlicher Act der Willkür ist, welcher ausdrücklich mit
der ursachlosen Selbstbestimmung des menschlichen Willens (vgl. § 16) in Parallele gestellt
wird. — 3) Plut. bei Euseb. Dox. D. 581, 19. Us. fr. 266.
Windelband, Geschichte der Philosophie. iq
146 II- Hellenistisch- römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
5. Die theoretischen YorstellungcD dieser beiden Hauptschulen des späteren
Alterthums sind sonach nur darin mit einander einig, dass sie durchweg materia-
listisch sind, und sie haben gerade im Gegensatz zu Piaton und Aristoteles
diese ihre Stellung ganz ausdrücklich hervorgehoben. Beide behaupten, dass das
Wirkliche (ta Svta), weil es sich im Wirken und im Leiden (icotstv xal närr/ßiv)
offenbare, nur körperlich sein könne; nur den leeren Raum erklärten die Epikureer
für etwas Unkörperliches. Dagegen bekämpften sie die (platonische) Ansicht^
dass die Eigenschaften der Körper etwas an sich (xaö-' eaoTÖ) Uukörperliches
seien ^), und die Stoiker gingen sogar so weit, dass sie selbst die Eigenschaften,
Kräfte und Verhältnisse der Dinge, welche sich, an diesen wechselnd, doch als
wirklich darstellen, für „Körper" erklärten*), und mit einer Vorstellung, welche
an das Kommen und Gehen der Homöomerien bei Anaxagoras erinnert^), be-
trachteten sie das Vorhandensein und Wechseln der Eigenschaften an den Dingen
als eine Art von Beimischung dieser Körper in den anderen, woraus sich dann die
Ansicht von der allgemeinen Mischung und gegenseitigen Durchdringung aller
Körper (xpaGtc SC oXcov) ergab.
In der Ausführung der materialistischen Theorie haben nun die Epikureer
kaum etwas Neues geleistet; dagegen weist die stoische Naturlehre eine An-
zahl von neuen Anschauungen auf, welche nicht nur an sich interessant sind,
sondern auch ftir die Weltvorstellung der folgenden Jahrhunderte wesentliche
Linien vorgezeichnet haben.
Zunächst treten bei dieser Ausführung die beiden Gegensätze, welche in
dem einheitlichen Naturbegriffe aufgehoben (oder identificirt) sein sollten, wieder
auseinander. Das göttliche Urwesen theilt sich in das AVirkende und das Leidende,
die Kraft und den Stoff. Als Kraft ist die Gottheit Feuer oder wanner Lebens-
hauch, Pneuma, als Stoff verwandelt sie sich aus feuchtem Dunst (Luft) theils
in AVasser theils in Erde. So ist das Feuer die Seele und das „Feuchte" der
Leib des Weltgottes; beide aber bilden doch ein in sich selbst identisches, ein-
heitliches Wesen. AVährend die Stoiker so in der Lehre von der Verwandlung
und Rückverwandlung der Stoffe sich an Heraklit, in der Charakteristik der vier
Elemente hauptsächlich an Aristoteles anschliessen , und dem letzteren auch in
der Darstellung des AVeltgebäudes und des zweckmässigen Systems seiner Be-
wegungen der Hauptsache nach folgen, ist das Wichtigste in ihrer Physik zweifel-
los die Lehre vom Pneuma.
Gott als schaffende Vernunft (Xöyo? aÄspjJLartxöc) ist dieser warme Lebens -
hauch, der gestaltende Feuergeist, welcher alle Dinge durchdringt und in ihnen
als das thätige Princip waltet: er ist das AVeltall als in sich selbst bewegtes,
zweck voll und gesetzmässig entfaltetes Lebewesen. Alles dies wird von den Stoi-
kern in dem Begi-iffe des 7rvsi>{j.a zusammengefasst *), einer ausserordentlich be-
ziehungsvollen und verdichteten Vorstellung, in der sich Anregungen aus Hera-
klit (XÖ70?), Anaxagoras (voö?), Diogenes von Apollonia (aigp), Demokrit
1) Diog. Laert. X, 67. — 2) Plut. c. not. 50, 1085. — 3) Eine ähnliche, an Anaxagoras
erinnernde MaterialiBirung der platonischen Ideenlehre (Plat. Phaed. 102) hat, wie es scheint,
schon der zur Akademie zählende £udoxo8 (S. 7^) vollzogen: Arist. Metaph. I 9, 991 a 17
und dazu Alex. Aphr.» Schol. in Arist. 573 a 12. — 4) Stob. Ecl. I, 374. Dox. D. 463, 16:
sivai xb Sv icvsu^a x'.vo5v iomxb np&c komxb xal fi{ a6toü, Yj icvsu^oi ioLOxb xivoüv :cp63a> xal
6m3(u xxX*
§ 15. MechanisTnnB und Teleologie. (Stoiker.) 147
(Peueratome) und nicht zum wenigsten solche aus der peripatetischen Natur-
philosophie und Physiologie mit einander verschlungen haben ^).
6. Am wirksamsten erweist sich dabei die von den Stoikern aus Aristoteles
übernommene Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos,
Weltall und Menscli. Auch die Einzelseele, die Lebenskraft des Leibes, welche
das Fleisch zusammenhält und regiert, ist Peuerhauch, Pneuma ; aber auch alle
die einzelnen Kräfte, die in den Gliedern thätig sind und deren zweckmässige
Function beherrschen, sind solche Lebensgeister (spiritus animales). Im mensch-
lichen und thierischen Organismus erscheint die Thätigkeit des Pneuma an das
Blut und seinen Umlauf gebunden ; gleichwohl ist das Pneuma selbst — gerade
weil es auch ein Körper ist, sagte Chrysippos *), — von den niederen Elementen,
die es beseelt, im Einzelnen trennbar, wie es im Tode geschieht.
Dabei ist jedoch die Einzelseele, wie sie nur ein Theil der allgemeinen
Weltseele ist, in ihrem Wesen und ihrer Thätigkeit durchgängig durch diese be-
stimmt : sie ist mit dem göttlichen Pneuma wesensgleich und von ihm abhängig.
Eben deshalb ist die Weltvernunft, der Xoyoc, fiir sie das oberste Gesetz (vgl.
oben § 14, 3). Darum aber ist ihre Selbständigkeit nur eine zeitlich beschränkte,
und ihr letztes Geschick ist jedenfalls, bei dem allgemeinen Weltbrande in den
göttlichen Gesammtgeist zurückgenommen zu werden, lieber die Dauer dieser
Selbständigkeit, d. h. über die Ausdehnung der individuellen Unsterblichkeit
sind in der Schule verschiedene Ansichten im Umlauf gewesen: einige haben
die Dauer bis zum Weltbrande allen Seelen zuerkannt, andere dieselbe nur für
die Weisen zurückbehalten.
Wie nun aber das einheitliche Pneuma des Universums (dessen Sitz übri-
gens von den Stoikern bald an den Himmel, bald in die Sonne, bald in die Mitte
der Welt verlegt wurde) sich als beseelende Kraft in alle Dinge ergiesst, so
sollte auch der leitende Theil der Einzelseele (tö T^7s(iovixöy oder Xo7to|jLÖ(;), in
welchem Vorstellungen, Urtheile und Triebe wohnen und als dessen Sitz das
Herz angenommen wurde, seine einzelnen Auszweigungen „wie Polypenarme"
durch den ganzen Leib erstrecken,, und solcher einzelnen Pneumata nahm die
Stoa noch sieben an : die fünf Sinne, das Sprachvermögen und die Zeugungs-
kraft. Wie die Einheit des göttlichen Urwesens im Weltall, so lebt die Einzel-
persönlichkeit im Leibe.
Es ist nun bezeichnend genug, dass diesen äusserlichen Apparat der
psychologischen Anschauungen die Epikureer ganz zu dem ihrigen machen
konnten. Auch ihnen ist die Seele — nach Demokrit aus den feinsten Atomen
bestehend — ein feuriger, lullbartiger Hauch (sie wenden ebenfiills den Terminus
Pneuma an), nur dass sie darin etwas dem Leibe äusserlidi Eingefugtes, von
ihm Festgehaltenes und mechanisch Gebundenes sehen, das sich im Tode so-
gleich zerstreut; auch sie unterscheiden zwischen dem vernünftigen und dem
vemunftlosen Theile der Seele, ohne freilich dem ersteren jene metaphysische
Würde geben zu können, die er in der stoischen Theorie gewann. Im Ganzen
ist ihre Lehre auch hier dürftig und unselbständig.
7. Metaphysik und Physik der Stoiker bilden, wie es nach der pan-
theistischen Voraussetzung sich von selbst versteht, zugleich eine Theologie,
1) Vgl. die S. 116 Anm. 4 erwähnte Abhandlung^ von SdübecK« — > 2) Nemesius, de nat.
hom. p. 34.
10*
148 n. HelleoifitiBch-rÖmiscbe Philosophie. 1. Ethische Periode.
ein auf wissenscliaftliche Darlegung gegründetes System der Naturreligion,
und dieselbe hat in dieser Schule auch poetische Darstellungen wie den Hym-
nus des Kleanthes gefunden. Dagegen ist der Epikureismus seinem ganzen
Wesen nach antireligiös. Er vertritt durchweg den aufklärerischen Stand-
punkt, dass durch die AVissenschaft die Religion überwunden und dass es Auf-
gabe und Triumph, der Weisheit sei; die aus Furcht und Unwissenheit erwach-
senen Wahngebilde des Aberglaubens bei Seite zu schaffen : der Dichter dieser
Schule schildert ^) in grotesken Zügen die Uebel, welche die Religion über die
Menschen gebracht, und singt den Ruhm ihrer Besiegung durch die wissen-
schaftliche Erkenntniss. Um so komischer ist es, dass die epikureische Lehre
selbst sich in der Ausmalung einer eigenen, wie sie glaubte, harmlosen Mytho-
logie gefiel. Sie meinte, dass dem allgemeinen Glauben an Götter doch eine
gewisse Wahrheit beiwohnen müsse *), aber sie fand, dass diese richtige Vor-
stellung durch tische Annahmen entstellt sei. Die letzteren aber suchte sie
in den Mythen, welche eine Theilnahme der Götter an dem menschlichen Leben
und Eingriffe derselben in den Lauf der Dinge erdichteten: selbst der Vor-
sehungsglaube der Stoiker erschien ihnen in dieser Hinsicht nur als ein ver-
feinerter Wahn. Epikur sah daher — nach Demokrit's Lehre von den Idolen
(§ 10, 4) — in den Göttern menschenähnliche Riesengebilde, welche in den Zwi-
schenräumen der Welten (Intermundien), unberührt vom Wechsel des Geschehens
und unbekümmert um das Geschick der niederen Wesen, ein seliges Leben der
Betrachtung und der geistigen Lebensgemeinschaft fuhren sollten ; und so ist
auch diese Lehre im Grunde genommen nur der Versuch des Epikureismus,
sein Lebensideal des ästhetischen Sclbstgenusses zu mythologisiren.
8. Ganz anders fugten sich die Vorstellungen der Volksreligion der stoi-
schen Metaphysik ein, und während bis hierher in der Entwicklung des griechi-
schen Denkens die philosophische Theologie sich immer weiter von der heimischen
Mythologie entfernt hatte, begegnen wir hier zum ersten Male dem Versuche,
natürliche und positive Religion systematisch in Einklang mit einander
zu bringen. Wenn damit die Stoiker auch ihrerseits dem Bedürfniss nachgaben,
die Berechtigung ganz allgemein im Menschengeschlecht verbreiteter Vorstellun -
gen anzuerkennen (vgl. § 17, 4), so bot ihnen doch dazu ihre Pneumalehre nicht
nur willkommene Handhaben, sondern geradezu bestimmende Anlässe. Denn
die Betrachtung des Universums musste sie lehren, dass die göttliche Weltkrafl
offenbar noch mächtigere und lebenskräftigere Theilerscheinungen gestaltet habe,
als die menschliche Individualseele : und so traten neben die Eine, ungewordene
und unvergängliche Gottheit, welche sie meist als Zeus bezeichneten, eine grosse
Anzahl „gewordener Götter". Zu diesen rechneten die Stoiker, wie schon
Piaton und Aristoteles, in erster Linie die Gestirne, in denen auch sie reinere
Gestaltungen des Urfeuers und höhere Intelligenzen verehrten, weiterhin aber
auch die Personificationen anderer Naturkräfte, in denen sich das dem Menschen
gütige Walten der Vorsehung offenbart. Von hier aus begreift sich, wie in der
stoischen Schule eine umfangreiche Mythendeutung an der Tagesordnung war,
welche durch allerlei Allegorien die volksthündichen Gestalten dem metaphysi-
schen Systeme einzuverleiben suchte. Dazu trat dann weiter eine ebenso will-
1) Lucret. de rer. nat. I, 62fiF. — 2) Diog. Lacrt. X, lL'3f. U?. p. 69f.
§ 16. Willensfreiheit und Weltvollkommenheit. (Stoiker.) 149
kommene AusbentuDg der euemeristischen Theorie, welche nicht nur die Ver-
götterung hervorragender Menschen begreiflich machte und rechtfertigte, sondern
auch in den Dämonen die Schutzgeister der einzelnen Menschen heilig halten
lehrte.
So bevölkerte sich die stoische Welt mit einer ganzen Schaar höherer und
niederer Götter: aber sie alle erschienen doch schUesslich nur als Ausflüsse der
Einen höchsten Weltkraft, als die untergeordneten Kräfte, welche, selbst durch
das allgemeine Pneuma bestimmt, als die waltenden Geister des Weltlebens auf-
gefasst wurden. Sie bildeten deshalb für den Glauben der Stoiker die vermitteln-
den Organe, welche, jedes in seinem Bereich, die Lebenskraft und die Vorsehung
der Weltvernunft darstellen, und an sie wendete sich in den Cultusformen der
positiven Beligion die Frömmigkeit der Stoiker. Damit war der Polytheismus
des Volksglaubens philosophisch restituirt und als integrirender Bestandtheil in
den metaphysischen Pantheismus aufgenommen.
Im Zusammenhange mit dieser wissenschaftlichen Reconstruction der posi-
tiven Beligion steht bei den Stoikern die theoretische Begründung der Mantik,
welcher sie — wenige, kühler denkende Männer wie Pauaitios ausgenommen —
ein grosses Interesse zuwandten. Der einheitliche, von der Vorsehung geleitete
Zusammenhang des Weltgeschehens sollte sich u. A. darin zeigen, dass verschie-
dene Dinge und Vorgänge, die in keinem directen Causalverhältniss zu einander
stehen, doch durch feine Beziehungen auf einander deuten und deshalb für ein-
ander als Zeichen gelten dürfen : diese zu verstehen sei die Menschenseele schon
vermöge ihrer Verwandtschaft mit dem allwaltenden Pneuma befähigt, aber zur
Deutung solcher verzückter Offenbarungen müsse die auf Erfahrung beruhende
Kunst und Wissenschaft der Mantik hinzutreten. Auf dieser Grundlage hielt der
Stoicismus — namentlich in seinen jüngeren Vertretern, besonders, wie es scheint,
Poseidonios — sich für stark genug, um den gesammten Weissagungsaberglauben
der antiken Welt philosophisch zu verarbeiten.
§ 16. Willensfreiheit und Weltvollkommenheit.
Die scharfe Ausprägung der Gegensätze von mechanischer und teleolo-
gischer Weltanschauung, insbesondere aber die Verschiedenheit der begrifflichen
Formen, in denen dabei der (mit gewisser Beschränkung) gemeinsame Gedanke
der allgemeinen Naturgesetzlichkeit entwickelt worden war, führte im Zusammen-
hange mit den ethischen Postulaten und Voraussetzungen, welche das Denken
jener Zeit beherrschten, zwei neue, von vornherein mannichfach verwickelte Pro-
bleme herbei : das von der menschlichen Willensfreiheit und das von der Güte
und Vollkommenheit der Welt. Beide Probleme wurzelten in Widersprüchen,
welche zwischen den moralischen Bedürfnissen und eben den metaphysischen
Ansichten zu Tage traten, die zu ihrer Befriedigung hatten herangezogen
werden sollen.
1. Der eigentliche Heerd dieser neuen Problembildungen ist die stoische
Lehre, und sie lassen sich als die nothwendige Folge eines tief gehenden und in
letzter Instanz nicht auszufüllenden Antagonismus zwischen den Grundbestim-
mungen dieses Systems begreifen. Diese aber sind der metaphysische Monis-
mus und der ethische Dualismus. Die moralische Grundlehre der Stoiker,
wonach der Mensch die Welt in seinen eigenen Trieben durch die Tugend über-
150 ^^< Hellenistiscb-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
winden soU^ setzt eine anthropologische Dualität^ einen Gegensatz in der mensch-
lichen Natur voraus, wonach der Vernunft die vernunftwidrige Sinnlich-
keit gegenübersteht. Ohne diesen Gegensatz ist die ganze stoische Ethik
hinfällig. Die metaphysische Lehre aber, durch welche das Vernunftgebot im
Menschen begreiflich gemacht werden soll, statuirt eine so unumschränkte und
allwaltende Wirklichkeit der Weltvernunfl, dass damit die Realität des Vernunft-
widrigen weder im Menschen noch im Weltlauf zu vereinigen ist. Auf diesem
Grunde sind die beiden Fragen erwachsen, welche seitdem nicht wieder aufgehört
haben, das Grübeln der Menschen zu beschäftigen, obwohl alle wesentlichen
Gesichtspunkte, die dabei in Betracht kommen können, heller oder dunkler schon
damals beleuchtet worden sind.
2. Die begrifflichen Voraussetzungen für das Freiheitsproblem liegen
bereits in den ethischen Reflexionen über die Freiwilligkeit des Unrechtthuns, die
von Sokrates begonnen und von Aristoteles in einer glänzenden Untersuchung ')
zu einem vorläufigen Abschluss geführt waren. Die Motive dieser Gedanken sind
durchweg ethisch, und das Gebiet, auf dem sie sich bewegen, ist ausschliessUch
das psycliologische. Es handelt sich daher wesentUch um die Frage der Wahl-
freiheit, und während die Realität derselben aus dem unmittelbaren Gefühl heraus
und mit Beziehung auf das Bewusstsein des Menschen von seiner Verantwort-
hchkeit zweifellos bejaht wird, entsteht die Schwierigkeit nur durch die intellec-
tualistische Auffassung des Sokrates, welcher den Willen in durchgängige Ab-
hängigkeit von der Einsicht brachte ; und diese entwickelt sich zunächst in der seit-
dem immer wieder in den mannichfachsten Verschiebungen wiederholten Doppel-
bedeutung der „Freiheit" oder wie es hier noch heisst „Freiwilligkeit" (exoootov).
Alles sittUch falsche Handeln geht nach Sokrates aus einer durch Begierden ge-
trübten, falschen Ansicht hervor: wer so handelt, „weiss" also nicht, was er thut,
und er handelt in diesem Sinne unfreiwilHg -). D. h. nur der Weise ist frei, der
Böse ist unfrei^). Von diesem ethischen FreiheitsbegrifTmuss nun aber der
psychologische Freiheitsbegrifif, d. h. der Begriff der Wahlfreiheit als der
Fähigkeit zwischen verschiedenen Motiven zu entscheiden, wohl getrennt werden.
Ob Sokrates dies gethan hat, ist fraglich^): jedenfalls aber ist es bei Piaton ge-
schehen. Dieser bejahte ausdrückhch mit Berufung auf die Verantwortlichkeit die
Wahlfreiheit des Menschen ^), — eine psychologische Entscheidung aus wesent-
Uch ethischen Gründen — , und er hielt doch zugleich an der sokratischen Lehre
fest, dass der Böse unfreiwillig, d. h. ethisch unfrei handle: er verbindet sogar
beides direct, wenn er ®) ausfuhrt, dass durch eigene Verschuldung (also mit psy-
chologischer Freiheit) der Mensch in den Zustand der sittlichen Unfreiheit ver-
sinken könne.
Bei Aristoteles, der sich von dem sokratischen Intellectualismus mehr
entfernte, tritt der psychologische Freiheitsbegriff klarer und selbständiger heraus.
Er geht davon aus, dass die ethische Qualification überhaupt nur für „freiwillige"
Handlungen in Betracht kommt, und er erörtert zunächst die Beeinträchtigungen,
welche diese Freiwilligkeit theils durch äusseren Zwang (ßwf) bzw. auch psychischen
iy Eth. Nik. III, 1—8. — 2) Xen. Mem. III, 9, 4. Kyrop. lU, 1, 38. — 3) Vgl. Arist.
Etil. Nik. III 7, 113 b 14. — 4) Nach einer Notiz iu den peripatetischeu Magna Moral. (I 9,
1187 a 7) hätte Sokrates sogar ausdrücklich gesagt, „es stehe nicht bei uns", gut oder schlecht
zu sein: er hätte danach die psychologische Fremeit verneint. — 5) Plat. fiep. X, 617 ff. —
6) Fiat. Phaed. 81 b.
§16. Willensfreiheit und Weltvollkommenheit. (Stoiker.) 151
Zwang theils durch Unkenntniss der Sachlage erfahrt: yollkommen freiwillig ist
nur diejenige Handlung, welche in der Persönlichkeit selbst bei völhger Kenntniss
der Verhältnisse ihren Ursprung hat *). Die ganze Untersuchung ist ^) vom Stand-
punkte der Verantwortlichmachung aus gehalten, und der gefundene Begriff der
Freiwilligkeit soll auf den der Zurechnungsfahigkeit fuhren. Er enthalt in sich
die Merkmale der äusseren Freiheit des Handelns und der durch keine Täuschung
getrübten Auffassung der Sachlage. Deshalb muss er aber noch weiter einge-
schränkt werden : denn zurechnungsfähig sind unter den freiwilUgen Handlungen
nur solche, welche aus einer Wahlentscheidung (icpoatpeot^;) hervorgehen ^). Erst
die Wahlfreiheit also, welche mit der Ueberlegung der Zwecke wie der Mittel
verfährt, ist die Bedingung der sittlichen Zurechnung.
Ein weiteres Eingehen auf die Psychologie der Motivation und auf die be-
stimmenden Ursachen dieser Wahlentscheidung hat Aristoteles vermieden : er be-
gnügt sich mit der Feststellung, dass die Persönlichkeit selbst der zureichende
Grund für die Handlungen ist^), die ihr zugerechnet werden: und an dieser Be-
hauptung der Wahlfreiheit hielt auch seine Schule, vor Allem Theophrast, der
eine eigene Schrift über die Freiheit verfasste, energisch fest.
3« Auf demselben Boden finden wir nun, soweit es sich um rein ethische
Betrachtungen handelt, zunächst auch die Stoiker. Gerade das lebhafte Ver-
antwortlichkeitsgefuhl, welches ihre Moral charakterisirt, verlangte von ihnen die
Anerkennung dieser freien Wahlentscheidung des Individuums, und sie suchten
dieselbe deshalb auch auf alle Weise aufrechtzuerhalten.
Um so bedenklicher aber war es, dass ihre Metaphysik mit der Lehre vom
Schicksal und von der Vorsehung sie darüber hinaustrieb. Denn indem diese
Theorie den Menschen, wie alle anderen Einzelwesen, in seiner ganzen äusseren
und inneren Gestaltung und in all seinem Thun und Lassen durch die alllebendige
Weltkraft bestimmt sein liess, hörte die Persönlichkeit auf, der wahre Grund
(ipX^) ilif^^ Handlungen zu sein und erschienen die letzteren auch nur wie alles
übrige Geschehen als vorherbestimmte und unentfliehbar nothwendige Wir-
kungen der Gott-Natur. In der That schreckte die Stoa vor dieser äussersten
Consequenz des Determinismus nicht zurück: vielmehr häufte Chrysippos
Beweis auf Beweis für diese Lehre. Er 'begründete sie durch den Satz vom zu-
reichenden Grunde (vgl. oben § 15, 2); er zeigte, dass nur unter ihrer Voraus-
setzung die Richtigkeit von Urtheilen über Zukünftiges behauptet werden könne,
indem nur, wenn die Sache schon bestimmt sei, ein Kriterium für ihre Waiirheit
oder Falschheit gegeben sei*^); er änderte dieselbe Argumentation auch dahin
um, dass, da nur das Nothwendige und nicht das noch Unentschiedene gewusst
werden könne, das Vorherwissen der Götter die Annahme des Determinismus
erforderlich mache ; und er verschmalite es selbst nicht, die Erfüllung von Weis-
sagungen als willkommenes Argument heranzuziehen.
In dieser vom Standpunkte der stoischen Logoslehre vollkommen con-
sequenten Lehre sahen nun freilich die Gegner eine entschiedene Leugnung der
1) Eth. Nik. III 3, 1111 a 73: oh 4| «?/•/] ev aottj» slSoxt xa xad-' ixa^a iv o:^ rj ?rpä4'<;- —
2) Wie deutlich im Eingang fa. a. 0. 1109 b 34) der Hinweis auf das Strafrecht zeigt. — *d) Ibid.
4, 1112 a 1. — 4) Ibid. 5, 1112 b 31: eoixe Sy] . . avO-ptuico«; elvat öpj^-rj tdiv icpdc^ewv. — 5) Cic.
de fato 10, 20. Soweit es sich dabei um disjunctive Sätze handelte, gab daher auch Epikur die
Wahrheit der Disjunction preis : Cic. de nat. deor. I, 25, 70.
152 n. HellenistiBch-römische Philo8ophie. l. Elhische Periode.
Willensfreiheit, und von den Vorwürfen, welche das System erfuhr, war dieser
wohl der häufigste und zugleich der einschneidendste. Unter den zahlreichen
Angriffen ist der bekannteste die sog. ignava ratio (apy^c W^oc), welche aus der
Behauptung von der unentrinnbaren Nothwendigkeit der zukünftigen Ereignisse
den fatalistischen Schluss zieht, dann solle man sie unthätig erwarten, — ein An-
griff, dem auch Chrysippos nur mit sehr geschraubten Unterscheidungen zu
entschlüpfen wusste ').
Die Stoiker dagegen mühten sich ab, zu zeigen, dass trotz dieses Determi-
nismus und vielmehr gerade vermöge desselben der Mensch die Ursache seiner
Handlungen in dem Sinne bleibe, dass er dafür verantwortlich zu machen sei.
Auf Grund einer Unterscheidung^) von Haupt- und Nebenursachen (die übrigens
durchaus an das platonische alttov und £uvamov erinnert), zeigte Chrysippos, dass
allerdings jede Willensentscheidung nothwendig aus der Zusammenwirkung des
Menschen mit der Umgebung folge, dass aber eben dabei die äusseren Umstände
nur die Nebenursachen, die von der Persönlichkeit erfolgende Zustimmung da-
gegen die Hauptursache sei, welche denn auch die Zurechnung treffe. Wenn
aber dies freiwilUg handelnde >j7e[i.ovixöv des Menschen aus dem allgemeinen Pneuma
bestimmt sei, so gest^te sich dies eben in jedem Sonderwesen zu einer selbstän-
digen, von den anderen verschiedenen Natur, die als eigene aftyri zu gelten habe^).
Insbesondere aber hoben die Stoiker hervor, dass das Verantwortlichmachen
als ein Urtheil über die sittliche Qualität der Handlungen und der Charaktere
ganz unabhängig von der Frage sei, ob die Personen oder Thaten im Weltlauf
auch hätten anders sein können oder nicht ^).
4, Das schon ethisch und psychologisch verschlungene Problem der Willens-
freiheit erfuhr auf diese AVeise noch eine metaphysische und (im Sinne der Stoiker)
theologische Complication, und die Folge war die, dass die indeterministi-
schen Gegner der Stoa dem Freiheitsbegriff, den sie durch deren Lehre be-
droht erachteten, eine neue und scharf zugespitzte Wendung gaben.
Die Annahme des ausnahmslosen Causalnexus, dem auch die WUlens-
functionen untergeordnet sein sollten, schien die Fähigkeit der freien Entscheidung
auszuschliessen : aber diese Wahlfreiheit galt seit Aristoteles bei allen Schulen
als unerlässliche Voraussetzung der sittlichen Zurechnung. Deshalb meinten die
Gegner — und das gab dem Streit seine besondere Heftigkeit — ein - sittliches
Gut zu vertheidigen, wenn sie die stoische Schicksalslehre und damit das demo-
kritische Princip der Naturnothwendigkeit bestritten. Und wenn Chrysipp sich
zur Begründung derselben auf den Satz vom zureichenden Grunde berufen hatte,
so scheute Karneades, dem die WillensfreUieit als unumstössliche Thatsache
galt, sich nicht, die allgemeine und ausnahmslose Geltung dieses Satzes in Frage
zu ziehen *).
Noch weiter aber ging Epikur. Er fand den stoischen Determinismus mit
der Selbstbestimmung des Weisen, die den wesentlichen Zug semes ethischen
Ideals bildete, so unvereinbar, dass er lieber noch die Walmvoretellungen der
Religion annehmen, alstan eine solche Ejiechtschaft der Seele glauben wollte •).
Darum leugnete auch er die Allgemeingiltigkeit des Causalgesetzes und subsu-
mirtc die Freiheit mit dem Zufcill zusammen unter den Begriff des ursachlosen
1) Cic. de fato 12, 28 ff. — 2) Ibid. 16, 36 ff. — 3) Alex. Aphr. do fato S. 112, — 4) Ibid.
S. 106. — 5) Cic. do fato 5, 9; 11, 23; 14, 31. — 6) Diog. Laert. X, 133f. Us. p. 65.
§ 16. Willensfreiheit und WeltvoUkommenbeit. (Epikur, Eameaden.) 153
Geschehens. So ist im Gegensatz gegen den stoischen Determinismus der
metaphysische Freiheitsbegriff entstanden, vermöge dessen Epikur die
ursachlose Willensfunction des Menschen mit der ursachlosen Abweichung des
Atoms von der FallUnie (vgl. § 15, 4) in Parallele stellte. Die Freiheit des In-
determinismus soll somit die durch keine Ursachen bestimmte Wahl zwischen
verschiedenen Möglichkeiten bedeuten, und Epikur meinte damit die moralische
Verantwortlichkeit zu retten.
Dieser metaphysische Begriff der Freiheit als Ursachlosigkeit
steht auch in dem wissenschaftUchen Denken des Alterthums durchaus nicht iso-
lirt. Nur die Stoa hat an dem Princip der Causalität unverbrüchUch festgehalten :
aber selbst Aristoteles hatte (vgl. S. 111) die Geltung der allgemeinen begriff-
lichen Bestimmungen nicht bis in das Einzelne hinein verfolgt, er hatte sich mit
dem iiA vb nokh begnügt, und er hatte seinen Verzicht auf ein volles Begreifen
des Besonderen durch die Annahme des Zufälligen in der Natur, d. h. des Gesetz^
und Ursachlosen ausgesprochen. In dieser Hinsicht sind allein die Stoiker als
Vorläufer der modernen Naturforschung zu betrachten.
5. Auf nicht minder grosse Schwierigkeiten stiess der Stoicismus mit seiner
Durchfuhrung der Teleologie. Das pantheistische System, welches die ganze
Welt als das lebendige Erzeugniss einer zweckthätigen götüichen Vernunft be-
trachtete und in dieser den einzigen Erklärungsgrund fand, musste selbstver-
ständUch auch die Zweckmässigkeit, Güte und Vollkommenheit dieses Uni-
versums behaupten , und umgekehrt pflegten die Stoiker das Dasein der Götter
und der Vorsehung gerade durch den Hinweis auf die Zweckmässigkeit, Schön-
heit und Vollkommenheit der Welt, d. h. auf dem sog. physicotheologischen
Wege zu beweisen *).
Die Angriffe, welche dieser Gedankenzusamraenhang im Alterthum erfuhr,
haben sich weniger gegen die Richtigkeit des Schlussverfahrens (obwohl auch hier
Karneades einsetzte), als vielmehr gegen die Prämisse gerichtet, und die nahe-
liegende Aufzeigung der vielen Mängel und Unzweckmässigkeiten, der Uebel und
der sittlichen Schäden in der Welt, wurde umgekehrt als Gegengrund gegen die
Annahme einer vernünftigen, zweckthätigen Weltursache und einer Vorsehung
verwendet. Zunächst und mit voller Energie geschah dies natürUch von Epikur,
der da fragte, ob Gott die Uebel in der Welt entweder zwar auflieben wolle, aber
nicht könne, oder zwar aufheben könne, aber nicht wolle, oder etwa gar beides
nicht ^), — der auch schon auf die Ungerechtigkeiten hinwies, womit der Lauf
des Lebens so oft die Guten elend und die Bösen glückUch macht ^).
In verstärktem Masse und in besonders sorgfaltiger Ausfuhrung wurden
diese Einwürfe von Karneades in's Feld geführt*). Er fiigte aber dem Hinweis
auf die Uebel und auf die Ungerechtigkeit des Weltlaufs den für die Stoiker
sicher empfindlichsten Einwurf hinzu *): woher denn in dieser von der Vernunft
geschaffenen Welt das Vernunftlose und Vernunftwidrige, woher in dieser vom
göttUchen Geiste durchlebten Welt die Sünde und die Thorheit, das grösste aller
Uebel, komme? und wenn die Stoiker, wie es trotz des Determinismus in der
That wold geschehen war*), daftir den freien Willen verantwortlich machen woU-
1) Cic. de nat. deor. II, 5, 13 ff. — 2) Lactant. Do ira dei 13, 19. Us. fr. 374. — 3) Id.
Inst. div. UI, 17, 8. Us. fr. 370. — 4) Cic. Acad. II, 38, 120. De nat. deor. III, 32, SOflT, —
5) Cic. de nat. deor. III, 25—31. — 6) Kleanth, hymn. v. 17.
154 n. Hellenistisch- römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
tei); 80 erhob sich die weitere Frage^ weshalb die allmächtige Weltvemunft dem
Menschen eine Freiheit gegeben habe^ die so zu missbrauchen war, und weshalb
sie diesen Missbrauch zulasse.
6. Solchen Fragen gegenüber waren die Stoiker mit ihrer monistischen
Metaphysik viel schlimmer daran, als etwa Piaton und Aristoteles , welche die
Zweckwidrigkeiten und das Böse auf den Widerstand des „Nichtseienden" bzw.
der Materie hatten zurückfuhren können. Trotzdem sind die Stoiker muthig an
die Bewältigung dieser Schwierigkeiten herangetreten und haben die meisten der-
jenigen Argumente, in denen sich später immer wieder dieTheodicee bewegt
hat, nicht ohne scharfsinnige Mühe zu Tage gefördert.
Es kann aber die teleologische Lehre von der Vollkommenheit des Uni-
versums gegen solche Einwürfe in Schutz genommen werden, indem die dysteleo-
logischen Thatsachen entweder geleugnet oder als unerlässliche Mittel bzw. Neben-
erfolge in dem Zweckzusammenhange des Ganzen gerechtfertigt werden. Beide
Wege hat die Stoa eingeschlagen.
Ihre psychologischen und ethischen Theorien erlaubten die Behauptung,
dass, was ein physisches Uebel genannt wird, an sich gar nicht ein solches sei,
sondern erst durch die Zustimmung des Menschen dazu werde, dass daher, wenn
Krankheiten und Aehnliches durch die Nothwendigkeit des Naturverlaufs her-
beigeführt werden, es nur die Schuld des Menschen sei, welche daraus ein üebel
mache : wie denn auch vielfach nur der falsche Gebrauch, den der thörichte Mensch
von den Dingen macht, diese schädlich werden lässt '), während sie an sich ent-
weder gleichgiltig oder gar förderlich sind. Ebenso wird der Einwurf wegen der
Ungerechtigkeit des Weltlaufs damit zurückgewiesen, dass in Wahrheit fiir den
Guten und Weisen die physischen Uebel gar keine Uebel sind, dass dagegen
andrerseits für den Schlechten nur eine sinnliche Scheinbefriedigung möglich ist,
welche ihn nicht wahrhaft glücklich macht, sondern vielmehr die sittliche Krank-
heit, in der er sich befindet, nur verschlimmert und befestigt *).
Andrerseits aber lassen sich die physischen Uebel doch auch damit ver-
theidigen, dass sie, wie dies z. B. Chrysipp von den Krankheiten zu zeigen suchte ^),
die uncrlässlichen Folgen an sich zweckmässiger Natureinrichtungen sind, die ihre
Absicht nicht verfehlen. Insonderheit aber wohnt ihnen die moralische Bedeu-
tung inne, dass sie zum Theil als bessernde Strafe der Vorsehung *), zum Theil
auch als nützlicher Anlass zur Uebung sittlicher Kräfte*) dienen.
Wenn so die äusseren Uebel hauptsächlich durch den Nachweis ihrer ethi-
schen Zweckmässigkeit gerechtfertigt wurden, so erschien es für die Stoiker um so
dringender, erwies sich aber auch um so schwieriger, das moralische Uebel, die
Sünde, begreiflich zu machen. Hier war die negative Ausflucht ganz unmöglich;
denn die KeaUtät der Schlechtigkeit bei der grossen Mehrzahl der Menschen war
der (Jegenstand der beliebtesten Declamationen in der stoischen Moralpredigt.
Hier war also der Kernpunkt der ganzen Theodicee: zu zeigen, wie in der Welt,
welche das Erzeugniss der göttlichen Vernunft ist, das Vernunftwidrige in den
Trieben, Gesinnungen und Handlungen der vernunftbegabten Wesen möglich sei.
Hier griffen die Stoiker deshalb zu ganz allgemeinen Wendungen: sie wiesen
darauf hin, wie die Vollkommenheit des Ganzen diejenige aller einzelnen Theile
1) Senec. qu. nat. V, 18, 4. — 2) Senec. Ep. 87, 11 ff. — 3) Gell. N. A. \lh 1, 7ff, —
4) Plut. Stüic. rep. 35, 1. — 5) Marc. Aurel. VIII, 35,
§ 17. Die Kriterien der Wahrheit. (Feripatetiker, Stoiker.) 155
nicht nur nicht einscbliesse, sondern ausschliesse '); und begründeten in dieser
Weise, dass Gott noth wendig auch die Unvollkommenheit und Schlechtigkeit des
Menschen habe zulassen müssen. Insbesondere aber betonten sie, dass erst durch
den Gegensatz zum Bösen das Gute als solches zu Stande komme: gäbe es keine
Sünde und Thorheit, so gäbe es auch keine Tugend und Weisheit ^). Und wenn
so das Laster als die nothwendige Folie für das Gute deducirt ist, so gaben die
Stoiker am Ende zu bedenken ^)f dass die ewige Vorsehung schUesslich auch
das Böse zum Guten wende und in ihm nur ein scheinbar widerstrebendes Mittel
zur Erfüllung ihrer höchsten Zwecke habe *).
% 11. Die Kriterien der Wahrheit.
Am geringfügigsten ist der philosophische Ertrag der nacharistotelischen
Zeit auf dem logischen Gebiete. Eine so gewaltige Schöpfung, wie die Analytik
des Stagiriten, welche die Principien der griechischen Wissenschaft in so muster-
hafter Weise zu geschlossenem Gesammtbewusstsein brachte, musste natürlich
das logische Denken auf lange Zeit beherrschen und hat dies in der That bis an
den Ausgang des Mittelalters und selbst noch darüber hinaus gethan. Die Fun-
damente dieses Systems waren so fest gelegt, dass daran zunächst nicht gerüttelt
wurde und dass der Schulthätigkeit nur der Ausbau einzelner Theile übrig blieb,
wobei sich denn schon damals viel verschnörkeltes Epigonenwesen breit machte.
1. Schon die Feripatetiker haben in dieser Richtung die aristoteUsche
Analytik durch ausführlichere Behandlung, theil weise Neubegründung, weiter-
gehende Eintheilung, schulmässigerc Formulirung systematisch auszubilden ge-
socht. Insbesondere haben Eudemos und Theophrast Untersuchungen über
das hypothetische und das disjunctive Urtheil und über die durch deren Vor-
kommen in den Prämissen veranlasste Erweiterung der Syllogistik angestellt. Die
Stoiker führten diese Bestrebungen fort; sie setzten diese neuen Formen des
rrtheils (a4tco|ioc) als zusammengesetzte den einfachen ^) (kategorischen) gegenüber,
entwickelten bis in alle Einzelheiten die daraus folgenden Schlussformen, be-
tonten auch besonders die Qualität ^) der Urtheile und leiteten die Denkgesetze
in veränderten Formen ab. Ueberhaupt aber spannen sie die logischen Regeln
zu einem trockenen Schematismus und echt schulmässigen Formalismus aus, der
dadurch sich von den inhaltlichen Grundgedanken der aristoteUschen Analytik
mehr und mehr entfernte und zu einem todten Formelkram wurde. Die un-
fruchtbare Spitzfindigkeit dieses Treibens gefiel sich namentlich in der Auflösung
sophistischer Fangschlüsse, bei denen der sachliche Sinn unrettbar in den Wider-
streit der Formen verstrickt war.
Erst in diesen Schulbearbeitungen hat die von Aristoteles geschaffene
Wissenschaft der Logik den rein formalen Charakter angenommen, der ihr dann
bis zu Kant hin geblieben ist. Je pedantischer dabei sich die Ausfuhrung des
Einzelnen gestaltete, um so mehr trat an die Stelle des Bewusstseins vom leben-
digen Denken, das Aristoteles angestrebt hatte, ein schulmeisterliches Maschen-
netz von Regeln, — wesentlich dazu bestimmt, die Gedanken einzufangen und auf
ihre formelle Legitimation zu prüfen, aber unfähig, der schöpferischen Kraft der
wissenschaftlichen Thätigkeit gerecht zu werden. Hatte schon bei Aristoteles
1) Plnt. Stoic. rep. 44, 6. — 2) Ibid. 36, 1. — 3) Ibid. 35, 3. — i) Kleanth, hymn.
V. I8f. — 5) Sext Emp. adv. niath. VllI, 93. — 6) Diog. Laert. VII, 65.
156 II. Hellenistisch-römiBche Philosophie. 1. Ethische Periode.
die Rücksicht auf Beweisen und Widerlegen im Vordergrunde gestanden, so
waltet sie hier nur noch allein^ und zu einer Theorie der Forschung hat es das
Alterthum nicht gebracht. Denn die schwachen Ansätze, welche sich dazu in
den Untersuchungen eines jüngeren Epikureers '), des Philodemos *), über In-
ductions- und Analogieschlüsse finden, stehen verhältnissmässig einsam ohne
nenneuswerthen Ertrag.
2. Mehr Sachliches sollte man in der Kategorienlehre erwarten, von
deren Umarbeitung die Stoiker viel Wesens machten. Da war es nun zwar
durchaus richtig, aber auch wenig fruchtbar, dass darauf hingewiesen wurde, die
oberste Kategorie, von der die anderen nur besondere Bestimmungen darstellen,
sei diejenige des Seins (zbSv)^) oder des Etwas (ti); und ebenso wurde die
Coordination der Kategorien, welche wenigstens nach der Art der Aufeählung
bei Aristoteles stattfand, durch eine ausdrückhch systematische Reihenfolge er-
setzt, nach welcher jede Kategorie durch die folgende näher bestimmt werden
sollte. Das Seiende als bleibendes Substrat aller möglichen Beziehungen ist
Substanz (o7co7cei|i£vov); diese ist der Träger von festen Eigenschaften (tcoiov), und
nur in dieser Hinsicht befindet sie sich in wechselnden Zuständen (rö ttox; I/^^)
und in Folge deren auch in Beziehungen zu anderen Substanzen (tö icf/ö<; ti
Aus der Kategorienlehre wird damit eine Ontologie, d. h. eine meta-
physische Theorie über die allgemeinsten Formbeziehungen der Wirklichkeit,
und dieselbe nimmt deshalb bei den Stoikern ihrer allgemeinen Tendenz gemäss
(vgl. § 15, 5) einen durchweg materialistischen Charakter an. Als Substanz
ist das Seiende die an sich eigenschafbslose Materie (5X>]), und die ihr im Ganzen
wie im Besonderen innewohnenden Eigenschaften und Kräfte (Äotönjtec — Sovdjutc)
sind ebenfalls ihr beigemischte (xpaaic 8t* oXwv) Stoffe (Luftströmungen), Dabei
werden beide, Substanz und Attribute, sowohl unter dem Gesichtspunkte des
allgemeinen Begriffs, als auch unter demjenigen des Einzeldinges betrachtet, und
in letzterer Beziehung hervorgehoben, dass jedes Einzelding von allen anderen
wesentlich und bestinmit unterschieden sei *).
Neben diese Kategorien des Seins treten aber bei den Stoikern diejenigen
Begriffsformen, durch welche sie das Verhaltniss des Denkens zum Sein aus-
drückten, und in diesen kommt nun die Trennung des Subjectiven vom
Objectiven, welche in der Entwicklung des griechischen Denkens immer stärker
vorbereitet worden war, zum entschiedenen Ausdruck. Während nämlich die
Stoiker alle Gegenstände, auf die sich das Denken bezieht, für körperlich,
während sie ebenso die Denkthätigkeit selbst und nicht minder den sprachlichen
Ausdruck derselben *) für körperliche Functionen ansahen, mussten sie doch zu-
1) Epikur selbst uud im Ganzen auch seine Schule kümmerte sich um die formale
Logik grundsätzlich nicht : man könnte darin Geschmack und Verstandniss sehen, es war aber
in Wahrheit nur die Gleichmütigkeit gegen Alles, was nicht dircct praktischen Nutzen ver-
sprach. — 2) Uebor dessen m Hcrculauum aufgefundene Schrift «epl <n]|JLeta>v xal OY^jtEiwaswv
vgl. Th. Gomi'ERTZ, Herculanensische Studien, Heft 1 (Leipzig 1865). Fr. Bahüsch (Lyck 1879).
R. Philippson (Berlin 1881). — 3) Dass auch die Pcripatetikcr sich mit dieser Kategorie^ be-
schäftigten, beweist die von Straton erhaltene Definition: tb ov eatt t6 rrji; StajJLovrj^ aittov
(Prokl. in Tim. 242 e). — 4) In der Entgegensetzung der beiden ersten und der beiden letzten
Kategorien kommt auch hier das sprachliche Venialtniss von Nomen und Verbum (nach
stoischer Terminologie nxoiot^ und xany^op-iwia) zu Tage. — 5) Auf die unterscheidende Zu-
sammenstellung des Denkens und des Sprechens, der inneren Vemunflthätigkeit (Xofo^
§17. Die Kriterien der Wahrheit. (Skeptiker.) 157
gestehen^ dass der Vorstellungsinhalt als solcher (tö Xsxtöv) unkörperlicher
Natur sei. Indem aber so zwischen Sein und Bewusstseinsinhalt scharf unter-
schieden wurde, trat das erkenntnisstheoretische Grundproblem hervor,
wie das Verhältniss der Beziehung und der Uebereinstimraung zwischen beiden
zu denken sei.
3. Diese Frage war aber ausserdem durch die lebhafte Entwicklung nahe
gelegt, welche der Skepticismus inzwischen erfahren hatte, und durch die ver-
hältnissmässig starke Stellung, welche derselbe den dogmatischen Systemen gegen-
über behauptete.
Gleichviel ob von Pyrrhon oder Timon, jedenfaUs waren um dieselbe Zeit,
wo die grossen Schulsysteme sich dogmatisch ausbildeten und befestigten, auch
alle die Argumente zu einem geschlossenen Ganzen systematisirt worden, durch
welche schon die sophistische Zeit das naive Vertrauen in die Erkenntnissßihig-
keit des Menschen erschüttert hatte. Obgleich auch dabei der ethische Zweck,
den Menschen durch Urtheilsenthaltung unabhängig vom Schicksal zu stellen,
letzthin massgebend war (vgl. § 14, 2), so bildet doch dieser Skepticismus eine
sorgfältig ausgeführte theoretische Doctrin. Er bezweifelt die MögUchkeit der
Erkenntniss in ihren beiden Formen, als Wahrnehmung ebenso wie als urtheilen-
des Denken, und nachdem er jeden dieser beiden Factoren einzeln zersetzt hat,
iiigt er ausdrücklich hinzu^ dass ebendeshalb auch ihre Vereinigung kein sicheres
Ergebniss haben könne ^).
In Bezug auf die Wahrnehmung bemächtigten sich die Skeptiker des
pro tagoreischen Relativismus, und noch in den sog. zehn Tropen^), in welchen
Ainesidemos ®) die skeptische Theorie mit sehr mangelhafter Anordnung dar-
stellte, nimmt diese Tendenz den breitesten Raum ein. Die Wahrnehmungen
wechseln nicht nur bei den verschiedenen Grattungen der Lebewesen (1), nicht
nur bei den verschiedenen Menschen (2) je nach ihren Gewöhnungen (9) und
ihrer ganzen Entwicklung (10), sondern sogar bei demselben Individuum zu
verschiedenen Zeiten (3), in Abhängigkeit von den körperlichen Zuständen
(4) und von dem verschiedenen Verhältniss, in dem es sich schon räumlich zu
dem Gegenstande befindet (5): aber sie ändern sich auch durch die Ver-
schiedenheit der Zustände des Objects (7), und sie haben auf den Werth
einer unmil^elbaren Wiedergabe der Dinge schon deshalb keinen Anspruch, weil
ihre Entstehung durch Zwischenzustände, in Medien wie der Luft, bedingt ist,
deren Mitwirkung wir nicht in Abzug zu bringen vermögen (6). Der Mensch ist
daher in alle Wege ausser Stande, die Dingo rein zu erkennen (8), und er hat
gegenüber der widerspruchsvollen Mannichfaltigkeit der Eindrücke, kein Mittel,
einen wahren von einem falschen zu unterscheiden. Der eine gilt nicht mehr
(oo (tdXXov) als der andere.
cv3;a{^eT0^) und ihres Ausdrucks durch die Stimme (Xo^o? irpo^opixoc) legten die Stoiker grosses
Gewicht: daher auch die Annalime (vgl. § 15, 6) des Sprachvermögens als eigenen Seelen-
theils ; daher ihre ausführliche Behandlung der Rhetorik (und Grammatik) neben der Logik.
1) Von zwei Betrügern zusammen ist erst recht keine Wahrheit zu erwarten: Diog,
Laert IX, 1 14. — 2) Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I, 38 ff. — 3) Diesem wird von den alten Schrift-
stellern neben der Skepsis ein Anschluss an die Metaphysik Heraklit's nachgesagt. Die Frage,
ob ein solcher thatsSchlich vorlag oder ihm nur missverständlich zugeschrieben wurde, hat
lediglich antiquarische Bedeutung. Denn wäre auch das Erstere der Fall gewesen, so hätte
sich darin nur wieder eine sachliche Verwandtschaft gezeigt, auf welche schon Flaton,
Theaet. 152 e ff. hingewiesen hatte. Vgl. S. 70 Anni. 3.
158 II> Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
Ebenso relativ aber wie die Wahrnehmungen sind auch die Ansichten (döfai)
der Menschen. In dieser Hinsicht machen sich beim Pyrrhonismus die Einflüsse
der eleatischen Dialektik geltend. Es wird gezeigt, dass jeder Meinung die ent-
jQ^egengesetzte mit gleich guten Gründen gegenübergestellt werden kann, und dies
Gleichgewicht der Gründe (looo^vsia rdivXöYcov) erlaubt daher wieder nicht,
Wahres und Falsches zu unterscheiden : bei solchem Widerspruch (amkorfia) gilt
auch hier das Eine nicht mehr als das Andere. Somit bestehen — nach der von
den Skeptikern aufgenommenen Redeweise der Sophistik — alle Meinungen nur
durch Convention und Gewohnheit (vo|i(|) ts xai Sd-st), nicht mit wesenhafter Be-
rechtigung (fuoet).
Energischer noch hat die spätere Skepsis die Möglichkeit der wissen-
schaftlichen Erkenntniss angegriffen, indem sie die Schwierigkeiten des
syllogistischcn Verfahrens und der von Aristoteles darauf gebauten Methode
aufdeckte *). Hierin scheint Karneades vorangegangen zu sein, welcher zeigte,
dass jeder Beweis, indem er für die Giltigkeit seiner Prämissen andere Beweise
voraussetze u. s. f., einen regressus in infinitum erforderlich mache, — eine Con-
sequenz, welche für den Skeptiker, der nicht wie Aristoteles etwas unmittelbar
Gewisses (ajuGov; vgl. 12, 4) anerkannte, durchaus zutreffend war. Dasselbe
Argument hat Agrippa weiter geführt, der den Skepticismus in fünf Troi)en*)
viel klarer und umfassender als Aenesidem formulirte. Er erinnerte wiederum
an die Relativität der Wahrnehmungen (3) und der Ansichten (1); er zeigte, wie
jeder Beweis in's Endlose treibe (2 : 6 sie äireipov sxßdXXcov) und wie unrecht es
sei, beim Beweisen von nur hypothetisch anzunehmenden Prämissen auszugehen
(4), endUch wie vielfach auch in der Wissenschaft als Grund der Prämissen schon
das vorausgesetzt werden müsse, was dadurch erst bewiesen werden sollte (6: 6
StdXXTjXoc — die Diallele). In lezterer Hinsicht wurde auch daran erinnert, dass
bei der syllogistischen Ableitung eines particularen Satzes aus einem generellen,
dieser doch von vornherein nur unter der Bedingung, dass jener gelte, berechtigt
wäre').
Da somit das Wesen der Dinge der menschlichen Erkenntniss unzugäng-
lich sei *), so verlangten die Skeptiker, dass der Mensch sich des Urtheils mög-
lichst enthalte (s^co^ifj). lieber die Dinge können wir nichts sagen (i'faata), wir
können nur aussprechen, dass uns Dies und Jenes so oder so erscheine, und da-
mit berichten wir (so hatten schon die Kyrenaiker gelehrt : § 8, 3) eben nur über
unsere eigenen augenblicklichen Zustände. Selbst die skeptische Behauptung
von der Unmöglichkeit der Erkenntniss sollte (um dem Widerspruch zu ent-
gehen, dass hier wenigstens Negatives theoretisch behauptet und begründet er-
schien) ^) mehr als Bekenntniss denn als Erkenntniss, mehr als Meinungsenthaltung
denn als Behauptung aufgefasst w^erden.
Vffl. V. Brochard, Los sceptiques grrecs. (Paris 1887).
1) Sext. Emp. adv. math. VIII, 316ff. — 2) Scxt. Emp. Pyrrh. hyp. I, 164flr.: 1) Der
Widerstreit der Meinungen. 2) Die Endlosigkeit des Begründens. 3) Die Relativität aller
Wahrnehmungen. 4) Die Unmöglichkeit anderer als hypothetischer Prämissen. 5) Der Cirkel
im Syllogismus. — 3) Sext. Emp. Pyrrh hyp. II, 194 ff. Erneuert hei J. 8t. Mill, Logik II, 3, 2;
berichtigt bei Chr. Sigwart, Logik I, § 55, 3. — 4) Die einfachste Formulirung der Skepsis
war schliesslich diejenige, welche Agrippa's fünf Tropen in zwei zusammenzog: es giebt nichts
unmittelbar Oewisaes, und es giebt eben deshalb auch zweitens nichts mittelbar Gewisses,
somit gar nichts Gewisses. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I, 178 f. — 5) Cic. Acad. II, 9, 28 und 34,
109. «ext. Emp. adv. math. VIII, 463 ff.
§ 17. Die Kriterien der Wahrheit. (Epikureer, Stoiker.) 159
4, Am schärfsten fasste sich der Angriff der Skepsis in dem Satze ') zu-
sammen^ dass den Täuschungen gegenüber^ denen der Mensch bei allen seinen
Vorstellungen, welchen Ursprungs auch immer, ausgesetzt ist, es kein eindeutiges,
sicheres Erkennungszeichen, kein Kriterium der Wahrheit gebe. Wenn des-
halb die dogmatischen Schulen, schon aus dem sokratischen Motiv, dass Tugend
ohne Wissen unmöglich sei ^), an der Realität der Erkenntniss festhielten, so er-
wuchs ihnen die Aufgabe, ein solches Kriterium anzugeben und gegen die skepti-
schen Einwürfe zu vertheidigen. Das haben denn auch die Epikureer und
Stoiker gethan^ obwohl ihnen ihre materialistische Metaphysik und die damit
zusammenhangende sensualis tische Psychologie dabei erhebliche und in letzter
Instanz unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete.
In der That war die psychogenetische Lehre beider Schulen diejenige, dass
der Inhalt aller YorsteUungen und Erkenntnisse lediglich aus der sinnlichen
Wahrnehmung stamme. Das Zustandekommen der letzteren erklärten sich
die Epikureer durch die demokritische Idolentheorie (§ 10, 3); diese gab ja auch
den Sinnestäuschungen, Träumen u. s. w. den Char£Ü£ter von Wahrnehmungen
entsprechender Wirklichkeit, und auch die Gebilde der combinirenden Phantasie
Hessen sich durch Vereinigungen, welche schon objectiv zwischen den Bilderchen
stattgefunden haben sollten, liiernach begreiflich machen. Aber auch den Stoikern
galt die Wahrnehmung als ein körperUcher Vorgang, als ein Eindruck der
äusseren Dinge auf die Seele (totcoioic), dessen Möglichkeit bei der allgemeinen
Mischung aller Körper ihnen sich von selbst zu verstehen schien. Diese grob
sinnliche Auffassung drückten sie durch den seitdem oft wiederholten Vergleich
aus, die Seele sei ursprünglich wie eine unbeschriebene Wachstafel, in welche
die Aussenwelt mit der Zeit ihre Zeichen eindrücke *). Fehler, aber unbestimmter,
immer jedoch noch durchaus mechanisch klingt die Bezeichnung von Chrysippos,
welcher die Wahrnehmung eine Eigenschaftsveränderung (Itsf/oicDGcc) in der Seele
nannte; denn jedenfalls bleibt auch ihm die Vorstellung (^avtaaia) eine körper-
liche Wirkung des Vorgestellten (y avtaoTÖv).
Lediglich durch das Beharren dieser Eindrücke oder ihrer Theile, sowie
durch ihre Zusammenfügung erklärten nun beide Schulen auch das Vorkommen
der Begriffe und Allgemeinvorstellungen (ic(jokiji^Qi<; und bei den Stoikern auch
xoival Iwotat). Sie bekämpften deshalb, wie namentUch schon die Kyniker, die
platonisch-aristotelische Lehre von den Ideen und Formen *), insbesondere auch
die Annahme einer selbständigen Thätigkeit oder Kraft der Begriffsbildung, und
sie führten auch die allgemeinsten und abstractesten Begriffe auf diesen Mechanis-
mus der Wahmehmungselemente (den sie übrigens kaum genauer analysirten)
zurück: und wenn die Stoiker diesen kunstlos und unwillkürlich (fpu'sixco«;) zu
Stande kommenden Allgemeinvorstellungen der Erfahrung (s|irstpta) die mit
methodischem Bewusstsein erzeugten Begriffe der Wissenschaft gegenüberstellten,
so soUte doch auch deren Inhalt lediglich aus den Sinnesempiindungen her-
1) Sext. Erap. adv. math. VII, 159. — 2) Diog. Laert. X, 146 f. K. A. Us. p. 76f.,
andrerseits Plut. Stoic. rep. 47, 12. — ä) Flut. Plac. IV, 11. Dox. D. 400; Plut. comm. not.
47. Vgl. übrigens schon Fiat. Thcaet. 191 c. — 4) Die Stoiker fassten daher die platonischen
„Ideen" (Gattungsbegriffe) nur als menschliche Vorstellungsgebilde (ewot^iiata ^jfjietepa; vgl.
Flut. plac. 1 10 Dox. D. 309) auf und gaben so die erste Veranlassung zu der späteren sub-
jectiven Bedeutung des Terminus „Idee" : vgl. § 19.
160 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
stammen. Dabei wurde von beiden Schulen auf die Mitwirkung der Sprache in
der Entstehung der Begriffe besonderes Gewicht gelegt.
Insofern nun aber der Gesammtinhalt der Eindrücke und ebenso auch die
Natur des Denkens bei allen Menschen die gleichen sind y so müssen sich unter
diesen Umständen vermöge des psychologischen Mechanismus auch überall die
gleichen Allgemeinvorstellungen sowohl auf dem theoretischen als auch auf dem
praktischen Gebiete bilden. Diese Consequenz haben namentlich die Stoiker
gezogen, welche ihrer ganzen Metaphysik nach auf die Gemeinsamkeit der seeli-
schen Functionen^ die ja alle aus dem göttlichen Pneuma stammen sollten, energisch
hingewiesen wa^en. Sie lehrten daher, dass in denjenigen Vorstellungen, welche
sich mit natürlicher Nothwendigkeit bei allen Menschen gleichmässig entwickeln,
die sicherste Wahrheit zu suchen sei, und sie nahmen auch für die wissenschaft-
lichen Beweisführungen den Ausgangspunkt gern bei diesen xoiyat gwotai oder
communes notiones: sie beriefen sich mit Vorliebe auf den consensus gentium,
die Ucbcreinstimmung aller Menschen, — ein Argument, dessen Geltung freiUch
von den Skeptikern leicht mit dem Hinweis auf die negativen Instanzen der Er-
fahrung zu erschüttern war ^).
Es war deshalb nicht mehr im Sinne der Stoiker, wenn in der späteren
eclectischen Litteratur diese Gemeinvorstellungen als eingeboren (innatae)
bezeichnet wurden, wenn namentlich Cicero in ihnen nicht nur das sah, was die
Natur Alle gleichmässig lehrt, sondern auch das, was sie oder die Gottheit mit
der Vernunft zugleich ui-sprüngUch Jedem eingepflanzt habe. Cicero behauptet
dies nicht nur fui* die Grundbegriffe der Sittlichkeit und des Rechts, sondern
auch für den Glauben an die Gottheit und an die Unsterblichkeit der Seele :
insbesondere gilt dabei die Erkenntniss Gottes nur als die Besinnung des Men-
schen auf seinen wahren Ursprung ^). Mit dieser Lehre war die beste Brücke
zwischen platonischer und stoischer Erkenntnisstheorie geschlagen, und unter
dem stoischen Namen der xotval ewoiai ist die rationalistische Erkenntnisse
lehre bis in die Anfange der neueren Philosophie hinein fortgepflanzt worden:
sie hat eben dadurch den psychologistischen Nebensinn erhalten, dass Ver-
nunfterkenntniss aus eingeborenen Begriffen bestehe.
6. Wenn nun aber ursprünglich Stoiker wie Epikureer in psychogenetischer
Hinsicht allen Vorstellungsinlialt auf Sinneseindrücke zurückführten, so haben nur
die Epikureer daraus die consequente Folgerung gezogen, dass das Erkennungs-
zeichen der Wahrheit lediglich das Gefühl der Nothwendigkeit sei, mit der sich
die Wahrnehmung dem Bcwusstsein aufdringt, die unwiderstehliche Augen-
scheinlichkeit oder Evidenz (Ivdf/jfeta), mit der die Aufnahme der Wirklich-
keit in der Function der Sinne verbunden ist. Jede Wahrnehmung ist als solche
wahr und unwiderleglich: sie besteht, sozusagen, als selbstgewisses Atom der Vor-
stellungswelt zweifellos in sich selbst, unabhängig und unerschütterlich von irgend
welchen Gründen^). Und wenn von denselben Gegenständen verschiedene und
einander widersprechende Wahrnehnmngen vorzuliegen scheinen, so ist der Irr-
thum nur bei der beziehenden Meinung und nicht in den Wahrnehmungen, welche
eben durch ihre Verschiedenheit beweisen, dass ihnen verschiedene äussere Ver-
1) Cic. de nat. deor. I, 23, 62 f. — 2) Id. De lepj. I, 8, 24: . . ut is aguoscat deuni, qui
unde ortus sit quasi recordetur ac iioscat. — 3) Die Parallele dieses erkenntnisstheoretischen
mit dem physischen und ethischen Atomismus der Epikureer liegt auf der Hand.
§17. Die Kriterien der Wahrheit. (Epikureer.) 161
anlassuDgen entsprechen : die Elelativität ist hiemach keine Instanz gegen die
Richtigkeit aller Wahrnehmungen ^).
Indessen gehen nun über diesen unmittelbaren Bestand der Sinneseindrücke
fortwährend und nothwendig die Meinungen (Sö^ai) hinaus: denn die für das
Handeln erforderliche Erkenntniss bedarf auch des Wissens von demjenigen, was
nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, einerseits nämlich der Gründe der Er-
scheinungen (SStjXov) , andrerseits der daraus zu erschliessenden Erwartung für
das Zukünftige :(icpoqiiyov). Aber auch für aUe diese weiteren Functionen des
psychischen Mechanismus giebt es nach den Epikureern keine andere Gewähr
als wiederum die Wahrnehmung. Denn wenn die Begriffe (icpokif^Bi^) nur die in
der Erinnerung festgehaltenen Sinneseindrücke sind, so haben sie in der Evidenz
der letzteren auch ihre eigene, weder beweisbare noch angreifbare Gewissheit ^):
und die Hypotheseny-uicoX')^et<;, sowohl über die unwahmehmbaren Gründe der
Dinge als auch über zukünftige Ereignisse finden ihr Kriterium lediglich in der
Wahniehmungy insofern sie von dieser bestätigt oder wenigstens nicht widerlegt
werden: ersteres gilt fUr die Yoraussagung des Zukünftigen, letzteres für die er-
klärenden Theorien^). Von einer selbständigen Ueberzeugungskraft des Denkens
ist also bei den Epikureern keine Rede: ob unsere Erwartung irgend eines Ereig-
nisses richtig isty können wir nach ihnen erst wissen, wenn dies eintritt. Damit
ist auf eine wirkliche Theorie der Forschung principiell verzichtet.
6« Es ist hieraus ersichtlich, dass die Epikureer ihre eigene atomistische
Metaphysik nur als eine durch die Thatsachen nicht widerlegtOi aber auch nicht
bewiesene Hypothese hätten ansehen dürfen, — eine Hypothese, deren sie sich
ja auch wesentlich nur zu dem Zweck bedienten, um andere, ihnen ethisch be-
denklich erscheinende Hypothesen zu verdrängen. Bei ihnen ist somit der Dog-
matismus nur problematisch, und ihre Erkenntnisslehre ist, soweit es sich um
rationelles Wissen liandelt, sehr stark skeptisch durchsetzt: insofern als sie nur
dasjenige, was der Wahrnehmung als „Thatsache" gUt, anerkennen, dies aber
auch für völlig gewiss ansehen, ist ihr Standpunkt als degenige des Positivis-
mus zu bezeichnen.
Noch consequenter und mit Abstreifung von Epikur's ethisch-metaphysi-
schen Neigungen ist dieser Positivismus im Alterthum dui*ch die Ansichten der
jüngeren empiristischen Aerzteschulen ausgebildet worden, die zwar hinsichtlich
der Erkenntniss alles Un wahrnehmbaren und hinsichtlich aller rationalen Theorien
mit den Skeptikern, dagegen in der Anerkennung der sinnlichen Evidenz der
Wahrnehmungen mit den Epikureern gingen. Als die Grundlage der ärztlichen
Kunst wird hier die Beobachtung (tTJpTfjotc) geschildert und als das Wesen der
Theorie nur die in der Erinnerung festgehaltene Beobachtung angesehen; nament-
lich aber werden die ätiologischen Erklärungen principiell abgewiesen.
Im Zusammenhange damit steht der Umstand, dass auch die späteren
Skeptiker in eingehenden Untersuchungen den Begriff der Causalität behandel-
ten und die Schwierigkeiten desselben aufdeckten. Schon Ainesidemos hat eine
Reihe solcher Aporien aufgestellt % und bei Sextus Empiricus finden wir sie
1) Sext. Emp. adv. math. VII, 203 ff. — 2) Wie das letzte Kriteriam auch deft geistig
Guten bei Epikur die sinnliche Lust, so ist auch das Wahrheitskriterium der Begriffe nur die
sinnliche Evidenz. — 8) Sext. Emp. VII, 211. — 4) Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I, 180 ff.
Windelband, Geschichte der Philosophie. n
lf)2 II. Hellenistisch-römische Philosophie. 1. Ethische Periode.
noch breiter und umfangreicher entwickelt '). Da werden nicht nur die Mängel
der ätiologischen Theorien bezeichnet, welche das Bekannte auf Unbekanntes
reduciren^ das ebenso unerklärlich ist, welche unter yielen Möglichkeiten eine
einzebe ohne zureichenden Grund behaupten^ welche nicht sorgfältig genug die
Erfahrung nach etwaigen negativen Instanzen durchmustern; welche endlich das
der Wahrnehmung Unzugängliche doch schUesslich irgendwie nach einem aus
der Wahrnehmung bekannten und besonders einfachen, deshalb auch scheinbar
selbstverständlichen Schema erklären: da werden auch ausserdem alle allgemeinen
Schwierigkeiten hervorgesucht, welche es verhindern, von dem ursächUchen Yer-
hältniss eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen. DerProcess der Einwirkung,
der Uebergang der Bewegung von einem Dinge auf das andere, ist weder bei der
Annahme, dass das Wirkende (als Kraft) immateriell sei, noch bei der entgegen-
gesetzten begreiflich zu machen ; auch die Berührung {&f'fi)i die man (und das
geschah schon von Aristoteles) als conditio sine qua non des causalen Vorgangs
annahm, lässt ihn keineswegs erklärhcher werden. Ebenso ist das Zeitverbält-
niss von Ursache und Wirkung äusserst schwer zu bestimmen. Als die wichtigste
Einsicht aber erscheint in diesen Erörterungen der Hinweis auf die Relativität
des causalen Verhältnisses: nichts ist an sich Ursache oder Wirkung, son-
dern jedes von beiden ist es nur mit Rücksicht auf das andere: airtov und icdo^ov
sind coiTclative Bezeichnungen , welche nicht absolut gesetzt werden dürfen.
Damit ist denn auch der (stoische) Begriff einer wesentlich wirkenden Ursache,
der Begriff der schöpferischen Gottheit, ausgeschlossen.
7. In einer anderen Richtung haben die Skeptiker der Akademie einen
Ersatz fiir die auch von ihnen aufgegebene Gewissheit der rationalen Erkenntniss
gesucht. Da nämlich im praktischen Leben die Enthaltung nicht durchzuführen
und das Handeln unerlässlich ist, für dieses aber bestimmende Vorstellungen er-
forderlich sind, so führte schon Arkesilaos aus, dass die Vorstellungen, auch
wenn man ihnen die volle Zustimmung versage, den Willen zu bewegen im
Stande seien ^) und d^ss man im praktischen Leben sich mit einem gewissen
Vertrauen (ma-nc) begnügen müsse, wonach einzelne Vorstellungen vor anderen
als wahrscheinlich (siSXoYov), zweckmässig und vernünftig gelten dürfen ^).
Die Theorie des Probabilismus hat sodann Karneades weiter aus-
geführt^), indem er die einzelnen Grade dieses „Glaubens" nach logischen Ver-
hältnissen näher zu bestimmen suchte. Der geringste Grad der Wahrschein-
lichkeit (mdavÖTYjc) ist derjenige, welcher (als eine undeutliche und unvoll-
kommene Form der sinnlichen Evidenz — ivip^sta) der einzelnen, nicht in weiteren
Zusammenhängen stehenden Vorstellung zukommt. Ein höherer Grad der
Wahrscheinlichkeit gebürt derjenigen Vorstellung, welche mit anderen, in
deren Zusammenhang sie gehört, widerspruchslos vereinbar ist (aTcepiaicaatoc) ;
die höchste Stufe endlich des Glaubens wird da erreicht, wo ein ganzes System
derartig zusammenhangender Vorstellungen auf seine durchgängige Ueberein-
stimmung und erfahrungsmässige Bestätigung geprüft (x£pui>§60|iivY]) ist. Das
empirische Vertrauen steigt also von dem sinnlich Vereinzelten zu den logischen
Zusammenhängen wissenschaftlicher Forschung. Aber wenn es auch in der
1) Adv» math, IX, 195 ff. Vgl K. Göhikg, Der Begriff der Ursache in der griechischen
Philosophie. Leipzig 1874. — 2) Plut. adv. Col. 26, 3. — S) Sext. Emp. adv. inath. VII, 158. —
4) Ibid. 166 ff.
§ 17. Die Kriterien der Wahrheit. (Stoiker.) 163
letzteren Form zum praktischen Leben völlig ausreichen mag (wie dies Kameades
annahm), so ist es doch nicht im Stande, zu einer völlig sicheren Ueberzeugung
zu fuhren.
8. Dem gegenüber haben nun die Stoiker die äussersten Anstrengungen
gemacht, um für ihre Metaphysik, der sie aus ethischem Interesse so hohen Werth
beilegten, einen erkenntnisstheoretischen Unterbau zu gewinnen und trotz des
psychogenetischen Sensualismus den rationalen Charakter der Wissenschaft
zu retten '). Schon ihre Lehre von der Weltvemunft verlangte nach dem Grund-
satz, dass Gleiches durch Gleiches erkannt wird, eine Erkenntniss des äusseren
Logos durch den inneren Logos des Menschen, durch seine Vernunft*), und der
ethische Antagonismus (bezw. Dualismus) zwischen der Tugend und den sinn-
lichen Trieben erforderte eine parallele Unterscheidung zwischen der Erkenntniss
und der sinnlichen Vorstellung. Wenn deshalb auch aus der letzteren das ganze
Material des Wissens erwachsen sollte, so wiesen die Stoiker andrerseits darauf
hin, dass in der Wahi*nehmung als solcher allein überhaupt keine Erkenntniss
enthalten, dass sie weder als wahr noch als falsch zu bezeichnen sei. Wahrheit
und Falschheit sind vielmehr erst Prädicate der Urtheile (a£ub(i.aTa), in denen
über die Beziehung der Vorstellungen etwas ausgesagt (bezw. verneint) wird ').
Das Urtheil fassen jedoch die Stoiker — und hierin nehmen sie eine neue
und bedeutungsvolle Stellung ein, der im Alterthum nur noch die Skeptiker
einigermassen nahe kommen — durchaus nicht nur als den theoretischen Vor-
gang der Vorstellung und Vorstellungsverbindung auf, sondern sie erkannten
darin als wesentlichstes Merkmal den eigenthümlichen Act der Zustimmung
(aiyptard^eot^), des Billigens und Ueberzeugtseins , womit der Geist den Vor-
stellungsinhalt zu dem seinigen macht, ergi^cift und von ihm gewissermassen Be-
sitz nimmt (xataXajißdivstv). Diesen Act des Erfassens sehen die Stoiker in der-
selben Weise als eine selbständige Function des Bewusstseins (i^s(i.ovixöy) an,
wie die im Affect auftretende Zustimmung zu den Trieben. Die Entstehung der
Vorstellungen ist wie diejenige der Gefuhlserregungen ein naturnothwendiger,
von der menschlichen Willkür völlig unabhängiger Process (axoftotov): aber die
Zustimmung, wodurch wir die einen zu Urtheilen und die andern zu AflFecten
machen, ist eine von der Aussenwelt freie (sxouotov) Entscheidung (xpiatc) des Be-
wusstseins*).
Diese Zustimmung tritt nun aber bei dem Weisen, vermöge der Identität
des individuellen mit dem allgemeinen Logos, nur bei denjenigen Vorstellungen
ein, welche wahr sind: indem also die Seele diesen Vorstellungsinhalt ergreift,
so ergreift sie damit zugleich die WirkUchkeit. Eine solche Vorstellung nannten
die Stoiker ^avra^iot xaraXTjTrrtxi^ *), und sie waren der Ueberzeugung, dass eine
solche die Zustimmung des vernünftigen Menschen in unmittelbarer Evidenz
1) y^l. M. Hbinzr, Zur Erkenn tnisslehre der Stoiker. Leipzig 1880, — 2) Sext. Emp.
adv. math. VII, 93. — S) Ibid. VIII, 10. — 4) Ibid. VIH, 39, 7. — 5) In der Deutung dieses
Terminus gehen die Ansichten weit auseinander: den Quellen nach scheint es in der That bald,
als sei die Vorstellung gemeint, welche der Geist ergreift, bald diejenige, welche den wirklichen
Thatbestand ergreift, bald diejenige, durch welche der Geist die Wirklichkeit ergreift, bald so-
gar diejenige, welche ihrerseits den Geist so ergreift, dass er ihr zustimmen muss. Es ist daher
gemeint worden, die Stoiker hätten den Ausdruck absichtlich in dieser mehrdeutigen Form
gebildet, indem alle diese Beziehungen darin anklingen sollten, und vielleicht hat E. Zeller
(IV", 83) diese Mehrdentigkeit durch die Uebersetzung „begriffliche Vorstellung** wiedergeben
wollen, welche aber einen logischen Nebensinn bat, den die Stoiker sicher nicht gemeint haben.
11*
164 n. Hellemstisch-römische Philosophie.
hervorrufen müsse. Daher wird zwar die Zustimmung selbst (oöYxatd^satc) als
eine Thätigkeit der denkenden Seele aufgefasst; aber als Objecte derselben er-
scheinen ebenso die einzelnen Wahrnehmungen wie die darauf fussenden Ver-
standesthätigkeiten des Begriffs, Urtheils und Schlusses.
Verstanden somit die Stoiker unter der ^avtaata xaToXiijTmxi^ diejenige Vor-
stellung, durch welche der Geist die Wirklichkeit erfasst und die ihm deshalb so
einleuchtet, dass er sie zustimmend zu der seinigen macht, so war das wohl der
richtige Ausdruck für die Anforderung, welche sie an die wahre Vorstellung
stellten ^), aber es eignete sich diese Definition durchaus nicht für den Zweck,
aus dem sie gebildet wurde, für ein Erkennungszeichen der Wahrheit. Denn das
subjective Merkmal darin, die Zustimmung, Hess sich ja, wie die Skeptiker*) sehr
richtig einwandten, als psychologisches Factum auch bei einer Fülle von offen-
bar falschen Vorstellungen thatsächlich nachweisen.
So zeigt sich der anthropologische Zwiespalt der stoischen Lehre auch in
diesem Centralbegriff ihrer Erkenntnisslehre. Wie es nach ihrer Metaphysik
nicht zu erklären war, dass die aus der Weltvemunft stammende Einzelseele
unter die Herrschaft der Sinnentriebe geräth, so ist es ehensowenig zu begreifen,
dass die theoretische Zustimmung unter umständen auch den falschen Vor-
stellungen zufallt. Beide Schwierigkeiten aber haben schliesslich ihren gemein-
samen Grund. Mit Heraklit identificirten die Stoiker in ihrer Metaphysik, obwohl
die Begriffe sich inzwischen schon viel mehr gesondert hatten, die normative
und die thatsächliche Ordnung der Dinge. Die Vernunft galt ihnen
ebenso als das was sein soll, wie als das was ist: sie war zugleich vö[ioc und fixsic.
Und dieser Gegensatz, dessen beide Seiten in ihrer Freiheitslehre und ihrer
Theodicee hart auf einander stiessen, war das Problem der Zukunft.
2. Kapitel Die religiöse Periode.
J. Simon, Histoire de T^cole d^Alexandrie (Paris 1843 ff.).
£. Matter, Essai sur Tecole d'Alexandrie (Paris 1840 f!.).
E. Vachbrot, Histoire critiqae de Tecole d^Alexandrie (Paris 1846 ff.).
Barthäleht St-Hiladie, Sur le concours ouvert par Vacademie etc. sur T^cole d'Ale-
xandrie (Paris 1845).
K. Vogt, Neuplatonismns und Obristenthum (Berlin 1836).
Georgii, lieber die Gegensätze in der Auffassung der alexandriniscben Keligionsphilo-
sopbie (Zeitscbr. f. bist. Tbeol. 1839).
E. DEUTmoER, Geist der christlicben Ueberliefening (Regensburg 1850/51).
A. RrrscHL, Die Entstebung der altkathoüscben Kircbe (2. Aufl. Bonn 1857).
Chr. Baur, Das Obristenthum der drei ersten Jahrhunderte (Tübingen 1860).
J. Alzog, Grundriss der Patrologie (3. Aufl. Freiburg i. B. 1876).
Alb. StöckL) Geschichte der Philosophie der patristischen Zeit (Würzburg 1859).
.T. Huber, Die Philosophie der Kirchenväter (München 1859).
Fr. Overbeck, Ueber die Anfänge der patristischen Litteratur (Hist. Zeitscbr. 1882).
A. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte (3 Bd. Freiburg i. B. 1886—90).
Die allmähliche Ueberleitung der hellenistisch -römischen Philosophie von
dem ethischen auf den religiösen Standpunkt hatte gleichmässig ihre inneren
Ursachen in dieser Philosophie selbst, wie ihre Anlässe in den gebieterischen An-
forderungen des Zeitbedürfhisses. Je weiter nämlich die Berührung zwischen den
1) Es verlohnt sich darauf hinzuweisen, dass in den Bezeichnungen über das Verhältniss
des erkennenden Geistes zur äusseren Wirklichkeit bei den Stoikern überall die Ausdrücke aus
dem Gebiete des Tastsinns (Eindruck, Ergreifen etc.) vorwalten, während früher optische
Analogien bevorzugt wurden i vgl S. 92. — 2) Sext. Emp. adv. math. VIT, 402 ff.
2. Religiöse Periode. 165
Systemen griff, um so mehr stellte sich heraus, wie wenig die Philosophie die
Aufgabe zu erfüllen vermochte, die sie sich selbst gesetzt hatte: den Menschen
durch sichere Einsicht zur Tugend und GltickseUgkeit, zur inneren Unabhängigkeit
Ton der Welt zu erziehen. Lehrte schon die immer weiter sich ausdehnende skep-
tische Denkart, dass die Tugend schliesslich eher in dem Verzicht auf das Wissen,
als in einem Wissen selbst bestehe, so kam auch bei den Stoikern mehr und mehr
die Ansicht zum Durchbruch, dass ihr so scharf und schroff gezeichnetes Ideal
des Weisen in keinem Menschen ganz verwirklicht werde, und so fand sich in jeder
Richtung, dass der Mensch aus eigener Kraft weder wissend noch tugendhaft und
glücklich werden könne.
Musste schon danach in der Philosophie selbst eine Stimmung hervorgerufen
werden, welche zur Annahme einer höheren Hilfe fiir die ethischen Zwecke geneigt
war, so enthielten auch die theoretischen Lehren eine grosse Anzahl von religiösen
Momenten. Die Epikureer freilich schlössen solche absichtlich aus; um so leich-
teren Eingang dagegen gewähi*ten ihnen die Stoiker. Bei diesen führte nicht nur
die Metaphysik darauf, das Princip der Moral in einem göttlichen Gebot zu
suchen, sondern es bot sich auch in der Pneumalehre die Möglichkeit, den Gebilden
des Mythos eine philosophische Bedeutung zu gewähren, die sich dann auch allen
Formen des Cultus mittheilen konnte. Unvergessen waren endlich der Mono-
theismus des Geistes in der Lehre des Aristoteles und jener ideale Zug, mit dem
Piaton das bleibende Wesen der Dinge in einer höheren Welt des Uebersinnlichen
gesucht hatte.
Gerade dieser Dualismus aber, der die irdische Welt des Vergänglichen
einer übersinnlichen Welt des Göttlichen gegenüberstellte , erwies sich schUess-
lich ab der rechte Ausdruck für jenen inneren Zwiespalt, der durch das gesammte
Leben der alternden Griechen- und Römerwelt ging. Wohl feierte noch die alte
GenussbegehrUchkeit in Macht und Sinnentaumel ihre Orgien ; aber mitten darin
erwuchs aus Ueberdruss und Ekel ein neues Begehren nach reinerer, höherer
Freude : und angesichts der ungeheuren Gegensätze, welche der sociale Zustand
desBömerreichs mit sich führte, richtete sich der Blick all der Millionen, die von
den Gütern dieser Erde sich ausgeschlossen sahen, sehnsuchtsvoll auf eine bessere
Welt. So war denn auf allen Wegen ein tiefes, leidenschaftUches Bedürfhiss nach
wahrem Seelenheil (cM)T7]p(a) erwachsen, ein Hunger nach dem Ueberirdischen, ein
religiöser Drang ohne Gleichen.
Diese Lebhaftigkeit der religiösen Bewegung bethätigte sich zunächst
in der begierigen Aufnahme, welche fremde Cultusformen in der römisch -grie-
chischen Welt fanden, in der Mischung und Verschmelzung orientalischer und
occidentalischer Beligionen : aber mit der Ausgleichung, den die Gegensätze der-
selben hie und da fanden, trat doch viel energischer noch ihr Streit um die Herr-
schaft über die Gemüther hervor, und so wurde der Boden der antiken Culturwelt,
nachdem er die Früchte der Kunst und der Wissenschaft getragen, zum Kampf-
platz der B.eligionen. Das wesentliche Interesse des Menschen verschob sich
damit für lange Jahrhunderte aus der irdischen in die himmlische Sphäre: er
begann sein Heil jenseits der Sinnenwelt zu suchen.
Allein die Formen, in denen dieser Kampf der Beligionen sich abspielte,
beweben nun trotz alledem, zu welcher geistigen Macht die griechische Wissen-
schaft herangewachsen war. Denn so sehr war die alte Welt zu des Gedankens
16f> n. Hellenistisch-römische Philosophie.
Blässe angekränkelt, so tief von dem Bedürfniss nach Erkenntniss durchsetzt,
dass jede der Religionen nicht nur dem Gefühl, sondern auch dem Verstände
Genüge thun woUte und deshalb ihr Leben in eine Lehre zu verwandeln bemüht
war. Das gilt selbst vom Christenthum und gerade von ihm. Freilich lag die
wahre Siegeskraft der Beligion Jesu darin, dass sie in diese abgelebte, blasirte
Welt mit der Jugendkraft eines reinen, hohen Gottesgefiihles und einer todes-
muthigen Ueberzeugung trat: aber sie vermochte die alte Culturwelt nur dadurch
zu erobern, dass sie dieselbe in sich aufnahm und verarbeitete; und wie sie in dem
äusseren Kampf gegen dieselbe ihre Verfassung ausbildete ') und dadurch schUess-
lieh so weit erstarkte, dass sie von dem römischen Staate Besitz ergreifen konnte,
so hat sie auch in ihrer Vertheidigung gegen die alte Philosophie deren Begriffs-
welt sich zu eigen gemacht, um damit ihr dogmatisches System aufzubauen.
So begegneten sich die Bedürfnisse der Wissenschaft und des Lebens: jene
suchte die Lösung des Problems, an dem sie sich vergebens abmühte, in der Re-
ligion, und dieses verlangte fiir seine religiöse Sehnsucht oder Ueberzeugung eine
vnssenschaftUche Formung und Begründung. Daher ist von hi^ an auf weite
Strecken die Geschichte der Philosophie mit derjenigen der Dogmatik^) ver-
wachsen, und es beginnt die Periode der religiösen Metaphysik. Das Denken
des Alterthums hat die eigenthümliche Linie beschrieben, dass es sich von der
Religion, von der es ausging, mehr und mehr entfernte — den äussersten Abstand
erreichte es im Epikureismus — und dann derselben wieder stetig näherte, um
schliesshch ganz darin zurückzukehren.
Unter diesen Voraussetzungen ist es zu verstehen, dass diejenige Welt-
anschauung, welche UebersinnUches und Sinnliches unter den Werthgesichts-
punkten göttlicher Vollkommenheit und irdisqjier Schlechtigkeit sonderte, den
gemeinsamen Boden der gesanmdten religiös-philosophischen Bewegung ausmachte.
Diese Anschauung war zwar schon von den Pythagoreem eingeftihii; (vgl. § 5, 7)
und auch von Aristoteles festgehalten worden: ihre kräftigste Ausprägung aber
hatte sie zweifellos in der platonischen Metaphysik erfahren. Diese hat
deshalb für die rehgiöse Schlussentwicklung des antiken Denkens den beherr-
schenden Mittelpunkt abgegeben: eine religiöse Ausbildung des Piatonismus ist
der Grundcharakter dieser Periode.
Den räumlichen Mittelpunkt aber derselben finden wir in derjenigen Stadt,
welche durch ihre Geschichte wie durch ihre Bevölkerung die Mischung der Völker
und der Rehgionen am deutlichsten zum Ausdruck brachte: Alexandria. Hier,
wo in der regsamen Arbeit des Museums alle Schätze der griechischen Bildung
aufgespeichert waren, drängten sich in dem grossen Völkergewühl der Handels-
hauptstadt alle Religionen und Cultusformen herzu, um die wissenschaftliche Ab-
klärung ihres drängenden und stürmenden Gefiildsinhaltes zu suchen.
Die erste Richtung der alexandrinischen Philosophie ist der sog.
NeupythagoreismuSy eine Denkart, welche, aus der religiösen Praxis der
pythagoreischen Mysterien hervorgegangen, die Zahlenmystik der alten Pythago-
reer, nach denen sie sich und ihre Schriften nennt, nur äusserlich verwendet.
1) Vgl. K. J. Nkumann, Der römische Staat und dio allgemeine Kirche bis auf Diocletian.
l.Bd. Leipzig 1890. — 2) Es versteht sich von selbst, dass die folgende Darstellung alle speci-
fisch dogmatischen Elemente nur da nicht bei Seite gelassen hat, wo sie ganz untrennbar mit
den philosophischen Principien ve flochten sind.
2. ReligiÖRe Periode. 167
während sie den theoretischen Rahmen für ihre weltflüchtige, religiös-asketische
Ethik in einer Umdeutung der platonischen Metaphysik findet^ die für die Auf-
fassung des geistigen Wesens in der Folgezeit von tiefstgreifendem Werthe gewesen
ist. Als typischer Vertreter dieser Schide ist der Keligionsstifter Apollonios
von Ty an a anzusehen.
Nicht ohne Einfluss dieser Schule hat in der Eaiserzeit auch die Stoa die
religiösen Momente ihrer Weltanschauung energischer herausgekehrt; sodass nicht
nur der anthropologische DuaUsmus verschärftwurde, sondernauch dem ursprüng-
lichen Pantheismus der Schule sich allmählich eine mehr theistische Vorstellungs-
weise unterschob. In Männern wie Seneca, Epiktet und Marc Aurel ist die
stoische Lehre völlig zu einer Philosophie der Erlösung geworden.
In reUgiösem Gewände lebte um diese Zeit sogar der Eynismus als eine
derbe Volkspredigt der Entsagung wieder auf: als bekanntester Vertreter des-
selben gilt Demonax.
Kaum zu scheiden von den Neupythagoreem sind in den ersten Jahrhun-
derten unserer Zeitrechnung die eclectischen Platoniker^ wie etwa Plut-
archos von Chaironeia und Apuleius von Madaura: und in späterer Zeit er-
scheinen Numenios von Apamea und Nikomachos von Gerasa, die ausserdem
schon unter jüdischen und christlichen Einflüssen stehen, als Zeugen einer voll-
kommenen Verschmelzung beider Richtungen.
Während aber in allen diesen Formen das hellenische Element immer noch
die Ueberhand über das orientalische behält, tritt das letztere sehr viel kräftiger
in der jüdischen Religionsphilosophie hervor. So wie vermuthlich ')
aus einer Berührung des Neupythagoreismus mit dem hebräischen Religionsleben
die Secte der Essener hervorgegangen ist, so haben die mannigfachen Versuche
der gelehrten Juden, sich in der Darstellung ihrer Dogmen der griechischen
Wissenschaft zu nähern, schliesslich zu der Lehre des PhilonvonAlexandria
gefuhrt, dessen originelle Verarbeitung dieser gährenden Gedankenmassen ihre
weitere Gestaltung und Bewegung in den wichtigsten Punkten beeinflusst hat.
In grösseren Dimensionen hat sich auf analoge Weise die Philosophie
desChristenthums entfaltet, die man für diese ersten Jahrhunderte mit dem
Namen der Patristik zu bezeichnen pflegt. Diese philosophische Verweltlichung
des Evangeliums beginnt bei den Apologeten, welche in der Absicht, das
Christenthum in den Augen der gebildeten Welt vor Verachtung und Verfolgung
zu schützen, seine religiöse Ueberzeugung als die einzig wahre Philosophie darzu-
stellen suchten und deshalb diesen Inhalt den begrifflichen Formen der griechischen
Wissenschaft anzupassen anfingen: die bedeutendsten unter ihnen sind Justinus
und Minucius Felix.
Aber auch ohne diese polemische Tendenz machte sich in den christlichen
Gemeinden das Bedürfniss, den Glauben (kIoxk;) in Wissen (yvcooic) zu verwandeln^
sehr lebhaft geltend. Dieersten Versuche jedoch, welche dieGnostiker machten,
der neuen Religion eine adäquate Weltvorstellung zu schafTen, gingen aus den
aufgeregten Phantasien syrischer Religionsmischung hervor und führten trotz
der Benutzung hellenistischer Philosopheme zu so grotesken Bildungen, dass die
in sich erstarkende und sich abschliessende Kirche sie von sich stossen musste.
1) Vgl. E. Zellkr V » 277 flf.
168 n. Hellenistisch-römisohe Pbiloeophie.
Als die bekanntesten dieser Männer sind SaturninuSy Basileides und
Yalentinus zu nennen.
Tm Rückschlag gegen solche Uebereilungen der religiösen Phaatastik griff
in der christlichen Literatur bei Männern wie T atian ^ T ertuUi an, Arnobius
zeitweilig eine heftige Abneigung gegen jede philosophische Vermittlung de&
christUchen Glaubeiis und damit ein ausdrücklicher Antilogismus Platz, der
sich jedoch dann genöthigt sah, auch seinerseits auf ilmi verwandte Lehren der
griechischen Philosophie zurückzugreifen. Ohne diese Einseitigkeit und mehr in
Anlehnung an die älteren hellenisirenden Apologeten ist der Gnosticismus von
Eirenaios und seinem Schüler Hippolytos bekämpft worden.
Erst im Anfange des dritten Jahrhunderts ist es nach allen diesen Vor-
gängen zur Begründung einer positiven christUchen Theologie, eines begrifflich
durchgeführten Systems derDogmatik gekommen: dies geschah in der al ex an-
drinischon Katechetenschule durch ihre Leiter Clemens und Origenes.
Insbesondere ist der letztere als der philosophisch bedeutendste Vertreter des
Christenthums in dieser Periode anzusehen.
Neben ihm aber ging aus der alexandrinischen Phüosophenschule der Mann
hervor, welcher die religionsbildende Tendenz der Philosophie ledigUch auf dem
hellenistischen Boden zum Austrag zu bringen versuchte: Plotinos, der grösste
Denker dieser Zeit. Sein Versuch, alle Hauptlehren der griechischen und der
hellenistischen Philosophie unter dem religiösen Grundprincip zu systematisiren,
wird als Neuplatonismus bezeichnet. Seine Lehre ist das abgeschlossenste
und durchgebildetste System der Wissenschaft, welches das Alterthum hervor-
gebracht hat. Wenn jedoch schon sein Schüler Porphyrios sich mehr geneigt
zeigte, aus dieser reUgiösen Lehre eine Religion zu machen, so gestaltete sie
Jamblichos, den man als den Führer des syrischen Neuplatonismus bezeich-
net, zu einer Dogmatik des Polytheismus um, mit welcher die gelehi*ten und
die politischen Gegner des Christenthums, wie Kaiser Julian, die in der Auflösung
begriffenen Cultusformen der heidnischen Religionen neu zu beleben hofften.
Nachdem dieser Versuch gescheitert, hat endlich die atheniensiche Schule des
Neuplatonismus, als deren Häupter Plutarchos von Athen, Proklos und
Damaskios erscheinen, sich auf einen methodischen, scholastischen Ausbau
des plotinischen Systems zurückgezogen.
So sind die hellenistischen Bestrebungen, von der Wissenschaft aus zu einer
neuen Religion zu gelangen, in dieser Gestalt erfolglos geblieben: die Gelehrten
liaben keine Gemeinde gefunden. Umgekehrt dagegen hat das Bedürfniss
der positiven Religion, sich in einer wissenschaftlichen Lehre abzuschliessen und
zu befestigen, sein Ziel erreicht: die Gemeinde hat ihr Dogma geschaffen. Und
der grosse Gang der Geschichte war dabei eben der, dass der unterliegende
Hellenismus iix seinem gewaltigen Todeskampfe selbst noch die begrifflichen Mittel
schuf,, mit denen die neue Religion sich zum Dogma gestaltete.
Während die pythagoreischen Mysterien sich durch das ganze Alterthum erhalten hatten,
war der wissenschaftliche Pvthagorcismus seit seiner Einverleibung in die Akademie (vgl.
S. 23) als eigene Schule erloschen. Erst im Laufe des ersten Jahrhunderts v. Chr. werden
die spccifisch pythagoreischen Lehren wieder bemerkbar: sie erscheinen in den pvthagoreischen
Schriften, über welche Diogenes Laertius (YIU, 24 ff.) nach Alexander Polyhistor in einer
Weise berichtet, welche auf eine wesentlich stoische Beeinflussung derselben schliessen lässt;
sie werden ausdrücklich erneuert von Cicero *s gelehrtem Freunde F. Nigidius Figulus
X
2. Religiöse Periode. 169
(gest. 45 V. Chr.) und findea auch bei anderen Männern in Rom Anklang. Vgl. M. Hertz,
De P. Nig. Fig. studiis atque operibus. Berlin 1845.
Aber der eigentliche Neupythagoreismus ist litterarisch zunächst durch die grosse
Anzahl von Schriften vertreten, welche um die Wende unserer Zeitrechnung in Alexandrien
unter dem Namen sei es des Pythagoras oder des Philolaos oder des Archytas oder anderer
älterer Pythagoreer in die Oeffentlichkeit kappen, und deren Bruchstücke bei der Auflassung
des echten Pyth^oreismus so grosse Schwierigkeiten machen: vgl. die Litteratur oben S. 23 1.
Von den Persönlichkeiten der neuen Schule dagegen ist uns sehr wenig bekannt. Die
einzige deutlicher hervortretende Gestalt ist Apollonio s von Tyana, von dessen Leben und
WeseD im Anfang des dritten Jahrhunderts der Khetor Philostratos (Ausgabe von C. L. Katser,
Leipzig 1870) eine romanhafte Darstellung gegeben hat, um darin das Ideal des pythagoreischen
Lebens zu schildern. Yon A. selbst, der un ersten Jahrhundert n. Chr. lebte, sind Bruchstücke
einer Biographie des Pythagoras und einer Schrift über die Opfer erhalten. Vgl. Chr. Baur,
Apollonius und Christus, in 3 Abhandl. zur Gesch. d. alt. Philos. (Leipzig 1876). — Neben diesem
wäre etwa noch sein Zeitgenosse Moderatus aus Gades zu nennen.
Neupythagoreische und stoische Lehren erscheinen gemischt bei dem den Sextiem
(vgl. S. 128) nahe stehenden Eclectiker Sotion von Alexandria; dessen Schüler war der
Führer der Stoiker der Kaiserzeit, L.AnnaeusSeneca aus Corduba (4 — 65), der durch sein
Schicksal bekannte Lehrer des Nero, der auch als Tragödiendichter die strenge Lebensauf-
fassung seiner Schule entfaltete. Von seinen Schriften sind neben den Epistolae eine ziemliche
Anzahl meist moralphilosophischer Abhandlungen erhalten. (Ausgabe von Haase, 3 Bde.
Leipzig 1852 f.^ Vgl. Chr. Baür, S. und Paulus, in den drei Abhandl. s. oben. —
Neben ihm ist ausser L. Annaeus Cornutus (Phumutus), einem Hauptvertreter der
stoischen Mythendeutung (llspl ty]^ tu>v ^?u)v ^uaeca^, herausg. von Osann, GÖttingen 1844),
dem Satirendichter P e r s i u s , dem Moralisten C^. Musonius Rufus, besonders Epiktetos (zur
Zeit Domitian's) zu nennen, dessen Lehren von Arrianus in zwei Werken Atatpißai und
'EYY^iplSiov herausgegeben wurden (neuerdings mit dem Commentar des Simplicius von
J. ScHWEiOHAUSER, Leipzig 1799 f.). Vgl. A. Bonhöffer, E. und die Stoa (Stuttgart 1890).
Mit dem edlen Marcus Aurelius Antoninus bestieg die Stoa den römischen
Kaiserthron (161— 180). Seine Betrachtungen, tot el^ a6T6v (Ausg. von J. Stich, Leipzig 1882J
sind das charakteristische Denkmal dieses eclectisch-religiösen Stoicismus.
Schon in der altgriechischen Zeit war aus der kynischen Schule eine so originelle Figur
wie der mönchische Wanderprediger Tcles (vgl. v. Wilamovitz-Möllbndorf, Philol. Unters.
IV, 292 ff.) hervorgegangen : in der Kaiserzeit wurde dies barocke Wesen mehrfach copirt und
bis in's Lächerlichste übertrieben. Demetrios, Oiuomaos aus Gadara, Demonax (vgl. Fkitsche,
Leipzig 1866) und der aus Lukian bekannte Peregrinos Proteus gehören zu diesen Figuren.
Vgl. J. Bernats, Lukian und die Kyniker (Berlin 1879).
Von den Vertretern des religiösenPlatonismus,die der Zahlenlehre femer blieben,
seien genannt: die eclectischen Commentatoren Eudoros und Areios Didymos, der
Herausgeber von Platon's und Demokrit's Werken Thrasyllos; besonders aber Plutarchos
von Chaironeia (um 100 n. Chr.), von dem neben den berühmten Biographien eine grosse An-
zahl anderer Schriften, besonders philosophische Abhandlungen dogmatischen und polemischen
Inhalts (Moralia, ed. Di)BNER, Paris Didot, Bd. III u. IV 1855) erhalten sind (vgl. R. Volkmann,
Leben, Schriften und Philosophie des P. Berlin 1872); femer Maximus von Tyrus aus der
Zeit der Antonier ^, sein Zeitgenosse Apuleius von Madaura, der nicht nur wegen seiner
philosophischen Schriften (Ausg. von A. Goldbacher, Wien 1876), sondern auch wegen seines
allegonsch-satirischen Komans „Der goldene Esel** in diese Beihe gehört (vgl. Hildebrand
in der Einleitung zu den ges. Werken Leipzig 1842); der Gegner des Christenthums K e 1 s o s ,
dessen Schrift &X-r)dj)cX6foc (etwa 18())nur aus der Gegenschrift des Origenes Uaxä KcXooo) be-
kannt ist (vgl. Th. E.EIU, C. „wahres Wort", Zürich 1873); endlich der Arzt Claudius Galenos
(gest. um 200), der freilich mit ganz breitem Eclecticismus ebenso als Peripatetiker und auch
als Stoiker gelten könnte (vgl. K. Sprengel, Beiträge zur Gesch. d. Medicin I, 117 ff.)« Dem-
selben Vorstellungskreise sind auch die unter dem Namen des Hermes Trismegistos ver-
breiteten Schriften entsprungen, die schoti dem dritten Jahrhundert augehören (in franz.
Uebers. von L. M^nard, Paris 1866; theilweise von G. Parthky, Berlin 1854 herausg.).
Stark neupythagoreisch sind unter den Platonikem des zweiten Jahrhunderts Niko-
m ach 0 8 von Gerasa in Arabien, von dem arithmetische Lehrbücher und (durch Photius) ein
Auszug aus einem Werke ?Apt^fi.Yjttxa d^oXo^ouaeva erhalten sind, und Numenios von
Apamea, über den wir wesentlich durch Eusebius unterrichtet sind. Vgl. F. I^dinoa
(Bonn 1875).
Das Eindringen der griechischen Philosophie in die jüdische Theologie lässt sich bis
in die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zurtickverfolgen, wo es sich in der Schrifterklarung
1 70 n. HePenistisch-römische Philosophie 2. Religiöse Periode.
des Aristobulzu erkennen giebt; es tritt sodann besonders and in einer dem alexandrinischen
Gedankenkreise schon viel näheren Form in dem pseudo-salomonischen Bach derWeisheit
zu Tage. Doch sind dies nur schwache Vorgänger für die bedeutende Schöpfung des Philo n
von Alexandria, über dessen Leben wenig mehr bekannt ist, als dass er im Jahre 89, schon
vorgerückteren Alters, einer Gesandtschaft seiner heimathlichen Gemeinde an den Kaiser
Caligula angehörte. Seine zahlreichen Schriften, unter die auch manches Unächte gerathen
ist, sind von Th. Manoet (London 1742) herausgegeben: Leipziger Stereotypausgabe 8 Bde.
1851—53.
F. Dähne, Die jüdisch-alexandrinische Religionsphilosophie, Halle 1834. —
A. Gfrörbb, Philon und die alexandrinische Theosophie, Stuttgart 1835. — M. Wolff,
Die philonische Philosophie (Gothenburg 1868). — Ewald, Gesch. des Volkes Israel VI, 231 ff.
Unter den c h r i s 1 1 i c h e n A p o 1 o ge t e n , deren Schriften in dem von Otto (Jena 1842 ff.)
herausgegebenen Corpus Apologetarum Christianorum secundi saeculi gesammelt sind, ist der
hervorragendste FlaviusJustinusMartyr aus Sichern, der in der Mitte des zweiten Jahr-
hunderts lebte. Zwei Schutzschriften und der Dialog mit dem Juden Tryphon liegen von ihm
vor. Ueber ihn handeln K. Semisch (2 Bde. Breslau 1840—42), B. Aub^ (Paris 1861). Weitere
Apologeten aus dem hellenischen Bildungskreise sind Aristides (dessen in armenischer
Sprache aufgefundene Reden mit lateinischer Uebersetzung Venedig 1878 gedruckt sind)
Athenaj^oras von Athen (icpoßeta icepl Xptoxtavwv, um 176 an Mieirc Aurel eingereicht)
Theophilos von Antiochia (Schrift an Autolykos, um 180), Meliton von Sardes, Apol-
linaris von Hierapolis und Andere. — Die lateinische Litteratur weist hauptsächlich Minucius
Felix auf, dessen Dialog Octavins (im Corpus scriptorum ecclesiasticomm latinorum von
C. Halm, Wien 1867 herausg.^ um 200 geschrieben wurde. Anzureihen ist der Bhetor Fir-
mianus Lactantins (um 3(X)): seine Hauptschrift sind die Institutiones Divinae.
Von den Gnostikern weiss man wesentlich durch ihre Gegner Irenaeus (140—200;
seine Schrift ^'FXz^o^ xal &yatpoir}i rvj^ tj^euSouvopLoo f vu»9to)( herausg. von A. Stieben, Leipzig
1853), Hippolytos (Kata icaadiv atplaswv i\f^y(p^j herausg. von Duncker und Schneidewin,
Göttingen 1859) Tertullian ( Adveraus Valentinianos) etc.: von gnostischen Schriften ist nur eine
unbekannten Verfassers erhalten : ritaxt^ 9o<pi«x (herausg. von Petermann, Berlin 1851). Von den
Hauptvertretem dieser Lehre wirkten in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts Satur-
ninus aus Antiochia, Basilides, ein Syrer, undKarpokrates in Alexandria, gegen die
Mitte des Jahrhunderts der bedeutendste, Valentinus (gest. um 160), gegen Ende Bardesanes
aus Mesopotamien. — Darstellungen der gnostischen Systeme von A. W. Neander (Berlin
1818), E. Matter (Paris 1843), Chr. Baür (Tübingen 1835), A. Hiloenfeld (Jena 1884),
ders. Bardesanes, der letzte Gnostiker (Leipzig 1864). — A. Harnack, Zur Quellenkritik der
Geschichte des Gnosticismus (Leipzig 1873).
Der radicalste Gegner der griechischen Wissenschaft istTatiann8,ein Assyrer, dessen
Schrift Ilpöc ''EXXiqva^ um 170 entstand, der aber später selbst der valentinianischen Gnosis
verfiel. Ebenso endete im Gegensatz zur allgemeinen Kirche (in der montanistischen Secte)
der leidenschaftliche Apologet Qu. Septimius Florens Tertnllianus (160—220, eine Zeit
lang Presbyter in Karthago). Seine Werke sind von Fr. Oehler (3 Bde., Leipzig 1853 f.),
neuerdings von A. Reifferscheid und WissoWA (I. Bd. Wien 1890, in Corp. Script, eccl. lat.)
herausgegeben. Vgl. A. W. Neander, Antignosticns, Geist des Tertullian etc. (2. Aufl. Berlin
1849), A. Haück, T.'s Leben und Schriften, Erlangen 1877). — Ihm reiht sich aus späterer Zeit
der afrikanische Rhetor Arn ob ins an, dessen sieben Bücher Ad versus gentes um 300 verfasst
wurden (Ausgabe von A. Beifferschieid im Corp. Script, eccl. lat. Wien 1875).
Von Clemens Alexandrinus (gest. um 217) sind drei Schriften erhalten: Ao^o^
itpoTpeitTtx6^ Kph^ "EXXinva^ — Urxihajio^o^ — Stpüi^iatelg. (Ausg. v. J. PoTTER, Oxford 1715).
Aus seiner Schule (vgl. über die Alex. Katechetenschule Guericke, Halle 1824 1, und Hassslbach,
Stettin 1826) ging der Begründer der christlichen Theologie hei*vor, Origenes (mit dem Bei-
namen Adamantius). 185 in Alexandrien geboren und mit der vollen Bildung der Zeit aus-
gerüstet, trat er früh als Lehrer auf, gerieth jedoch wegen seiner Lehren in Conflicte mit der
Synode, welche ihn seines Amtes enthob, und lebte später in Caesarea und Tyrus : in letzterem
Orte starb er 254. Von seinen Schriften kommt ausser derjenigen gegen Kelsos (s. oben)
hauptsächlich llsp) &p)(uiv in Betracht, ein Werk, welches fast nur m der lateinischen Bearbei-
tung des Rufinus erhalten ist (Ausg. von Redepennino, Leipzig 1836). Vgl. J. Reinkens, De
demente presbytero AI. (Breslau 1851), Redepenning, 0., Darstellung seines Lebens und seiner
Lehre ^Bonn 1841—46).
Eine Quellensammlung der ^fosammtcn Kirchenschriftsteller dieser Zeit hat J. P. Mione,
Patrologiae cursus completus, Pans seit 1840 herausgegeben.
Als Begründer des Neuplatonismus erscheint in der alten Ueberlieferung ein gewisser
Ammonius Saccas; doch ist nichts bekannt, was diese Notiz rechtfertigte. Zu seinen
Schülern gehörte ausser Plotin auch Origenes, femer der Rhetor Longinos (213—273), dem
das Buch llepl ty^oo^ zugeschrieben wurde, und ein anderer Origenes.
§ 18. Autorität und Ofifenbarung. 171
Der wahre Gründer der Schule ist P 1 o ti n o s (204 — 269). In dem ägyptischen Lykopolis
geboren und in Alexandria gebildet, betheiligte er sich behufs religiöser Studien an einem
Feldzage gegen die Perser, trat gegen 244 in Rom als Lehrer mit grossem Erfolge auf und starb
auf einem Landgute in Kampanien. Seine im späteren Alter geschriebenen Abhandlungen
wurden von seinem Schüler Porphyrios, in 6 Enneaden geordnet, herausgegeben. Ausgabe von
H. MCllbb (Leipzig 1878—80), mit deutscher Uebersetzung. Vgl. H. Kirchner, Die Philos.
Je« PL (Halle 1854). — A. Richter, Ncuplatouische Studien (Halle 1864 ff.). — H. v. Kleist,
Neoplat Studien (Heidelberg 1883).
Zum alexandrinischen Neuplatonismus werden femer Gentilianus Amelius aus
Amena imd der Tyrier Porphyrios (etwa 230 — 300) gerechnet. Unter den erhaltenen
Schriften sind ausser den Biographien von Plotin und Pythagoras zu erwähnen: 'Atpopjxat noh^
Td voiqxo, ein aphoristischer Abriss der plotinischen Lehre (gedr. in Creuzer^s Ausgabe der
Werke Plotin's, Paris 1855), die Schrift über die Enthaltsamkeit («cpl aKoy(y\(; töv ^jt^^ox*"^»
wichtig wegen der Benutzung von Theophrast's itepl söospeia^: vgl. J. Bernays, Berlin 1866),
und von den Commontaren die Kloa^ iüY"*} e'.? tA? xarrj^opio^ (Ausg. von Busse, Berlin 1877;
auch in der Berliner Aristotclesausgabe iV).
Den syrischen Neuplatonismus gründete Jamblichos aus Chalkis in Koilesyrien
(gest. um 330), ein Hörer des Porphyrios, dessen Schriften hauptsächlich hellenistische und
(orientalische Theologie commentirten. Erhalten ist theilweise: llepl xoö nüO-a-coptxoö ßtoo (Ausg.
vnnWESTERiUNN, Paris 1850), Aoifo^ npotpsicttx&( Et<; (piXooo(pt«v (Ausg. von KiESSLiNO, Leipzig
1813), (Ifpl r?]^ xotvTj^ |xaO-r]|xattx7]^ eKtox-f||i.7|^ (herausg. von Villoison, Venedig 1781).
Von den Schülern hat Dexippos die aristotelischen Kategorien commentirt (herausg.
von L. Spengel, München 1859), Sallustios ein Oompendium der Metaphysik geschrieben
(Ä08g. von Orelli, Zürich 1821) und Themistios (etwa 317 — 387) sich als Paraphrast und
(.'ommentator aristotelischer Werke bekannt gemacht. Aus dem gleichen Kreise stammt die
Schrift De mysteriis Aegyptiorum (herausg. von G. Parthby, Berlin 1857 ; vgl. darüber Harless,
München 1858).
Einen vorübergehenden politischen Erfolg hatte diese Richtung durch den Beitritt des
Kaiser Julianus, der mit ihrer Hilfe die alte Religion zu erueueni und das Christenthum zu
verdrängen hoffte. Seine Schriften gegen die Christen hat, mit deutscher Uebersetzung, K. J.
Xkdmank (Leipzig 1880) herausgegeben. Vgl. A. W. Neandbr, lieber den Kaiser J. und sein
Zeitalter (Berlin 1812). — D. Fr.Strauss, J. der Abtrünnige, der Romantiker auf dem Throne
der CSaaren (Mannheim 1847). — A. Mücke, J. nach den Quellen (Gotha 1866—68).
Begründer des atheniensischen Neuplatonismus ist Plutarchos von Athen
ij^est. nach 430) mit seinen Schülern Syrianos und Hierokles: alle diese wie die folgenden
habeD, zum Theil erhaltene, Commentare platonischer und aristotelischer Werke oder pytha-
goreischer Schriften verfasst. Bedeutender war Proklos (411—485), unter dessen Werken
Ihpl vTfi xatdt nXttTwva ^soXofwt? hervorzuheben ist. (Ausg. der Werke von V. Cousin, Paris
1830-25). Vgl. H. Kirchner, De Procl. metaphysica (Berlin 1846). K. Stkinhart's Art. in
Ersch und Gmber^s Encyklopädie.
Das letzte Haupt der i)latonischcn Akademie war Dam as eins, von dem der Anfang
einer Schrift icspl xuiv K^tiixmv ap^cuv und der Schluss eines Parmenides-Commentars (herausg.
von J. Kopp, Frankfurt a. M. 1826. Vgl. E. Heitz, in Strassburger Abhandlungen zur Philos.
1^84) sowie eine Biographie seines Lehrers Isidoros erhalten sind. Unter den Commentatoren
dieser Zeit ragt Simplicius hervor (zur Physik, Ed. pr. Venedig 1526, die vier ersten Bücher
DiELS, Berlin 1882; zu de coelo, Karsten, Utrecht 1865; zu de anima Haydück, Beriin 1882).
Die beiden letzteren wanderten mit ihren nächsten Genossen für einige Zeit nach Persien
aas, als im Jahr 529 der Kaiser Justinian die Akademie schloss, ihr Vermögen einzog und
darch das Verbot der Vorträge über heidnische Philosophie das Ende derselben äusserlich
bekräftigte.
g 18« Autorität und Offenbanuig.
Die unerschütterliche Selbstgewissheit und SelbstherrUchkeit, welche die
nacharistotelische Philosophie für den Weisen gesucht und zum Theil behauptet
hatte, war mit der Zeit so tief erschüttert worden, dass sie einer theoretischen
und ethischen Hilfs bedürftigkeit gewichen war. Das philosophirende Indi-
viduum traute sich nicht mehr zu, aus eigener Kraft zu rechter Einsicht oder zum
Seelenheil zu gelangen, und es suchte somit seine Hilfe theils bei den grossen Er-
scheioungen der Vergangenheit, theils bei einer göttUchen Offenbarung. Beide
Richtungen aber fassen schUessUch auf demselben Grunde: denn das Vertrauen^
172 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
welches den Männern und Schriften der Vorzeit entgegengebracht wurde, beruhte
doch nur darauf, dass in ihnen besonders begnadete Gefasse der höheren 0£fen-
barung gesehen wurden. Did Autorität gewann also ihren Werth als die mittel-
bare, historisch bewährte Offenbarung, während die göttliche Erleuchtung des
Einzelnen als unmittelbare Offenbarung ihr an die Seite trftt. So verschieden
auch das Verhaltniss zwischen diesen beiden Formen aufgefasst wurde, so ist
doch das gemeinsame Kennzeichen aller alexandrinischen Philosophie, dass sie
die göttliche Offenbarung als höchste Erkenntnissquelle betrachtet.
Schon in dieser erkenntniss- theoretischen Neuerung aber kommt der gesteigerte
Werth zum Ausdruck, welchen diese Zeit auf die Persönlichkeit und ihre
gefdhlsmässige Bethätigung legte. Die Wahrheit wollte für die Sehnsucht dieser
Zeit erlebt sein als eine innige Gemeinschaft des Menschen mit dem höchsten
Wesen.
1. Die Berufung auf die Autorität erscheint in der griechischen und
hellenistischen Philosophie zwar vielfach im Sinne der Bestätigung und Bekräf-
tigung eigener Ansichten, aber nicht als entscheidendes und ausschlaggebendes
Argument : zwar mochte bei den untergeordneten Mitgliedern der Schulen das
jurare in verba magistri üblich genug sein *); aber die Schulhäupter und die selb-
ständig forschenden Männer überhaupt verhielten sich zu den Lehren der Vorzeit
weit mehr kritisch als mit unbedingter Unterwerfung*). Und wenn auch in den
Schulen, zumal der akademischen und der peripatetischen, durch die Gewohnheit
des Commentirens die Neigung gefordert worden war, die Lehre des Stifters als
einen unantastbaren Schatz zu bewahren und zu behaupten, so war doch bei allem
Streit um die Kriterien der Wahrheit nicht das Frincip aufgestellt worden, dass
etwas darum geglaubt werden müsse, weil es dieser oder jener grosse Mann
gesagt habe.
Wie stark aber in der späteren Zeit das Autoritätsbedüi*fniss angewachsen
war, erkennt man schon aus den zahllosen Unterschiebungen, welche in der ge-
sammten alexandrinischen Litteratur an der Tagesordnung waren. Ihre Urheber,
die vielleicht grössten Theils bona fide handelten, indem sie selbst ihre Gedanken
nur für Ausbildungen und Fortsetzungen der alten Lehren ansahen, glaubten
offenbar ihren Werken nicht besser Eingang verschaffen zu können, als indem sie
ihnen den Namen eines der Heroen der Weisheit, eines Aristoteles, Piaton, Py-
thagoras beilegten. In ausgedehntestem Masse tritt diese Erscheinung bei den
Neupythagoreem auf, denen es vor Allem darum zu thun war, ihre neue Lehre
mit dem Nimbus uralter Weisheit zu bekleiden. Je mehr aber die auf diese
Weise zu begründenden Ueberzeugungen einen reUgiösen Charakter trugen, um
so lebhafter wurde das Bedürfniss, diese Autoritäten selbst als Träger einer
religiösen Offenbarung aufeufassen, und deshalb wurden in ihnen alle die Züge
aufgesucht oder auch wohl solche in sie hineingelegt, welche sie dazu stempeln
konnten. Nicht zufrieden aber damit, glaubten die späteren Griechen ihrer
Philosophie (wie ihrer gesammten Cultur) dadurch eine höhere Weihe zu geben,
dass sie dieselbe aus den orientalischen ReUgionen herleiteten : so nahm Nume-
1) Indess ist selbst das bekannte aotö« ttfa der Pythafforeer erst durch Spätere (Cicero)
bezeugt. — 2) Auch die Bewunderung des Sokrates, in der alle folgenden Schulen einig waren,
führte, seinem eigenen Wesen nach, nicht dazu, dass er als Autorität für bestimmte phüo-
sophischc Lehren hätte gelten können.
§18. Autorität und Offenbarung. (Philon.) 17 3
nios ') keinen Anstand; zu behaupten, Fythagoras und Piaton hätten nur die
alte Weisheit der Brahmanen^ Magier, Aegypter und Juden vorgetragen. Damit
wuchs denn die Ausdehnung der Utterarischen Autoritäten ausserordentlich : die
späteren Neuplatonjker; ein Jamblichos und ProkloS; commentirten nicht nur
griechische Philosophen, sondern auch die gesammte hellenische und barbarische
Theologie *) und nahmen ihre Mythen und Wunderberichte gläubig auf.
In ganz ähnlicher Weise bezeugte nun aber auch die orientalische Litteratur
dem Hellenismus ihre Hochachtung. Unter den Vorgängern Philon's hat nament-
lich Aristobulos sich auf Yerse^ welche dem Orpheus und LinoS; dem Homer
und Hesiod untergeschoben wurden^ berufen, und bei Philon selbst^ dem grossen
jüdischen Theologen^ erscheinen neben dem alten Testament die Grössen der
griechischen Philosophie als Träger der Weisheit.
Am stärksten natürlich macht sich das Autoritätsbedürfniss in dem un-
bedingten Glauben an die religiösen Urkunden geltend. Hier war von vornherein
das alte Testament die feste Grundlage für die Wissenschaft des Judenthums
und ebenso für die des (orthodoxen) Christenthums. In der christhchen Kirche
aber hat sich das Bedürfbiss nach der Feststellung einer Sammlung von Schriften^
in denen die Glaubenslehre sicher bestimmt wäre, zuerst bei Marcion entfaltet
und hat dann erst allmählich sich in der Abschliessung des neuen Testamentes
erfüllt: schon bei Irenaeus und Tertullian erscheinen beide Testamente mit der
vollen Geltung kirchlicher Autorität.
2« Wenn nun auf diese Weise auch das wissenschaftliche Denken, das sich
in Folge der skeptischen Zersetzung selbst nicht mehr die Kraft der Wahrheit
zutraute, sich freiwillig den Autoritäten des Alters und der religiösen Satzung
unterwarf, so ist es doch dadurch keineswegs in dem Masse gebunden worden,
wie man voraussetzen sollte : vielmehr hat sich dies Verhältniss auf allen Linien
in der Weise gestaltet, dass die wissenschaftlichen Lehren, die aus den neuen
religiösen Bewegungen entsprangen, aus den autoritativen Quellen heraus-
gedeutet und in dieselben hineingedeutet wurden '). Wo man dabei nicht aus-
drücklich zu jenen Unterschiebungen griff, die sich ebenso wie im Neupytha-
goreismus mehr oder minder in der ganzen Litteratur jener Zeit finden, da
bediente man sich des methodischen Mittels der allegorischen Schrift-
auslegung.
Zuerst begegnet uns diese in der jüdischen Theologie. Ihr Vorbild hat sie
freilich in der allegorischen Mythendeutung, welche früh in der griechischen
Litteratur hevorgetreten, von den Sophisten gehandhabt und von den Stoikern in
grossem Umfang betrieben worden war. Auf die religiösen Urkunden wendete
sie schon Aristobulos, mit methodischer Durchführung aber P h i 1 o n ^) an, der
von der Ueberzeugung ausging, es müsse in der Schrift zwischen der buchstäb-
lichen und der geistigen Bedeutung, zwischen ihrem Leibe und ihrer Seele unter-
schieden werden. Gott habe, um der grossen Masse der Menschen, die in ihrer
Sinnlichkeit das Göttliche nicht rein zu fassen vermöchte, doch seine Gebote
1) Bei Eus. praep. ev. IX, 7. — 2) Marinus, Procl. vit. 22. — 3) Selbst ein Mann wie
Plutarch von CThaeronea, der den Schriften Platon*8 wie den Offenbarungen einer religiösen
Urkunde folgt, trägt doch kein Bedenken, in die Lehre seines Meisters aristotelische und
stoische Lehren ebenso wie die eigene religiöse Anschauung einzuführen. — 4) Vgl. Siegfried,
Philon V. Alexandria als Ausleger des alten Testaments (Jena 1875).
174 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
ZU lehren, der Oflfenbarung die anthropomorphistische Form gegeben, hinter
welche nun der geistig reifere Mensch zu dem wahren Sinne dringen solle. Dieser
aber ist in den philosophischen Begrififen zu suchen, welche in den historischen
Hüllen verborgen liegen. Danach ist seit Philo die Aufgabe der Theologie darauf
gerichtet, die religiösen Urkunden in ein System wissen-
schaftlicher Lehren umzudeuten : und wenn er dazu die griechische
Philosophie benutzt, in ihr also den höheren Sinn der Schrift wiederfindet, so
erklärt er sich dies Yerhältniss so, dass auch die Denker des Griechenthums aus
der mosaischen Urkunde geschöpft haben sollen ').
Nach seinem Vorgänge haben dann die Gnostiker orientalische Mythen
durch allegorische Ausdeutung in griechische Begriffe umzusetzen gesucht und da-
mit eine Geheimlehre der apostolischen Tradition zu entwickeln gemeint, — haben
die Apologeten die Einhelligkeit der Christenlehre mit den Dogmen der griechi-
schen Philosophie behauptet, — haben selbst Männer wie Irenaeus und TertuUian
das neue Testament bearbeitet und hat endlich Origenes die Philosophie
des Christenthums mit den Urkunden desselben in Einklang zu bringen gewusst.
Wie schon die Gnostiker, welche zuerst eine christliche Theologie zu schaffen
suchten, so unterschied auch der grosse alexandrinische Theologe — im Zu-
sammenhange der metaphysisch-anthropologischen Vorstellungen der Zeit, vgl.
§ 19 f. — zwischen der leiblichen (somatischen), seelischeu (psychischen) und
geistigen (pneumatischen) Auffassung der religiösen Urkunden : und die Aufgabe
der Theologie ist auch bei ihm, aus der buchstäblich-historischen Ueberheferung,
welche für sich nur ein fleischliches Christenthum (xpfjttaviofiöc (3a)|iattwi<;) ergiebt,
durch die moralische Deutung hindurch, bei der die Psychiker stehen bleiben, zu
dem ideellen Gehalt der Schrift zu fuhren, welcher dann als die selbstverständ-
liche Wahrheit einleuchten muss. Erst wer diese erfasst, gehört zu den Pneu-
matikern, denen aus der Umhüllung das ewige Evangelium sich offenbart.
Dieselbe Herausdeutung des philosophischen Sinnes aus der religiösen
Ueberlieferung findet sich dann in weitestem Umfange bei den Neuplatonikern.
Jamblichos übt sie nach stoischem Muster an allen Formen orientalischer und
occidentalischer Mythologie, und auch Proklos erklärt ausdrücklich, die Mythen
verhüllen die Wahrheit vor den Sinnenmenschen, die ihrer nicht würdig sind -).
3. In allen solchen Lehren überwiegt nun aber doch schliesslich noch immer
das Interesse der Wissenschaft (in den christlichen Lehren yvwoi?) über dasjenige
des Glaubens : sie sind Accommodationen der Philosophie an das religiöse Au*
toritätsbedürihiss der Zeit. Als Grundvoraussetzung aber gut deshalb die wesent-
liche Identität der Autorität und der Vernunfterkennt-
nis s ; sie gilt in solchem Masse, dass eben da, wo sie bedroht erscheint, alle
Kunststücke der allegorischen Auslegung versucht werden, um sie zu retten.
Dies Vertrauen jedoch, womit die Wissenschaft daran ging, ihren eigenen Inhalt
als denjenigen der religiösen Urkunde zu entwickeln, beruhte im letzten Grunde
auf der Ueberzeugung, dass beide, die historische Autorität und die wissenschaft-
liche Lehre, nur verschiedenartige Offenbarungen derselben göttlichen
Macht seien.
Zwar ist die psychologische Wurzel des Autoritätsglaubens in dieser Zeit
neben der Heils- und Hilfsbedürftigkeit die gesteigerte Bedeutung der P er sön-
i)Phii. Vit. Mos. 657 a. (137 M.) — 2) Proci. iu remp. 369.
§ 18. Autorität und Offeubarung. (Justinus.) 175
lichkeit. Sie zeigt sich in dem lebhaften Ausdrucke der Bewunderung für die
Grossen der Vergangenheit, wie wir ihn bei Philon und in allen Richtungen des
Piatonismus finden^ und nicht minder in dem unbedingten Vertrauen der Jünger
zu ihren Meistern^ welches namentlich im späteren Neuplatonismus zu übertrieben-
ster Verehrung der Schulhäupter ausartete ^). Dasselbe Motiv erscheint in
grossartigster Weise als eine weltgeschichtliche Macht in dem ungeheuren; über-
wältigenden Eindrucke der Persönlichkeit Jesu : der Glaube an ihn ist das eini-
gende Band gewesen, welches ' die bunte Mannigfaltigkeit der Richtungen des
jungen Christenthums siegreich zusammenhielt.
Allein für die Theorie rechtfertigte sich nun dies psychologische Motiv ge-
rade damit; dass die bewunderte Persönlichkeit in Lehre und Leben als Offen-
barung der göttlichen Weltvemunft aufgefasst wurde. Die metaphysischen und
eikenntnisstheoretischen Grundlagen dafür waren im Piatonismus und nament-
lich im Stoicismus gegeben. Anlehnung an die platonische Lehre von der Er-
kenntniss als Erinnerung; mit der (schon bei Cicero ausgesprochenen) Wendung,
dass das rechte Wissen von Gott der Seele eingepflanzt; ihr eingeboren sei; und
Ausführung der stoischen Logoslehre und der in ihr enthaltenen Vorstellung,
dass der vernünftige Seelentheil ein wesensgleicher Ausfluss aus der göttlichen
Weltvernunft sei; — alles dies führte dazu, jede Form richtiger Erkenntniss als
eine Art von göttlicher Offenbarung im Menschen zu betrachten ^) : alles Wissen
ist, wie Numenios sagte % die Anzündung des kleinen Lichts an dem grossen,
das die Welt erleuchtet.
Von dieser Lehre aus begriff namentlich Justinus die von ihm be-
banptete Verwandtschaft der alten Philosophie mit dem Christenthum und zu-
gleich die Ueberlegenheit des letzteren. Gott hat sich zwar wie nach aussen
durch die Vollkommenheit seiner Schöpfung, so innerUch durch die vernünftige
Anlage ^) (aff^pfia Xö^oo S[i^t>tov) des nach seinem Ebenbilde geschaffenen Men-
schen offenbart : aber die Entwicklung dieser allgemeinen; mehr poten-
tiellen Offenbarung wird durch die bösen Dämonen und die Sinnentriebe des
Menschen gehemmt. Deshalb hat Gott zur Hilfe des Menschen sich der beson-
deren Offenbarung bedient, welche nicht nur in Moses und den Propheten;
sondern auch in den Männern der griechischen Wissenschaft ^) zu Tage getreten
ist. Justin nennt jene über das ganze Menschengeschlecht verbreitete Offen-
barung den Xö^oc oiEsp(iaTtxöc. Allein, was so zerstreut und vielfach verdunkelt
in der Voi'zeit erschienen; das ist noch nicht die volle Wahrheit: der ganze,
reine Logos ist in ChristuS; dem Sohne Gottes und dem zweiten GottO; offenbart
worden.
In dieser Lehre waltet bei dem Apologeten einei*seits das Bestreben ob;
dasChristenth um als die wahre und höchste Philosophie
darzustellen und zu zeigen; dass es alle Lehren in sich vereinige *), welche in
1) Cultnrgeschichtlicb läset sich auch die masslose Vergötterung der römischen Kaiser
io Parallele ziehen. — 2) So wird auch von den Stoikern der Kaiserzeit die Philosophie, welche
bei ihnen ja ebenfalls eine Heilung der kranken Seele sein wollte (Epiktet, Dissert. III, 23, 30),
«Is eine Predigt der Gottheit selbst durch den Mund des Weisen dargestellt (ibid. 1, 36). —
8) Bei Eus. praep. ev. XI, 18, 8. — 4) Apol. II, 8; vkL Min. Fei. Oct. 16, 5. — 5) Andrer-
seits freilich leitet auch Justin wie Philon die griechische Philosophie historisch von der
jadischen Religion als Entlehnung ab. — 6) Apol. U, 13: 8aa icapa icaai xaXu»^ etpYjxai,
Yjuav Xpisttavoiv tativ.
176 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
der früheren Philosophie von bleibendem Werthe erfunden werden können.
Christus wird der Lehrer (St8a(3xaXoc genannt), und dieser Lehrer ist die Ver-
nunft selbst. Wurde dadurch das Christenthum der rationalen Philosophie so
nahe wie möglich gerückt und das Erkenntnissprincip der Philosophie wesentlich
mit dem der Religion gleichgestellt, so hatte das doch auch gleichzeitig zur
Folge, dass die Auffassung des religiösen Inhalts selbst bei Justin und ahnlichen
Apologeten, wie Minucius Felix, stark rationalistisch wurde: die speci-
fisch religiösen Momente erscheinen mehr zurückgedrängt, und das Christenthum
nimmt den Charakter eines moraUsirenden Deismus an, in welchem es die grösstc
AehnUchkeit mit dem rehgiösen Stoicismus gewinnt ').
Andrerseits spricht sich doch auch in diesem Yerhältnias das Selbstbewnsst-
sein des Christen thums aus, das mit seiner vollkommenen Offenbarung
alle anderen Arten derselben, die allgemeine so gut wie die besonderen, überflüssig
werden sah : und an diesem Punkte wurde die Apologetik, wie sich namentlich
bei Athenagoras zeigt, von selbst polemisch. Die Offenbarung gilt auch
hier noch als das wahrhaft Vernünftige : aber eben deshalb soll das Vernünftige
nicht demonstrirt, sondern nur geglaubt werden. Die Philosophen haben, weil
sie Gott nicht von Gott selbst lernen wollten oder konnten, die volle Wahrheit
nicht gefunden.
4. So bereitet sich in der Apologetik doch allmählich, obwohl in ihr ge-
rade das Vernünftige als supranatural, als übernatürlich offenbart gilt, ein
Gegensatz zwischen Offenbarung undVernunfterkennt-
n i s s vor. Je mehr sich die Gnostiker in der Ausbildung ihrer theologischen
Metaphysik von dem einfachen Inhalt des Christenglaubens entfernten, um so
mehr warnte Irenaeus*) vor den Speculationen weltlicher Weisheit, um so
heftiger verwarf T a t i a n mit orientalischer Griechenverachtung alles Blend-
werk der hellenischen Philosophie, welche unter einander ewig uneins sei und von
deren Lehrern jeder nur seine eigenen Meinungen zum Gesetz erheben wolle,
während die Christen sich der göttlichen Offenbarung glcichmässig unterwerfen.
Noch schärfer spitzt sich dieser Gegensatz beiTertullian und A r n o -
b i u s zu. Der erstere hat sich, wie theilweise schon Tatian, in metaphysischer
Hinsicht den stoischen Materialismus zu eigen gemacht, daraus aber nur die
Consequenz einer rein sensualistischen Erkenntnisstheorie gezogen. Diese hat
Amobius in interessanter Weise ausgeführt, indem er zur Bekämpfung der pla-
tonischen und der platonisirenden Erkenntnisstheorie zeigte, dass ein von der
Geburt an völlig der Einsamkeit überlassener Mensch geistig leer bleiben und
höhere Erkenntniss nicht gewinnen würde ^). Ihrer Natur nach lediglich auf den
Eindruck der Sinne beschränkt, ist deshalb die menschliche Seele aus eigener
Kraft durchaus unfähig, die Erkenntniss der Gottheit und ihrer über dies Leben
hinausgehenden Bestimmung zu gewinnen. Eben deshalb bedarf sie der Offen-
barung und findet ihr Heil nur in dem Glauben an diese. So erweist sich hier
zum ersten Male der Sensualismus als Grundlage für den
Orthodoxismus: je niedriger und sinnlich beschränkter die natürliche
Erkenntnisskraft des Menschen, um so nothwendiger erscheint die Offenbarung.
1) Y^l. Min. Fei. Oct. 31 ff., wo die christliche Liebes^enosäenschaft geradesa als der
stoische Weltstaat der Philosophen erscheint — 2) Ref. II, 25 ff. — 3) Am. adv. gent. II, 20 ff.
§18. Autorität und Offenbarung. (Terfullian.) 177
Danach ist nun bei T e r t u 1 1 i a n der Inhalt der Offenbarung nicht nur
übervernünftig, sondern in gewissem Sinne auch widervernünftig,
insofern unter Vernunft die natürUche Erkenntnissthätigkeit des Mensclien ver-
standen werden soll. Das Evangelium ist nicht nur unbegreiflich, sondern es
ist auch im nothwendigen Widerspruch mit der weltHchen Einsicht : credibüe est,
quia ineptum est; certum est, quia impossibile est — credo quia absurdum. Da-
her hat nach ihm das Christenthum mit der Philosophie, Jerusalem mit Athen *)
Nichts za schaffen: die Philosophie als natürliche Erkenntniss ist Unglaube;
dämm giebt es keine christUche Philosophie.
5. Zu einer solchen Abgrenzung der Offenbarung gegen die
natürliche Erkenntniss fanden sich aber auch Veranlassungen genug für die
rationalistische Ansicht. Denn durch jene Identification drohte das Kriterium
der Wahrheit verloren zu gehen : die Menge dessen, was in dieser religiös so auf-
geregten Zeit sich als Offenbarung gab, machte eine Entscheidung über die
rechte Offenbarung unerlässhch, und das Kriterium dafür konnte wiederum nicht
in der Vemunflerkenntniss des Einzelnen gesucht werden, weil damit das Offcn-
harungsprincip verletzt gewesen wäre. Diese Schwierigkeit machte sich gerade
auch in der hellenistischen Richtung sehr bemerklich. Plutarch z. B., der alle
Erkenntniss für Offenbarung ansieht, will zwar, der stoischen Eintheilung in die
drei Arten der Theologie der Dichter, der Gesetzgeber und der Philosophen
folgend, die höchste Entscheidung über religiöse Wahrheit der Wissenschaft zu-
erkennen-) und erklärt sich lebhaft*) gegen den Aberglauben (8stai8ott(tovta); aber
er selbst zeigt sich doch schliessUch in seinen Schriften bei der Aufnahme von
allerlei Weissagungs- und Wunderberichten so naiv und leichtgläubig wie seine
ganze Zeit: und die unglaubliche Kritiklosigkeit, mit der in dieser Hinsicht die
späteren Neuplatoniker, ein Jamblichos und Proklos verfuhren, erweist sich
als das folgerichtige Ergebniss des Verzichts auf die eigene Einsicht, welchen
das Offenbarungsbedürfniss von vornherein mit sich brachte.
Hier hat nun die Entwicklung der sich organisirenden Kirche mit dem
Princip der Tradition und der historisch beglaubigten Au-
torität eingesetzt. Sie betrachtet die religiösen Urkunden des dten und des
neoen Testaments als durchgängig, aber auch allein i n s p i r i r t; sie nimmt an,
dass die Verfasser derselben sich bei der Aufzeichnung dieser höchsten Wahr-
heit stets in dem Zustande reiner Receptivität dem göttlichen Geiste gegenüber
hefunden haben *), und sie findet die Bewährung dieses göttlichen Ursprunges
nicht in der Uebereinstimmung mit der menschlichen Vernunfterkenntniss, son-
dern wesentlich in der ErfüllungderWeissagungen, welche darin ent-
luilten sind, und in dem zweckvollen Zusammenhange ihrer zeit-
lichen Reihenfolge.
Der für die weitere Entwicklung der Theologie so ausserordenthch wichtig
gewordene Weissagungsbeweis ist somit aus dem Bedürfniss entsprungen,
ein Kriterium für die Unterscheidung der wahren und der falschen Offenbarung
1) Tertull. de came Chr. 5; de praescr. 7. An der letzteren Stelle polcmisirt er auch
uchdrucklich gegen diejenigen, welche ein stoisches oder platonisches Christenthum vortragen :
er ist der extreme Gegner der Hellenisirung des Doprmas; er kennt keinen Compromiss, und mit
der Heiüsblutigkeit seines Wesens verlang er unbcdin^e Unterwerfung unter die OlTenbarung.
^ Id noch populärerer Weise hat Amobius (adv. gent. II 74 fT.) die Hilflosigkeit der natürlichen
Eiiemitniss dargestellt. — 2) De Isid. 68. — 3) De superst. 14. — 4) Just Apol. I, 31.
Windelband, Geschichte dnr Philosophie. ]2
178 n. HelleniBtiach-römische Philosophie. 2. Reli^öso Periode.
ZU gewinnen. Da dem Menschen das Wissen der Zukunft durch natürliche Er-
kenntniss versagt ist, so gelten die Voraussagen der Propheten, welche sich er-
füllen, als Kennzeichen der Inspiration, vermöge deren sie ihre Lehren
aufgestellt haben.
Diesem Argument tritt nun aber ein zweites hinzu. Altes und neues Testa-
ment stehen nach der Lehre der Kirche, welche in dieser Hinsicht hauptsächlich
durch Irenaeus ') vertreten ist, in dem Zusammenhange, dass derselbe Eine Gott
sich den Menschen im Laufe der Zeit je nach dem Grade ihrer EmpfangHchkeit
in immer höherer und reinerer Weise offenbart hat : dem ganzen Geschlecht in
dessen vernünftiger, freilich zu missbrauchender Veranlagung, dem Volke Israel
in dem strengen Gesetz Mosis, der ganzen Menschheit wiederum in dem Gesetze
der Liebe und der Freiheit, das Jesus verkündigt hat *). In dieser zusammen-
hangenden ReihederPropheten entwickelt sich damit der göttliche
Erziehungsplan, wonach die Offenbarungen des alten Testaments als
Vorbereitungen für das sie bestätigende neue Testament zu betrachten sind.
Auch hier gilt in der patristischen Litteratur die Erfüllung der Weissagungen
als das Bindeglied zwischen den verschiedenen Phasen der Offenbarung.
Das sind die gedanklichen Formen, in denen sich für die christliche Kirche
die göttiiche Offenbarung als historische Autorität fixirt hat. Die
psychologische Grundmacht aber, die dabei thätig war, blieb doch immer die
gläubige Hingabe an die Person Jesu, welche als Inbegriff der göttlichen Offen-
barung den Mittelpunkt des christhchen Lebens bildete.
6. Eine ganz andere Richtung hat die Entwicklung der Offenbarungslehre
in der hellenistischen Philosophie eingeschlagen. Hier fehlte
der wissenschaftlichen Bewegung der lebendige Zusammenhang mit der Gemeinde
und damit der Halt einer historischen Autorität: hier musste deshalb die Offen-
barung, welche als Ergänzung für die natürliche Erkenntnisskraft gefordert wurde,
in einer unmittelbaren Erleuchtung des Individuums durch
die Gottheit gesucht werden. Deshalb gilt hier die Offcnbaiimg als ein
über vern ü nftiges Erfassen der gö t tlichen Wah rhei t ,
welches dem einzelnen Menschen in unmittelbarer Berührung («f ij)
mit der Gottheit selbst zu Theil wird : und wenn auch zugestanden werden muss,
dass es nur wenige sind, die dazu gelangen, und auch diese nur in seltenen Äugen-
bUcken, so wird doch eine bestimmte, historisch autoritative Sonderoffenbanmg,
die für alle massgebend wäre, hier abgelehnt. Diese Auffassung der Offenbarung
ist später die mystische genannt worden, und insofern ist der Neuplatonis-
mus die Quelle aller späteren Mystik.
Die Ursprünge dieser Auffassung aber sind wiederum bei P hi l o n zu suchen.
Denn er schon lehrte, dass alle Tugend des Menschen nur durch die Wirkung
des göttlichen Logos in uns entstehen und beharren könne, und dass die Er-
kenntniss Gottes nur in der Selbstentäusserung, in dem Aufgeben der Individu-
alität und in dem Aufgehen in das göttliche ürwesen selbst bestehe ■). Die Er-
kenntniss des Höchsten ist Lebenseinheit mit ihm, unmittelbare Berührung. Der
1) Ref. III,
barungspbase das ,
ru suchen ißt. Vjfl. die Ausführung
geschlechts. — 3> Phil. Leg. all. 48 c.j 55 d.; 57 b. (53—62 M.).
§ 18. Autorität und Offenbarung. (Philon, Neuplatoniker.) 179
Geist, der Gott schauen will, muss selbst Gott werden^). In diesem
Zustande verhält sich die Seele nur leidend und empfangend ^), sie hat sich aller
Selbstthätigkeit, alles eigenen Denkens und aller Besmnung auf sich selbst zu
entäussern. Auch der voöc, die Vernunft, muss schweigen, damit die Seligkeit der
Gottesanschauung über den Menschen kommen kann : bei diesem Zustand der
Ekstase (Ixataatc) wohnt (nach Philon) im Menschen der göttliche Geist.
Daher ist er in diesem Zustand ein Prophet göttlicher Weisheit, ein Weissager
und Wunderthäter. Wie schon die Stoa auf die Wesensgleichheit menschlichen
und göttlichen Pneumas die mantischen Künste zurückgeführt hatte, so be-
greifen auch die Alexandriner diese „Vergottung^ des Menschen aus seiner
Wesensvereinigung mit dem Weltgrunde. Hinter diesem Zustande der Ekstase,
lehrt Plotin, liegt alles Denken; denn Denken ist Bewegung, ist Erkennenwollen ;
die Ekstase aber ist Gottesgewissheit, selige Ruhe in ihm^) : an der göttlichen
^siApioL (Aristoteles) hat der Mensch nur Antheil, wenn er sich selbst ganz zur
Gottheit erhoben hat.
Die Ekstase ist also ein Zustand, welche, wie ihr Gegenstand (vgl. § 21)
über alle einzelne Bestimmtheit, deshalb auch über das Selbstbewusstsein des
Individuums hinausliegt : es ist ein selbstbewusstloses Versenken in das göttliche
Wesen, ein Besitz der Gottheit, eine Lebenseinheit mit ihr, die aller Beschrei-
bung, aller Anschauung und aller begrifflichen Gestaltung spottet *).
Wie dieser Zustand zu erreichen sei ? Er ist auf alle Fälle eine Gabe der
Gottheit, ein Geschenk des Unendlichen, welches das Endliche in sich aufnimmt.
Aber der Mensch hat mit seinem freien Willen sich dieser Vergottung würdig
zu machen. Er soll alles sinnliche Wesen und allen Eigenwillen von sich abthun^
er soll aus der Fülle der Einzelbeziehungen heraus zu seinem lauteren einfachen
Wesen zurückkehren (SäXodoic*) .'die Wege dazu sind nach Proklos Liebe, Wahr-
heit und Glaube ; aber erst in dem letzteren, der über alle Vernunft liinausgehtj
findet die Seele ihr völliges Einswerden mit Gott und den Frieden seliger Ver-
zückung •). Als wirksamste Unterstützung in der Vorbereitung auf diese göttliche
Gnadenwirkung wird dann von Jamblichos und seiner Schule das Gebet ^) und
alle Handlungen ^) des religiösen Cultus empfohlen : und wenn diese nicht immer
zu den höchsten Offenbarungen der Gottheit leiten, so gewähren sie, wie schon
Apuleius meinte ^), doch wenigstens die tröstenden und helfenden Offenbarungen
der niederen Götter und Dämonen, der Heiligen und Schutzgeister. So erscheinen
denn auch im späteren Neuplatonismus die Verzückungen der Weissagung, welche
die Stoiker gelehrt hatten, als niedere und vorbereitende Formen für jene höchste
Ekstase der Vergottung. Denn in letzter Instanz sind dem Neuplatoniker alle
Cultusformen nur symbolische Handhaben für jene unmittelbare Einigung des
Individuums mit Gott. .
So tritt in Christenthum und Neuplatonismus die Inspirationstheorie zu
zwei ganz verschiedenen Formen aus einander: dort ist die göttliche Offenbarung
als historische Autorität fixirt, hier gilt sie als die von aller äusseren Vermitt-
1) 'Aitod-ecufl-rlvai findet sich auch in den hermetischen Schriften: Poemand. 10, 5 f.
Das ^eoöaÖ-ai (deiücatio) ist später ein allgemeiner Terminus der Mystik. — 2) Vgl. Plut, d.
Pyth. orac. 21 ff. (404 ff.) — «) Plot. Ennead. VI, 7. — 4) Ibid. V, 3. — 5) Ein Ausdruck, der
sich schon bei Marc Aurel findet (Hpö^ ^aot, IV, 26) und den auch Plotin (Enn. VI, 7, 35) an-
wendet. — 6) Prokl. Theol. Plat. I 24 f. — 7) Jambl. bei Prokl. im Tim. 64 c. — 8) De myst.
Aeg. II, 11 (96). — 0) Apul. de Socr. 6 ff.
12*
180 II. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Reliffiöse Periode.
lung befreite Versenkung des Einzelmenschen in den göttlichen Urgrund. Dort
ist fiir das Mittelalter die Quelle der Scholastik, hier entspringt diejenige
der Mystik.
g 19. Geist und Materie.
Unter den Argumenten, in denen die Offenbarungsbedürftigkeit der alexan-
drinischen Philosophie sich entwickelt, ist keines so einschneidend wie dasjenige,
welches davon ausgeht, dass der in die Sinnenwelt verstrickte Mensch nur durch
übernatürliche Hilfe zur Erkenntniss der höheren, geistigen Welt gelangen
könne: hierin zeigt sich der religiöse Dualismus, der die Grund-
anschauung der Zeit bildete. Seine Wurzeln sind theils anthropologisch theils
metaphysisch: die stoische Entgegensetzung der Vernunft und des Vernunft-
widrigen verbindet sich mit der platonischen Unterscheidung der übersinnlichen,
ewig sich gleichbleibenden und der sinnlichen, immer wechselnden Welt.
Die Identification des Geistigen und des Immateriellen,
bei Piaton nur angebalmt, aber keineswegs vollzogen, war von Aristoteles auf das
göttliche Selbstbewusstsein beschränkt worden : dagegen galten die gesammten
geistigen Thätigkeiten des Menschen, so sehr auch in erkenntnisstheoretischem
und ethischem Interesse das Vernünftige der Sinnlichkeit gegenübergestellt
werden mochte, doch selbst bei Piaton als zur Erscheinungswelt (Y^ea?) gehörig
und blieben damit von der Welt des unkörperlichen Seins (ooofa) ausgeschlossen;
und wenn in den antagonistischen Motiven, welche sich in der aristotelischen
Lehre vom voöc kreuzten, auch der Versuch sich geltend gemacht hatte, die Ver-
nunft als immaterielles, von aussen in die animale Seele eintretendes Princip zu
betrachten, so hatte doch die Entwicklung der peripatetischen Schule (vgl. § 1 5, 1)
diesen Gedanken sogleich wieder bei Seite geschoben. Am stärksten aber war
in den Lehren Epikur's und der Stoa die bewusste Materialisirung des Seelen-
wesens und der Seelenthätigkeiten zum Ausdruck gelangt.
Auf der anderen Seite dagegen war jener ethische DuaUsmus, der die
auf sich selbst zurückgezogene Innerlichkeit des Menschen gegen die sinn-
liche Aussenwelt so stark als möglich abgrenzte, im Laufe der Zeit immer
schärfer accentuirt worden, und je mehr religiöse Form er annahm, um so mehr
drängte er auch auf eine Weltanschauung hin, welche diesen Gegensatz zum
metaphysischen Princip machte.
1. Am anschaulichsten tritt dies Verhältniss vielleicht in den Aeusserungen
der späteren Stoiker zu Tage, welche den anthropologischen Dualismus
so stark betonen, dass er mit der Metaphysik der Schule in handgreiflichen
Widerspruch kommt. Die Vorstellung von der Einheitlichkeit des menschlichen
Wesens, welche die Stoiker bis dahin gelehrt hatten, war freilich schon von Po-
seidonios in Frage gestellt worden, wenn er platonisirend meinte, die Affecte
könnten nicht aus dem Y/7£(iovixöy herstammen, sondern nur aus anderen unver-
nünftigen Seelentheilen '). Jetzt aber finden wir bei Seneca ^) einen schroffen
Gegensatz zwischen Seele und „Fleisch^: der Leib ist nur eine Hülle, er ist
eine Fessel, ein Kerker für den Geist. Ebenso nennt Epiktet Vernunft und
Leib die beiden Bestandtheile des Menschen ^), und wenn dann auch Marc
1) Vgl. Galkn, De Hipp, et Plat. IV, 3 ff. — 2) Seoec. Epist. 65, 29; 92, 13; ad Marc.
24, 5. — 3) Epikt. Diasert. I, 3, 3.
§ 19. Geist und Materie. (Neupythagoreer.) 181
Aurel im sinnlichen Wesen des Menschen zwischen dem groben Stoffe und dem
ihn belebenden seelischen Hauche, dem Pneuma, unterscheidet, so will er doch
von dem letzteren die eigentliche Seele, als ein unkörperliches Wesen, den Geist
(voög und didvota) um so schärfer getrennt wissen '). Dem entsprechend findet
sich denn auch bei allen diesen Männern eine Vorstellung von der Gottheit,
welche nur die geistigen Merkmale aus dem stoischen Begriffe beibehält und die
Materie als ein der Gottheit entgegengesetztes, der Vernunft feindliches Princip
ansieht ^).
Vielleicht beruhen diese Aenderungen in der Stoa auf dem steigenden Ein-
flüsse des Neupythagoreismus, welcher zuerst wieder den platonischen
Dualismus mit seinen ethisch-religiösen Werthmotiven zum Mittelpunkte seiner
Lehre gemacht hat. Von den Anhängern dieser Lehre wird die Wesensver-
schiedenheit der Seele vom Leibe auf das nachdrücklichste betont % und damit
steht in unmittelbarstem Zusammenhange ^) einerseits die Lehre, welche Gott
als rein geistiges Wesen nur geistig verehrt wissen will *), durch Gebet und
tugendhafte Gesinnung, nicht durch äussere Handlungen, andrerseits die durch-
weg asketische Moral, welche durch Waschungen und Beinigungen, durch
Vermeidung gewisser Nahrungsmittel, namentlich von Fleisch, durch ge-
schlechtUche Enthaltsamkeit, durch das Abtödten aller sinnlichen Triebe die
Seele aus der Umstrickung der Materie frei machen und zu ihrem geistigen Ur-
gründe zurückleiten will. Der Gottheit gegenüber, die das Princip des Guten
ist, wird die Materie (oXtj) als der Grmid alles Bösen, die Neigung zu ihr als die
eigentliche Sünde des Menschen betrachtet.
Derselben Auffassung begegnen wir ethisch bei den Essenern und theoretisch
überall in der Lehre des Philo n. Auch er unterscheidet zwischen der Seele,
die als Lebenskraft des leiblichen Organismus im Blute ihren Sitz habe, und dem
Pneuma, welches als Ausfluss der rein geistigen Gottheit, das wahre Wesen des
Menschen ausmache ^) : auch er findet, dass dies im Leibe eingekerkert und in
seiner Entfaltung von dessen Sinnlichkeit (aiodnfjaK;) gehemmt ist, sodass, da
darin die allgemeine Sündhaftigkeit ^) der Menschen wurzelt, ihr Heil nur in der
Ausrottung aller sinnUchen Begierden gesucht werden darf; auch ihm gilt des-
halb die Materie als das körperliche Substrat, welches zwar von der Gottheit zu
der zweckmässigen, guten Welt geordnet worden, dabei aber doch der Grund
des Bösen und der UnvoUkommenheit geblieben ist.
2. Verwandt und doch verschieden ist die Vorstellung bei den christlichen
Apologeten. Der aristotelische Begriff von Gott als dem reinen Geiste (voög
teXeioc) verbindet sich bei ihnen mit der Lehre , dass Gott die Welt aus der
1) Marc Aur. Med. 11, 2; XII, 3. — 2) Senec. Ep. 65, 24. Epikt. Diss. II, 8, 2. Marc.
Aur. Med. XII, 2. — 3) Claud. Main, de statu anim. II, 7. — 4) Insofern als auch hier der
Mensch als Mikrokosmus gilt: Ps.-Fythag. bei Phot. Cod. 249, p. 440 a. — 5) ApoUouius von
Tyana (icspl ^ootwv) bei Eus. praep. ev. IV, 13. — 6) Dabei nennt Fhilon irveöjia dasjenige,
was bei den Stoikern, Aristotelikem und Platonikem der Zeit voo^ heisst; vgl. Zeller v',
395, 3. Doch giebt es bei ihm auch wieder andere Aeusserungen, in denen noch ganz nach
stoischer Weise das Pneuma als Luft im Sinne feinster physischer Wirklichkeit erscheint: vgl.
H. Siebeck, Gesch. d. Psych. Ib 302 ff. — 7) Es ist auch bezeichnend, dass die Silndhafbigkeit
aller Menschen, welche dem altstoischen Glauben an die Verwirklichung des Ideals des Weisen
vollkommen zuwiderläuft, von den Stoikern der Kaiserzeit allgemein anerkannt und als
Motiv für die Noth wendigkeit übernatürlicher Hilfe betrachtet wird: vgl. Senec. Benef. I, 10;
Vn, 27. Epikt. Dissert. 11, 11, 1.
182 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
gestaltlosen Materie geschaffen habe : doch wird hier nicht unmittelbar die Materie
als selbständiges Princip betrachtet, sondern der Grund des Bösen vielmehr in
dem verkehrten Gebrauch der Freiheit von Seiten des Menschen und der diesen
verfuhrenden Dämonen gesucht. Hier tritt der ethische und rehgiöse Grund-
charakter des Dualismus jener Zeit ganz rein heraus : die Materie selbst gilt als
etwas Indifferentes, welches erst durch den Gebrauch von Seiten der geistigen
Mächte zum Guten oder zum Bösen wird. In derselben Weise haben helle-
nistische Platoniker, wiePlutarch, von dem Begriffe der Materie als des form-
los Nichtseienden ausgehend, das Princip des Bösen nicht in ihr, sondern viel-
mehr in einer eigenen, der guten Gottheit gegenüberstehenden Kraft gesucht *),
die mit jener gewissermassen um die Gestaltung der Materie ringe. Plutarch
fand diesen Gedanken in den Mythen der verschiedenen Religionen; aber er
durfte auch an eine Stelle erinnern, wo Piaton von der bösen Weltseele im
Gegensatze zur guten geredet hatte *).
Indessen macht sich nun doch auch hier die Tendenz den Gegensatz des Guten
und des Bösen mit demjenigen des Geistes und der Materie zu identificiren,
immerhin darin geltend, dass wiederum das Wesen des Bösen in seiner Neigung
zum Sinnlichen und Fleischlichen, zur Materie, das Gute dagegen in der Liebe
zu der rein geistigen Gottheit gesucht wird. Das ist nicht nur ein durchgängiger
Zug der altchristhchen Moral, sondern es findet sich auch in derselben Weise
bei jenen Piatonikern. Auch für Plutarch gilt die Befreiung vom Leibe als die
nothwendige Vorbereitung für die Empfangniss der göttlichen Gnadenwirkung,
die das Ziel des menschlichen Lebens bildet, und wenn Numenios dessen Theorie
dahin weiter ausführte, dass, wie im Universum, so auch im Menschen zwei
Seelen, eine gute und eine böse, mit einander streiten "), so sucht doch auch er
wieder den Sitz der bösen Seele im Leibe und seinen Begierden.
Ebenso aber wird auch in diesen Lehren überall nicht nur die reine Geistig-
keit und Unkörperlichkeit Gottes, sondern in gleicher Weise auch die Unkörper-
lichkeit des individuellen Geistes betont. Bei Plutarch zeigt sich das wiederum
in der Form, dass er den voö<;, den vernünftigen Geist, von der ^05^1], welche mit
der Kraft den Leib zu bewegen auch die Sinnlichkeit und den Affect besitze,
getrennt sehen will. Ebenso unterscheidet dann auch Irenaeus^) den seeli-
schen Lebenhauch (jtvot] Co>:^<;), der zeitlicher Natur und an den Leib gebunden
ist, von dem belebenden Geiste (7cvsD[ia Cwoirotoöv), welcher seiner Natur nach
ewig ist.
Ueberall erscheinen diese Ansichten selbstverständUch in Verbindung mit
den Lehren von der Unsterblichkeit, bezw. von der Präexistenz und der Seelen-
wanderung, von dem Sündenfall, durch welchen oder zu dessen Strafe der Mensch
in die Materie versetzt worden ist, und der Reinigung, durch die er sich wieder
davon befreien soll ; und gerade auch darin vollzieht sich die in Rede stehende
Synthese immer kräftiger, indem das wandellos sich gleichbleibende Ewige
(die platonische ooofa) in dem Geist, das Vergängliche und Wechselnde in der
Materie erkannt wird.
3. In diesen Zusammenhängen entwickelte sich nun allmählich eine Schei-
dung der beiden Merkmale, welche ursprünglich in dem Seelenbegriff vereinigt
1) Flut, de Isid. 46 ff. — 2) Plat. Nom. 896 e. - 3) Jambl. bei Stob. Ecl. I, 894. -
4) Iren. adv. haor. V, 12, 2.
§ 19. Geist und Materie. (Neupythagoreer, Plotin.) 183
gewesen waren, des physiologischen und des psychologischen, des Merkmals der
Jjebenskraft und desjenigen der Thätigkeit des ßewusstseins. Wie es schon bei
Aristoteles angelegt war, so erscheint jetzt neben der „Seele", welche den Leib
bewegt, als selbständiges und davon unabhängiges Princip der „Geist", und in
dem letzteren wird nicht mehr nur eine allgemeine Vernunftthätigkeit, sondern
das eigentliclie Wesen der individuellen (wie auch der göttlichen) Persönlich-
keit gefunden. In den mannichfachsten Ausdrucksweisen ') wird dieDreitheihing
des Menschen in Leib, Seele und Geist auf allen Linien eingeführt, und es ist be-
greiflich, dass dabei die Grenzbestimmungen einerseits zwischen Leib und Seele,
andrerseits aber noch mehr zwischen Seele und Geist noch sehr schwankend
waren: denn die Seele spielt dabei die Rolle einer Vermittlung zwischen den beiden
Extremen Materie und Geist.
Eine unmittelbare Folge davon aber war die, dass von den Thätigkeiten
des Bewusstseins, die nun als „geistige" von den physiologischen Functionen
der Seele abgetrennt wurden, eine neue und tiefere Vorstellung gewonnen werden
konnte. Denn, der Körperwelt einmal wesentlich entrückt, konnte der Geist weder
in seiner Thätigkeit noch in dem Gegenstande derselben von den sinnlichen
Einflüssen abhängig gedacht werden: und während in der gesammten griechischen
Philosophie das Erkennen als das Anschauen und Aufnehmen eines Gegebenen
betrachtet, das Verhalten des Denkens als wesentUch receptiv angesehen
worden war, so bricht sich nun die Vorstellung vom' Geist als einem selbständigen,
erzeugenden Princip durch.
4. Die Anfänge dazu liegen schon in der neupythagoreischen Lehre
insofern, als in ihr zuerst die Geistigkeit der immateriellenWelt behauptet
worden ist. Die immateriellen Substanzen der platonischen Metaphysik, die
Ideen, erscheinen nicht mehr als selbständige Wesen, sondern als Inhalts-
bestimmungen der geistigen Thätigkeit: und wenn sie für das menschUche
Erkennen noch etwas Gegebenes, Bestimmendes bleiben sollen, so werden sie zu
ursprünglichen Gedanken Gottes^). Damit sind die körperlosen Urbilder
der Erfahrungswelt in die Innerlichkeit des Geistes aufgenommen; die Vernunft
ist nicht mehr nur etwas zur oooia Gehöriges oder nur ihr Verwandtes, sie ist
die ganze ooata selbst: die immaterielle Welt ist anerkannt als die Welt
des Geistes").
Dem entsprechend wird dann bei Plotin^) der Geist (voöc) als die Einheit
definirt, welche die Vielheit in sich trägt, d. h. metaphysisch gesprochen als die
durch die Einheit bestimmte, an sich unbestimmte Zweiheit (vgl. §20), undanthro-
IH)logisch gesprochen als die synthetische Function, welche aus ihrer höheren
1) Von der verschiedenen Teiininolopfie ('^ox^ anima, Kveöjxa, spiritus, animus etc.), in
der diese Lehren auftraten, sind oben schon Beispiele gegeben, die sich sehr leicht vermehren
Hessen. Interessant ist diese Lehre namentlich von Origeues (De princ. III, 1 — 5) entwickelt,
wo die „Seele" theils als Bewegungskraft, theils als Vermögen des Vorstellens und Begehrens
t>ehandelt, der Geist dagegen als das Princip der Beurtheilung, einerseits des Guten und des
Hosen, andrerseits des Wahren und des Falschen, dargestellt wird: in diesem allein, lehrt
Ori^enes, besteht die Freiheit des Menschen. Die gleiche Dreitheiluug erscheint dann bei
IMotin im Zusammenhange seiner ganzen metaphysischen Construction : £nn. 11, 9, 2. Vgl. § 20.
— •) Vgl. Nikomachos, Arithm. Intr. I, 6. — B) Mit dieser Veränderung ist die platonische
Ideeulehre auf die Zukunft übergegangen, weil Plotin und mit ihmdergesammteNeuplatonismus
MC acceptirte. Doch geschah dies nicht ohne Widerspruch: wenigstens hat Longinos dagegen
protestirt und als sein Schüler Porphyrios eine eigene Schrift Sxt cSu> xoö vou 6(pe(3Tir|X6 xä voir]ta
geschrieben: Porph. vit. Plot. 18 ff. — 4) Plot. Enn. V, 9, 6; 3, 15; 4, 2.
184 II' Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Reli^öse Periode.
Einheit die Vielheit erzeugt. Von diesem allgemeinen Gesichtspunkt aus haben die
Neuplatoniker die Psychologie des Erkennens unter demPrincip der Activität
des Eewusstseins durchgeführt. Denn die „höhere Seele^ kann hiernach
nicht mehr als leidende, sondern ihrem Wesen nach auch in aUen ihren Functionen
nur als thätig angesehen werden^). All ihre Einsicht (oovsoic) beruht auf der Zu-
sammenfassung (ouv^saic) verschiedener Momente^); selbst da, wo die Erkenntniss
sich- auf das sinnlich Gegebene bezieht, leidet nur der Körper, während die Seele
in dem Bewusstwerden (aovataftYjat^ und JcapaxoXooftYjatc) sich activ verhält*):
und dasselbe gilt von den sinnlichen Gefühlen und Affecten. So wird auf dem
sinnlichen Gebiete der Erregungszustand von seinem Innewerden unterschieden:
der erstere ist ein Leiden des Leibes (oder auch der niederen Seele); das letztere,
schon in der bewussten Wahrnehmung (avrtXTjfptc), ist ein Act der höheren Seele,
den Plotin als eine Art von Zurückbiegen (Reflexion) des Gedankens beschreibt*).
Wenn so das Bewusstsein als das thätige Bemerken der eigenen Zu-
stände, Functionen und Inhaltsbestimmungen des Geistes begriffen wurde, — eine
Theorie, die (nach Philoponus) besonders auch von dem neuplatonischen Plutarch
ausgeführt worden ist — , so ergab sich daraus bei Plotin auch der Begriff
des Selbstbewusstseins (icapa^oXoty^siv eaorq))*). Er fasste denselben so,
dass der Geist als bewegtes, thätiges Denken (vörjoic) sich selbst als ein ruhendes,
gegenständliches Denken (voYjrdv) zum Gegenstande habe : der Geist als Wissen
und der Greist als Sein sind dabei identisch.
Der Begriff des Selbstbewusstseins nimmt nun aber im Sinne der Zeit auch
eine ethisch-religiöse Färbung an. Die o6v6at<: ist zugleich oovstSTjotc — Gewissen ,
d.h. das Wissen des Menschen nicht nur von seinen eigenen Zuständen und Hand-
lungen, sondern auch von deren sittlichem Werthe und von dem Gebote, nach
dessen Erfüllung sich derselbe richtet: und gerade in der Lehre der christlichen
Kirchenväter entwickelt sich deshalb die Lehre vom Selbstbewusstsein nicht nur
als das Wissen des Menschen von seiner Sünde, sondern auch in der thätigen
Bekämpfung derselben als Reue ((isidtvoia).
5. Die Auffassung des Geistes als selbstthätigen, schöpferischen
Princips ist aber nicht bei der psychologischen, ethischen und erkenntniss-
theoretischen Bedeutung desselben stehen geblieben, sondern hat sich am Aus-
gange des Alterthums zum beherrschenden Gedanken der religiösen
Metaphysik erhoben. Denn diese Auffassung bot die Möglichkeit, jenen Dua-
lismus, welcher die Voraussetzung der ganzen religiösen Gedankenbewegung
der Zeit bildete, schliesslich zu überwinden, indem der Versuch gemacht wurde,
auch die Materie aus diesem schöpferischen Geiste abzuleiten.
Daher ist das letzte und höchste Problem der alten Philosophie dies ge-
worden: die Welt als einErzeugniss desGeistes zu verstehen,
auch die Körperwelt mit allen ihren Erscheinungen alö wesentlich geistigen Ur-
sprungs und Inhalts zu begreifen. Die Vergeistigung des Univer-
sums ist das Schlussresultat der alten Philosophie.
1) Pori)hyr. Sentent. 10, 19 u. a. — 2) Plot. Enn. IV, 3, 26. - 3) Ibid IV, 4, 18 f.
Der Tcniiinus aovaio^oi? — dessen Bedeutung übrigens an das xotvöv aio^rfjpiov bei Aristo-
teles und damit schliesslich an Plat. Theaet. 184 f. erinnert — findet sich ähnlich schon bei
Alexander Aphrodisias, Quaest. lU, 7 p. 177, und ebenso wendet Galen gegenüber der Ver-
änderung des leiblichen Organes den Ausdruck SiaYvwsi^ zur Bezeichnung ihres Bowusst-
werdens an. - 4) Plot. Enn. I, 4, 10. — 5) Ibid. IIJ, 9.
§ 20. Gott und Welt. (Die Schrift „über die Welt") 185
An dieser Aufgabe haben gleichmässig das Cliristenthum und der Neu-
platonismus^ Origenes und Plotin, gearbeitet. Für beide bleibt zwar, soweit es
sich um die AuflPassung der Erscheinungswelt und speciell um ethische Fragen
handelt; der Duahsmus von Geist und Materie vollkräftig bestehen. Immer noch
gilt das Sinnliche als das Böse und Grottfremde, wovon die Sünde sich losmachen
soll, um zur Einheit mit dem reinen Geiste zurückzukehren : aber auch dies Dunkle
soll aus dem ewigen Lichte erklärt, die Materie soll als eine Schöpfung des G eistes
erkannt werden. So ist der letzte Standpunkt der alten Philosophie der Monis-
mus des Geistes.
In der Lösung dieses gemeinsamen Problems aber gehen die Philosophie
desChristenthums und der Neuplatonismus weit aus einander: denn diese Entwick-
lung des göttlichen Geistes in die Erscheinungswelt bis hinab in ihre materielle
Gestaltung musste selbstverständlich durch die Vorstellungen von dem Wesen
Gottes und seinem Yerhältniss zur Welt bestimmt werden, und gerade hierin
befand sich der Hellenismus unter vöUig anderen Voraussetzungen als die Lehre
der neuen Religion.
§ 20. Gott und Welt
Die eigenthümhche Spannung zwischen metaphysischem Monismus und
ethisch-rehgiösen Dualismus, welche der gesammten alexandiinischen Philosophie
ihren Charakter bestimmt, drängt die ganzen Gedanken der Zeit zu dem ver-
dichtetsten und schwersten Probleme, demjenigen des Verhältnisses von Gott und
Welt zusammen.
1. Schon von der rein theoretischen Seite her war dies Problem durch den
Gegensatz der aristotelischen und der stoischen Philosophie nahe gelegt: jene
behauptete ebenso stark die Transscendenz Gottes, d. h. die völlige Trennung
desselben von der Welt, wie diese die Immanenz, d. h. das vöUige Aufgehen Gottes
in die Welt. Deshalb ist das Problem und die Grundrichtung seiner Lösung
bereits in der eclectischenVermischung *) peripatetischer und stoischer Kosmologie
zu erkennen, als deren Typus die pseudo-aristotelische Schrift „über die Welt**
angesehen wird*). Mit der aristotelischen Lehre, dass das Wesen Gottes weit
über die Natur (als den Inbegi'iff der bewegten Einzeldinge) und besonders über
den Wechsel des irdischen Daseins hinausgesetzt werden müsse, verbindet sich
hier das stoische Bestreben, seine Kraftwirkung durch das ganze Universum
hindurch bis in alles Einzelste hinein zu verfolgen. Wenn somit die Welt bei den
Stoikern als Gott selbst galt, wenn Aristoteles in ihr ein zweckvoll bewegtes
Lebewesen sah, dessen äusserste Sphäre nur von der Sehnsucht nach der ewig
unbewegten reinen Form in den Umschwung versetzt werde, welcher sich dann mit
immer geringerer Vollkommenheit den niederen Sphären mittheile, so erscheint
hier der Makrokosmos als das in sich sympathische System der Einzeldinge, in
welchem die Kraft des an sich überweltlichen Gottes in den verschiedensten Ge-
stalten als das Princip des Lebens waltet. Die Vermittlung zwischen Theismus
und Pantheismus wird theils durch die Unterscheidung zwischen Wesen und Kraft
1) lieber den Stratonismus als eine der Stoa verwandte Umbüdung der aristotelischen
Lehre nach der Richtung panthcistischcr Immanenz ist oben gehandelt worden: § 15, 1. —
2) Dies Buch (abgedr. bei den Schriften des Aristoteles, 391 £Q dürfte etwa im ersten Jahr-
hundert n. Chr. entstanden sein : Apuleius hat eine lateinische Ueberarbeitung davon gemacht.
186 n» Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
Gottes, theils durch die Stufenfolge der göttlichen Wirkungen gewonnen, welche
vom Fixsternhimmel bis zur Erde herabsteigt. Die Pneumalehre verbindet sich
mit dem aristotelischen Gottesbegriflfe, indem die Kräfte des Naturlebens als die
Wirkungen des reinen Geistes aufgefasst werden ').
Durch diese Wendung aber wurde nur die Schwierigkeit vermehrt, welche
schon in der aristotelischen Lehre von der Wirkung der Gottheit auf die Welt
steckte : denn mit der reinen Geistigkeit, welche das Wesen der Gottheit aus-
machen sollte, war die Materialisirung seiner Wirkung ~ und diese sollte gerade
in der Bewegung der Materie bestehen — schwer zu vereinbaren, und auch Ari-
stoteles hatte das Verhältniss des unbewegt Bewegenden zu dem Bewegten
(vgl. § 13) nicht zu voller Klarheit gebracht^).
2. Eine weitere Verschärfung erfuhr das Problem mit derjenigen des reli-
giösen Duaüsmus, welcher, nicht zufrieden Gott als Geist der Materie, die über-
sinnliche Sphäre der sinnlichen gegenüberzustellen, vielmehr die Tendenz verfolgte,
das göttliche Wesen über alles Erfahrbare und über jeden bestimmten Inhalt
hinaus zu potenziren und damit den überweltlichen auch zu einem über-
geistigen Gott zu machen. Man findet dies schon bei den Neupythagoreern,
bei denen sich das Schwanken zwischen den verschiedenen Stadien des Dualismus
hinter der zahlen-symbolischen Ausdrucksweise versteckt. Wenn da als Principien
die „Eins" und die „unbestimmte Zweiheit" behauptet werden, so bedeutet die
letztere freilich immer die Materie als das Unreine, als den Grund des Unvoll-
kommenen und des Bösen; die Eins aber wird bald als die reine Form, als Geist,
bald aber auch als die über alle Vernunft hinausliegende „Ursache der Ursachen"
behandelt, als das Urwesen , welches den Gegensatz jener abgeleiteten Eins und
der Zweiheit, des Geistes und der Materie, erst aus sich habe hervorgehen lassen :
in diesem Falle erscheint die zweite Eins, das erstgeborene Eine (^cpwtÖYovov h)
als das vollkommene Abbild der höchsten Eins*).
Dies Bestreben führte nun dazu, indem der Geist erst zu einem Erzeugniss,
wenn auch dem ersten und vollkommensten der Gottheit gemacht wui'de, den
Begriff der letzteren selbst zu vollständiger Qualitätslosigkeit zu steigern.
Dies zeigt sich schon bei Philon, der den Gegensatz zwischen allem Endlichen
und Gott so scharf hervorhob, dass er diesen ausdrücklich *) als eigenschaftslos
(ä7coto<;) bezeichnete: denn da Gott über Alles erhaben sei, so könne von ihm
immer nur gesagt werden, dass er alle menschlicher Einsicht bekannten endlichen
Prädicate nicht habe: ihn nennt kein Name. Diese (später so genannte)
„negative Theologie" finden wir auch bei den in ihren Begrifi*en von Philon be-
einfiussten Apologeten des Cliristenthums, besonders bei Justin*), und ebenso
zum Theil bei den Gnostikern.
Dieselbe begegnet uns aber, in womöglich noch gesteigerter Form, auch
imNcuplatonismus. Wie schon in den hermetischen Schriften®) Gott als
1) V^l. hauptsächlich cap. 6, 397 b 9. — 2) Diese Schwierij^keiten drängten sich bei
Aristoteles namentlich in dem Jiegriffe der d'f-rj zusammen : da nämlich die „Berührung" des
Bewegenden mit dem Bewej^ten als Bedingung der Bewegung angesehen wurde, so musste
auch von einer „Berührung" zwischen Gott und dem Fixsternhimmel gesprochen werden,
was aber bei dem rein geistigen Wesen der (Jottheit auf Bedenken stiess und der a^"?] in diesem
Falle eine eingeschränkte und geistig umgebildete Bedeutung („unmittelbare Beziehung") gab:
vgl. Arist. de gen. et corr. I 6, 323 a 20. — 3) Nikomachos, Thcol. Arithm. p. 44. — 4) Phil.
Leg. alleg. 47 a; qu. D. s. immut. 301 a. — 5) Just. Apol. I, 61 ff. — 0) Poemand. 4 f.
§ 20. Gott und Welt. (Nciiplatoiiismus und Chriatenthum.) 187
unendlich und unbegreiflich^ als namenlos, als der über alles Sein erhabene Grund
des Seins und der Vernunft, der diese erst erzeugt, betrachtet worden war, so ist
auch für Plotin die Gottheit das absolut transscendente Urwesen, als vollkommene
Einheit noch erhaben über den Geist, der als das Princip, welches die Vielheit
bereite in der Einheit enthält (§ 19, 4), aus Gott erst hervorgegangen sein kann.
Dies Eine, zb ev, geht allem Denken und Sein vorher, es ist unendlich, gestaltlos,
und Jenseits" (i;rdxetva) der geistigen ebenso wie der sinnhchen Welt, dämm auch
ohne Bewusstsein und ohne Thätigkeit ^).
Hatte endlich Plotin dann doch dies unaussagbare Erste (t6 Tcpwrov) noch
als das Eine, welches allen Denkens und allen Seins Ursache sei, und als das
Gute, als den absoluten Zweck alles Geschehens, bezeichnet, so genügte den
Späteren auch dies noch nicht : Jamblichos setzte über das plotinische h noch
wieder ein höheres, völlig unaussprechliches (TrdtvtTj äpprjtoi; oLpyii) *) Eins, und
Proklos folgte ihm darin nach.
3. Solchen dialectischen Verflüchtigungen gegenüber hat nun die kirch-
liche Entwicklung des christlichen Denkens ihre eindrucksvolle
Energie darin bewahrt, dass sie an dem Begriff Gottes als geistiger
Persönlichkeit festhielt. Sie that dies nicht aus philosophischer Ueberlegung
und Begründung, sondern vermöge des unmittelbaren Anschlusses an die lebendige
Ueberzeugung der Gemeinde, und eben darin bestand ihre psychologische, ihre
weltgeschichthche Kraft. Diesen Glauben athmet das Neue Testament, diesen
vertheidigen bei aller Verschiedenheit ihrer sonstigen Richtungen und Ansichten
sämmtliche Vertreter der Patristik, und gerade durch ihn grenzt sich überall die
christliche Lelire gegen die hellenistischen Lösungen des religions-philosophischen
Hauptproblems ab.
Der Hellenismus sieht in der Pcrsönhchkeit, auch wo sie rein geistig gefasst
wird, eine Beschränkung und Verendlichung, welche er von dem höchsten Wesen
ferngehalten und nur für die besonderen Götter zugelassen sehen will: das Christen-
thum verlangt als lebendige Religion ein persönliches Verhältniss des
Menschen zu dem als höchste Persönlichkeit gefassten Welt-
grunde, und es prägt dies in dem Gedanken der Gottessohnschaft des
Menschen aus.
Wenn daher der Begriff der Persönlichkeit als der geistigen Innerlichkeit
das wesenthch neue Resultat darstellt, zu dem sich in dem griechischen und dem
hellenistischen Denken die theoretischen und die ethischen Motive verschlangen,
so hat diese Erbschaft der Antike das Christenthum angetreten, während der
Ncuplatonismus in die alte Vorstellung zurückbog, welche in der Persön-
lichkeit nur ein vorübergehendes Erzeugniss eines unpersönlichen Gesammt-
lebens sah. Das ist das Wesentliche der christlichen Weltanschauung, dass sie
als den Kern der WirkUchkeit die Person und das Verhältniss der Personen zu
einander betrachtet.
4. Trotz dieser bedeutsamen Verschiedenheit bleibt nun aber für alle Rich-
tungen der alexandrinischen Philosopliie das gleiche Problem, die so der Sinnen-
1) Es ist leicht begreiflich, dass fiir die Beziehimg des Mensehen zu diesem über-
vernünftigen, allem Thun, Wollen und Denken überhobenen Gott-Sein auch ein Zustand über-
vemünftiger, willens- und bewusstseinsloser Ekstase erforderlich erschien : vgl. oben § 18,6. —
2) Damasc. de princ. 43.
188 n. Hcllenistiscb-röinische Philosophie. 2. Relif^Öse Periode.
weit entrückte Gottheit doch zu derselben wieder in diejenigen Beziehungen zu
setzen, welche das religiöse Bedürfniss verlangte : denn je tiefer der Gegensatz
zwischen Gott und Welt gefühlt wurde, um so brennender wurde die Sehnsucht,
ihn zu überwinden, — ihn zu überwinden durch eine Erkenntniss, welche auch
die Welt aus Gott begreifen, und durch ein Leben, welches aus der Welt zu
Gott zurückkehren wollte.
Daher ist der DuaHsmus von Gott und Welt, wie der von Geist und Materie
nur der gefühlsmässige Ausgangspunkt und die Voraussetzung der alexandrini-
schen Philosophie : ihr Ziel aber ist überall, theoretisch wie praktisch, seine Be-
sieguug. Eben darin besteht das EigenthümUche dieser Zeit, dass sie die tiefe
Kluft, die sie in ihrem Gefühle vorfindet, im Wissen und Wollen zu schliessen
bemüht ist.
Freilich erzeugte diese Zeit auch solche Weltanschauungen, in welchen
der Dualismus sich so übermächtig geltend machte, dass er zu unverrückbaren
Grundlinien derselben fixirt wui'de. Daliin gehören zunächst die Platoniker wie
Plutarch, welche nicht nur die Materie als ursprüngliches Princip neben der
Gottheit behandelten, weil diese in keiner Weise der Grund des Bösen sein
könne, sondern auch in der Gestaltung dieser indifferenten Materie zur Welt
neben Gott als drittes Princip die „böse Weltseele" in Anspruch nahmen. Ganz
besonders aber kommt hier ein Theil der gnostischen Systeme in Betracht.
Dieser erste phantastische Versuch einer christlichen Theologie war durch-
weg durch die Gedanken der Sünde und der Erlösung beherrscht, und der Grund-
charakter des Gnosticismus besteht darin, dass von hier aus die Begriffe der
griechischen Philosophie mit den Mythen orientalischer ReUgionen in Beziehung
gesetzt wurden. So erscheint denn bei Valentin neben der in die Fülle (xb
7tXTjp(ö|jLa) geistiger Gestalten ergossenen Gottheit (TTpoitdrcop) die von Ewigkeit
her gleich ursprüngliche Leere (tö xdvü)|jLa), neben der Form der Stoff, neben
dem Guten das Böse: und wenn auch aus der Selbstentwicklung der Gottheit
(vgl. unten 6) schon eine ganze Geisteswelt in jener „Fülle" gestaltet ist, so gilt
doch die körperliche Welt ei'st als das Werk eines gefallenen Aeonen (vgl. § 21),
der dem Stoffe seine Innerlichkeit einbildet. Ebenso stellte Saturninus dem
Lichtreiche Gottes die Materie als das Herrschaftsgebiet des Satauas gegenüber
und betrachtete die irdische Welt als einen streitigen Grenzraum, um dessen
Besitz die guten und die bösen Geister durch ihre Einwirkung auf den Menschen
ringen; und ähnlich war auch die Mythologie des Bardesanos angelegt, welche
dem „Vater des Lebens" eine weibliche Gottheit als die empfangende Potenz
bei der Weltbildung zur Seite gab.
Die schärfste Zuspitzung aber erreichte der Dualismus in einer Misch-
religion, welche unter dem Einflüsse der gnostischen Systeme mit Rückgang auf
die altpei'sische Mythologie im dritten Jahrhundert entstand, dem Manichaeis-
mus *). Die beiden Reiche des Guten und des Bösen, des Lichts und der Finster-
niss, des Friedens und des Streites stehen sicli hier gleich ewig wie ihre Fürsten,
1) Der Stifter, Mani, (vermuthlich 240—280) bctrachtoto seine Lehre als die Vollendung
des Cliristcnthums und als Offenbaning des Parakletcn: er erlag zwar der Verfolgung der
poraischcn l'riester, aber seine Religion fand sehr schnell grosse Verbreitung und hat sich bis
lief in das Mittelalter hinein lebendig erhalten. Am besten sind wir über sie durch Augustinus
unterrichtet, der ihr selbst eine Zeit lang anhing. Vgl. F. C. Baur, Das manichaische Religions*
System. Tübingen 1836. 0. Flüukl, Mani und seine Lehre. Leipzig 1863.
§20. Gott und Welt. (Philon.) 189
Gott und der Satan, gegenüber: auch hier wu:d die Weltbildung als eine durch
Grenzverletzung hervorgerufene Mischung aus guten und bösen Elementen auf-
gefasst, im Menschen der Kampf einer guten, dem Lichtreich angehörigen und
einer bösen, der Finsterniss entstammenden Seele angenommen und eine Er-
lösung erwartet, die beide Gebiete wieder vöUig trennen soll.
So zeigt sich zum Schluss am deutlichsten, dass der DuaUsmus dieser Zeit
wesentlich auf ethisch-religiösen Motiven beruhte. Indem man die Werthbeur-
theilung, welche Menschen, Dinge und Verhältnisse als gut oder böse charakterisirt,
zum Gesichtspunkt der theoretischen Erklärung macht, gelangt man dazu, den
Ursprung des so getheilten Universums auf zwei verschiedene Ursachen zurück-
zufuhren, von denen zwar im Sinne der Beurtheilung nur die eine, die des Guten,
als positiv gelten und den Namen der Gottheit haben soll, in theoretischer Hin-
sicht aber auch die andere vöUig den Anspruch auf metaphysische Ursprünglich-
keit und Ewigkeit (ooata) behauptet. Schon aus diesem Verhältniss aber lässt
sich absehen, dass, sobald das metaphysische Verhältniss dem ethischen vollständig
angepasst wurde, dies von selbst zu einer Aufhebung des Dualismus fuhren musste.
5. In der That erzeugte der Dualismus aus seinen eigensten Motiven heraus
eine Vorstellungsreihe, durch die er selbst seine Ueberwindung vorbereitete. Je
schroffer nämlich der Gegensatz zwischen dem geistigen Gott und der materiellen
Welt, je grösser der Abstand zwischen dem Menschen und dem Gegenstande seiner
religiösen Sehnsucht gedacht wurde, um so mehr machte sich das Bedürfniss
geltend, das so Getrennte durch Z wi sc hen gli eder wieder zu vermitteln. Theo-
retisch bestand deren Bedeutung darin, die Einwirkung der Gottheit auf die ihm
fremde, seiner unwürdige Materie begreiflich und unbedenklich zu machen ; prak-
tisch hatten sie den Sinn, zwischen Mensch und Gott als die Mittler zu dienen,
welche den Menschen aus seiner sinnlichen Niedrigkeit durch ihre Hilfe zu dem
Höchsten emporleiten könnten. Beide Interessen aber wiesen gleichmässig auf
die Methode hin, mit welcher schon die Stoiker den Glauben an die niederen
Götter in ihre Naturreligion hineinzuarbeiten gewusst hatten.
Im grossen Styl ist die Durchfuhrung dieser Vermittlungstheorie zuerst
von Philon versucht worden, der ihr dadurch die bestimmte Richtung gab, dass
er sie einerseits zu der neupythagoreischen Ideenlehre, andererseits zu der Engel-
lehre seiner Religion in nahe Beziehungen brachte. Die vermittelnden Mächte,
bei deren Betrachtung Philon noch mehr die theoretische Bedeutung und die
Erklärung des Einflusses von Gott auf die Welt im Auge hatte, bezeichnet er je
nach dem Wechsel der Untersuchung bald als die Ideen bald als die wirkenden
Kräfte bald als die Engel Gottes : aber stets ist damit der Gedanke verbunden,
dass diese Zwischenglieder ebenso an Gott wie an der Welt Theil haben, dass
sie zu Gott gehören und doch von ihm verschieden sind. So gelten die Ideen
einerseits (neupythagoreisch) als Gottes Gedanken und als Inhalt seiner Weisheit,
andererseits aber auch wieder (altplatonisch) als eine von Gott geschaffene intelli-
gible Welt von Urbildern : und wenn diese Urbilder zugleich die wirkenden Kräfte
sein sollen , welche die ungeordneten Stoffe nach ihrem zweckvollen Inhalt ge-
stalten, so erscheinen dabei die Kräfte bald als so selbständige Potenzen, dass,
indem ihnen Weltbildung und Welterhaltung zufallen, jede unmittelbare Be-
ziehung zwischen Gott und Welt vermieden sein soll, bald aber doch wieder eben
als ein am göttlichen Wesen Haftendes und es selber Darstellendes : als Engel
190 II- Hellenistisch- römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
endlich sind sie zwar eigene mythische Gestalten und werden als die Diener, die
Gesandten, die Boten Gottes bezeichnet, aber auf der anderen Seite repräsen-
tiren sie doch die verschiedenen Seiten und Eigenschaften des göttlichen Wesens,
das zwar als Ganzes in seiner Tiefe unerkennbar und unaussagbar ist, aber ge-
rade in ihnen sich offenbart. Diese durch den Grundgedanken des Systems selbst
bedingte Doppelnatur bringt es mit sich, dass diese ideellen Kräfte die Bedeutung
allgemeiner Begriffsinhalte haben und dabei doch mit allen Merkmalen der Per-
sönlichkeit ausgerüstet sind : und gerade diese cigenthümliche Verquickung von
wissenschaftHcher und mythischer Auffassung , dies unbestimmte Dämmerlicht,
worin die ganze Lehre verharrt, ist das Wesentliche und Bedeutsame daran.
Dasselbe gilt von der letzten Folgerung mit der Philon diesen Gedanken-
gang abschloss. Die Fülle der Ideen, Kräfte und Engel war selbst wieder eine
ganze Welt, in der Vielheit und Bewegung herrschte: zwischen ihr und der Einen,
unbewegten, veränderungslosen Gottheit bedurfte es noch eines höheren Zwischen-
gliedes. Wie die Idee zu den einzelnen Erscheinungen, so muss sich zu den Ideen
die höchste derselben (tö YsvtxwtaTov) , die „Idee der Ideen'*, — wie die Kraft
zu ihren sinnhchen AVirkuugen , so muss sich zu den Kräften die vernünftige
Weltkraft überhaupt verhalten : die Engelwelt muss in einem Erzengel ihren ein-
heitlichen Abschluss finden. Diesen Inbegriff der göttlichen Weltwirksamkeit
bezeichnet Philon mit dem stoischen Begriffe des Logos. Auch dieser aber er-
scheint deshalb bei ihm in schwankender, wechselnder Beleuchtung: der Logos
ist einerseits die in sich ruhende göttliche Weisheit (aoyia-XöYoc evStAdstoc;, vgl.
S. 156 Anm. 5) und die zeugende Vemunftkraft des Höchsten, er ist aber
andererseits auch die aus der Gottheit heraustretende Vernunft (Xöyo<; Trpoyoptxöc),
das selbständige Abbild, der erstgeborene Sohn, weder unentstanden wie Gott
noch entstanden wie wdr Menschen, er ist der zweite Gott^). Durch ihn hat
Gott die Welt gebildet, und er ist umgekehrt auch der Hohepriester, der durch
seine Fürbitte die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Gottheit her-
stellt und erhält ; er ist erkennbar, während Gott selbst als über alle Bestimmung
hinausgehoben unerkennbar bleibt : er ist Gott, sofern dieser das Lebensprincip
der Welt bildet.
So legen sich Transscendenz imd Immanenz Gottes als gesonderte Potenzen
aus einander, um doch vereint zu bleiben ; der Logos als der innerweltliche Gott
ist „die Wohnstätte'* des ausserweltlichen Gottes. Je schwieriger dies Verhält-
niss sich begrifflich gestaltet, um so reicher sind die bildlichen Ausdrucksweisen,
in denen es von Philon dargestellt wird 2).
6. Mit dieser Logoslehre war nun der erste Schritt gethan, um die Kluft
zwischen Gott und der Sinnenwelt durch eine bestimmte Stufenfolge von Gestalten
auszufüllen, welche mit allmählichen Ucbergängen von der Einheit zur Vielheit,
von der Unveränderlichkeit zur Veränderlichkeit, vom Immateriellen zum Ma-
teriellen, vom Geistigen zum Sinnlichen, vom Vollkommenen zum unvollkommenen,
1) Phil, bei Eus. praep. ev. VII, 13, 1. Mit etwas stärkerer Betonung der Persönlich-
keit finden sich dieselben Begriffsbestimmungen bei Justiuus, Apol. I, 32. Dial. c. Tryph.
56 f. — 2) Im Zusammenhanpr mit allen diesen Lehren steht es, dasa bei Philon das Geistige
der Erfahrungswelt eine unklare Stellung zwischen Immateriellem und Materiellem einnimmt ;
der vou^ des Menschen, das VernuJgen des Denkens und der Willenskraft, ist ein Theil des
göttlichen Logos (auch die Dämonen werden stoisch als Xoyoi bezeichnet), und er wird doch
auch wieder als feinstes Pneuma charakterisirt.
■
§20. Gott und Welt. (Gnostiker.) 191
vom Guten zum Bösen herabstieg, und wenn diese Rangordnung zugleich als
ein System von Ursachen und Wirkungen, die selbst wieder Ursachen, aufgefasst
wurde, so ergab sich daraus eine neue Darstellung des kosmogonischen
Processes, durch welchen vermöge aller dieser Zwischenglieder die Sinnen-
welt aus dem göttlichen Wesen abgeleitet wurde : zugleich aber lag dann
der Gedanke nahe , die Etappen dieses Hervorganges auch rückläufig als die
Stufen der Wiedervereinigung des in die Sinnenwelt verstrickten Menschen mit
Gott zu betrachten. Und so bahnt sich theoretisch und praktisch die Ueberwindung
des Dualismus an.
Damit wurde ein Problem wieder aufgenommen, welches Piaton in seiner
letzten pythagoreisirenden Periode und die ältesten Akademiker im Auge gehabt
hatten, wenn sie mit Hilfe der Zahlentheorie den Hervorgaug der Ideen und der
Dinge aus der göttlichen Einheit zu begreifen suchten. Aber schon damals hatte
sich gezeigt, dass dies Schema der Entwicklung der Vielheit aus der Eins hin-
sichtlich seiner Beziehung zu den Werthprädikaten zwei entgegengesetzte Deu-
tungen zuliess: der platonischen, von Xenokrates vertretenen Auffassung, dass
die Eins das Gute und Vollkommene, das aus ihr Abgeleitete aber das Unvoll-
kommene und schliesslich das Schlechte sein müsse, trat in Speusippos die An-
sicht entgegen, dass das Gute nur das Endprodukt, nicht der Ausgangspunkt
der Entwicklung, letzterer dagegen in dem Unbestimmten, Unfertigen zu suchen
sei*). Man pflegt die so unterschiedenen Lehren als Emanationssystem
und Evolutionssystem zu unterscheiden. Der erstere Name entstammt
daher, dass in diesem System, welches in der reHgiösen Philosopliie des Alexan-
drinismus entschieden vorwaltete, die Sondergestaltungen des weltzeugenden
Logos vielfach mit dem stoischen Terminus als „Ausflüsse" (a;c6f^poiat) des gött-
lichen Wesens bezeichnet wurden.
Doch fehlt es in der alexandrinischen Philosophie auch nicht an evolutio-
nistischen Versuchen ; insbesondere lagen dieselben dem Gnosticismus nahe :
denn dieser musete bei seiner scharfen Spannung des Dualismus von Geist und
Materie den monistischen Ausweg mehr in einem indifferenten Urgründe,
der sich in die Gegensätze auseinander gelegt habe, zu suchen geneigt sein. Wo
daher die Gnostiker — und das ist gerade bei den bedeutenderen der Fall — über
den Dualismus hinausstreben, da entwerfen sie nicht nur einen kosmogonischen,
sondern einen theogonischen Process, durch welchen die Gottheit sich aus
dunklem Urwesen durch den Gegensatz zur vollen Offenbarung entfaltet habe.
So heisst beiBasileides der namenlose Urgrund der (noch) nicht seiende Gott
(6 oox o>v ^eö(;) : dieser, hören wir, habe den Weltsamen (itavo7csp|jLtot) erzeugt, in
welchem ungeordnet neben den materiellen Kräften (ajiop^pta) die geistigen (otÖTTjtec;)
lagen: die Gestaltung und Ordnung aber dieses Kräftechaos vollzieht sich durch
die Sehnsucht desselben nach der Gottheit. Dabei scheiden sich die verschiedenen
„Sohnschaften", die geistige Welt (o?cspxo(3[i[a) von der materiellen Welt (xöaiioc)
und im zeitlichen Verlaufe des Geschehens schliesslich alle Sphären der so ent-
wickelten Gottheit; jede gelangt an den ihr bestimmten Ort, die Unruhe des
Strebens hört auf, und der Friede der Verklärung ruht über dem All.
In eigenthümlicher Mischung erscheinen evolutionistische und emanatis-
tische Motive in der Lehre Valentin' s. Hier wird nämlich die geistige Welt
iFVgL Aristot. Met. XIV 4, 1091 b 16 j XII 7, 1072 b 31. —
192 n. HcllcnifltiBch-römischo Philosophie. 2. Relip^iöae Periode.
(^XTjpoojxa) oder das System der „Aeonen", der ewigen Wesenheiten, zum ersten
Theil als Entfaltung der dunklen Urtiofe (ßoO'tx;) zur SelbstoflPenbarung, zum
anderen Theil dann aber als absteigende Erzeugung unvollkommnerer Gestalten
entwickelt. Das mythische Schema ist dabei die orientalische Paarung männlicher
und weiblicher Gottheiten. In der obersten ^Syzygie" tritt neben den Urgrund das
„Schweigen" (otx/J), welches auch das „Denken" (svvota) genannt wird. Aus dieser
Verbindung des Urseins mit der Fähigkeit des Bewusstwerdens geht als das Erst-
geborene der Geist (hier voö<; genannt) hervor , der in der zweiten Syzygie die
„Wahrheit", d. h. die intelligible Welt, das Reich der Ideen zu seinem Gegen-
stände hat. So sich selbst zur vollen Offenbarung geworden, gestaltet die Gott-
heit sich in der dritten Syzygie zu „Vernunft" (Xöyoc) und „Leben" (C««»}) und
wird zum Princip der äusseren Offenbarung in der vierten Syzygie als „Ideal-
mensch" (av^p(ö?coc) und „Lebensgemeinschaft" (IxxXrjoia). Hat nun damit schon
der absteigende Process begonnen, so setzt er sich weiterhin dadurch fort, dass
aus der dritten und der vierten Syzygie noch weitere Aeonen hervorgehen , die
mit jener heiligen Achtzahl erst das ganze Pleroma bilden, die aber immer ferner
von dem Urgründe stehen: erst der letzte dieser Aeonen, die „Weisheit" (oo^ia)
ist es, der durch sündige Sohnsucht nach dem Urgründe den Anlass dazu giebt,
dass diese Sehnsucht von ihm abgelost und in die stoffliche Leere, das x^va>|JLa ge-
worfen wird, um dort zur Bildung der irdischen Welt zu fuhren.
Sieht man auf die philosophischen Gedanken, welche sich hinter dieser viel-
deutigsten Mythenconstruction verbergen, so ist es leicht verständlich, dass die
Schule der Valentinianer in mannichfache Ansichten auseinander ging. Denn in
keinem anderen Systeme jener Zeit sind so sehr dualistische und monistische
Motive beider Art, der evolutionistischen wie der emanatistischen, mit einander
gemischt wie hier.
?• In begrifflicher Abklärung und mit Ablösung des mythischen Apparates
erscheinen die gleichen Motive in der Lehre PI ot in 's, so jedoch, dass in der
Durchführung des Ganzen das Princip der Emanation die beiden anderen
fast ganz verdrängt.
Die Synthese von Transscendenz und Immanenz wird auch von Plotin in der
Richtung gesucht, dass das Wesen Gottes als das absolut Einheitliche und Un-
veränderliche bewahrt bleibt, während Vielheit und Veränderlichkeit nur seinen
Wirkungen ') zukommen. Von dem über alle endlichen Bestimmungen und Gegen-
sätze erhabenen „Ersten" kann im strengen Sinne gar nichts ausgesagt werden
(vgl. oben 2)*, nur uneigentlich, in seiner Beziehung zur Welt kann es als das unend-
liche Eine, als das Gute und als höchste Kraft (npiüzri ?i)va(uc) bezeichnet werden,
und die Wirkungen dieser Kraft, welche das Weltall ausmachen, sind nicht als Ab-
zweigungen und Theilungen seiner Substanz, nicht somit als eigentliche ^Aus-
flüsse", sondern vielmehr als überquellende, die Substanz selbst in keiner Weise
verändernde, doch aber aus der Nothwcndigkeit ihres Wesens sich ergebende
Nebenerfolge zu betrachten.
Als bildliche und doch auch die Auffassung dieses Verhältnisses bestim-
mende Darstellung wendet Plotin das Gleichniss des Lichtes an, welches, ohne
1) Insofern finden wir hier in die theologische Form umG^epräpTt das eleatisch-
heraklitische Anfangsproblem der griechischen Metaphysik, das auch den Piatonismus be-
stimmte.
§20. Gott und Welt. (Plotin.) 193
damit an seinem Wesen einzubüssen oder selbst in Bewegung zu treten^ in die
Finsterniss strahlt und um sich eine Atmosphäre der Helhgkeit derart erzeugt,
dass dieselbe von dem Quellpunkte aus immer mehr an Intensität abnimmt und
schUesslich sich von selbst in die Finsterniss verliert. So sollen auch die Wirk-
ungen des Einen und Guten, je mehr sie durch die einzelnen Sphären hindurch
sich von demselben entfernen, immer unvollkommener werden und am Ende in
das finstere, böse Gegentheil umschlagen, — die Materie.
Die erste Sphäre dieser göttlichen Wirksamkeit ist nach Plotin der Geist
(voöc); in welchem sich die erhabene Einheit in die Zweiheit von Denken und
Sein, d. h. in diejenige des Bewusstseins und seiner Gegenstände auseinander-
legt. In ihm ist das Wesen der Gottheit als Einheitlichkeit der Denkfimction
(vÖYjaK;) erhalten : denn dies mit dem Sein identische Denken wird nicht als eine
anhebende oder aufhörende, an den Gegenständen etwa wechselnde Thätigkeit,
sondern als die immer gleiche, ewige Anschauung des eigenen wesensgleichen In-
haltes betrachtet. Aber dieser Inhalt, die Ideenwelt, den Erscheinungen gegen-
über das ewige Sein (oi>ata in platonischem Sinn), ist als intelhgible Welt (xöo[jlo<;
voT]TÖ<;) zugleich das Princip der Vielheit. Denn die Ideen sind nicht blos Ge-
danken und Urbilder, sondern zugleich die bewegenden Kräfte (vo':-Sovd|ieic) der
niederen Wirklichkeit. Die GrundbegriflFe (Kategorien) dieser intelhgiblen Welt
sind daher, weil in ihr Einheit und Mannichfaltigkeit als die Principien des Be-
harrens und des Geschehens vereinigt und doch wieder getrennt sind, die fünf ^) :
das Seiende (töSv), die Ruhe (otäcjk;), das Geschehen (xtvtjotc), die Identität
(ta&TÖx>j<;) und die Verschiedenheit (stepönji;). Der Geist also als inhaltlich be-
stimmte, die Vielheit in sich tragende Function ist die Gestalt, durch welche die
Gottheit alle empirische Wirklichkeit aus sich hervorgehen lässt: Gott als er-
zeugendes Princip, als Weltgrund ist Geist.
Aber der Geist bedarf nun einer ähnUchen Ausstrahlung, um aus sich die
Welt zu erzeugen; sein nächstes Product ist die Seele, und diese wiederum be-
thätigt sich dadurch, dass sie die Materie zur Körperlichkeit gestaltet. Die eigen-
thümliche Stellung der „Seele^ besteht also darin, dass sie den Inhalt des Geistes,
die Ideenwelt, anschauend empfangt und nach diesem Urbilde (stxa)v) das Sinn-
liche bildet. Dem schöpferischen Geiste gegenüber ist sie das empfangende, der
Materie gegenüber das wirkende Princip. Und diese Dualität der Beziehungen
auf das Höhere und das Niedere wird hier so stark betont, dass (ebenso wie der
„Geist" in Denken und Sein auseinanderging) die „Seele" sich für Plotin ge-
radezu verdoppelte: in die selige Anschauung der Ideen versunken, ist sie die
höhere, eigentüche Seele, die ^o/ti] im engeren Sinne des Worts; als gestal-
tende Bj^t ist sie die niedere Seele, die y6ot<; (gleich dem X6yo<; oirepitatixöc der
Stoiker).
Alle diese Bestimmungen treffen einerseits die allgemeine Seele (Weltseele
— Piaton) andererseits aber auch die einzelnen Seelen , welche als ihre Sonder-
gestaltungen von ihr ausgegangen sind, namentlich also auch die menschlichen
Seelen. Von der reinen idealen Weltseele wird die <p{)ot<;, die gestaltende Natur-
kraft unterschieden : aus jener emaniren die Götter, aus dieser die Dämonen.
Unter der erkennenden Seele des Menschen, welche sich zu dem heimatlichen
]) Aus dem Dialog Sophistes des Corpus platonicum bekannten: vgl« daselbst 254 b AT.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 13
194 n. Hellenistisch-römisclie Philosophie. 2. llelij;riöse Periode.
Geiste zurückschwingt, steht die Lebenskraft, welche den Leib bildet. So er-
scheint die Scheidung in den Merkmalen des Seeleubegriffs, welche sich sachlich
aus dem Dualismus entwickelte (vgl. § 19, 3), liier formell durch den Zusammen-
hang des metaphysischen Systems gefordert.
Dabei wird diese Wirkung der „Seele" auf die Materie zwar selbstverständ-
Uch als zweckmässig aufgefasst, weil sie ja zuletzt auf den Geist und die Ver
nunft (k6^o(;) zurückgeht, aber doch, da sie Sache der niederen Seele ist, als
absichtsloses, unbewusstes, naturnoth wendiges Walten angesehen. Wie die
äusseren Strahlenschichten des Lichts in die Pinstemiss dringen , so gehört es
zum Wesen der Seele, mit ihrem Glanz, der aus dem Geist und aus dem Einen
stammt, die Materie zu durchleuchten.
Diese Materie aber — und das ist einer der wesentlichsten Puncto in Plo-
tin's Metaphysik — darf nicht etwa als eine für sich neben dem Einen bestehende
körperliche Masse angesehen werden , sie ist vielmehr selbst körperlos, immate-
riell*). Zwar werden aus ihr die Körper gebildet, aber sie selbst ist kein Körper, und
da sie so weder geistiger noch körperlicher Natur ist, so kann sie durch keine
Eigenschaften bestimmt werden (ättoioc). Aber diese f^rkenntnisstheoretische
Unbestimmbarkeit gilt nun bei Plotin zugleich als metaphysische Unbestimmtheit.
Die Materie ist ihm die absolute Negativität, die reine Privation (aT^p7]'5tc), die
völlige Abwesenheit des Seins, das absolute Nichtsein: sie verhält sich zum
Einen wie die Pinstemiss zum Lichte , wie die Leere zur Fülle. Diese oXt] der
Neuplatoniker ist nicht die aristotelische oder die stoische, sondern wiejder die pla-
tonische : es ist der leere, finstereRaum^). So weit reicht in dem antiken
Denken die Wirkung der eleatischen Identification des leer.en Raums mit dem
Nichtsein und der demokritisch-platonischen Weiterbildung dieser Lehre: auch
im Neuplatonismus gilt der Raum als die Voraussetzung tär dieVervielföltigung,
welche die Ideen in der sinnlichen Erscheinungswelt finden. Deshalb ist auch bei
Plotin die niedere, für die Ausstrahlung auf die Materie bestimmte Seele, die
^ooic, das Princip der Theilbarkeit *), während die höhere Seele die dem Geist
verwandte üngetheiltheit besitzt.
In dieser reinen Negativität begründet es sich nun aber, dass diese eigen-
schaftslose Materie auch durch ein Werthprädikat bestimmt werden kann: sie
ist das Böse. Als der absolute Mangel (irsvta TravteXif]!;), als die Negation des
Einen und des Seins, ist sie auch die Negation des Guten : afcon'zia «Ya^^oö. In-
dem aber der Begriff des Bösen so eingeflihrt wird, erhält er auch seine beson-
dere Pormung : das Böse ist nicht selbst etwas positiv Vorhandenes , sondern es
ist der Mangel, es ist das Pehlen des Guten, das Nichtsein. Diese Begriffs-
bildung gab für Plotin ein willkommenes Argument fiir die Theodicee: wenn
das Böse nicht ist, so braucht es nicht gerechtfertigt zu werden, und so folgt aus
den blossen begrifflichen Bestimmungen, dass alles, was ist, gut ist.
Darum ist nun für Plotin die Sinnen weit nicht an sich böse, so w^enig wie
sie an sich gut ist; sondern weil in ihr das Licht in die Pinstemiss, das Eine in
die Materie übergeht, weil sie somit eine Mischung von Sein und Nichtsein dar-
1) ototufiaTo? : Ennead. III, 6, 7. — 2) Ibid. III, 6, 18. Der allgemeine leere Raum
bildet die Möglichkeit (üitoxsifjLevov) für die Existenz der Körper; während andererseits die
einzelne Raumbestimmtheit durch das Wesen der Körper bedingt ist: II, 4, 12. — 8) Ibid.
m,9,i.
§80. Oott UD(1 Welt. (PlotiD.) 195
stellt (der platonische Begiiff der -fävsaic wird hier von Neuem mächtig), so ist
sie gut, soferu «ie an Gott oder dem Guten Theil hat, d. b. so feto sie ist, und
so ist sie böse, sofern sie an der Materie oder dem Bösen Theilbat, d. Ii. sofern
sie nicht ist. Das wahre, eigentliche Böse (zptäxw x^xiv) ist die Materie, die
Negation: die Körperwelt darf nur böse genannt werden, weil sie daraus gestaltet
ist, sie ist das secundäre Böse (Seürspov xaxöv); und den Seeleu gebührt das Prä-
dikat böse nur, wenn sie sich der Materie hingehen. Freitich gehört dies Ein-
gehen in die Materie zu den weaentUchen Merkmalen der Seele seihst; diese bildet
eben diejenige Sphäre, durch welche die Ausstrahlung der Gottheit in die Materie
übergeht, und dies Theilnehmen am Bösen ist deshalb iUr sie eine Naturnoth-
wendigkeit, die als Fortsetzung ihres eigenen Hervorgehens ans dem Geiste zu
fassen ist ').
Durch diese Unterscheidung der Sinnenwelt von der Materie vermochte
Plotin auch dem Positiven in den Erscheinungen gerecht zu werden*). Denn
da die Urkraft durch Geist und Seele hindurch auf die Materie wirkt, so ist
hiernach Alles, was in der Sinnenwelt wahrhaft ist, offenbar selbst Seele und
Geist. Hierin wurzelt die SpirituaHsirung der Körperwelt, die Vergeistigung
des Universums, welche das Charakteristische von Plotin's Naturauffassung bildet.
Das Materielle ist nur die äussere Hülle, hinter der als das waiirhafl Wirkende
Seelen und Geister stecken. Der Körper ist das Abbild oder der Schatten der
Idee, die in ihm sich der Materie eingebildet hat, sein wahres Wesen ist dies
Geistige, welches in dem Sinnenbildc ei-scheint.
In solchem Durchleuchten aber der idealen Wesenbaftigkeit durch ihre
sinnliche Erscheinung besteht die Schönheit: vermöge dieses Einstrahlens des
geistigen Lichts in die Materie ist die ganze Sinnenwelt und ist in ihr das einzehie,
seinem Urbild nachgestaltete Ding schön. Hier begegnet uns in Plotin's Ab-
handlung Über die Schönheit (Ennead. I, 6) dieser Begriff zum ersten Mal unter
den Grundbegriffen der Weltanschauung : es ist der erste Verauch einer meta-
physischen Aesthetik. Bis hierher trat das Schöne immer nur in Homonymie
mit dem Guten und Vollkommenen auf, und die leisen Anfänge einer Ablösung
und Veraelbständigung des Begriffs, welche Platon's Symposion enthielt, sind
eben erst von Plotin wieder aufgenommen worden: denn aucli die Theorie der
Kunst, auf welche sich die ästhetische Wissenschaft beschränkte, hat, wie es am
deutlichsten in dem Bruchstück der aristotelischen Poetik hervortritt, das Schöne
wesentlich nach seinen ethischen Wirkungen betrachtet (vgl. g 13, 14). Es hat
des ganzen Ahlaufs der antiken Lehensbowegung und jener Yerinnerltcliunf;,
welche sie in der religiösen Periode erfuhr, bedurft, um das wissenschaftliche
196 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
des Geistes in der Veräusserlichung seiner sinnlichen Erscheinungen. Auch dieser
Begriff ist ein Triumph des Geistes^ der in der Entfaltung seiner Thätigkeiten
7.uletzt sein eigenes Wesen erfasst und als Weltprincip begriffen hat.
HinsichtUch der Erscheinungswelt steht also Plotin auf einem Standpunkte,
den man als Umdeutung der Natur in Seelenleben bezeichnen muss,
und so erweist sich; dass in Betreff dieser Gegensätze das antike Denken seinen
Lauf von einem Extrem zum andern beschrieben hat : die älteste Wissenschaft
kannte die Seele nur als eins neben den vielen anderen Naturprodukten, — dem
Neuplatonismus gilt die ganze Natur nur so weit als wirklich, als sie Seele ist.
Indem aber dies idealistische Princip auf die Erklärung der einzelnen Dinge
und Vorgänge in der Sinnenwelt angewendet wird, hört alle Nüchternheit und
Klarheit der Naturforschung auf. An die Stelle gesetzmässiger Causalzusammen-
hänge tritt das geheimnissvolle, traumhaft unbewusste Weben der Weltseele, das
Walten der Götter und Dämonen, die geistige Sympathie aller Dinge, welche
sich in wunderbaren Beziehungen unter ihnen ausspricht. Alle Foiinen der
Mantik, Astrologie, Wunderglaube fliessen von selbst in diese Naturbetrachtung
ein, und der Mensch scheint in ihr von lauter höheren, geheimnissvoUen Kräften
umgeben : diese geistgezeugte, seelenvolle Welt umfangt ihn als ein magischer
Zauberkreis.
Der ganze Hervorgang der Welt aus der Gottheit erscheint somit als
eine zeitlose, ewige Nothwendigkeit, und wenn Plotin auch von einer periodischen
Wiederkehr derselben Einzelgestaltungen redet, so ist ihm doch der Weltprocess
selbst anfangs- und endlos. Wie es zum Wesen des Lichtes gehört, ewig in die
Pinsterniss zu scheinen, so ist Gott nicht -ohne die Ausstrahlung, mit der er aus
der Materie die Welt erzeugt.
In diesem allgemeinen Geistesleben verschwindet dann die individuelle
Pe^önlichkeit als eine untergeordnete Sondererscheinung. Aus der Gesammt-
seele als eine ihrer zahllosen Entfaltungen entlassen, ist sie wegen der schuld-
voUen Neigung zum Nichtigen aus der reineren Präexistenz in den Sinnenleib
geworfen, und ihre Aufgabe ist, sich ihm und dem materiellen Wesen überhaupt zu
entfremden und sich von ihm wieder zu „reinigen". Erst wenn ihr dies gelungen,
kann sie hoffen rückwärts die Stufen zu durchlaufen, in denen sie selbst aus der
Gottheit hervorgegangen ist, und so zu dieser zurückzukehren. Der erste positive
Schritt zu dieser Erhebung ist die bürgerliche und poUtische Tugend, durch
welche der Mensch sich als vernünftig gestaltende Kraft in der Erscheinungswelt
geltend macht ; aber da diese sich nur in Beziehung auf das sinnliche Object be*
thätigt, so steht weit über ihr (vgl. Aristoteles) die dianoetische Tugend der Er-
kenntniss, mit der sich die Seele in ihren eigenen geistigen Lebensgehalt versenkt:
und als anregende Hilfe dazu feiert Plotin die Betrachtung des Schönen, welche
im Sinnending die Idee ahnt und in der Ueberwindung der Neigung zur Materie
von dem sinnlich Schönen zum geistig Schönen aufsteigt. Und auch diese dianoe-
tische Tugend, diese ästhetische d^iüpla und Selbstanschauung des Geistes ist
nur die Vorstufe für jene ekstatische Verzückung, mit der das Individuum zu
bewusstloser Einheit mit dem Weltgrunde eingeht (§ 18, 6). Das Heil und die
Seligkeit des Individuums ist sein Untergang in das All-Eine.
Die späteren Neuplatoniker, schon Forphyrios, noch mehr aber Jamblichos und Proklos
betonen bei dieser Erhebung weit mehr als Plotin die Hilfe, welche das Individuum daeu in
§20. Gott und Welt. (Neuplatoniker.) 197
der positiven Religion und in ihren Cultushandlungen finde. Da nämlich diese Männer die
verschiedenen, von ihnen noch stark vermehrten Stu^n der Abfolge der Welt aus dem „Einen"
durch allerlei mehr oder minder willkürlidhe Allegorien mit den Göttergestalten der ver-
schiedenen ethnischen Religionen identificirten, so lag es nahe bei der Rückkehr der Seele zu
Gott, welche ja dieselben Stufen bis zur ekstatischen Vergottung zu durchlaufen haben sollte,
die Unterstützung dieser niederen Götter in Anspruch zu nehmen: und wie die Metaphysik
der Neuplatoniker in Mythologie, so artete ihre Ethik intheurgische Künste aus.
8. Im Ganzen folgt hiernach die plotinische Ableitung der Welt aus Gott
trotz aller Verinnerlichung und Vergeistigung der Natur doch dem physischen
Schema des Geschehens. Diese Ausstrahlung der Dinge aus der Urkraft ist eine
ewige, im Wesen der letzteren begründete Nothwendigkeit, das Erzeugen ist be-
wusstlos und absichtslos zweckmässiges Wirken.
Zugleich aber spielt in diese Auffassung ein logisches Motiv hinein,
welches in dem altplatonischen Charakter der Ideen als Gattungsbegriffe seinen
Ursprung hat. Wie nänüich die Idee zu den einzelnen SinnendingeU; so verhält
sich zu den Ideen wieder die Gottheit wie das Allgemeine zu dem Besonderen:
Gott ist das absolut Allgemeinste, und nach einem Gesetz der formalen Logik,
wonach die Begriffe an Inhalt um so ärmer werden, je mehr ihr Umfang wächst,
sodass dem Umfang cx) der Inhalt O entsprechen muss, ist das absoliut Allge-
meinste auch der inhaltlose Begriff des „Ersten". Wenn aber aus diesem Ersten
zunächst die intelligible, sodann die psychische, endUch die sinnliche Welt hervor-
gehen soll, so entspricht dies metaphysische Verhältniss dem logischen Processe
der Determination oder der Partition. Dieser Gesichtspunkt, wonach
durchweg das Allgemeinere als die höhere, metaphysisch ursprünglichere Wirk-
lichkeit betrachtet und durch eine Hypostasirung der syllogistischen Methode des
Aristoteles (vgl. § 12, 3) das Besondere auch seiner metaphysischen KeaUtät
nach als ein Produkt aus dem Allgemeineren abgeleitet werden soll, ist unter den
älteren Neuplatonikem hauptsächlich von Porphyriosin seiner Einleitung zu
den Kategorien des Aristoteles ausgesprochen worden.
Indessen sah nun Proklos, der dieses logische Schema der Emanation
methodisch durchzuführen unternahm und diesem Princip zu Liebe z. B. dem
obersten, völUg merkmallosen h zunächst eine Anzahl einfacher, ebenfalls uner-
kennbarer „Henaden" unterordnete, sich auch in der Nothwendigkeit, für dies
logische Hervorgehen des Besonderen aus dem Allgemeineren noch ein eigenes
dialectischesPrincipin Anspruch zu nehmen. Einen solchen Schematismus
fand der Systematisator des Hellenismus in dem logisch-metaphysischen Verhält-
niss, welches Plotin der Entwicklung der Welt aus der Gottheit zu Grunde gelegt
hatte. Der Hervorgang des Vielen aus dem Einen bringt es mit sich, dass einer-
seits das Besondere dem Allgemeinen ähnlich bleibt und somit die Wirkung in
der Ursache behan-t, andererseits aber dies Erzeugte als ein Neues, Selbständiges
dem Erzeugenden gegenüber und aus ihm heraus tritt, endlich aber vermöge eben
dieses antithetischen Verhältnisses das Einzelne wieder zu seinem Grunde zurück-
strebt. Somit sind Beharren, Heraustreten und Zurückkehren ((loviijj
;rpöo8o<;, iTrtotpoy tJ) oder Identität, Verschiedenheit und Verknüpfung des Unter-
schiedenen die drei Momente des dialectischen Processes, und Proklos presste
in diese Formel der emanatistischen Entwicklung, vermöge deren jeder Begriff
in sich — aus sich — in sich zurückkehrend gedacht werden sollte, die gesammte
metaphysisch-mythologische Construction, womit er in einer immer dreigliedrig
sich weiter spaltenden Stufenfolge der begrifflichen Determination zugleich den
198 IL HelleniBtisch-römischc Philosophie. 9. Religiöse Periode.
Göttersysteraen der verschiedenen Religionen ihren Platz in dem mystisch-magi-
schen Weltzusammenhange anzuweisen wusste ').
9. Demgegenüber besteht nun die Eigenthümlichkeit der christlichen
Philosophie wesentlich darin, dass sie in der Auflassung des Verhältnisses
von Gott und Welt durchweg den ethischen Gesichtspunkt des freien schöpfe-
rischen Thuns zur Geltung zu bringen gesucht hat. Indem sie von ihrer reUgiösen
Ueberzeugung aus an dem Begriflfe der Persönlichkeit des Urwesens fest-
hielt, fasste sie den Hervorgang der Welt aus Gott nicht als physische oder
logische Nothwendigkeit der Wesensentfaltung, sondern als einen Act des
Willens auf, und in Folge dessen galt ihr die Weltschöpfung nicht als ein
ewiger Process, sondern als eine einmalige, zeitliche Thatsache. Der
BegiifF aber, in dem sich diese Gedankenmotive concentrirten, war derjenige der
Willensfreiheit.
Der Begriff der letzteren hatte zuerst den Sinn gehabt, der endlichen, sitt-
lich handelnden Persönlichkeit die Fähigkeit einer von äusserem Einfluss und
Zwang unabhängigen Entscheidung zwischen verschiedenen gegebenen Möglich-
keiten zuzuerkennen (Aristoteles); er hatte sodann die metaphysische Bedeutung
einer ursachlosen Thätigkeit einzelner Wesen angenommen (Epikur): auf das
Absolute angewendet und als Eigenschaft Gottes betrachtet, wird er in der christ-
lichen Philosophie zu dem Gedanken der „Schöpfung aus Nichts", zu der Lehre
einer ursachlosen Erzeugung der AVeit aus dem Willen Gottes umgebildet.
Damit wird jeder Versuch einer Erklärung der Welt abgelehnt: die Welt ist,
weil Gott sie gewollt hat, und sie ist so, wie sie ist, weil Gott sie so gewollt hat.
An keinem Punkte ist der Gegensatz zwischen Neuplatonismus und rechtgläu-
bigem Chris tenthum schärfer als an diesem.
Indessen wird nun eben dasselbe Princip der Willensfreiheit angewendet,
um die Schwierigkeiten zu überwinden, welche sich aus ihm selbst ergaben. Denn
die schrankenlose Schöpferfreiheit des allmächtigen Gottes treibt noch energischer
als in den anderen Weltanschauungen das Problem der Theodicee hervor, wie
dabei mit seiner Allgüte die Realität des Bösen in der Welt vereinbar sei. Der
Optimismus der AVeltschöpfungslehre und der Pessimismus des Er-
lösungsbedürfnisses, das theoretische und das praktische, das metaphysische
und das ethische Moment der religiösen Ueberzeugung stossen hart auf einander.
Den Ausweg aber aus diesen Schwierigkeiten findet der von dem Verantwort-
lichkeitsgefiihl getragene Glaube in der Annahme, dass Gott die Geister und
Menschenseelen, die er schuf, mit einer der seinigen analogen Freiheit ausge-
stattet habe und dass dann durch deren Schuld das Böse in die gute Welt ge-
kommen sei^).
Diese Schuld finden die kii*chhchen Denker nicht eigentlich in der Neigung
zur Materie oder zum Sinnlichen : denn die Materie kann als von Gott geschaffen
an sich nicht böse sein*). Die Sünde der freien Geister besteht vielmehr in ihrer
1) Persönlich charaktcrisirt sich dabei Prokies durch eine merkwürdige, psychologisch
höchst intcresRante Mischung von logischem, bis zur Pedanterie getriebenem Formalismus und
überschwänglichcr, wundergläubigster Frömmigkeit : er ist gerade damit vielleicht der aus-
gesprochenste T^'pus dieser Zeit, welche ihre inbrünstige Religiosität in ein wissenschaftliches
System umzusetzen bemüht ist. — 2) Begrifflich wird das von Clemens Alex. (Strom. IV, 13,605)
so ausgedrückt, dass das Böse nur Handlung, nicht Substanz (oüaia) sei und deshalb nicht
als Gottes Werk betrachtet werden könne. — 8) Deshalb gerade mussto der metaphysische
§20. Gott und Welt. (Origenes.) 199
Empörung gegen den Willen Gottes, in ihrer Sehnsucht nach eigener, schranken-
loser Selbstbestimmung und erst secundär darin, dass sie ihre Liebe statt Gott
seinen Schöpfungen, der Welt, zugewendet haben. Inhaltlich waltet also auch hier
im Begriff des Bösen das negative Moment ') der Abkehr und des Abfalls von
Gott vor : aber der ganze Ernst des religiösen Bewusstseins macht sich darin
geltend, dass dieser Abfall nicht bloss als Abwesenheit des Guten, sondern als
ein positiver, verkehrter Willensact aufgefasst wird.
Zwar zieht sich hiernach der Dualismus von Gott und Welt und damit
derjenige von Geist und Materie auch tief in die christliche Weltanschauung
hinein. Gott und das ewige Leben des Geistes, die Welt und das vergängliche
Leben des Fleisches, — sie stehen sich auch hier schroff genug gegenüber. Ln
Widerspruch mit dem göttlichen Pneuma ist die Sinnenwelt von „hylischen"
Geistern^), bösen Dämonen erfüllt, die den Menschen in ihr gottfeindliches Treiben
verstricken, die Stimme der allgemein-natürlichen Offenbarung in ihm ersticken
und dadurch die besondere Offenbarung nothwendig machen : und ohne die Ab-
kehr von ihnen und von dem sinnlichen Wesen ist auch für die altchristliche Ethik
keine B.ettung der Seele möglich.
Allein seinem eigentlichen Wesen nach gilt doch dieser Dualismus hier
weder als nothwendig noch als ursprünglich : es ist nicht der Gegensatz zwischen
Gott und der Materie, sondern derjenige zwischen Gott und den gefallenen
Geistern, es ist der rein innerliche Antagonismus des unendlichen
und des endlichen Willens. In dieser Kichtung hat die christliche Philo-
sophie durch Origenes die metaphysische Vergeistigung und Verinner-
lichung der Sinnenwelt vollzogen. In ihr erscheint die Körperwelt ebenso von
geistigen Functionen durchsetzt und getragen, ja ebenso in geistige Functionen
aufgelöst wie bei Plotin ; aber das Wesentliche dieser Functionen sind hier die Ver-
hältnisse des Willens. Wie der Uebergang Gottes in die Welt nicht physische
Noth wendigkeit sondern ethische Freiheit ist, so ist die materielle Welt nicht
eine letzte Ausstrahlung von Geist und Seele, sondern eine Schöpfung Gottes zur
Strafe und zur Ueberwindung der Sünde.
Freilich hat Origenes in die Entwicklung dieser Gedanken ein dem Neu-
platonismus verwandtes Motiv aufgenommen , welches ihn mit der Vorstellungs-
weise der Gemeinde in Conflict brachte. So sehr er nämlich an dem Begriffe
der göttlichen Persönlichkeit und an dem der Schöpfung als freier That göttlicher
Güte festliielt, so war doch das wissenschaftliche Denken, welches die Handlung
im Wesen begründet sehen will, in ihm zu mächtig, als dass er diese Schöpfung
als einen einmaligen , zeitlichen , ursachlosen Act hätte ansehen können. Das
ewige , unveränderliche Wesen Gottes verlangt vielmehr, dass er von Ewigkeit
her bis in alle Ewigkeit Schöpfer ist, dass er niemals ohne Schöpfung sein kann,
dass er zeitlos schafft ^).
Aber diese Schöpfung des ewigen Willens ist deshalb auch nur eine solche,
welche sich auf das ewige Sein, auf die geistige Welt (otioia) bezieht. In dieser
Dualismus der Gnostiker, gleichviel ob er mehr orientalisch-mythologisches oder hellenistisch-
bcgrifÜichejs Gepräge trug, in der That priocipicll heterodox sein, wenn er auch in der ethi-
schen Consequenz zum grossen Theil mit der Kirchenlehre zusammentraf.
1) In diesem Sinne konnte auch Origenes (In Joh. II 7, 65) das BÖse xb oüx ov nennen,
2) Tatian, Orat. ad Graec. 4. — 8) Oi-ig. de princ. I, 2, 10. III, 4, 3.
200 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Relif^iöse Periode.
ewigen Weise zeugt Gott — so lehrt Origenes — den ewigen Sohn, den Logos
als den Inbegriff seiner Weltgedanken (lS^alS6d)v) und durch ihn das Reich der
freien Geister, welches, in sich begrenzt, als ewig lebendiges Kleid die Gott-
heit umgiebt. Diejenigen nun von den Geistern, welche in der Erkenntniss und
Liebe des Schöpfers verharren, bleiben in unveränderter Seligkeit bei ihm: die-
jenigen aber, welche müde und nachlässig werden und sich in Hochmuth und Auf-
geblasenheit von ihm abwenden , werden zur Strafe in die zu diesem Zwecke ge-
schaffene Materie geworfen. So entsteht die Sinnen weit, die also nichts Selb-
ständiges, sondern eine symbolische Veräusserlichung der geistigen Functionen
ist. Denn was in ihr als real gelten darf, das sind nicht die einzelnen Körper,
sondern vielmehr die geistigen Ideen, die in ihnen verknüpft und wechselnd an
ihnen vorhanden sind *).
So vereinigt sich bei Origenes der Piatonismus mit der Theorie des schöpfe-
rischen Willens. Die ewige Welt der Geister ist das ewige Erzeugniss des wandel-
losen göttlichen Willens. Das Princip der Zeitlichkeit aber und der Sinnlich-
keit (Y^satc) ist der w^echselnde Wille der Geister: um ihrer Sünde willen ent-
steht die Körperiichkeit, und mit ihrer Besserung und Reinigung wird sie wieder
verschwinden. Damit ist als der letzte und tiefste Sinn aller Wirklichkeit das
Wollen und das Verhältniss der Persönlichkeiten zu einander, ins-
besondere dasjenige der endlichen zu der unendlichen Persönlichkeit erkannt.
% 21. Das Problem der Weltgeschichte.
Mit diesem durch das Christenthum besiegelten Triumph der religiösen
Ethik über die kosmologische Metaphysik hängt nun das Auftauchen eines
weiteren Problems zusammen, welches sogleich eine Reihe bedeutsamer Lösungs-
versuche gefunden hat: des geschichtsphilosophischen.
1. Hierin tritt der griechischen Weltanschauung gegenüber etwas principiell
Neues zu Tage. Denn die Fragestellung der griechischen Wissenschaft war von
Anfang an auf die p<3t<;, auf das bleibende Wesen gerichtet (vgl. S. 56), und diese
aus dem Bedürfniss der Naturauffassung hervorgegangene Fragestellung hatte den
Fortgang der Begriffsbildungen so stark beeinflusst, dass der zeitliche Ablauf
des Geschehens immer nur als etwas Secundäres behandelt wurde^ das kein eigenes
1) Sehr ausführlich hat diese Idealisirung der Sinnenwelt der bedeutendste der orien-
talischen Kirchenväter, Gregor von Nyssa (331 — 394) nach ganz platonischem Muster be-
handelt. Seine Hauptschrift ist der Xo-fo? xatYiv-riTixo? ; Ausgabe der Werke von Morellus
(Paris 1675). Vgl. J. Rüpp, G. des Bischofs von N. Leben und Meinungen (Leipzig 1834). —
Eine höchst poetische Darstellung hat diese Umsetzung der Natur in seelische Bestimmungen bei
den Gnostikern, insbesondere bei dem geistreichsten derselben, Valentin, gefunden. In dessen
theogonisch-kosmogonischer Dichtung wird der Ursprung der Sinnen weit so geschildert: als der
niederste (weibliche) der Aeonen, die Weisheit (ootpta) in übereilter Sehnsucht sich in den Urgrund
hatte stürzen wollen und von dem Geiste des Masses (Spo^) wieder an ihren Platz zurückgeführt
worden war, da löste der höchste Gott von ihr das leidenschaftliche Sehnen (^cdd^g) als eine
niedere Weisheit (xaio) oo^pia), Achamoth genannt, ab und verbannte es in die «Leere" (vgl.
§20, 4). Diese niedere oo^^ia jedoch, zu ihrer Erlösung von 8po^ befruchtet, gebar den Demiurgen
und die Sinnenwelt. Desnalb aber spricht sich nun m allen Formen und Gestalten dieser Welt
jene heisse Sehnsucht der ao^pia aus; ihre Gefühle sind es, die das Wesen der Erscheinungen
ausmachen, ihr Drängen und Klagen zittert durch alles Leben der Natur. Aus ihren Thränen
sind Quellen, Ströme und Meere, aus ihrem Erstarren vor dem göttlichen Worte sind Felsen
und Berge, aus ihrer Erlösungshoffnung sind Licht und Aether geworden, die sich versöhnend
über die Erde spannen. Weiter ausgenihrt, mit den Klage- und Bussliedem der 9091a ist diese
Dichtung in der gnostischen Schrift Iliatit 0091a.
§ 21. Das Problem der Weltgeschichte. (Patriatik.) 201
metaphysisches Interesse auf sich zog. Dabei betrachtete die griechische Wissen-
schaft nicht nur den einzelnen Menschen y sondern auch das ganze Menschen-
geschlecht mit allen seinen Geschicken^ Thaten und Leiden doch schliesslich nur
als eine Episode y als eine Sondergestaltung des ewig in gleichen Gesetzen sich
wiederholenden Weltprocesses.
Das spricht sich mit schlichter Grossartigkeit in den kosmologischen An-
fangen des griechischen Denkens aus, und auch nachdem in der Philosophie die
anthropologische Richtung zur Herrschaft gelangt war, blieb doch als theore-
tischer Hintergrund für jeden Entwurf der Lebenskunst der Gedanke lebendig,
dass das Menschenleben , wie es aus dem immer gleichen Naturprocess hervor-
gequollen, so auch in denselben wieder einmünden solle (Stoa). Wohl wurde
nach einem letzten Zweck des Erdenlebens gefragt (Piaton) und auch wohl die
gesetzmässige Reihenfolge der Gestaltungen des politischen Lebens untersucht
(Aristoteles): aber die Frage nach einem Gesammtsinn der Menschen-
geschichte, nach einem planvollen Zusammenhange der historischen Ent-
wicklung war niemals aufgeworfen worden, und noch weniger war es einem dei*
alten Denker eingefallen, darin das eigentliche Wesen der Welt zu sehen.
Am charakteristischsten aber verfahrt gerade in dieser Hinsicht der Neu-
platonismus. Auch seine Metaphysik folgt ja dem religiösen Leitmotive; aber er
wendet dasselbe echt hellenisch; wenn er den Hervorgang des Unvollkommenen aus
dem Vollkonmienen als einen ewigen, naturnothwendigenProcess betrachtet, in dem
auch das menschliche Einzelwesen seine Stelle findet und sich darauf angewiesen
sieht, für sich allein durch Rückkehr zum Unendlichen sein Heil zu suchen.
2. Das Christen th um aber fand von vornherein das Wesen des ganzen
Weltgetriebes in den Erlebnissen der Persönlichkeiten: ihm war die
äussere Natur nur ein Schauplatz, auf dem sich das Verhältniss von Person zu
Person und vor allem dasjenige des endlichen Geistes zur Gottheit entwickelte.
Und dazu trat als weiterhin bestimmende Macht das Princip der Liebe^ das Be-
wusstsein von der Solidarität des Menschengeschlechtes, die tiefe Ueberzeugung
von der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Glaube an eine gemeinsame Erlösung.
Dies alles führte dazu, dass die Geschichte des Sündenfalls und der Erlösung als
der wahre metaphysische Inhalt der Weltwirklichkeit betrachtet wurde, und dass
statt eines ewigen Naturprocesses das Drama der Weltgeschichte als eines
zeitlichen Ablaufe freier Willensthätigkeiten zum Inhalt der christlichen Meta-
physik wurde.
Es giebt vielleicht keinen besseren Beweis für die Gewaltigkeit des Ein-
drucks, den die Persönlichkeit Jesu von Nazareth hinterlassen hatte, als die
Thatsache, dass alle Lehren des Christenthums, so weit sie sonst philosophisch
oder mythisch aus einander gehen mögen, doch darin einig sind, in ihm und seinem
Erscheinen den Mittelpunkt der Weltgeschichte zu suchen. Durch ihn
wird der Kampf zwischen Gutem und Bösem , zwischen Licht und Finsterniss
entschieden.
Dies Siegesbewusstsein , mit dem das Christenthum an seinen Heiland
glaubte, hatte aber noch eine andere Seite : zu dem Bösen, das durch ihn über-
wunden war, gehörten nicht zum mindesten auch die anderen Religionen. Denn
die christliche Vorstellung jener Tage war weit davon entfernt, die Realität der
heidnischen Götter zu leugnen; sie sah vielmehr in ihnen böse Dämonen, gefallene
202 n. Hellenistisch-römische Philosophie. 2. Relij^öee Periode.
Geister, welche den Menschen, um ihn an der Heimkehr zu dem wahren Gotte
zu hindern, verführt und zu ihrer Verehrung überredet haben ').
Dadurch gewinnt der Kampf der Religionen, der sich in der alexan-
dtinischen Periode abspielte, in den Augen der christlichen Denker selbst meta-
physische Bedeutung: die Mächte, deren Ringen die Weltgeschichte bildet, sind
die Götter der verschiedenen Religionen, und die Geschichte dieses Kampfes ist
die innere Bedeutung aller Wirklichkeit. Und indem jeder einzelne Mensch mit
seiner sittlichen Lebensarbeit in diesen grossen Zusammenhang verflochten ist,
hebt sich die Bedeutung der Individualität weit über das Sinnenleben hinaus in
die Sphäre metaphysischer Realität.
3. Diesen Zusammenhängen gemäss erscheint dann bei fast allen christlichen
Denkern die Weltgeschichte als ein einmaliger Ablauf innerer Begebenheiten,
welche die Entstehung und das Schicksal der Sinnen weit nach sich ziehen: es ist im
Wesentlichen nur Origenes, der an dem Grundcharakter der griechischen Wissen-
schaft (vgl. Tbl. I Kap. 1, S. 20) insofern festhielt, als er die Ewigkeit des Welt-
processes lehrte : dieser fand zwischen beiden Motiven den Ausweg, dass er aus
der ewigen Geisterwelt, die er als unmittelbare Schöpfung Gottes ansah, eine
Succession zeitlicher Welten hervorgehen liess, die je mit dem Abfall und Sturz
einer Anzahl freier Geister ihren Anfang nehmen und mit deren Erlösung und
Restitution (a7roxaTdoTaat(;) ihr Ende finden sollten *).
Der Grundzug des christlichen Denkens dagegen geht darauf, das welt-
geschichtliche Drama von Sündenfall und Erlösung als einen einmaligen Zusammen-
hang von Begebenheiten zu schildern, die mit einer freien Entscheidung niederer
Geister zur Sünde beginnt und iliren Wendepunkt in der erlösenden Offenbarung,
dem Entschluss göttlicher Freiheit, hat. Die Geschichte wird — den natura-
listischen Auffassungen des Griechenthums gegenüber — als das Reich ein-
maliger freier Handlungen der Persönlichkeiten erfasst, und der
Charakter dieser Handlungen ist d^m gesammten Zeitbewusstsein gemäss von
wesentlich religiöser Bedeutung.
4. Höchst interessant ist es nun, wie in den mythisch-metaphysischen Dich
tungen der Gnostiker sich das cigenthümliche Verhältniss des Christenthuros
zum Juden thum im kosmogonischen Gewände zum Ausdruck bringt. In den
gnostischen Kreisen überwiegt die sog. heidenchristliche Tendenz , welche die
neue Religion mögUchst scharf gegen das Judenthum abgrenzen will, und diese
Tendenz wächst gerade durch die hellenistische Philosophie bis zu offenster
Feindschaft gegen das Judenthum an.
Die mythologische Form dafür ist die, dass der Gott des alten Testaments,
der das mosaische Gesetz gegeben , als der Bildner der Sinnenwelt — meist
unter dem platonischen Namen des Demiurgen — betrachtet wird und in der
Hierarchie der kosmischen Gestalten (Aeonen) wie in der Geschichte des Uni-
versums denjenigen Platz angewiesen erhält, der ihm nach dieser Function
gebührt.
Anfänglich ist dies Verhältniss noch nicht dasjenige ausgesprochenen
Gegensatzes. Schon ein gewisser Kerinthos (um 115) unterschied von dem
1) So selbst Origenes, vgl. cont. Geis. III, 28. — 2) Orig. de princ. III, 1, 3. Diese
Welten sollen, der Freiheit halber, aus der sie hervorgehen, durchaus nicht einander gleich,
sondern von mannigfaltigster Verschiedenheit sein: ibid. II, 3, 3 f.
§ 21. Das Problem der Weltgeschichte, (önostiker.) 203
obersten Gotte , der durch keine Berührung mit der Materie befleckt werden
sollte, den Judengott als Demiurgen ') und lehrte , dass dem von diesem ge-
gebenen „Gesetz" gegenüber Jesus die Offenbarung des höchsten Gottes gebracht
habe. Ebenso erscheint der Judengott bei Saturninus als das Haupt der
sieben Planetengeister, welche, als niedrigste Emanation des Geisterreiches, in
dem Gelüst nach Selbstherrschaft ein Stück der Materie an sich reissen, um
daraus die Sinnenwelt zu bilden und als Wächter derselben den Menschen ein-
zusetzen: in dem Kampfe aber, der sich daraus entspinnt, da Satanas, um jenes
Stück seines Keichs zurückzuerobern, dem Menschen seine Dämonen und das
niedere, „hylische" Geschlecht der Menschen entgegenschickt, in diesem Kampfe
erweisen sich die Propheten des Demiurgen als machtlos, bis der höchste Gott
den Aeon voöc als Heiland sendet, damit er die pneumatischen Menschen und
zugleich auch den Demiurgen und seine Geister aus der Macht des Satans befreie.
Dieselbe Erlösung auch des Judengottes lehrt Basileides, der ihn unter dem
Namen des „grossen Archon" als Ausfluss des göttlichen Weltsamens, als
Haupt der Sinnenwelt einführt und ihn durch die Heilsbotschaft des höchsten
Gottes in Jesus erschüttert und zur Reue wegen seiner Ueberhebung geführt
werden lässt.
In ähnlicher Weise gehört der Gott des alten Testaments bei Kar po-
krates zu den gefallenen Engeln, welche, mit der Weltbildung beauftragt, sie
nach eigener Willkür vollziehen und gesonderte Reiche gründen, in denen sie von
den untergeordneten Geisteni und den Menschen sich selbst verehren lassen :
während aber diese besonderen Religionen sich gegenseitig befehden wie ihre
Götter, hat die höchste Gottheit in Jesus, wie schon vorher in den grossen Er-
ziehern der Menschheit, einem Pythagoras und Piaton, die Eine, wahre, universale
Religion, die ihn zum Gegenstande hat, offenbart.
In entschiedener Polemik gegen das Judenthum hatte ferner der Syrer
Kordon den Gott des alten Testaments von dem des neuen unterschieden: der
durch Moses und die Propheten Verkündete sei als der zweckthätige Weltbildner
und als der Gott der Gerechtigkeit auch der natürlichen Erkenntniss zugänglich
(— der stoische Begriff — ); der durch Jesus Offenbarte sei der unerkennbßxe,
der gute Gott (— - der philonische Begriff). In scharfer Zuspitzung werden
dieselben Bestimmungen bei'Marcion (um 150*) dazu verwendet, um das christ-
liche, stark asketisch aufgefasste Leben als einen Kampf gegen den Demiurgen
und für den höchsten, durch Jesus offenbarten Gott zu betrachten % und sein
Schüler Apelles behandelt den Judengott gar als den Lucifer, der in die Sinnen-
welt, welche von dem guten „Demiurgen", dem obersten Engel, gebildet worden
ist, die fleischUche Sünde gebracht habe, sodass auf die Bitte des Demiurgen der
höchste Gott ihm den Erlöser entgegensendete.
1) Eine Unterscheidung, die, ofTeubar unter gnostischen Einflüssen, auch Numenios auf-
nahm : vgl Euseb. praep. ev. XI, 18. — 2) Vgl. Volkm ar, Pbilosophoumena und Marcion (Theol.
Jahrb. Tübingen 1854). Ders., Das Evangelium Marcion's (Leipz. 1852). — 8) Eine äusserst
pikante mythologische Wendung dieses Gedankens findet sich in der Sekte der Ophiten,
welche die hebräische Erzählung des Sündenfalls dahin umdeuten, dass die Schlange, die im
Paradies den Menschen vom Baum der Erkenntniss essen lehrte, den Anfang machte, um dem
unter die Herrschaft des Demiurgen gefallenen Menschen die Offenbarung des wahren Gottes
zu bringen, die dann, nachdem der Mensch deshalb den Zorn des Demiurgen erfahren, in
Jesus siegreich erschienen sei. Denn diese Erkenntniss, welche die Schlange lehren wollte,
sei das wahre Heil des Menschen.
204 H. HellenlBtisch-römiscbe Philosophie. 2. Religiöse Periode.
5. Dem gegenüber wird nicht nur von den dem Clemens Romanus zu-
geschriebenen Recognitionen (entstanden etwa 160 n. Chr. '), sondern in der
gesammten orthodoxen Entwicklung der christlichen Lehre daran festgehalten,
dass der höchste Gott und der Weltschöpfer; dass der Oott des neuen und der
des alten Testaments derselbe sei, dafär aber eine planvolle erzieherische
Entwicklung seiner Offenbarung angenommen und in dieser die Heils-
geschichtC; d. h. die innere Geschichte der Welt gesucht. Nach den Anregungen
der paulinischen Briefe ') liaben diesen Standpunkt Justinus und vor Allem Ire-
naeus eingenommen: erst in dieser geschieh tsphilosophischeu Ausgestaltung vol-
lendet sich ihre Theorie der Offenbarung (vgl, § 18).
Denn die einerseits in der jüdischen Prophetie andererseits in der helleni-
schen Philosophie auftauchenden Antecipationen der christlichen Offenbarung
gelten ihnen unter diesem Gesichtspunkte als pädagogischeVorbereitungen
für die letztere. Und da nun die Erlösung des sündigen Menschen nach chiist-
lieber Anschauung den einzigen Sinn und Werthinhalt der Weltgeschichte tind
damit der gesammten aussergöttlichen Wirklichkeit ausmacht, so erscheint die
planvolle Reihenfolge der Offenbarungsthaten Gottes als das Wesent-
liche in dem ganzen Ablaufe der Weltbegebenheiten.
Dabei werden, der Lehre von der Offenbarung gemäss, in der Hauptsache
drei Stufen dieser göttlichen Heiiswirksamkeit unterschieden •) : theoretisch
die allgemein-menschliche, welche objectiv durch die Zweckmässigkeit der Na-
tur, subjectiv durch die vernünftige Anlage des Geistes gegeben ist, zweitens die
besondere, dem hebräischen Volke zu Theil gewordene Vorbereitung durch das
mosaische Gesetz und die Verheissungen der Propheten, drittens die volle Offen-
barung durch Jesus, — zeitlich die Perioden von Adam bis Moses, von Moses
bis Christus, von Christus bis zum Weltende *). Diese Dreitheilung lag dem alten
Christenthum um so näher, je stärker in demselben der Glaube lebte, dass die
mit dem Erscheinen des Heilandes begonnene Schlussperiode der Welterlösung
in kürzester Zeit beendet sein würde. Die eschatologischen Hoffnungen sind
ein wesentlicher Bestandtheil der altchristlichen Metaphysik: denn die Geschichts-
philosophie, welche Jesus zum Wendepunkt der Weltgeschichte machte, beruhte
nicht zum wenigsten auf der Erwartung, dass der Gekreuzigte wiederkehren würde,
um die Welt zu richten und den Sieg des Lichtes über die Pinsterniss zu voll-
enden. So verscliieden sich diese Vorstellungen mit der Zeit und mit der Ent-
täuschung der ersten Hoffnungen gestalteten, so sehr sich auch hierin die Rich-
tungen des Dualismus und des Monismus geltend machten, indem das Weltgericht
entweder als definitive Trennung des Guten und des Bösen oder als volle Ueber-
windung des letzteren durch das erstere (aitoxatdataoK; icdvTwv bei Origenes) auf-
gefasst wurde, und so vielfach auch hierin materiellere und geistigere Ansicht
von Seligkeit und Unseligkeit, von Himmel und Hölle durch einander schillern,
1) Hrsg. von Gbbsdorf, Leipzig 1838. Vgl. A. HaoBNFELD, Die clementinischen Re
Cognitionen und Homilicn. (Jena 1848). G. Uhlhorn, Die Homilien und Recognitionen des
Cl. R. (Göttinnen 1854). — 2) Welche das „Gesetz** als den „Zuchtmeister** auf Christum
(Kai^aftu-^b^ tl<; yi^piaxov) behandeln: Gal. 3, 24. — 8) Zum Theil geschah das schon von den
Gnostikem, wenigstens nach Hippolyt von Basilides. — 4) Die spätere (häretische) Ent-
wicklung der Eschatologie fügte diesen drei Perioden noch die vierte durch das Erscheinen
des „Paraklcten** hinzu; vgl. z. B. TertuUian, de virg. vel. 1, p. 884 0.
§ 21. Das Problem der Weltgeschichte. (Patristik.) 205
— immer bildet doch das Weltgericht den Abschluss des Erlösungswerkes und
damit das Endglied des göttlichen Heilsplanes.
6. So sind es zwar ausschliesslich religiöse Gesichtspunkte, unter denen die
Weltgeschichte von den christlichen Denkern betrachtet wird ; aber es kommt in
ihnen das allgemeinere Princip einer historischen Tele ologie zum Durch-
bruch. Wenn die griechische Philosophie sich in die Betrachtung der Zweck-
mässigkeit der Natur mit einer Energie vertieft hatte; welche das religiöse Denken
nicht überbieten konnte^ so geht hier der völlig neue Gedanke auf; dass auch der
zeitliche Ablauf der Begebenheiten des Menschenlebens einen zweckvollen Ge-
sammtsinn habe, lieber der Teleologie der Natur erhebt sich diejenige der Ge-
schichte; und diese erscheint als das Werthvollere, in dessen Dienst jene tritt *).
Eine solche Conception war nur möglich für eine Zeit; welche von einem
reifen Resultat her auf die lebendige Erinnerung an eine grosse weltgeschicht-
liche Entwickelung zurücksah. Der Weltcultur des Bömerreichs dämmerte in
dem Selbstbewusstsein ihrer Yerinnerlichung die Ahnung eines zweckvollen In-
einandergreifens der Yölkergeschicke auf; durch welche sie selbst zu Stande ge-
kommen war; und die Vorstellung dieses gewaltigen Processes ergab sich vor Allem
durch die ein Jahrtausend umspannende continuirliche Tradition der griechi-
schen Litteratur. Die religiöse Weltanschauung; die sich aus dieser antiken
Gesammtcultur entwickelt hattC; gab jenem Gedanken die Form, dass der Sinn
der historischen Bewegung in den Veranstaltungen Gottes zum Heile des Men-
schen zu suchen sei, und da die alten Culturvölker selbst die Zeit ihres Wirkens
erfüllt fühlten , so ist es begreiflich , dass sie das Ende der Geschichte unmittel-
bar vor sich da zu sehen glaubten, wo die Sonne ihres Tages sich senkte.
Hand in Hand aber mit dieser Idee einer planvollen Einheit der mensch-
Uchen Geschichte geht deshalb auch der Gedanke einer über Baum und Zeit er-
habnen Einheitlichkeit des Menschengeschlechtes. Das die nationalen
Schranken durchbrechende Bewusstsein der gemeinsamen Cultur vollendet sich
in dem Glauben an eine gemeinsame Offenbarung imd Erlösung aller Menschen.
Indem das Heil des ganzen Geschlechts zum Inhalt des göttlichen Weltplans
gemacht wird, erscheint unter den Veranstaltungen des letzteren als die vor-
nehmste jene Lebensgemeinschaft (IxTcXiQda); zu der alle Glieder des Geschlechts
durch die gläubige Theilnahme an demselben Erlösungswerke berufen sind. In
diesem Zusammenhange mit der reUgiösen Geschichtsphilosophie steht der aus
dem Leben der christlichen Gemeinden heraus gebildete Begriff der Kirche,
unter dessen constitutiven Merkmalen somit die Allgemeinheit (Katholicität) eines
der wichtigsten ist.
7. Auf diese Weise wird nun aber der Mensch und sein Geschick zum
Mittelpunkte des Universums. Dieser anthropocentrische Charakter unter-
scheidet die christliche Weltansicht wesentlich von der neuplatonischen. Wohl
wies auch diese dem menschlichen Individuum, dessen seelisch-geistiges Wesen
sie ja der Vergottung fähig hielt, eine hohe metaphysische Stellung an, wohl be-
achtete sie die zweckvollen Zusammenhänge der Natur auch unter dem (stoischen)
Gesichtspunkte ihrer Zuträglichkeit für den Menschen, — aber niemals würde
der Neuplatonismus sich dazu verstanden haben, den Menschen, der ihm als eine
1) Vgl. Irenaeus, Ref. IV, 38, 4. p. 702 f. St.
206 II» Hellenistiach-röraische Philosophie. 2. Religiöse Periode.
Theilerscbeinung der göttlichen Wirksamkeit, galt, fiir den Zweck des Ganzen zu
erklären.
Gerade dies aber ist in der Patristik der Fall. Nach Irenaeus*) ist der
Mensch Ziel und Zweck der Schöpfung : er als erkennendes Wesen ist es, dem
Gott sich offenbaren wollte, und um seinetwillen ist das Uebrige, ist die ganze
Natur geschaffen; er ist es auch, der durch den Missbrauch der ihm verliehenen
Freiheit die weitere Offenbarung und die Erlösung nöthig gemacht hat, um
dessen willen darum auch die ganze Geschichte da ist. Der Mensch ist, wie
Gregor von Nyssa^) lehrt, als höchste Entfaltung des Seelenlebens die Krone der
Schöpfung, ihr Herrscher und König: sie ist bestimmt, von ihm augeschaut und
in ihre ursprüngliche Geistigkeit zurückgenommen zu werden. Aber auch bei
Origenes sind gerade die Menschen jene gefallenen Geister, die zur Strafe und
Besserung mit der Sinnenwelt bekleidet werden: nur um ihrer Sünde willen
besteht die Natur, und sie hört wieder auf, wenn der historische Process durch
die Rückkehr aller Geister zum Guten sein Ende erreicht hat.
So hat der Anthropologismus, der zunächst nur als eine Verschiebung
des Interesses, als eine Veränderung der Problemstellung in die griechische
Wissenschaft eindrang, während der hellenistisch-römischen Zeit sich mehr und
mehr auch zum sachlichen Princip der Weltbetrachtung entwickelt und zuletzt
im Bunde mit dem rehgiösen Bedürfniss von der Metaphysik Besitz ergriffen.
Das Menschengeschlecht hat das Bewusstsein der Einheit seines historischen
Zusammenhanges gewonnen und betrachtet seine Heilsgeschichte als das
Mass aller endlichen Dinge. Was in Baum und Zeit entsteht und vergeht,
hat seine wahre Bedeutung nur insofern, als es in die Beziehung des Menschen
zu seinem Gotte aufgenommen ist.
Um Sein und Werden fragt die alte Philosophie an ihrem Anfange: ihre
Schlussbegriffe sind Gott und das Menschengeschlecht.
1) Ref. V, 29, 1. p. 767 St. — 2) Conf. I, 50--60. Mor.
207
m. Theü.
Die mittelalterliche Philosophie.
RoDSSELOT, £tude8 sur la philosophie du moyen age. Paris 1840 — 42.
£. Haureau, De la philosophie scolastique. Paris 1850.
— Histoire de la philosophie scolastique. Paris 1872 — 80.
A. Stöckl, Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Mainz 1864 — 66.
Als die Völkerwanderung verheerend über das römische Reich hereinbrac
und diesem die politische Kraft fehlte^ um sich der nordischen Barbaren zu er-
wehren, da gerieth auch die wissenschaftliche Kultur in die Gefahr, vollkommen
zertreten zu werden: denn für das fein ausgearbeitete BegrifTsgefügeder Philosophie
brachten die Stämme, auf welche nun das Scepter überging, noch weniger Sinn
und Yerständniss mit, als fiir die lichten Gestalten der griechischen Kunst. Und
dabei war die antike Civilisation so in sich zersetzt und ihre Lebenskraft so ge-
brochen, dass sie unfähig schien, die rauhen Sieger in ihre Schule zu nehmen.
So wären die Errungenschaften des griechischen Geistes rettungslos dem
Untergange preisgegeben gewesen, wenn nicht mitten in dem Zusammenbruch
der alten Welt eine neue geistige Macht erstarkt wäre, der die Söhne des Nordens
sich beugten und die mit fester Hand die Güter der Kultur über die Jahrhunderte
des Umsturzes in die Zukunft hinüberzuretten wusste. Diese Macht war die
christliche Kirche. Was der Staat, was Kunst und Wissenschaft nicht ver-
mochte, das vollbrachte die Rehgion. Unzugätiglich noch für die feinen Wirkungen
aesthetischer Anschauung und begrifflicher Arbeit, wurden die Germanen in
ihrem tiefsten Gefühl durch die Predigt des Evangeliums ergriffen, das mit der
ganzen Gewalt seiner grossartigen Einfachheit auf sie wirkte.
Nur von diesem Punkte der religiösen Erregung aus konnte deshalb der
Process der Aneignung der antiken Wissenschaft durch die Völker des heutigen
Europa beginnen, nur an der Hand der Kirche konnte die neue Welt in die
Schule der alten gehen. Die natürliche Folge aber dieses Verhältnisses war die,
dass von dem geistigen Inhalte der antiken Kultur zunächst nur dasjenige lebendig
blieb, was in die Lehre der christlichen Kirche aufgenommen war, und dass die
lehrende Macht alles Uebrige und besonders das ihr Widerstrebende mit aller
Rücksichtslosigkeit ausschloss. Damit wurde freilich der Verwirrung in dem
jugendlichen Gemüth der Völker, das noch nicht viel und vielerlei zu fassen und
zu verarbeiten vermocht hätte, weislich vorgebeugt: aber damit versanken auch
ganze Welten des geistigen Lebens in die Tiefe, aus der sie erst spät unter Mühe
und Kampf wieder hervorgezogen werden mussten.
Der grossen Aufgabe, die Erzieherin der europäischen Völker zu werden,
war aber die Kirche in erster Linie deshalb gewachsen, weil sie aus den unschein-
208 in. Mittelalterliche Philosophie.
baren Anfangen einer religiösen Genossenschaft sich mit mächtiger Stetigkeit zu
einer einheitlichen Organisation entwickelt hatte, welche in der Auflösung des
politischen Lebens die einzige feste und ihrer selbst sichre Gewalt dai-stellte.
Und da diese Organisation von dem Gedanken getragen war, dass die Kirche
dazu berufen sei, der ganzen Menschheit das Heil der Erlösung zu vermitteln, so
war die reUgiöse Erziehung der Barbaren eine durch ihr eignes Wesen ihr vor-
geschriebene Aufgabe. Um so mehr aber vermochte sie dieselbe in die Hand
zu nehmen, als sie auch innerlich mit derselben Sicherheit zwischen zahlreichen
Abwegen hindurch zu dem Ziele einer einheitlichen, in sich gesclüossenen Lehre
gelangt war. Dazu aber kam noch als besonders günstiger Umstand, dass ihr
an der Schwelle des neuen Weltalters die Gesammtheit ihrer Ueberzeugungen
als ein durchgebildetes wissenschaftliches System von einem Geiste ersten Kanges
dargeboten wurde, — von Augustin.
Dieser ist der währe Lehrer des Mittelalters gewesen. In seiner Philosophie
laufen nicht nur die Fäden des christhchen und des neuplatonischen Denkens,
die Ideen des Origenes und des Plotin zusammen, sondern er hat auch mit
schöpferischer Energie die ganzen Gedanken seinerzeit um das Heilsbedürfniss und
seine Erfüllung durch die kirchhche Gemeinschaft concentrirt: seine Lehre ist
die Philosophie der christlichen Kirche. Damit war in straffer Einheit-
Hchkeit das System gegeben, welches der wissenschaftlichen Bildung der euro-
päischen Völker zu Grunde gelegt wurde, und in dieser Form traten die roma-
nischen und die germanischen Völker die Erbschaft der Griechen an.
Deshalb aber hat das Mittelalter den Weg, welchen die Griechen in ihrer
innerenBeziehungzur Wissenschaft durchgemacht hatten, umgekehrt zurückgelegt.
Im Alterthum war die Wissenschaft aus reiner, aesthetischer Freude am Erkennen
selbst entsprungen und war erst mit allmählicher Wandlung in den Dienst
des praktischen Bedürfnisses, der sittlichen Aufgaben, der rehgiösen Sehnsucht
getreten. Das Mittelalter beginnt mit der vollbewussten Unterordnung des Er-
kennens unter die grossen Zwecke des Glaubens, es sieht in der Wissenschaft
zuerst nur die Arbeit des Intellects, sich dasjenige klar zu machen und begrifflich
auszusprechen, was es in GeftLhl und Ueberzeugung sicher und unanfechtbar be-
sitzt: aber mitten in dieser Arbeit erwacht, zuerst schüchtern und unsicher,
dann immer kräftiger und selbstgewisser von Neuem die Freude am Erkennen
selbst, sie entfaltet sich zunächst' schülerhaft auf Gebieten, welche dem unantast-
baren Vorstellungskreise des Glaubens ferner zu liegen scheinen, und sie bricht
am Ende siegreich wieder durch, indem die Wissenschaft sich gegen den Glauben,
die Philosophie sich gegen die Theologie abzugrenzen und bewusst zu verselb-
ständigen beginnt.
Die Erziehung der europäischen Völker, welche die Geschichte der
Philosophie des Mittelalters darsteUt, hat also zum Ausgangspunkte die Elirchen-
lelu*e und zum Zielpunkte die Entwicklung des wissenschaftUchen Geistes: die
intellectuelle Kultur des Alterthums wird den modernen Völkern in ihrer rehgiösen
Endform zugeführt und bildet in ihnen allmählich die Reife zu eigner wissenschaft-
licher That heran.
Unter solchen Verhältnissen ist es begreiflich, dass die Geschichte dieser
Erziehung weit mehr psychologisches und culturhistorisches Interesse erweckt,
als sie neue und selbständige Früchte philosophischer Einsicht darbietet. Wohl
m. Mittelalterliche Philosophie. 209
macht sich in der Aneignung des dargereichten Stoffes die Eigenart des Schülers
hie und da geltend ; wohl finden deshalb die Probleme und Begriffe der alten
Philosophie bei dieser Aufnahme in den Geist der neuen Völker mancherlei
feine Umgestaltungen^ und in der Ausschmiedung der neuen (lateinischen) Ter-
minologie wetteifern im Mittelalter oft Scharfsinn und Tiefsinn mit Pedanterie
und Geschmacklosigkeit: aber in den philosophischen Grundgedanken bleibt die
mittelalterliche Philosophie, nicht nur was die Probleme, sondern auch was die
Lösungen anlangt, in dem Begriffssystem der griechischen und der hellenistisch-
römischen Philosophie eingeschlossen. So gross der Werth ihrer Arbeiten
für die intellectuelle Erziehung der europäischen Völker angeschlagen werden
muss , so bleiben doch auch ihre höchsten Erzeugnisse in letzter Instanz eben
glänzende Schülerleistungen, in denen sich nur dem Auge feinster Einzelforschung
die leise keimenden Anfange eines neuen Denkens entdecken, die aber im Ganzen
und Grossen sich als Aneignung der Gedankenwelt des ausgehenden Alterthums
erweisen. Die mittelalterliche Philosophie ist ihrem ganzen Geiste nach ledig-
lich die Fortsetzung der hellenistisch-römischen, und der Unterschied zwischen
beiden ist wesentUch der, dass, was in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit-
rechnung im ringenden Werden war, für das Mittelalter als ein in der Hauptsache
Fertiges und Abgeschlossenes gegeben ist und gilt.
Ein volles Jahrtausend hat diese Schulzeit der heutigen Menschheit gedauert,
und wie in planvoll pädagogischer Stufenfolge schreitet darin die Erziehung zur
Wissenschaft durch die successive Zufuhr des antiken Bildungsstoffes
vorwärts. Aus den Gegensätzen, die in diesem zu Tage treten, erwachsen die
philosophischen Probleme, und aus der Ausspinnung der aufgenommenen Begriffe
gestalten sich die wissenschaftlichen Weltanschauungen des Mittelalters.
Ein ursprünglicher Zwiespalt besteht in dieser Ueberlieferung zwischen der
durch Augustin vertretenen Kirchenlehre und dem Neuplatonismus, — ein Zwie-
spalt, der freilich nicht an allen Stellen gleich tief ging, da Augustin in sehr
wesentUchen Punkten unter der Herrschaft des Neuplatonismus geblieben war,
aber doch ein Gegensatz in Bezug auf die fundamentale Bestimmung des Ver-
hältnisses der Philosophie zum Glauben. Der Augustinismus concentrirt sich um
den Begriff der Kirche; für ihn ist die Aufgabe der Philosophie in der Haupt-
sache darauf gerichtet, die Kirchenlehre als wissenschaftliches System darzustellen,
zu begründen und auszubilden: insofern als sie diese Aufgabe verfolgt, ist die
mittelalterliche Philosophie die kirchliche Schulwissenschaft, die Scholastik.
Die neuplatonische Tendenz dagegen läuft darauf hinaus, das Individuum durch
die Erkenntniss hindurch zur seligen Lebenseinheit mit der Gottheit zu führen:
insofern die Wissenschaft des Mittelalters sich diesen Zweck selbst setzt, ist sie
Mystik.
Scholastik und Mystik ergänzen sich hiemach, ohne sich gegenseitig aus-
zuschUessen: so gut wie das mystische Schauen ein Lehrstück des scholastischen
Systems werden kann, so gut vermag auch die mystische Verkündigung das Lehr-
gebäude der Scholastiker als ihren Hintergrund vorauszusetzen. Darum ist zwar
durch das ganze Mittelalter hindurch die Mystik mehr in Gefahr, heterodox zu
werden, als die Scholastik; aber es wäre falsch, wenn man hierin ein wesentliches
Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden sehen wollte. Allerdings ist die Scho-
lastik in der Hauptsache durchaus rechtgläubig; aber nicht nur hinsichtlich der
Windelband, Geschichte der Philosophie. |4
2 1 0 TIT. Mittelalt^^rliche Philosophie.
Behandlung noch im Werden begriflfener Dogmen sind die Ansichten der Scho-
lastiker weit auseinander gegangen^ sondern auch in der wissenschaftlichen Unter-
suchung der gegebenen Lehren sind viele von ihnen zu völlig heterodoxen An-
sichten fortgeschritten, deren Aussprache sie in mehr oder minder schwere,
äussere und innere Confiicte gebracht hat. Was aber die Mystik anlangt, so hat
zwar die neuplatonische Tradition vielfach den theoretischen Hintergrund der
geheimen oder offenen Opposition gegen die kirchliche Monopolisirung des reli-
giösen Lebens') gebildet; aber wir begegnen andrerseits begeisterten Mystikern,
welche sich berufen fühlen, den rechten Glauben gegen die Ausschreitungen der
scholastischen Wissenschaft in Schutz zu nehmen.
Es erscheint somit nicht angemessen, der mittelalterlichen Philosophie den
Gesammtnamen der „Scholastik" zu geben: vielmehr dürfte sich bei genauer Ab-
wägung ergeben, dass an der Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Tradition,
wie an der langsamen Anpassung und Umbildung der für die Folgezeit wirksamen
philosophischen Lehren ein mindestens ebenso grosser Antheil der Mystik ge-
bührt wie der Scholastik, und dass andrerseits eine scharfe Sonderung beider
Strömungen hinsichtlich einer grossen Anzahl gerade hervorragender philo-
sophirender Persönlichkeiten d^s Mittelalters nicht angängig ist.
Es kommt endlich hinzu, dass auch die Zusammenstellung von Scholastik
und Mystik die Characteristik der mittelalterlichen Philosophie noch keineswegs
erschöpft. Wenn vielmehr das Wesen dieser beiden Richtungen durch ihr Ver-
hältniss zu den religiösen Voraussetzungen des Denkens — hier der kirchlich
fixirten Lehre, dort der persönlichen Frömmigkeit — bestimmt ist, so geht neben
denselben, namentlich in den späteren tiahrhunderten des Mittelalters, aber doch
auch schon früher bemerkbar, eine sozusagen weltliche Nebenströmung einher,
welche der sich neu constituirenden Wissenschaft die reichen Ergebnisse griechi-
scher und römischer Welterfahrung in steigendem Masse zuftihrt. Dabei waltet
anfangs noch das Bestreben ob, auch dies weite Kenntnissmaterial und die das-
selbe beherrschenden BegriflFsformen wenigstens dem scholastischen Lehrgebäude
organisch einzufiigen: aber je mehr dieser Theil des Gedankenkreises zu selb-
ständiger Bedeutung auswächst, um so mehr verschieben sich die ganzen Linien
der wissenschaftlichen Weltbetrachtung, und während die gedankliche Vermitt-
lung des rehgiösen Gefühls in sich vereinsamt, beginnt die philosophische Er-
kenntniss sich von Neuem das Gebiet rein theoretischer Forschung abzustecken.
Aus dieser Mannigfaltigkeit vielfach in einander verflochtener Fäden der
Tradition, mit der sich die antike Wissenschaft in das Mittelalter fortspinnt, be-
greift sich die farbenreiche Lebendigkeit, in welcher sich die Philosophie dieses
Jahrtausends vor der historischen Forschung ausbreitet. In dem bunten Wechsel
freundlicher und feindlicher Berührung schieben sich diese Elemente einer von
Jahrhundert zu Jahrhundert an Umfang und Inhalt wachsenden Ueberlieferung
zu immer neuen Bildern durch einander, es entwickelt sich eine überrraschende
Feinheit der Uebergänge und Abschattirungcn in der Verschmelzung dieser Ele-
mente und damit eine reiche Lcbensfülle der Gedankenarbeit, die sich in einer
• statthchen Zahl interessanter Persönlichkeiten, in einem erstaunlichen Umfang
1) Vpfl. H. Keütrr, Geschichte der relipriösen Aufklärunpr im Mittelalter, 2 Bde. Berlin
1875 — 77. Yfr]. auch H. v. Eickkn, Geschichte der mittelalterlichen Weltanschauung. Stutt-
gart 1888.
III. Mittelalterliche Philosophie. 211
der schriftstellerischen Production, in einer leidenschaftlichen Bewegtheit der
wissenschaftlichen Streitigkeiten kundgiebt.
Solcher lebendigen Vielgestaltigkeit ist die litterar-historische Forschung
noch keineswegs überall gerecht geworden'): aber für die Geschichte der philo-
sophischen Principien, welche trotz alledem in diesem Zeitraum aus den an-
geführten Gründen nur einen mageren Ertrag findet, liegen doch die Grundlinien
dieser Entwicklung schon klar und deutlich genug zu Tage. Freilich muss man
sich dabei hüten, die complicirte Bewegtheit dieses Processes auf allzu einfache
Formeln bringen zu wollen und die Fülle der positiven und negativen Beziehungen
zu übersehen, welche zwischen den im Laufe der Jahrhunderte stosswcise in das
mittelalterliche Denken eintretenden Elementen der antiken Tradition gewechselt
haben.
Im Allgemeinen ist der Gang der Wissenschaft bei den europäischen
Völkern des Mittelalters in folgenden Zügen verlaufen. *
Die tiefsinnige Lehre des Augustin wirkte zunächst nicht in der Richtung
ihrer philosophischen Bedeutung, sondern als autoritative Darstellung der Kirchen-
lehre. Neben dieser erhielt sich eine neuplatonische Mystik, und die wissenschaft-
liche Schulung war auf unbedeutende Compendien und auf Bruchstücke der
aristotelischen Logik angewiesen. Gleichwohl entwickelte sich aus der Ver-
arbeitung der letzteren ein logisch-metaphysisches Problem von grosser Tragweite
und um dasselbe eine sehr lebhafte Denkbewegung, welche jedoch angesichts des
Mangels an inhaltlicher Welterkenntniss in öden Formahsmus auszuarten drohte.
Im Gegensatz dazu begann allmählich die augustinische Psychologie ihre mächtige
Kraft geltend zu machen; gleichzeitig aberzeigten sich auch die ersten Wirkungen
der Berührung mit der arabischen Wissenschaft, der das Abendland zunächst
wenigstens eine gewisse Anregung zur Beschäftigung mit den Realien, sodann
aber eine totale Ausweitung und Umgestaltung seines Gesichtskreises verdanken
sollte. Der Hauptsache nach knüpfte sich dies an die auf solchem Umwege ge-
wonnene Bekanntschaft mit dem ganzen System des Aristoteles, deren nächste
Folge die war, dass mit Hilfe seiner metaphysischen Grundbegriffe das Gebäude
der Kirchenlehre in grossartigstem Styl entworfen und in alle Theile hinein sorg-
fältig ausgeführt wurde. Indessen war dabei der Aristotelismus von den Arabern
(und den Juden) nicht nur in ihrer lateinischen Uebersetzung, sondern auch mit
ihren Commentaren und in ihrer starl^ neuplatonisch beeinflussten Auffassung
übernommen worden, und während dadurch die neuplatonischen Bestandtheile
der bisherigen Ueberlieferung (auch in der augustinischen Form) nach ver-
1) Die Gründe dafür liegen allerdings zum Theil in den erst allmählich schwindenden
Vorurtheilen, welche einer gerechten Würdigung des Mittelalters lange im Wege standen ; aber
in nicht geringerem Masse doch auch in dieser Jjittcratnr selbst. Die umständliche und zuletzt
doch meist sterile Weitschweifigkeit der Untersuchungen, die schematische Einfüirmigkeit der
Methode, die stetige Wiederholung und Neuwendung der Argumente, die Verschwendung des
Scharfsinns an künstliche und manchmal geradezu alberne Fragen, die frostigen Schulwitze,
— alles das sind Züge, welche zwar zu dem welthistorischen Process des Lernens, Aneignens
und Einübens, den die mittelalterliche Philosophie nun einmal darstellt, unumgänglich ge-
hören mochten, welche es aber auch mit sich bringen, dass bei dem Studium dieses Theiles der
(ireschichte der Philosophie die Masse des Stoffs und die Mühseligkeit seiner Durcharbeitung
zu dem sachlichen Gesammtertrage in ungünstigem Verhältniss stehen. So ist es gekommen,
dass gerade solche Forscher, welche sich mit Emsigkeit und Zähigkeit in die mittelalterliche
Philosophie vertieften, mit dem oft derben Ausdruck des Unmuths über ihren Gegenstand
nicht zurückgehalten haben.
14*
212 III. Mittelalterliche Philosophie.
schiedenen Eichtungeu lebhafte Verstärkung fanden, wurden in heftigem Rück-
schlag dagegen die specifischen Momente der augustinischen Metaphysik
zu schärferer und energischerer Ausprägung getrieben, und damit bei gleich-
zeitiger Anlehnung an den Aristotelismus eine Zwiespältigkeit des wissenschaft-
lichen Denkens erzeugt, welche in der Trennung von Theologie und Philosophie
ihren Ausdruck fand. Diese K3uft erweiterte sich durch eine neue, nicht minder
verwickelte Verschiebung. Hand in Hand mit dem Aristotelismus war aus dem
Morgenlande auch die empirische Forschung in Medicin und Naturwissen-
schaft eingedrungen, sie begann sich nun auch bei den europäischen Völkern zu
regen, sie eroberte, nicht ohne Beistand der augustinischen Strömung, auch das
Gebiet der Psychologie, und sie begünstigte die Entwicklung der aristoteli-
schen Logik nach einer Richtung, welche von der kirchlich-aristotelischen Meta-
physik weit ab führte. Und während so die verschlungenen Fäden der Tradition
nach allen Seiten hin aus einander liefen^ flochten sich in diese Auflösung schon
die feinen Gespinnste neuer Anfange hinein.
Mit so mannigfachen Beziehungen gegenseitiger Unterstützung oder Hem-
mung und mit so zahlreichen Frontveränderungen ziehen sich die Gedanken-
massen der alten Philosophie durch das Mittelalter hin: aber die wichtigste und
einschneidendste Wendung ist zweifellos die Keception des Aristotelismus,
welche sich um das Jahr 1200 herum vollzog. Sie theilt das ganze Gebiet natur-
gemäss in zwei Abschnitte, die sich ihrem philosophischen Gehalte nach so zu
einander verhalten, dass sich die Interessen und Probleme, die Gegensätze und
Bewegungen des ersten Zeitraums während des zweiten in erweiterter und zu-
gleich vertiefter Form wiederholen. Das Verhältniss dieser beiden Abtheilungen
kann daher in diesem Falle nicht allgemein durch sachliche Verschiedenheiten
bezeichnet werden.
1. Kapitel Erste Periode
(bis etwa 1200).
W. Kaultch, Geschichte der scholastischen Philosophie I. Theil. Prag 1863.
Die Gedankenrichtung y in der sich die mittelalterhche Philosophie im
WesentUchen bewegt und in der sie dasjenige erzeugt hat, wodurch sie die Philo-
sophie des Alterthums in principieller Hinsicht fortführte, war ihr durch die Lehre
Augustinus vorgeschrieben. Dieser hatte das Princip der Innerlichkeit,
welches sich in der gesammten Schlussentwicklung der antiken Wissenschaft vor-
bereitete, zum ersten Mal in den beherrschenden Mittelpunkt des philosophischen
Denkens gerückt, und darum gebührt ihm in der Gesammtgeschichte der Philo-
sophie die Stellung des Anfangsgliedes einer neuen Entwicklungsreihe: denn die
Zusammenschürzung aller Linien der patristischen wie der hellenistischen Philo-
sophie seiner Zeit, die er abschliessend vollzog, war doch nur möglich durch ihre
bewusste Vereinigung in jenem neuen Gedanken, welcher selbst der Keimpunkt
der Philosophie der Zukunft werden sollte. Aber erst einer ferneren Zukunft:
an seinen Zditgenossen und an den nächsten Jahrhunderten ging seine philo-
sophische Originalität wirkungslos vorüber. In dem Umkreise der alten Cultur
war die schöpferische Kraft des Denkens erloschen, und die neuen Völker mussten
erst allmählich in die wissenschaftliche Arbeit hineinwachsen.
1. Erste Periode. 213
In den Kloster- und Hofschulen^ welche die Stätten dieser neu beginnen-
den Cultur bildeten, musste Schritt für Schritt neben den für die Ausbildung der
Kleriker nöthigsten Künsten die Erlaubniss zur Lehre der Dialectik erobert
werden. Für diesen elementar-logischen Unterricht besass man jedoch in den
ersten Jahrhunderten des Mittelalters nur die zwei wenigst bedeutenden Schriften
des aristotelischen Organen, De categoriis und De interpretatione, in lateinischer
üebersetzung mit der Einleitung des Porphyrios und einer Anzahl von Commen-
taren der neuplatonischen Zeit, insbesondere denjenigen des Boethius. Für die
sachlichen Kenntnisse (des Quadrivium) dienten die Compendien des ausgehen-
den Alterthums, von Marcianus Capella, Cassiodor und Isidor von Sevilla. Von
den grossen Originalwerken der alten Philosophie war nur der platonische
Timaeus in der üebersetzung des Chalcidius bekannt.
Unter diesen Umständen richtete sich der wissenschaftUche Schultrieb in der
Hauptsache auf das Erlernen und Einüben des formal-logischen Schematismus,
und die Behandlung auch ^der sachUchen Theile der Erkenntniss, insbesondere
des religiösen Dogmas, welches ja als ein wesentlich in sich Abgeschlossenes und
inhaltlich Unantastbares galt, ging darauf hinaus, das Gegebene und Ueberlieferte
in den Formen und nach den Regeln der aristotelisch-stoischen Logik durch-
zuarbeiten und darzustellen: auf die formale Ordnung, auf Bildung und Einthei-
lung der Gattungsbegriffe, auf correcte Schlussfolgen musste dabei das Haupt-
gewicht fallen. Wie im Orient durch Johannes Damascenus die antike Schullogik
systematisch in den Dienst einer streng gegliederten Entwicklung der Kirchen-
lehre gestellt wurde, so geschah es auch in den Schulen des Abendlandes.
Indessen hatte dieses in den Verhältnissen der Ueberlieferung begründete
Treiben nicht nur den didaktischen Werth einer Denkübung in der Aneignung
des Stoffes, sondern auch die Folge, dass sich die Anfange des selbständigen Nach-
denkens auf die Frage nach der Bedeutung der logischen Beziehungen
richten mussten, und so tauchen denn schon früh in der abendländischen Litteratur
Untersuchungen über das Verhältniss des Begriffs zum Wort einerseits und zur
Sache andrerseits auf.
Eine Verstärkmig erfuhr diese Problembildung^ durch eine eigenthümliche
Complication. Neben der kirchlichen Lehre bestand, halb noch geduldet und
halb verdammt, eine mystische Ueberlieferung des Christenthums in neuplatoni-
scher Form. Sie ging auf Schriften zurück, welche, im fünften Jahrhundert
entstanden, dem ersten Bischof von Athen, Dionysius Areopagita, zugeschrieben
wurden, und sie gewann weitere Verbreitung, als diese Schriften im neunten Jahr-
hundert von Johannes Scotus Erigena übersetzt und zur Grundlage seiner
eigenen Lehre'^ gemacht wurden. In dieser aber bildete einen Hauptpunkt jene
Identification der verschiedenen Grade der Abstraction mit den Stufen der meta-
physischen Realität, welche schon im älteren Piatonismus und Neuplatonismus
aufgestellt worden war (vgl. § 20, 8).
In Folge dieser Anregungen trat während der nächsten Jahrhunderte die
Fragenach der metaphysischen Bedeutung der Gattungsbegriffe in den
Mittelpunkt des philosophischen Denkens. Um sie gruppirten sich die übrigen
logisch-metaphysischen Probleme, und nach ihrer Beantwortung entschied sich
die Parteistellung der einzelnen Denker. In der grossen Mannigfaltigkeit der
Entscheidungen dieses Universalienstreites treten hauptsächlich drei Rieh-
214 III. Mittelalterliche Philosophie.
tungen hervor: der Realismus, welcher die selbständige Existenz der Gattungen
behauptet, ist die Lehre des Anselm von Canterbuiy, des Wilhelm von Champeaux
und der eigentlichen Platoniker, unter denen Bernhard von Chartres hervorragt.
Den Nominalismus, der in den Universalien nur gemeinsame Bezeichnungen
sehen will, vertritt in dieser Zeit hauptsächlich ßoscellinus. Eine vermittelnde
Ansicht endlich, welche Conceptualismus bzw. Sermonismus genannt wor-
den ist, knüpft sich vornehmlich an Abaelard.
Diese Streitigkeiten kamen hauptsächlich in den endlosen Disputationen
an der Pariser Universität zum Austrage, welche für diese Zeit und bis in den
folgenden Zeitraum hinein den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens in
Europa gebildet liat, und die mit allen Künsten dialectischer Gewandtheit ge-
führten Kämpfe übten auf dies Zeitalter eine ähnlich fascinirende Gewalt aus, wie
dereinst die Redekämpfo der Sophisten und der sokratischen Kreise auf die
Griechen. Hier wie dort war die Unmittelbarkeit des Volksbewusstseins ge-
brochen, und hier wie dort bemächtigte sich weiter Lebenskreise ein fieberhafter
Durst nach Wissen und ein leidenschaftliches Begehren, an so bisher ungewohntem
Geistesspiele Theil zu nehmen. Weit über die engen Kreise der Kleriker hinaus,
welche bis dahin die Träger der wissenschaftlichen Ueberlieferung gewesen waren,
kam der so geweckte Trieb nach Erkenntniss zum Durchbruch.
Allein diese Ueberlebendigkeit der diabetischen Entwicklung fand auch
sogleich mannigfache Gegnerschaft. In der That barg sie in sich selbst eine
ernstliche Gefahr. Es fehlte dieser glänzenden Bethätigung des abstracten
Denkens an allen Grundlagen realer Kenntniss; mit ihren Distinctionen und
Conclusionen führte sie gewissermassen in der freien Luft ein gauklerisches Spiel,
das zwar die formalen Geisteskräfte in forderliche Bewegung setzte, aber trotz
aller Wendungen und Windungen nicht zu inhaltlicher Erkenntniss führen konnte.
Daher erging von verständigen Männern wie Gerbert, welche von den empirischen
Studien der Araber Kenntniss erhalten hatten, die Mahnung, von jenem Forma-
hsmus abzulassen und sich der sorgsamen Erforschung der Natur und den Auf-
gaben der praktischen Cultur zuzuwenden.
AVährend aber ein solcher Ruf noch ziemlich ungehört verhallte, stiess die
Dialectik auf einen eindringhcheren Widerstand bei der Frömmigkeit des Glaubens
und bei der kirchlichen Gewalt. Es konnte nicht ausbleiben, dass die logische
Verarbeitung der Glaubensmetaphysik und die Consequenzen der in dem Uni-
vei-salienstreit zunächst ganz ohne Rücksicht auf dieselbe entwickelten Ansichten
mit dem Dogma in Widerspruch geriethen, und je mehr sich dies wiederholte,
um so mehr erschien die Dialectik nicht nur dem einfach frommen Sinne über-
flüssig, sondern auch im kirchUchen Interesse gefahrlich. In diesem Sinne ist sie,
zum Theil mit äusserster Heftigkeit von den orthodoxen Mystikern bekämpft
worden ; der streitbarste unter ihnen war Bernhard von Clairvaux, während die
Victoriuer sich von den Auswüchsen des dialectischen Uebermuthes zum Studium
des Augustin zurückwandten und den reichen Schatz der inneren Erfahrung,
welchen dessen Schriften enthalten, zu heben suchten, indem sie die Grund-
gedanken seiner Psychologie mehr aus dem Metaphysischen in das Empirische
hinüberleiteten.
Aurcli US Augustinus (354 — 430) zu Thagaste in Numidien geboren und doi% wie in
Madaura und Carthago zum Juristen ausgebüdet, machte in seiner Jugend fast alle Stand-
punkte der damaligen wissenschaftlich- religiösen Bewegung durch, suchte zuerst im Manichäis-
1. Erste Periode. 215
mu8 für seine brennenden Zweifel religiöse Kühlung, fiel dann in den academischen Skepticis-
mus, den er aus Cicero früh eingesogen hatte, ^g von diesem allmählich zur neuplatonischen
Doctrin über und wurde endlich durch den Mailänder Bischof Ambrosius für das Christenthum
gewonnen, dessen Philosoph er werden sollte.
Als Priester und später als Bischof zu Hippo Regius ist er praktisch und litterarisch
unermüdlich für die Einheit der christlichen Kirche und Lehre thätig gewesen ; insbesondere
hat sich seine Dogmatik in dem donatistischen und dem pelagianischen Streite ausgebildet. —
Unter seinen Werken (in der Migne'schen Sammlung 16 Bde. Paris 1835 ff.) kommen für seine
Philosophie hauptsächlich in Betracht die Autobiographie Confessiones, femer Contra Aca-
dcmicos. De beata vita, De ordine, De quantitate animae, De libero arbitrio. De trinitate, Soli-
loquia, Do immortalitate animae. De civitate Dei. — Vgl. C. Bindbmann, Der hlg. A. (3 Bde.
1844 — 1869). — Fr. Böhbingeb, Kirchengeschichte in Biographien, XI. Bd. in 2 Thl. (Stutt-
gart 1877/78). — A. DoBNBR, A. (Berlin 1873). — W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissen-
schaften I (Leipzig 1883) S. 322 ff.
Die El;aYü>Y'r| eU toc? xaiYjifoj/ta? von Porphyrios (herausg. von Busse, Berlin 1887) hat
in ihrer Uebersetzung durch Boethms den äusseren Anlass zu dem Univcrsalienstreit gegeben.
Boethius (470—525) hat ausserdem durch seine Uebersetzungen und Commentare der beiden
aristotelischen und einer Anzalil ciceronianischer Schriften auf das früheste Mittelalter gewirkt.
Zu seinen Büchern traten noch andere, welche unter dem Namen des Augustin umliefen. Vgl.
Prantl, Gesch. d. Log. im Abendl. II. und A. Jourdain, Recherches critiques sur Tage et
Torigine des traductions latines d'Aristote. Par. 2. Aufl. 1843.
Unter den Kealencyclopädien des ausgehenden Alterthums behandelt Marcianus
Capella (aus Carthago in der Mitte des fünften Jahrhunderts) in seinem Satyricon (hrsg. v.
Eyssenhardt, Leipzig 1866) nach der wunderlichen Einleitung De nuptiis Mercorii et philo-
logiae die sieben Artes liberales, von denen bekanntlich in dem weiteren Schulbetrieb Gram-
matik Rhetorik und Dialectik das Trivium, Geometrie Arithmethik Astronomie und Musik
(auch mit Einschluss der Poetik) das Quadrivium bildeten. Einen werthvoUeren Commentar
zum Marc. Capella schrieb später Scotus Erigena (hrsg. von B. Haur^au, Paris 1861). — Des
Cassiodorius Senater (480 — 570) Institutiones divinarum et saecularium lectionum und De
artibus ac disciplinis litterarum liberalium (Werke Paris 1588) und des Isidorus Hispalensis
(gest. 636) Originum sive Etymologiarum libri XX (in Migne's Sammlung) stehen bereits völlig
auf theologischem Boden. — Für die Verwendung der antiken Schullogik im Dienste der Syste-
matisirung der Kirchenlehre hat Johannes Damascenus (um 700) in seiner üyi^y] Yva>a&u>^
(Werke Venedig 1748) das klassische Beispiel gegeben.
Während die Stürme der Völkerwanderung auf dem Continente hausten, hatte sich das
wissenschaftliche Studium auf die britischen Inseln, insbesondere nach Irland geflüchtet und
fand später in der Schule zu York durch Beda venerabilis eine gewisse Blüthe. Von hier wurdo
die gelehrte Bildung durch Alcuin auf Veranlassung von Karl dem Grossen dem Festlando
zurückgewonnen; neben den Episcopal- und den Klosterschulen entstand die Palatinalschulc,
deren iSitz von Karl dem Kahlen in Paris fixirt wurde. Die wichtigsten Klosterschulen waren
die von Fulda und Tours. An ersterer wirkten Rabanus (Rhaban) Maurus (aus Mainz 776
bis 856; De universo libri XXII), und Eric (Heirious) von Auxerre; aus ihr gingen (Ende
des neunten Jahrhunderts) Remigius von Auxerre und der vermuthliche Verfasser des Com-
mentars Super Porphyrium (abgedr. in Cousin's Ouvrages inedits d* Abelard Paris 1836) hervor.
In Tours folgte auf Alcuin als AbtFredegisus, dessen Brief De nihilo ettenebris (in Migne^s Samm-
lung Bd. 105) erhalten ist. Später hat das Kloster zu St. Gallen (Notker Labeo, gest. 1022)
einen Hauptheerd der wissenschaftlichen Tradition gebildet.
Vgl. zu den litterarischen Verhältnissen auch die Histeire litteraire de la France.
Die dem Areopagiten (vgl. Act. Apost. 17, v. 34) zugeschriebenen Schriften (worunter
hauptsächlich itepl jjloox'.x^ d-soXo^ia« und Tcepi x-ffi Upa^y^ia^ oöpavioo; in der Migne^schun
Sammlung; deutsch von Enoelhardt, Sulzbach 1823) zeigen dieselbe Vermischung christ-
licher und neuplatonischer Philosophie, wie sie im Orient (in den Nachwirkungen des Origeues)
vielfach und besonders charakteristisch bei dem Bischof Synesios (um 400; vgl. R. Volkhamn,
S. von Cyrene, Berlin 1869) zu Tage trat. Jene Schriften des Pseudo-Dionysius, die vermuth-
lich dem fünften Jahrhundert entstammen, werden zuerst 532 unter Bestreitung ihrer Echtheit
erwähnt; doch wurde die letztere von Maximus Confessor (580 — 662; De variis difticilioribus
locis patrum Dionysii et Gregorii, hrsg. von Ojbhlbr, Halle 1857) vertheidigt.
In der Anlehnung an diese Mystik entwickelt sich die erste bedeutende wissenschaft-
liche Persönlichkeit des Mittelalters in Johannes Scotus Erigena (Jerugcna, aus Irland;
etwa 810 — 880), von dessen Leben so viel sicher bekannt ist, dass er von Karl dem Kahlen an
die Pariser Hofschule berufen wurde und an derselben eine Zeit lang thätig» war. Er über-
setzte die Schriften des Areopagiten, schrieb gegen Gottschalk die Schrift de praedestinatione
216 in. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
und legte seine Ansichten in dem Hauptwerk De divisione naturae (deutsch von Noack, Leipzig
1870—76) nieder. Die Werke bilden in Migne's Sammlung Bd. 122. Vgl. J. Hüber, J. S. B.
München 1861.
Anselm von Canterbury (1033 — 1109) stammte aus AostSi wirkte lange Zeit in
dem normannischen Kloster Bec und wurde 1093 zum Erzbischof von Canterbury berufen.
Von seinen Werken (bei Migne Bd. 155) sind in philosophischem Betracht ausser der Schrift
Cur deus homo? besonders wichtig das Monologium und das Proslogium. Diese beiden sind
mit der Gegenschrift eines Mönchs Gaunilo (im^loster Marmoutier in der Nähe von Tours)
Liber pro insipiente und der Replik Anselms von C. Haas (Tübingen 1863) faerausge^ben.
Vgl. Ch. E^musat, A. de C, tableau de la vie monastique et de la lutte du pouvoir spirituel
avec le pouvoir tcmporel au 11"** siöcle (2. Aufl. Paris 1868).
Wi lheImvonChampeaux(l 121 als Bischof von Chalons s/M. gestorben) w^ar ein
vielgehörter Lehrer an der Kathedralschule zu Paris und begründete die Studien in dem
Augustinerkloster zu St. Victor daselbst. Ueber seine philosophischen Ansichten sind wir
hauptsächlich durch seinen Gegner Abaelard unterrichtet; seine logiache Schrift ist verloren.
Vgl. E. MiCHADD, G. de Ch. et les ecoles de Paris au 21™* sidole (Paris 1868).
Der Piatonismus des fnüieren Mittelalters lehnte sich wesentlich an den Timaeus
und gab, zumal unter dem Einflüsse der neuplatonischen Umdeutung, der Idoenlehre eine dem
ursprünglichen Sinne nicht völlig entsprechende Form. Die bedeutendste Erscheinung in dieser
Kichtung ist Bernhard von Chartres (in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts): sein
Werk De mundi universitate sive megacosmus et microcosmus ist von C. S. Barach (Innsbruck
1876) herausgegeben. Als seine Schüler gelten Wilhelm von Conches (Magna de naturis philo-
sophia; Dragmaticon philosophiae) und Walter von Mortagne; in demselben Geiste schrieb
auch Adelard von Bath (De eodcm et diverso ; Quaestiones naturales).
Roscellinus aus Armorica (Bretagne) ist als Lehrer an verschiedenen Orten, besonders
in Locmenach, wo Abaelard sein Zuhörer war, hervorgetreten und hat seine Ansichten auf
dem Concil zu Soissons (1092) widerrufen müssen. Von ihm selbst ist nur ein Brief an Abaelard
(gedruckt in den Abhandl. der bair. Akad. 1851) erhalten; die Quellen für seine Lehre sind
Anselm, Abaelard und Johannes von Salisbury.
Abaelard (Abeillard), die eindrucksvollste und energischste Persönlichkeit unter den
Denkern dieser Zeit, war 1079 zu Pallet (Graf seh. Nantes) geboren, ein Schüler von Wilhelm
V. Champeaux und Roscellin. Seine eigene Lehrthätigkeit entfaltete sich in Melun und Corbeil,
am erfolgreichsten aber in Paris an der Kathedralschule und an der logischen Schule St. Genevidve.
Das Unglück, in welches ihn sein bekanntes Verhältniss zu Heloise stürzte, und die Conflicte,
in welche ihn seine Lehre mit der kirchlichen Macht, hauptsächlich auf Anstiften des unermüd-
lichen Verfolgers Bernhard von Clairvaux brachte (Synoden zu Soissons 1121 und Sens 1141),
Hessen den unruhigen Mann nicht zur vollen Abklärung seines Geistes gelangen und veranlassten
ihn, in verschiedenen Klöstern Kuhestätten zu suchen; er starb 1142 in St. Marcel bei Chalons
s/S. Vgl. seine Historia calamitatum mearum und seinen Briefwechsel mit Heloise (M.CARRiiEBB,
A. u. H. 2. Aufl. Giessen 1853). Seine Werke hat V. Cousin in zwei Bänden (Paris 1849—69)
herausgegeben. Darunter sind hervorzuheben seine Dialectik, Introductio in Theologiam,
Theologia Christiana, Dialogus inter philosophum, Christianum et Judaeum, die Schnfl Sic et
non und die ethische Abhandlung Scito te ipsum. Vgl. Ch. d. R^musat, A. (2 Bde. Paris 1845).
Dem Abaelard nahe stehen eine Anzahl (von v . Cousin veröffentlichter) anonymer Ab-
handlungen, so ein Commentar zu De interpretatione, De intellectibus und De gencribus et
speciebus (die letztere stammt möglicherweise von Joscellinus, einem 1151 gestorbenen Bischof
von Soissons): verwandt ist auch die philosophisch-theologische Stellung von Gilbert de la
Porree (Gilbcrtus Porretanus, gestorben 1154 als Bischof von Poitiers), der in Cliartres und
Paris lehrte und von Bernhard von Clairvaux in die Verfolgung Abaelard's hineingezogen
wurde. Ausser einem Commentar zu Pseudo-Bocthius De trinitate und De duabus naturis in
Christo schrieb er den später viel commentirten Abriss De sex principiis.
Die im kirchlichen Sinne bedenklichen Consequenzen der „Dialectik'* zeigen sich schon
früh besonders bei Berengar von Tours (999 — 1088), dessen Abendmahlslem'e von Lanc-
franc (lOOo — 1089, in Bec und Canterbury Vorgänger Anselm's) bekämpft wurde. Dieser ist
vermuthlich der Verfasser des früher dem Anselm zugeschriebenen (und unter dessen Werken
gedruckten) Elucidarium sive dialogus summam totius theologiae complectens. In diesem
Compendium tritt zuerst das Bestreben hervor, unter Ablehnung der dialectischen Neuerungen
den gfanzen Umfang des kirchlich Festgestellten in der Form eines logisch geordneten Lehr-
buches wiederzugeben. Hieraus sind später die Arbeiten der Summisten hervorgegangen,
unter denen der bedeutendste PetrusLombardus (gestorben 1164 als Bischof von Paris)
ist. Seine Libri IV sententiarum bilden bei Migne Bd. 192. Unter den früheren wäre etwa
Kobert Pulleyn*(Itobertus PuUus, gestorben 1 150), unter den späteren Peter von Poitiers (ge-
storben 1205) und Alanus Ryssel (ab insulis; gestorben 1203) zu erwähnen.
§ 22. Die Metaphysik der inneren Eifalirung. (Augustin.) 217
Gerbert (als Papst Sylvester II 1003 gestorben) hat das Verdienst, auf die Nothwendig-
keit mathematischen und naturwissenschaftlichen Studiums energisch hingewiesen zu haben.
Er hatte in Spanien und Italien Kunde von der Arbeit der Araber erhalten und erwarb sich
eine von seinen Zeitgenossen angestaunte und beargwöhnte Fülle von Kenntnissen. Vgl.
K. Webner, G. von Aurillac, die Kirche und Wissenschaft seiner Zeit (2. Aufl. Wien 1881). —
Gleich ihm hat sein Schüler Fulbert (gest. 1029 als Bischof von Ghartres) von der Dialectik zur
einfachen Frömmigkeit zurückgerufen, und in demselben Sinne wirkte Hildebert von
L a V a r d i n (1067 — 1133, Bischof von Tours).
Im grossen Stile geschah dasselbe durch die orthodoxe Mystik des zwölften Jahr-
hunderts. Als ihr eifrigster Vertreter begegnet uns Bernhard von Clairvaux (1091 — 1153).
Unter seinen Schriften ragen De contemtu mundi und De gradibus humilitatis hervor (Ausgabe
von Mabillon, zuletzt Paris 1839 f.). Vgl. Neander, Der heilige B. und seine Zeit (8. Aufl.
1865); MoRisoN, Life and times of St. B. (London 1868).
Von wissenschaftlicher Fruchtbarkeit ist die Mystik bei den Victorinern, den
Leitern der Klosterschule St. Victor in Paris. Der bedeutendste ist Hugo von St. Victor
Sals Graf von Blankenburg im Harz 1096 geboren, 1141 gestorben). Unter den Werken (bei
^ligne Bd. 175 — 177) ist das wichtigste De sacramentis fidei christianae ; für die mystische
Psychologie kommen hauptsächlich das Soliloquium de arrha animae. De arca Noe und De
vanitate mundi, ausserdem aber das encyclopadische Werk Eruditio didascalica in Betracht. —
Vgl. A. Liebner, H. v. St. V. und die theologischen Richtungen seiner Zeit (Leipzig 1836).
Sein Schüler Richard von St. Victor (ein Schotte, 1173 gestorben) schrieb De statu
und De eruditione hominis interioris, De praeparatione animi ad contemplationem, De gratia
contemplationis. Die Werke bilden bei Migne Bd. 194. Vgl. W. A. Kauligh, Die Lehren dos
H. und R. von St. V. (in den Abhandlungen der Böhm. Ges. der Wiss. 1863f.). — Sein Nach-
folger Walter von St. Victor hat sich in einer wenig wissenschaftlichen Polemik gegen die
ketzerische Dialectik (In quatuor labyrinthos Franciae) hervorgethan.
Am Schlüsse dieses Zeitraumes treten die Anfange einer humanistischen Reaction gegen
die Einseitigkeit des Schulbetriebes in Johannes von Salisbury (Johannes Saresberiensis,
gestorben 1180 als Bischof von Ghartres) hervor, dessen Schriften rolicraticus und Metalogicus
l Migne Bd. 199) eine werthvoUe Quelle für das wissenschaftliche Leben der Zeit büden. vgl.
G. ScHAARSCHMiDT , J. S. nach Leben und Studien, Schriften und Philosophie (Leipzig 1862).
% 28. Die Metaphysik der inneren Erfahrong^.
Die Philosophie des grossen Kirchenlehrers August in ist in keinem seiner
Werke als ein geschlossenes System dargestellt, sie entwickelt sich vielmehr in
der ganzen Breite seiner schriftstellerischen Thätigkeit mehr gelegentlich bei der
Behandlung der verschiedenen, zumeist theologischen Gegenstände. Dabei aber
ist dies der eigenthümliche Gesammteindruck, dass diese reichen Gedankenmassen
nach zwei verschiedenen Richtungen bewegt erscheinen, die nur durch die ge-
waltige Persönlichkeit des Mannes zusammengehalten werden. Als Theologe
behält Augustin durch alle seine Untersuchungen hindurch den Begriff der
Kirche als Bichtpunkt im Auge: als Philosoph concentrirt er alle seine Ideen
um das Princip der Selbstgewissheit des Bewusstseins. Durch die
Doppelbeziehung auf diese beiden festen Voraussetzungen gerathen bei ihm alle
Fragen in lebendigen Fluss. Die Gedankenwelt Augustinus gleicht einem ellipti-
schen System, das sich durch die Bewegung um zwei Mittelpimkte construirt,
und diese seine innere Dualität ist häufig diejenige des Widerspruchs ').
Für die Geschichte der Philosophie erwächst die Aufgabe, aus dieser
Verwicklung diejenigen Ideen herauszulösen, durch welche Augustin weit über
seine Zeit und ebenso über die nächst folgenden Jahrhunderte hinausgewachsen
1) Es ist unverkennbar, dass Angustin selbst im Laufe seiner Entwicklung das Schwer-
gewicht seiner Persönlichkeit mehr und mehr aus dem philosophischen in den kirchlichen
Mittelpunkt verlegt hat: besonders deutlich tritt das in seinem Rückblick auf die eigne Schrifb-
stellerthätigkeit) den RetractationeSi hervor.
218 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
und zu einem der Urheber des modernen Denkens geworden ist. Alle
diese aber haben ihren letzten Grund und ihre innere Vereinigung in dem Princip
der selbstgewissen Innerlichkeit^ das Augustin zuerst mit voller Klarheit
ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuUrt und behandelt
hat. Unter dem Einfluss des ethisch-religiösen Interesses hatte sich allmählich
und fast unveimerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äusseren
in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der physischen Be-
griffe waren die psychischen als Grundfactoren der Weltauffassung getreten.
Augustin war es vorbehalten, diese Thatsache, welche sich als solche schon vor
ihm in Origenes und Plotin vollzogen hatte, zu voller und bewusster Geltung zu
bringen *).
Diese Richtung auf die innere Erfahrung macht schon seine schrift-
stellerische Eigenart aus. Augustin ist ein Virtuos der Selbstbeobachtung und
Selbstzerlegung ; er besitzt eine Meisterschaft in der Scliilderung von Seelen-
zuständen, die ebenso bewunderungswürdig ist wie seine Fähigkeit, dieselben in
der Reflexion zu zergliedern und die tiefsten Gefühls- und Triebelemente bloss-
zulegen. Eben deshalb aber fliessen ihm fast ausschUessUch aus dieser Quelle
die Anschauungen zu, mit denen seine Metaphysik das Weltall zu umfassen sucht.
Damit beginnt der griechischen Philosophie gegenüber eine neue Entwicklungs-
reihe , deren Fortschritt freilich während des Mittelalters nur wenig über das
von Augustin im ersten Wurf Errungene hinaus gefördert worden und deren
volle Entfaltung erst in der Neuzeit zu suchen ist.
1. Deutlich tritt dies schon an Augustinus Lehre vom Ausgangspunkt
der philosophischen Erkenntniss hervor. Seinem persönUchen Entwicklungs-
gange gemäss sucht er den Weg zur Gewissheit durch den Zweifel hindurch, und
es müssen ihm dabei die skeptischen Theorien selbst die Bahn brechen. Zunächst
freilich schlägt er den Zweifel mit dem ungebändigten Glücksdurst seiner heiss-
blütigen Natur durch das (sokratische) Postulat nieder, dass der Besitz der
Wahrheit (ohne dessen Voraussetzung es auch keine Wahrscheinhchkeit gebe)
für die Glückseligkeit erforderlich und deshalb als erreichbar anzusehen sei: aber
mit grösserem Nachdruck zeigt er, dass auch der Skeptiker, der die äussere
Realität des Wahrnehmungsinhaltes leugne oder wenigstens dahingestellt sein
lasse, doch das innerliche Vorhandensein der Empfindung als solcher nicht in
Zweifel ziehen könne. Allein statt sich mit den relativistischen oder positivisti-
schen Ausdeutungen dieser Thatsache zu begnügen, dringt Augustin gerade von
ihr aus zu siegreicher Gewissheit vor. Mit der Walirnehmung, zeigt er, ist nicht
nur ilir in der einen oder der anderen Richtung anzuzweifelnder Inhalt, sondern
zugleich auch die Realität des walirnehmenden Subjects gegeben, und diese
Selbstgewissheit des Bewusstseins folgt in erster Linie aus dem Acte des Zwei-
feins selbst. Indem ich zweifle, sagt er, weiss ich, dass ich, der Zweifelnde, bin ;
und so enthält gerade der Zweifel in sich die werthvoUe Wahrheit von der
Realität des bewussten Wesens: selbst wenn ich in allem anderen irren
sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muss ich sein^).
1) Aug. de ver. rel. 39, 72 : Noli foras ire ; in te ipsum redi rininteriorehomine habitat
veritas. — 2) Augustin hat dieser vou ihm mehrfach (De boaia vita 7, Solil.II, Iff. De ver. rel.
72 f. De trin. X, 14 etc.) ausgeführten Argumentation grundlegende Bedeutung beigelegt. Dass
sie aber auch der griechischen Litteratur nicht völlig unbekannt war, beweist in der unter dem
§ 22. Die Metaphysik der inneren Erfahrung. (Augustin.) 219
Diese fundamentale Ge^vissheit erstreckt sich gleichmäsaig auf alle Zu-
stände des Bewusstseins (cogitare); und Augustin suchte zu zeigen, dass alle
die verschiedenen Arten derselben bereits in dem Acte des Zweifeins eingeschlossen
seien*. Wer zweifelt, weiss nicht nur, dass er lebt, sondern auch, dass er sich
erinnert, dass er erkennt und dass er will: denn die Gründe seines Zweifels be-
ruhen auf seinen früheren Vorstellungen; in der Abwägung der Zweifelsmomente
entwickelt sich sein Denken, Wissen und Urtheilen -, und das Motiv seines Zweifeins
ist doch nur dies , dass er die Wahrheit anstrebt. Ohne besonders darauf zu
reflectiren oder weitere Schlüsse daraus zu ziehen, beweist Augustin in diesem
Beispiel seinen tiefen Einblick in das Seelenleben, indem ihm die verschiedenen
Arten psychischer Bethätigung nicht als gesonderte Sphären, sondern als die un-
trennbar mit einander vereinigten Seiten eines und desselben Actes gelten. Die
Seele ist für ihn — und damit erhebt er sich weit über Aristoteles und auch über
die Neuplatoniker — das einheitlich lebendige Ganze der Persönlichkeit,
welche durch ihr Selbstbewusstsein der eigenen Realität als der sichersten Wahr-
heit gewiss ist«
2« Allein von dieser ersten Gewissbeit fuhrt die Lehre Augustinus sogleich
weiter, und es ist nicht nur seine reUgiöse Ueberzeugung, sondern auch eine tiefe
erkenntnisstheoretische Ueberlegung, welche ihm in die Selbstgewissheit des indi-
viduellen Bewusstseins unmittelbar die Idee Gottes eingewachsen erscheinen
lässt. Auch hier ist die Fundamentalthatsache des Zweifels massgebend, auch
hierin enthält sie implicite schon die volle Wahrheit, AVie würden wir, fragt
Augustin, dazu kommen, die Wahrnehmungen der Aussenwelt, die sich mit so
elementarer Gewalt uns aufdrängen, in Frage und Zweifel zu ziehen, wenn wir
nicht neben ihnen und aus andrer Quelle Kichtbegriffe und Massstäbe der Wahr-
heit besässcn, um sie daran zu messen und zu prüfen? Wer zweifelt, muss die
Wahrheit kennen : denn nur um ihretwillen zweifelt er ^). In der That, fahrt der
Philosoph fort, besitzt der Mensch neben dem Empfinden (sensus) die höhere
Fähigkeit der Vernunft (intellectus, ratio), d.h. der unmittelbaren Anschauung
unkörperlicher Wahrheiten*): unter diesen versteht Augustin nicht nur die logi-
schen Gesetze, sondern auch die Normen des Guten und des Schönen, überhaupt
alle diejenigen durch die Empfindung nicht zu gewinnenden Wahrheiten, welche
dazu erforderlich sind, das Gegebene zu verarbeiten und zu beurtheilen, — die
Principien des Urtheilens ').
Solche Normen der Vernunft machen sich als Massstäbe der Beurtheilung
im Zweifel wie in allen Thätigkeiten des Bewusstseins geltend; sie reichen aber
über das individuelle Bewusstsein, in welches sie im Laufe der Zeit eintreten, als
etwas Höheres hinaus: sie sind für alle vernünftig Denkenden dieselben und er-
leiden in diesem ihrem Werthe keine Veränderung. So sieht sich das Einzel-
Namen der „Metaphysik des Herennios*' laufenden Compilation diejenige Stelle (III, 6 f.), deren
(vermuthlich spät-stoische) Quelle bisher nicht au%efunden worden ist. Vgl. darüber E. Hifiirz
in Sitz.-Ber. der Berl. Ak. d. W. 1889 S. 1167fiF.
1) De ver. rel. 39, 72 f. — 2) Aspectus animi, quo perseipsum non per corpus verum
intuetur: De trin. XII| 2, 2. Vgl. Contra Acad. UI, 13, 29. — 8) Die Auffassung dieser intelli-
giblen Wahrheiten durch das menschliche Bewusstsein bat Augustin anfänglich ganz platonisch
als d(yd{i.vir)Gi( bezeichnet: erst die orthodoxen Bedenkon gegen die Annahme der Fräexistenz
führten ihn dazu, die Yenmnft als das Anschauungsyermögen für die unkörperliche Welt zu
betrachten. Vgl. übrigens J. Stürz, Die Philosophie des hl. Augustinus (Freiburg i. B. 1882).
220 m. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
bewusstsein in seiner eigenen Function an etwas Allgemeingiltiges und lieber-
greifendes gebunden *).
Aber zum Wesen der Wahrheit gehört, dass sie ist. Von dieser Grund-
auffassung der antiken^ wie aller naiven Erkenntnisslehre geht auch Augustin aus.
Das ^Sein" jener allgemeinen Wahrheiten aber, die durchaus unkörperlicher
Natur sind, kann demnach nur — in neuplatonischer Weise — als dasjenige der
Ideen in Gott gedacht werden; sie sind die wandellosen Formen und Normen
aller Wirklichkeit (principales formae vel rationes rerum stabiles atque incommu-
tabiles, quae in divino intellectu continentur) und die Inhaltsbestimmungen des
göttlichen Geistes. In ihm sind sie alle in höchster Vereinigung enthalten: er
ist die absolute Einheit, die Alles umfassende Wahrheit; er ist das höchste
Sein, das höchste Gut, die vollkommene Schönheit (unum, verum, bonum). Jede
Vemunfterkenntniss ist im Grunde genommen Gotteserkenntniss. Freilich ist
auch nach Augustinus Zugeständniss der menschlichen Einsicht im Erdenleben
die volle Erkenntniss Gottes versagt. Völlig sicher ist in unserer Vorstellung
von ihm vielleicht nur das Negative; und insbesondere von der Art, wie die ver-
schiedenen Bestimmungen der göttlichen Wahrheit, welche die Vernunft an-
schaut, in ihm zu höchster realer Einheit verbunden sind, haben wir keine adä-
quate Vorstellung: denn sein körperloses und wandelloses Wesen (essentia) reicht
weit über alle Beziehungs- und Verknüpfungsformen des menschlichen Denkens
hinaus: selbst die Kategorie der Substanz trifft auf ihn ebensowenig zu wie die
übrigen*).
3« So sehr diese Ausfuhrungen in der directen Consequenz des Neuplatonis-
mus liegen*), so bleibt ihnen doch in der Darstellung Augustin's der christliche
Character dadurch gewahrt, dass mit dem philosophischen Begriffe der Gottheit
als Inbegriff aller Wahrheit die religiöse Vorstellung der Gottheit als der ab-
soluten Persönlichkeit untrennbar verschmolzen ist. Gerade deshalb aber baut
sich die ganze augustinische Metaphysik auf der Selbsterkenntniss der endlichen
PersönUchkeit, d. h. auf dem Thatbestande der inneren Erfahrung auf. Denn
so weit dem Menschen überhaupt ein Verständniss des göttlichen Wesens mög-
lich ist, kann dasselbe nur nach Analogie der menschlichen Selbsterkenntniss ge-
wonnen werden. Diese aber zeigt folgende fundamentale Gliederung des inneren
Lebens: der dauernde Bestand des geistigen Seins ist in der Gesammtheit des
Bewusstseinsinhaltes oder der reproducirbaren Vorstellungen gegeben; seine Be-
wegung und Lebendigkeit besteht in den Processen der urtheilenden Verbindung
und Trennung dieser Elemente; und die treibende Kraft in dieser Bewegung ist
der auf den Gewinn der höchsten Seligkeit gerichtete Wille. So sind die drei Seiten
der psychischen Wirklichkeit Vorstellung, Urtheil und Wille: memoria,
intellectus, voluntas^), und Augustin wahrt sich ausdrücklich dagegen, diese
1) De IIb. arb. U, 7ff. — 2) Das Wesentliche dabei ist die Einsicht, dass die aus, der
Richtung auf die Naturerkenntniss gewonnenen Kategorien für die eigenthümliche Art der
geistigen Synthese (nach der das göttliche Wesen gedacht werden soll) unzulänglich sind : die
neuen Kategorien der Innerlichkeit aber sind bei Augustin erst im Werden ; vgl. das Folgende. —
Sl) In der That sucht Augustin durchaus den voöc Plotins mit dem Xof 0(; des Origenes zu iden-
tificiren : indem er aber die emanatistische Ableitung und Verselbständigung des voög aus der
neuplatonischen Lehre &lleu lässt, hebt er das physische Schema der Weltpotenzen zu Gunsten
des p8}xhi8chen auf. — 4) Dieselbe Dreitheilung der Seelen thätigkeiten findet sich schon bei
den Stoikern: vgl. S. 147.
§^2. Die Metaphysik der inneren Erfahrang. (Augrastin.) 221
Fnnctionsweisen der Fersönliehkeit etwa wie die Eigenschaften der Körper auf-
gefasst zu sehen. Ebensowenig bedeuten sie aber etwa verschiedene Schichten
oder Sphären ihres Daseins, sondern sie bilden in ihrer unlöslichen Einheit die
Substanz der Seele selbst. Nach diesen am Menschen erkannten Verhältnissen
des geistigen Lebens sucht daim Augustin nicht nur eine analogische Vorstellung
Yon dem Geheimniss der Trinität zu gewinnen, sondern er erkennt auch in dem
esse, nosse und velle die Grundbestimmungen aller Wirklichkeit : in Sein, Wissen
und Willen ist alle Wirklichkeit beschlossen, und in Allmacht, Allweisheit und
AUgüte umspannt die Gottheit das Universum.
Die ansgesprochene Ansicht von der Unzulänglichkeit der physischen (aristotelischen)
Kategorien erinnert nur scheinbar an den Neuplatonismus , dessen intelligible Kategorien
(vgl. S. 193) ebenso wie sein ganzes metaphysisches Schema durchaus physischer Art sind.
£r8t Augustin macht Ernst mit dem Versuche, die eigen thtimlichen Beziehnngsformen der
Innerlichkeit zu metaphysischen Principien zu erheben. Im Uebrigen verläuft seine Kos-
mologie ohne nennenswerthe Besonderheiten in den durch den Neuplatonismub gelegten Ge-
leisen. Die Zweiweltenlehre mit ihren anthropologischen Oorrelaten bildet hier die Voraus-
setzung. Die Sinnenwelt wird durch dieWahmehmun^n, die intelligible Welt wird durch die
Vernunft erkannt, und beide gegebenen Bestandtheile des Wissens werden durch das ver-
standesmässige Denken (ratiocmatio) mit einander in Beziehung gesetzt. Für die Natur-
aufFassung ergiebt sich die durch die Ideenlehre bedingte Teleologie : auch die Körperwelt ist
durch göttliche Macht, Weisheit und Güte aus Nichts geschaffen, und trägt in ihrer Schönheit
und Vollkommenheit das Zeichen dieses Ursprungs. Das Uebel (mit Einschluss des Bösen, vgl.
jedoch unten) ist auch hier nichts eigentlich Wirkliches, es ist nicht Sache, sondern Handlung,
es hat keine causa efficiens, sondern nur eine causa defioiens, sein Ursprung ist nicht bei dem
positiven Sein (Gott), sondern bei dem Seinsmangel der endlichen Wesen zu suchen: denn
diesen kommt als geschaffenen nur eine abgeschwächte und darum mangelhafte Realität zu.
So steht die Theodicee Augustinus wesentlich auf dem Boden deijenigen von Origenes und Biotin.
4. Eine weitere aber und wesentliche Folge der bewusst anthropologischen
Begründung der Philosophie ist bei Augustin die centrale Stellung, welche er in
seiner Weltanschauung dem Willen zugewiesen hat. Das leitende Motiv dabei
ist zweifellos die eigene Erfahrung des Mannes, der, selbst eine triebheisse und
willensstarke Natur, bei der grübelnden Durchforschung der eigenen Persönlich-
keit auf den Willen als auf den tiefsten Kern derselben stiess. Deshalb gilt ihm
aber in Allen der Wille als das Wesentliche: omnes nihil aliud quam volun-
tates sunt.
In seiner Psychologie und Erkenntnisslehre zeigt sich dies vor Allem darin,
dass er die beherrschende Stellung des Willens in dem gesammten Yorstellungs-
und Erkenntnissprocess allseitig zur Darstellung zu bringen sucht ^). Hatten
schon die Neuplatoniker hinsichtlich der Wahrnehmung zwischen dem körper-
lichen Erregungszustande und dem Bewusstwerden desselben unterschieden, so
weist Augustin durch eine genaue Analyse des Sehens nach, dass dies Bewusst-
werden wesentlich ein Act des Willens (intentio animi) sei. Und wie somit
schon die physische Aufinerksamkeit eine Sache des Willens ist, so weist auch
die Thäti^keit des inneren Sinnes (sensus interior) eine ganz analoge Abhängig-
keit von Willen auf. Ob wir unsere eigenen Zustände und Handlungen uns als
solche zum Bewusstsein bringen oder nicht, hängt ebenso von der willkürlichen
Reflexion ab, wie die gewollte Besinnung auf etwas unserem Gedächtniss An-
gehöriges und die auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Thätigkeit der combinativen
Phantasie. Ebenso vollzieht sich endlich das verstandesmässige Denken (ratio-
1) Vgl. hauptsächlich das eilfte Buch der Schrift De trinitate, dazu besonders W. Kahl,
Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustinus, Duns Scotus und Descartes. (Strass-
burg lase.)
222 in. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
ciDatio) mit seinen Urtheilen und Schlüssen durchgängig unter den Absichten des
Willens : denn dieser muss die Richtung und den Zweck bestimmen, wonach die
Data der (äusseren oder inneren) Erfahrung den allgemeinen Wahrheiten der
Vernunfteinsicht untergeordnet werden sollen.
Etwas verwickelter gestaltet sich das Verhältniss bei diesen Vernunft-
einsichten selbst: denn dieser höheren göttlichen Wahrheit gegenüber kann der
Activität des menschlichen Geistes nicht derselbe Spielraum gegeben werden,
wie hinsichtlich seiner intellectuellen Beziehungen zur Aussenwelt und zu seiner
eigenen Innenwelt. Schon aus philosophischen Gründen nicht: denn nach dem
metaphysischen Grundschema muss dem Allgemeineren als dem höheren und
wirkenskräftigeren Sein in der Causalberührung die active Rolle zukommen. Zu
dieser ihm metaphysisch überlegenen Wahrheit kann sich der menschliche Geist
in der Hauptsache nur leidend verhalten. Die Erkenntniss der intelKgiblen Welt
ist auch für Augustin wesentlich — Erleuchtung, Offenbarung. Hier, wo der
Geist seinem Schöpfer gegenübersteht, fehlt ihm nicht nur die schöpferische,
sondern sogar die receptive Initiative. Augustin ist weit entfernt, die intuitive
Erkenntniss der intelligiblen Wahrheiten etwa als ein selbständiges Erzeugniss
des Geistes aus seiner eigenen Natur anzusehen ; ja er kann ihr nicht einmal die-
selbe Spontaneität der Aufmerksamkeit oder der Richtung des Bewusstwerdens
(intentio) zuschreiben, wie den empirischen Einsichten äusserer und innerer Wahr-
nehmung: sondern er muss die Erleuchtung des individuellen Bewusstseins durch
die göttliche AVahrheit wesentlich als einen Act der Gnade (vgl. unten) betrachten,
bei dem das erstere sich zuwartend und rein aufnehmend verhält. Diese meta-
physischen Ucberlegungen, welche auch auf dem Boden des Neuplatonismus mög-
lich gewesen wären, erfahren nun aber bei Augustin eine mächtige Verstärkung
durch das Schwergewicht, welche er in seiner Theologie auf die göttliche Gnade
legte. Die Erkenntniss der Vemunftwahrheiten ist ein Moment der Seligkeit, und
diese verdankt der Mensch nicht dem eigenen Willen, sondern demjenigen Gottes.
Dennoch hat auch hier Augustin dem Willen des Individuums zunächst
wenigstens eine gewisse Cooperation zu retten gesucht. Er betont nicht nur, dass
Gott die Offenbarung seiher Wahrheiten nur demjenigen zuwende, der durch gutes
Streben und gute Sitten, d. h. durch die Qualitäten seines Willens sich dafür
würdig erweise; sondern er lehrt auch, dass die Aneignung der göttlichen Wahr-
heit nicht sowohl durch die Einsicht, als vielmehr durch den Glauben erfolge.
Der Glaube aber, als ein Vorstellen mit Zustimmung aber ohne Begreifen, setzt
zwar die Vorstellung seines Gegenstandes voraus, enthält aber in der durch keinen
intellectuellen Zwang bestimmten Zustimmung einen ursprünglichen Willens-
act des bejahenden Urtheils. So weit geht die Bedeutung dieser Thatsache, meint
Augustin, dass nicht nur in göttlichen und ewigen, sondern auch in irdisch-mensch-
lichen und zeithchen Dingen diese unmittelbar durch den Willen hervorgebrachte
Uoberzeugung die ursprünglichen Elemente des Denkens abgiebl, aus denen erst
durch die combinirende Ueberlegung des Verstandes die begreifende Einsicht
erwächst. So muss auch in den wichtigsten Dingen, d. h. in den Hcilsfragen,
der von dem guten Willen dictirte Glaube an die göttliche Offenbarung und an
ihr Erscheinen in der kirchlichen Tradition der verstandesmässig aneignenden
und begreifenden Erkenntniss vorhergehen. Der Würde nach ist freilich die
volle Vernunfteinsicht, aber der Zeit nach ist der Offenbarungsglaube das Ei-ste.
§ 22. Die Metaphysik der inneren Erfahrung^, (Aupfustin.) 223
5. In allen diesen Ueberlegungen Augustinus bildet den Mittelpunkt der
Begriff der Willensfreiheit als einer von Verstandesfunctionen unabhängigen,
durch Motive der Einsicht nicht bedingten ; sondern diese vielmehr ohne Be-
wusstseinsgründe bestimmenden Entscheidung, Wahl oder Zustimmung des
Willens, und Augustin hat sich redlich bemüht, diesen Begriff den verschiedenen
Einwürfen gegenüber aufrechtzuerhalten. Neben dem Bewusstsein der sittlich-
religiösen Verantwortlichkeit ist es hauptsächlich die Sache der göttlichen Ge-
rechtigkeit, welche er dabei vertreten will: und die meisten Schwierigkeiten macht
ihm andrerseits die Vereinbarung der ursachlosen Handlung, deren Gegentheil
gleich möglich und objectiv denkbar gewesen sein soll, mit der göttlichen Prä-
scienz. Er hilft sich hier mit der Berufung auf die Unterscheidung der Ewigkeit
(Zeitlosigkeit) und der Zeit, der er überhaupt in einer überaus feinsinnigen Unter-
suchung') eine reale Bedeutung nur für die messende Vergleichung der Functionen
der inneren Erfahrung und ei*8t danach auch für die äussere zuschrieb. Das an
sich zeitlose, sogenannte Vorherwissen der Gottheit habe für die zukünftigen Ereig-
nisse gerade so wenig causal bestimmende Gewalt, wie die Erinnerung für die ver-
gangenen. In diesen Zusammenhängen gilt Augustin mit Recht als einer der
eifrigsten und kräftigsten Vertreter der Willensfreiheit.
Dieser wesentlich mit den Waffen der früheren Philosophie verfochtenen
Ansicht wälzt sich nun aber bei Augustin, von Werk zu Werk anschwellend,
eine andere Gedankenmasse entgegen, welche ihren Keimpunkt im Begriffe der
Kirche und in der Lehre von ihrer erlösenden Gewalt hat. Hier tritt dem
Princip der Selbstgewissheit des individuellen Geistes dasjenige der historischen
Allgemeinheit siegreich entgegen. Die Idee der christlichen Kirche, deren
gewaltigster Kämpe Augustin gewesen ist, wurzelt in dem Gedanken der Erlösungs-
bedürftigkeit des ganzen menschlichen Geschlechts : diese Idee aber schliesst die
völlig unbestimmte Willensfreiheit des einzelnen Menschen aus. Denn sie ver-
langt, dass jeder Einzelne nothwendig sündig und deshalb der Erlösung bedürftig
sei. Unter dem überwältigenden Druck dieses Gedankens hat Augustin seiner in
den philosophischen Schriften so breit ausgeftihrten Theorie der Willensfreiheit
eine andere an die Seite gestellt, welche der ersteren durchweg zuwiderläuft.
Augustin will die für ihn persönlich so schwer wiegende Frage nach dem
Ursprung des Bösen — im Gegensatze zum Manichäismus — durch den Begriff
der Willensfreiheit lösen, um darin die menschliche Verantwortlichkeit und die
göttliche Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten : aber in seinem theologischen System
scheint es ihm ausreichend, diese Willensfreiheit auf Adam, den ersten Menschen, zu
beschränken. Die Vorstellung von der substantiellen Einheitlichkeit des Menschen-
geschlechts, welche auch bei dem Glauben an die Erlösung Aller durch den Einen
Heiland mitwirkte, erlaubte ebenso die Lehre, dass in dem Einen Adam die ganze
Menschheit gesündigt habe. Durch den Missbrauch der Willensfreiheit von Seiten
des ersten Menschen ist die gesammte menschliche Natur derart verdorben,
dass sie nicht mehr .anders kann als sündigen (non posse non peccare). Dieser
Verlust der Willensfreiheit trifft das ganze von Adam stammende Geschlecht
ohne Ausnahme : jeder Mensch bringt diese verderbte Natur^ welche nicht mehr
aus eigener Kraft oder Freiheit zum Guten fähig ist, mit auf die Welt, und diese
1) Im eilften Bucli der Confessionen. Vgl. C. Fortlaoe, A. de tempore doctrina
(Heidelberg 1836).
224 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Erbsünde ist die Strafe für die Ursiinde. Eben daraus folgt aber, dass alle
Menschen ausnahmslos der Erlösung und der Gnadenmittel der Earche be-
dürftig sind. Dass ihnen diese Gnade zu Theil werde, haben alle gleich wenig
verdient : deshalb, meint Augnstin, dürfe keine Ungerechtigkeit darin gesehen
werden, dass Gott diese Gnade, auf die Keiner Anspruch hat, nicht allen, sondern
nur einigen — und man weiss nie welchen — zuwendet. Andrerseits aber ver-
langt die göttliche Gerechtigkeit, dass wenigstens bei einigen Menschen die Strafe
für Adam's Fall dauernd aufrechterhalten werde, diese also von der Gnaden-
wirkung und der Erlösung ausgeschlossen bleiben. Da endlich ihrer verderbten
Natur nach alle gleich sündig und zu eigener Besserung unfähig sind , so erfolgt
die Auswahl der Begnadeten nicht nach ihrer Würdigkeit (denn solche giebt es
vor der Gnadenwirkung nicht), sondern nach einem unerforschlichen Rathschlusse
Gottes. Wen er erlösen will, dem wendet er seine Offenbarung mit ihrer unwider-
stehlichen Gewalt zu : wen er nicht auserwählt, der kann auf keine Weise erlöst
werden. Nicht einmal den Anfang zum Guten kann der Mensch aus eigener
Kraft machen : alles Gute rührt von Gott her und nur von ihm.
In der Prädestinationslehre erstickt somit (und das ist ihr philosophi-
sches Moment) die absolute CausaUtät Gottes den freien Willen des Individuums:
dem letzteren wird mit der metaphysischen Selbständigkeit auch alle Spontaneität
des Thuns abgesprochen : entweder bestimmt ihn seine Natur zur Sünde oder die
Gnade zum Guten. So stossen bei Augustin zwei kräftige Gedankenströme hart
gegen einander. Es wird immerdar eine erstaunliche Thatsache bleiben, dass der-
selbe Mann, welcher seine Philosophie auf die Selbstgewissheit des bewussten
Einzelgeistes gründete, welcher das Senkblei feinster Prüfung in die Tiefen der
inneren Erfahrung warf und im Willen den Lebensgiiind der geistigen Persönlich-
keit entdeckte, sich durch die Interessen eines theologischen Streites zu einer
Ansicht der Heilslehre gedrängt sah, welche die Handlungen des Einzelwillens
als unabänderlich bestimmte Folgen entweder einer generellen Yerderbniss oder
der göttlichen Gnade betrachtet. Individualismus und Universalismus
in der Auffassung der seelischen Wirklichkeit stehen sich hier schroff gegenüber,
und ihr klaffender Widerspruch ist kaum durch die Vieldeutigkeit des Wortes
Freiheit verdeckt, welches in der einen Richtung nach seiner psychologischen, in
der anderen nach seiner ethisch -religiösen Bedeutung verfochten wird. Der
Gegensatz aber der beiden Denkmotive, die hier so unvereinbar neben einander
liegen, ist auch in der folgenden Entwicklung der Pliilosophie bis weit über das
Mittelalter hinaus wirksam gewesen.
6. Im Lichte der Prädestinationslehre nimmt das grossartige Bild der histo-
rischen Entwicklung der Menschheit, welches Augustin in der Art und im Geiste
der gesammten Patristik entworfen hat, dunkle Farben und eigenthümlich starre
Formen an. Denn wenn nicht nur der Gesammtablauf der Heilsgeschichte, sondern
wie bei Augustin auch die Stellung, welche jeder Einzelne darin einnehmen soll,
durch göttlichen Rathschluss vorherbestimmt ist, so kann man sich des düstern
Eindrucks nicht erwehren, dass all das heilsdurstige Willensleben der Menschen
in der Geschichte zu einem schatten- und marionettenhaftem Getreibe herabsinkt,
dessen Resultat von vom herein unausbleiblich feststeht.
Die geistige Welt zerfallt für Augustin durch die ganze Geschichte hindurch
in zwei Sphären: das Reich Gottes und das Reich des Teufels. Zu dem ersteren
§ 22. Die Metaphysik der inneren Erfahi-ung. (Augusiin.) 225
gehören ausser den nicht gefallenen Engeln die Menschen, welche Gott zur Gnade
erwählt hat; das andere umfasst mit den bösen Dämonen alle diejenigen Menschen,
welche nicht zur Erlösung prädestinirt, sondern von Gott in dem Zustande der
Sünde und der Schuld belassen werden : das eine ist das Reich des Himmels,
das andere das der Welt. Beide verhalten sich im Laufe der Geschichte wie zwei
verschiedene Geschlechter, die nur im äusseren Thun durch einander gemischt,
innerlich aber streng geschieden sind. Die Gemeinschaft der Erwählten hat auf
Erden keine Heimath ; sie lebt in der höheren Einheit der göttlichen Gnade. Die
Gemeinschaft der Verdammten aber ist in sich durch Zwietracht getheilt, sie
kämpft in den irdischen Reichen um die Scheinwerthe der Macht und Herrschaft.
So wenig vermag auf dieser Entwicklungsstufe noch der christliche Gedanke die
WeltwirkUchkeit zu bemeistern, dass Augustin in den historischen Staatsgebilden
nur die zum Hader mit einander verurtheilten Provinzen einer gottfeindUchen
Sändergemeinschafb erblickt. Ihm ist in der That noch das Reich Gottes nicht
von dieser Welt; und die Kirche ist ihm die in das zeitliche Leben hereinragende
Heilsanstalt des göttlichen Reiches.
Der Verlauf der Welt geschieh te aber wird unter diesen Voraussetzungen
so aufgefasst; dass in demselben eine successiv sich verschärfende Trennung
zwischen den beiden Reichen eintreten und ihr letztes Ziel die vollkommene
und definitive Scheidung derselben sein soll. In sechs Perioden, welche den
Schöpfungstagen der mosaischen Kosmogonie entsprechen sollen und sich an
Daten der israelitischen Geschichte anschliessen, construirt Augustin die Welt-
geschichte: mit geringem Verständniss für das Wesen des Griechenthums ver-
bindet er dabei eine abschätzige Beurtheilung der römischen Welt. Den ent-
scheidenden Punkt in dieser Entwicklung bildet auch für ihn das Erscheinen des
Heilandes, womit nicht nur die Erlösung der von der Gnade Erwählten, sondern
auch ihre Absonderung von den ^Kindern der Welt zur Vollendung gefährt wird.
Damit beginnt die letzte Weltperiode, deren Ende das Gericht bilden wird :
dann soll nach der Noth des Kampfes der Sabbath eintreten, der Friede des
Herrn, — aber der Friede nur für die Erwählten; denn die nicht zur Erlösung
Prädestinirten werden dann, völlig von den Heiligen getrennt, ganz der Pein
ihrer Unseligkeit anheimgegeben sein.
Mögen dabei Sehgkeit und Pein noch so geistig sublim (obwohl nie
ohne physische Nebenbilder) aufgefasst und namentlich die Unseligkeit als Ab-
Schwächung des Seins durch den Mangel göttlicher Causalität gedacht sein, so
ist doch unverkennbar für Augustin der Dualismus des Guten und des Bösen
das Endergebniss der Weltgeschichte. Der von so vielen gewaltigen Denkmotiven
bestürmte Mann hat den Manichäismus seiner Jugendüberzeugung nicht über-
wunden, — er hat ihn in die Christenlehre aufgenommen. Bei den Manichäern
gilt der Gegensatz des Guten und des Bösen als ursprünglich und unvertilgbär:
bei Augustin gilt dieser Gegensatz zwar als geworden, aber doch als unausrottbar.
Der allmächtige, allwissende, allgütige Gott hat eine Welt geschaffen, welche in
sein Reich und in das des Satan für ewig auseinanderfallt.
7. Unter den welthistorischen Ideen- und ProblemverschUngungen, welche
der Augustinismus enthält, ist schliessUch noch eine hervorzuziehen. Sie hegt
in dem Begriffe der Seligkeit selbst, in dem sich alle Motive seines Denkens
kreuzen. So sehr nämlich Augustin im Willen die innerste Triebenergie des
Windelband, Geschichte der Philosophie. ]^5
A
226 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
menschlichen Wesens erkannte, so tief er das Glückstreben als das treibende
Motiv aller seelischen Functionen durchschaute, so fest blieb er doch über-
zeugt, dass die Erfüllung alF dieses Drängens und Treibens erst in der An-
schauung der göttlichen Wahrheit zu finden sei. Das höchste Gut ist
Gott; aber Gott ist die Wahrheit, und die Wahrheit geniesst man, indem man
sie anschaut und in ihrer Anschauung ruht. Alles Treiben des Willens ist
nur der Weg zu diesem Frieden, in dem er aufhört. Die letzte Aufgabe des
Willens ist, in der Gnadenwirkung der göttlichen Offenbarung zu schweigen,
— stille zu halten, wenn das Schauen der Wahrheit, von oben gewirkt, über ihn
kommt.
Hier verbinden sich in gemeinsamem Gegensatze gegen den Willens-
individualismus die christliche Idee der absoluten Causalität Gottes und die
contemplative Mystik der Neuplatoniker. Von beiden Seiten her wirkt die gleiche
Tendenz, die Heiligung des Menschen als ein Wirken Gottes in ihm, als ein Er-
filUtwerden und Erleuchtetwerden durch die höchste Wahrheit, als ein willen-
loses Anschauen des Einen unendlichen Seins aufzufassen. Wohl hat Augustin
— und gerade darin zeigt sich die umspannende Weite seines persönlichen
Wesens und seines geistigen BHcks — die praktischen Consequenzen, welche die
Gnadenwirkung im irdischen Leben haben soll, die Reinigung der Gesinnung
und die Strenge der Lebensführung, kraftig herausgebildet und die lebensfrische
Energie seiner eigenen streitbaren Natur in eine ethische Lehre entwickelt,
welche, weitab von der lebensmüden Weltflüchtigkoit des Neuplatonisraus, den
Menschen mitten in den Weltkampf des Guten und Bösen als tapferen Streiter
für das himmlische Reich stellt. Aber der höchste Lohn, der diesem Streiter
Gottes winkt, ist doch auch für Augustin nicht die rastlose Bethätigung des
Willens, sondern die Ruhe des Schauens. Für das zeitliche Leben ver-
langt Augustin die volle und nimmer ruhende Anspannung der ringenden und
handelnden Seele: für die Ewigkeit stellt er ihr den Frieden der Ver-
senkung in die göttliche Wahrheit in Aussicht. Wohl bezeichnet er den Zu-
stand der Sehgen als die höchste der Tugenden, als die Liebe ^) (charitas):
allein in der ewigen Seligkeit, wo der Widerstand der Welt und des sündigen
Willens nicht mehr zu überwinden ist, wo die Liebe kein Bedürfniss mehr zu
stillen hat, da ist auch diese Liebe nichts anderes mehr als ein gotttrunkenes
Schauen.
Auch in dieser Dualität der augustinischen Ethik liegen Altes und Neues
dicht bei einander. Mit der straffen Willensenergie, welche für das irdische
Leben verlangt wird, und mit der Verlegung der ethischen Beurtheilung in die
Innerlichkeit der Gesinnung kommt der moderne Mensch zum Durchbruch: aber
in der Auffassung des höchsten Lebensziels behält das antike Ideal des geistigen
Schauens den Sieg.
Hier steckt in Augustinus Lehre selbst ein Widerspruch mit dem Willens-
individualismus, hier behauptet sich an entscheidender Stelle ein aristoteHscbes,
neuplatonisches Element, und dieser innere Gegensatz entfaltet sich in den
Problembildungen des Mittelalters.
1) Im System erscheinen über den praktischen und den dianoÖtischen Tugenden der
griechischen Ethik die drei christlichen Tugenden Glaube, Hofinung und Liebe.
I
§ 23. Der Universalienetreit. 227
% 23. Der üniverBalienstreit.
Johannes Saresberiensis, Metalogicus, II cap. 171.
J. H. Löwe, Der Kampf zwischen Norainalismas und Realismus im Mittelalter, sein.
Ursprung und sein Verlauf. Prag 1876.
Die formal- logische Schulung, welche die mit dem Anfang des Mittel-
alters in die wissenschaftliche Bewegung eintretenden Völker durchmachen
mussten, hat sich an der Frage nach der logisch-metaphysischen Bedeutung
der Gattungsbegriffe (universalia) entwickelt. Aber man würde sehr irren,
wollte man meinen, dass diese Frage nur den didaktischen Werth eines Haupt-
gegenstandes der Denkübung gehabt habe, an dem sich Jahrhunderte lang
die Regeln des begrifflichen Denkens, Eintheilens, Urtheilens und Schliessens
immer neuen und wachsenden Schaai*en von Schülern einprägten. Vielmehr ist
die Zähigkeit, mit welcher die Wissenschaft des Mittelalters — und zwar be-
zeichnender Weise unabhängig von einander sowohl diejenige des Orients als
auch diejenige des Occidents — an der Bearbeitung dieses Problems in endlosen
Discussionen festgehalten hat, denn doch an sich schon ein Beweis dafür, dass
in dieser Frage ein sehr reales und sehr schwieriges Problem vorliegt.
In der That, als die Scholastik schon in ihren schüchternen Anfangen die
Stelle in der Einleitung des Porphyrios *) zu den Kategorien des Aristoteles, welche
dies Problem formulirt, zum Ausgangspunkt der ersten eigenen Denkversuche
machte, da stiess sie mit instinctivem Scharfsinne auf genau dasselbe Problem,
welches schon während der grossen Zeit der griechischen Philosophie im Mittel-
punkte des Interesses gestanden hatte. Nachdem Sokrates der Wissenschaft die
Aufgabe gewiesen hatte, die Welt in Begriffen zu denken, wurde die Frage, wie
sich die Gattungsbegriffe zur Realität verhalten , zum ersten Mal ein Haupt-
motiv der Philosophie: sie erzeugte die platonische Ideenlehre und die ari-
stotelische Logik; und wenn die letztere (vgl. § 12) zu ihrem wesentlichen Inhalt
die Lehre von den Formen der Abhängigkeit hatte, in der sich das Besondere
vom Allgemeinen befindet, so ist es begreiflich, dass selbst aus so spärUchen Resten
und Bruchstücken dieser Lehre, wie sie dem frühsten Mittelalter zur Verfugung
standen, dasselbe Problem mit seiner ganzen Gewalt auch dem neuen Geschlecht
entgegenspringen musste. Und es ist ebenso begreiflich, dass die alte Räthsel-
frage auf die naiven, denkungeübten Geister des Mittelalters ähnlich wirkte, wie
auf die Griechen. In der That hat die logische Disputirlust, wie sie sich seit dem
eilften Jahrhundert an den Pariser Hochschulen entwickelte, als sociale Massen-
erscheinung ihr Gegenstück nur in den Philosophendebatten Athens, und auch
in diesen spielte, wie zahlreiche Anekdoten beweisen, die um die Ideenlehre
gruppirte Frage nach der Realität der üniversalien eine Hauptrolle.
Dabei geschah jedoch die Erneuerung des Problems unter wesentlich un-
günstigeren Verhältnissen. Die Griechen besassen, als ihnen diese Frage auf-
tauchte, eine reiche Fülle eigener wissenschaftlicher Erfahrung und einen Schatz
sachlicher Kenntnisse und Einsichten, der sie, wenn auch nicht immer, so doch
meistens und im Ganzen davor bewahrte, die Discussion lediglich auf die formal-
1) Die Pormulirung des Problems lautet in der Uebersetzung des Boethius: „. . . de
generibus et speciebus — sive subsistaut sive in solis nudis intellectibus posita sint, sive sub-
sistentia corporalia an iucorporalia, et utrum scparata a sensibilibus an in sensibilibus posita
et circa haec consistentia" . . .
15
" A
(\^
228 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
logische Abstraction hiniiberzuspielen. Gerade dies Gegengewicht aber fehlte
der mittelalterlichen Wissenschaft, zumal in ihren Anfangen, und deshalb hat sie
sich mit dem Versuche, aus bloss logischen üeberlegungen ihre Metaphysik zu
constituiren, so lange im Kreise herum drehen müssen.
Dass nun aber wiederum das Mittelalter sich so hartnäckig in diese Contro-
verse verbiss, die vordem hauptsächlich zwischen Piaton und den Kynikern, und
nachher zwischen der Akademie, dem Lyceum und der Stoa verfochten worden war,
das kam doch nicht nur daher, dass man bei der Mangelhaftigkeit der Tradition
von jenen früheren Debatten so gut wie nichts wusste, sondern es hatte noch
einen tieferen Grund. Das Gefühl von dem Eigen werthe der Persönlichkeit, das
im Christenthum und insbesondere auch in der augustinischen Lehre einen so
gewaltigen Ausdruck gewonnen hatte, fand gerade bei den Stämmen, welche zu
den neuen Trägern der Cultur berufen waren, den lebhaftesten Widerhall und
die stärkste Mitempfindung, und im Herzen derselben Völker tobte auch die
jugeudfrische Lust an der farbigen Wirklichkeit, an der lebendigen Einzel-
erscheinung. Mit der Kirchenlehre aber überkamen sie eine Philosophie, welche
mit der massvollen Ruhe des griechischen Denkens das Wesen der Dinge in all-
gemeinen Zusammenhängen auffasste, eine Metaphysik, welche die Stufen der
logischen Universalität mit verschiedenwerthigen Intensitäten des Seins iden-
tificirte. Darin lag eine Tncongruenz, welche sich verdeckt schon im Augustinis-
mus geltend machte und ein bleibender Stachel für die philosophische lieber-
legung wurde.
1. Die Frage nach dem Seinsgrunde des Individuums, welche das mittel-
alterliche Denken nicht wieder losgeworden ist, lag demselben gerade in seinen
Anfangen um so näher, je kräftiger sich darin unter der Hülle einer christlichen
Mystik die neuplatonische Metaphysik aufrechterhielt. Nichts konnte geeigneter
sein, den Widerspruch eines urwüclisigen Individualismus hervorzurufen, als die
hochgradige Consequenz, mit welcher Scotus Erigena den Grundgedanken des
neuplatonischen Realismus zur Durchführung brachte. Kein Philosoph
vielleicht hat deutlicher und unumwundener als er die letzten Folgerungen der
Metaphysik ausgesprochen, welche von dem sokratisch-platonischen Princip aus,
dass die Wahrheit und deshalb auch das Sein im Allgemeinen zu suchen sei, die
Stufen der Allgemeinheit mit denjenigen der Intensität und der Priorität des
Seins identificirt. Das Allgemeine (der Gattungsbegriff) erscheint hier als das
wesenhafter und ursprünglicher Wirkliche, welches das Besondere (die Art und
schliesslich das Individuum) aus sich erzeugt und in sich enthält. Die
Uni Versalien sind also nicht nur Substanzen (res; daher der Name Realismus),
sondern sie sind den körperlichen Einzeldingen gegenüber die ursprünglicheren,
die erzeugenden und bestimmenden, sie sind die realeren Substanzen; und zwar
sind sie um so realer, je allgemeiner sie sind. In dieser Auffassung werden
daher die logischen Verhältnisse der Begriffe unmittelbar zu metaphysischen Be-
ziehungen ; die formale Ordnung erhält reale Bedeutung. Die logische Unter-
ordnung verwandelt sich in ein Erzeugtsein und Beschlossensein des Einzelnen
durch das Allgemeine; die logische Partition und Determination setzt sich in
einen Causalprocess um, vermöge dessen das Allgemeine sich in das Besondere
gestaltet und entfaltet.
Die so zu metaphysischer Bedeutung erhobene Begriffspyramide gipfelt in
§ 23. Der Universalienetreit. (Scotus En'gena.) 229
dem Begriffe der Gottheit als des Allgemeinsten. Aber das letzte Product der
Abstraction, das absolut Allgemeine ist das Bestimmungslose (vgl. 8. 197).
Daher identificirt sich diese Lehre mit der alten ^negativen Theologie^, nach
welcher von Gott nur ausgesagt werden kann, was er nicht ist^); und doch wird
echt plotinisch auch hier dies höchste Sein als die ^ ungeschaffene; aber selbst
schaffende Natur^ bezeichnet. Denn dies Allgemeinste erzeugt, aus sich die Ge-
sammtheit der Dinge^ die deshalb nichts anderes enthält als seine Erscheinung
und die sich zu ihm verhält wie die besonderen Exemplare zur Gattung : sie sind
in ihm und bestehen nur als seine Erscheinungsweisen. So ergiebt sich aus diesen
Voraussetzungen ein logischer Pantheismus: alle Dinge der Welt sind
„Theophanien^, die Welt ist der in das Besondere entwickelte; aus sich heraus
gestaltete Gott (deus explicitus). Gott und Welt sind Eins. Dieselbe „Natur**
(<p&a(^) ist als schaffende Einheit Gott und als geschaffene Vielheit Welt.
Der Process der Entfaltung (egressus) aber schreitet in der Abstufung der
logischen Allgemeinheit vor. Aus Gott folgt zunächst die intelligible Welt als
;,die Natur, welche geschaffen ist und selbst schafft"; das Reich der Universalien,
der IdeeU; die (als voi im plotinischen Sinne) die wirkenden Kräfte in der sinn-
lichen Erscheinungswelt bilden. Den verschiedenen Graden der Allgemeinheit
und deshalb auch der Seinsintensität nach bauen sie sich als eine himmlische
Hierarchie auf, und in diesem Sinne construirt die christliche Mystik eine c
Engellehre nach neuplatonischem Muster. Ueberali aber ist dabei unter der
mythischen Hülle der bedeutsame Gedanke wirksam, dass die reale Abhängig-
keit in der logischen bestehe: dem Üausalverhältniss wird das logische Folgen
des Besonderen aus dem Allgemeinen untergeschoben.
Daher ist denn auch in der Siunenwelt das eigentlich Wirkende nur das
Allgemeine: die Gesammtheit der Körper bildet die „Natur^ welche geschaffen
ist und nicht selbst schafft" ^. Darin aber ist das einzelne Ding nicht als solches,
sondern vielmehr nach Massgabe der allgemeinen Bestimmungen; die an ihm zur
Erscheinung gelangen, thätig. Dem sinnlichen Einzelding kommt sonach die
geringste Kraft des Seins, die abgeschwächteste und durchweg abhängige Art
der Realität zu : der neuplatonische Idealismus wird von Scotus Erigena in
vollem Umfange aufrecht erhalten.
Den Stufen der Entfaltung entspricht umgekehrt die Rückkehr aller Dinge
in Gott (regressus), die Auflösung der einzelgestalteten Welt in das ewige Ur-
weseU; die Vergottung der Welt. So gedacht, als das letzte Ziel allen Ge-
schehens; als die Auslöschung aller Besonderung; wird Gott als „die Natur, die
weder geschaffen ist noch schafft", bezeichnet: es ist das Ideal der bewegungs-
losen Einheit, der absoluten Ruhe am Ende des Weltprocesses. Alle Theophanien
sind dazu bestimmt; in die unterschiedslose Einheit des göttlichen Allwesens
zurückzukehren. So soll auch im Geschick der Dinge sich die übermächtige,
alles Besondere verschlingende Realität des Allgemeinen bewähren.
1) In der Ausführung dieses philonischen Gedankens (vgl. S. 186) haben übrigens schon
die Kirchenväter einen Gedankengang angewendet, welcher durch fortschreitende Abstraction
zum Begriffe Gottes als des Bcstinunungslosen fortschreitet: vgl. z. B. Clemens Alex. Strom.
V, 11 (689). — 2) Es braucht nur kurz erwähnt zu werden, dass diese „Eintheilung der Natur"
offenbar an die aristotelische Unterscheidung des unbewegt Bewegenden, des bew^egt Be-
wegenden und des nicht bewegend Bewegten (vgl. S. 113) eriunert.
230 m^- Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
2. Wie im Alterthum (vgl. S. 95), so erscheint also auch hier im Gefolge
des Bestrebens, den üniversalien Wahrheit und Realität zu sichern, der eigen-
thümliche Gedanke einer Gradabstufung des Seins. Einiges (das Allgemeine),
lehrt man, ist mehr als Anderes (das Besondere): das „Sein" wird, wie sonstige
Eigenschaften, als comparirbar, als steigerungs- bezw. abschwächungsfahig an-
gesehen; es kommt den einen Dingen mehr zu, als den anderen. So gewöhnt
man sich daran , den Begriff des Seins (esse- existere) zu demjenigen , was
ist (essentia) , in ähnlicher Beziehung und in ähnlich intensiv abgestufter Be-
ziehung zu denken, wie andere Merkmale und Eigenschaften. Wie ein Ding mehr
oder minder Ausdehnung, Kraft, Haltbarkeit besitzt, so hat es auch mehr oder
minder „Sein*^ ; und wie es andere Eigenschaften empfangen oder verlieren kann,
so auch diejenige des Seins. Diese Gedankenrichtung des Realismus muss man
im Auge haben, um eine grosse Anzahl der metaphysischen Theorien des Mittel-
alters zu verstehen; sie erklärt auch zunächst die bedeutendste Lehre, welche der
Realismus erzeugt hat: den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes,
welchen Anselm von Canterbury aufgestellt hat.
Je mehr Allgemeinheit, desto mehr Realität. Daraus folgt, wenn Gott das
allgemeinste Wesen ist, dass er auch das realste, wenn er das absolut allgemeine
Wesen ist, dass er auch das absolut reale Wesen ist: ens realissimum. Er
hat deshalb seinem Begriffe nach nicht nur die vergleichsweise grösste Realität,
sondern auch die absolute Realität, d. h. eine Realität, wie sie grösser und höher
nicht gedacht werden kann.
Dabei ist nun aber durch die ganze Entwicklung, welche diese Gedanken-
reihe schon im Alterthum genommen hat, in den Begrfff des Seins untrennbar
auch das Werthprädicat der Vollkommenheit eingeschmolzen. Die Grade des
Seins sind diejenigen der Vollkommenheit: je mehr etwas ist, um so vollkommener
ist es, und umgekehrt, je vollkommener etwas ist, um so mehr ist es *). Der Be-
griff des höchsten Seins ist also auch derjenige einer absoluten Vollkommenheit,
d. h. einer Vollkommenheit, wie sie höher und grösser nicht gedacht werden
kann: ens perfectissimum.
Nach diesen Voraussetzungen schliesst Anselm völlig richtig, aus dem blossen
Begriffe Gottes als des allervoUkommensten und allerrealsten Wesens müsse seine
Existenz gefolgert werden können. Um aber dies zu thun, hat er verschiedene
Beweiswege einzuschlagen versucht. In seinem Monologium folgt er dem alten
kosmologischen Argument, dass, weil es überhaupt Sein giebt, ein höchstes und
absolutes Sein angenommen werden müsse, von dem alles andere Seiende sein Sein
habe und das selbst nur von sich aus, seiner eigenen Wesenhaftigkeit nach, sei
(Aseitas). Während alles einzelne Seiende auch als nicht-seiend gedacht werden
kann und deshalb die Realität seines Wesens nicht sich selbst, sondern einem
Anderen (eben dem Absoluten) verdankt, kann das Vollkommenste nur als seiend
gedacht werden und existirt somit kraft der Nothwendigkeit seiner eigenen
Natur. Gottes (und nur Gottes) Essenz involvirt seine Existenz. Den Nerv
dieses Beweises bildet somit in letzter Instanz der eleatische Grundgedanke:
Sottv elvat, das Sein ist und kann nicht anders als seiend gedacht werden.
1) Ein Princip, welches der Theodicee bei Augustiu, wie bei den Ncuplatonikeru zu
Grunde liegt, insofern als bei beiden das Seiende eo ipso als gut, das Böse dagegen als nicht
wahrhaft seiend galt.
§23. Der Univer8aliea«treit. (Anselm.) 231
In eine eigenthümliche Verwicklung aber verstrickte Anselm denselben Ge-
danken, indem er ihn zu vereinfachen und in sich zu verselbständigen meinte^
Im Proslogium trat er den (im eigentlichen Sinne so genannten ontologischen) Be-
weis an, dasSy ohne jede Rücksicht auf das Sein anderer Dinge, schon der blosse
Begriff des vollkommensten Wesens dessen Kealität involvire. Indem dieser Be-
griff gedacht wird, besitzt er psychische Realität : das allervollkommenste Wesen
ist als Bewusstseinsinhalt (esse in intellectu). Wenn es nun aber nur als Be-
wusstseinsinhalt und nicht auch in metaphysischer Wirklichkeit existirte (esse
etiam in re), so könnte offenbar noch ein vollkommeneres Wesen gedacht werden,
welches nicht nur psychische, sondern auch metaphysische Realität besässe, und
damit wäre jenes nicht das allervollkommenste. Somit gehört es zum Begriffe des
vollkommensten Wesens (quo malus cogitari non potest), dass es nicht nur vor-
gestellte, sondern auch absolute Reahtät besitzt.
Es liegt auf der Hand, dass Anselm mit dieser Formulirung keinen glück-
lichen Griff that, und dass, was ihm vorschwebte, darin nur zu sehr ungelenkem
Ausdruck kam. Denn wenig Scharfsinn gehört dazu, um einzusehen, dass Anselm
nur bewiesen hatte, Gott müsse, wenn er (als vollkommenstes Wesen) gedacht
wird, auch nothwendig als seiend, könne nicht als nicht-seiend gedacht werden.
Aber der ontologische Beweis des Proslogium zeigte auch nicht im Entferntesten,
dass Gott, d. h. dass ein voUkouunenstes Wesen gedacht werden müsse. Die
Nöthigung dazu stand für Anselm persönlich nicht nur durch seine gläubige
Ueberzeugung, sondern auch durch den kosmologischen Beweisgang des Mono-
logium fest : indem er diese Voraussetzung entbehren und mit dem blossen Be-
griffe Gottes zum Beweise seiner Existenz auskommen zu können glaubte, be-
thätigte er in typischer Weise die Grundvorstellung des Realismus, welche den
Begriffen, ohne jede Rücksicht auf ihre Genesis und Begründung im menschlichen
Geiste, den Charakter der Wahrheit, d. h. der Realität zuschrieb. Deshalb allein
konnte er aus der psychischen auf die metaphysische Wirklichkeit des Gottes-
begriffs zu schliessen versuchen.
Darum traf in der That die Polemik des Gaunilo in gewisser Hinsicht
den wunden Punkt. Dieser führte nämlich aus, dass man nach der Methode
Anselm's für jede beliebige Vorstellung, z. B. diejenige, einer Insel, wenn man
nur das Merkmal der Vollkommenheit darin aufnähme, in ganz derselben Weise
die Realität würde beweisen können. Denn die vollkommenste Insel würde,
wenn sie nicht wirkhch wäre, offenbar von der wirklichen, welche dieselben
übrigen Merkmale besässe, an Vollkommenheit übertroffen worden; sie würde
um das Sein hinter dieser zurückstehen. Statt aber, wie man erwarten könnte,
in seiner Replik zu zeigen, dass der Begriff einer vollkommenen Insel eine durch-
aus unbenöthigte willkürliche Fiction sei oder dass derselbe einen inneren Wider-
spruch enthalte, während der Begriff des aUerrealsten Wesens nothwendig und
widerspruchslos sei, ergeht sich Anselm in der Wiederholung des Arguments,
dass, wenn das vollkommenste Wesen im Intellect sei, es auch in re sein müsse.
So gering nun auch hiernach die zwingende Kraft dieses Beweisversuches
für denjenigen bleibt, der nicht, wie Anselm ohne es sich einzugestehen thut,
den Begriff eines absoluten Seins als denknothwendig ansieht, so werthvoll ist
das ontologische Argument für die Charakteristik des mittelalterlichen Realismus,
dessen consequentesten Ausdruck es bildet. Denn der Gedanke, dass das höchste
232 m« Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Wesen seine Realität nur der eigenen Wesenhaftigkeit verdanke und dass des-
halb diese Realität aus seinem Begriffe allein müsse bewiesen werden können, ist
der natürliche Abschluss einer Lehre, welche das Sein der Wahmehmungsdinge
auf ein Theilhaben an Begriffen zurückfuhrt und innerhalb der Begriffe selbst
wieder eine Bangordnung der Realität nach dem Massstabe der Allgemeinheit
ansetzt.
3. Als es sich nun aber darum handelte, die Art der Wirklichkeit, welche
den Universalien zukomme, und ihr Verhältniss zu den sinnUchen Einzeldingen
zu bestimmen, sah sich der mittelalterliche Realismus in ganz ähnliche Schwierig-
keiten wie einst der platonische verwickelt. Den Gedanken einer zweiten,
höheren, immateriellen Welt freilich, der damals erst hatte geboren werden
müssen, übernahm man jetzt als eine fertige und fast selbstverständliche Lehre;
und die neuplatonische Auffassung der Ideen als Inhaltsbestimmungen des gött-
lichen (Teistes konnte dem reUgiös gestimmten Denken nur sympathisch sein.
Nach dem Vorbilde des platonischen Timaeus, dessen mythische Darstellung
diese Auffassung begünstigte, entwarf Bernhard von Chartres eine kosmo-
gonische Dichtung von grotesker Phantastik, und bei seinem Bruder Theodorich
finden sich, aus den gleichen Anregungen stammend, Versuche einer Zahlen-
symbolik, welche nicht nur (wie das auch sonst geschah) das Dogma von der
Trinität, sondern auch weitere metaphysische Grundbegriffe aus den Elementen
der Einheit, Gleichheit und Ungleichheit zu entwickeln unternahm ^).
Neben dieser vorbildlichen Realität der Ideen im Geiste Gottes handelt
es sich aber auch darum, welche Bedeutung ihnen im Zusammenhange der ge-
schaffenen Welt zuerkannt werden soll. Auch hierin hat der extreme Reahs-
mus, wie ihn anfanglich Wilhelm von Champeaux behauptete, die volle Sub-
stantialität des Gattungsbegriffs gelehrt: das Universale wohne allen seinen
Individuen ab die überall mit sich identische, ungetheilte Wesenhaftigkeit bei.
Danach erscheint die Gattung als die einheitliche Substanz, und die specifischen
Merkmale der ihr zugehörigen Individuen als die Accidenzen dieser Substanz.
Erst Abaelard's Einwurf, dass danach derselben Substanz einander vrider-
sprechende Accidenzen zugeschrieben werden müssten, zwang den Vertreter des
Realismus, diese äusserste Position aufzugeben und sich auf die Vertheidigung
des Satzes zu beschränken, die Gattung bestehe in den Individuen individualiter ^) ;
d. h. ihre allgemeine, identische Wesenhaftigkeit gestalte sich in jedem einzelnen
Exemplar in besonderer substantieller Form. Diese Ansicht berührte sich mit
der durch Boethius und Augustin aufrecht erhaltenen und auch in der Litteratur
der Zwischenzeit gelegentlich erwähnten Auffassung der Neuplatoniker, und ihre
Darstellung bewegt sich gern in der aristotelischen Terminologie, wonach denn
das Allgemeine als die unbestimmtere Möglichkeit erscheint, welche sich in den
Individuen vermittels der eigenthümlichen Formen derselben verwirklicht. Der
Begriff ist dann nicht mehr im eigentlichen Sinne Substanz, sondern das gemein-
same Substrat, welches in den einzelnen Exemplaren verschieden gestaltet ist.
Auf einem anderen Wege suchte Walter von Mortagne die Schwierigkeit
zu heben, indem er die Individualisirung der Gattungen zu Arten und der Arten
1) Vgl. die Auszüge bei HAURtAü, Hist. d. 1. ph. sc. I, 396 ff. — 2) lieber die schwerlich
aufrechtzuerhaltende Variante „indifferenter" vgl. LöwB, a. a. 0. p. 49 ff.
§ 23. Der Univerealienstreit. (Realisten und Nominalisten.) 233
ZU Einzeldingen als das Eingehen des Substrats in verschiedene Zustände (status)
bezeichnete^ diese Zustände aber als realiter specialisirende Determinationen des
Allgemeinen betrachtete.
In beiden Richtungen aber war der Realismus nur schwer von einer letzten
Consequenz zurückzuhalten, die zunächst durchaus uicht in der Absicht seiner
rechtgläubigen Vertreter lag. Mochte man das Verhältniss des Allgemeinen
zum Besonderen als die Selbstrealisirung des Substrats zu individuellen Formen
oder als Specialisirung desselben in die einzelnen Zustände betrachten; —
immer kam man schliesslich in der au&teigenden Linie der Abstractionsbegriffe
zu der Vorstellung des ens generalissimum, dessen Selbstverwirklichungen oder
dessen modificirte Zustände in absteigender Linie die Gattungen, Arten und
Individuen bildeten, d. h. zu der Lehre, dass in allen Erscheinungen der Welt
nur die Eine göttliche Substanz zu sehen sei. Der Pantheismus steckte dem
Reahsmus vermöge seiner neuplatonischen Abstammung im Blute und kam hie
und da immer wieder zu Tage ; und Gegner, wie Abaelard, verfehlten nicht, ihm
diese Consequenz vorzuwerfen.
Indessen kam es in diesem Zeitraum zu einer ausdrücklichen Behauptung
des reaUstischen Pantheismus noch nicht: vielmehr fand der Realismus in seiner
Universalientheorie gerade eine Handhabe für die Begründung einiger funda-
mentaler Dogmen und erfreute sich deshalb der kirchlichen Zustimmung. Die
Annahme einer substantiellen Realität der Gattungen schien nicht nur eine
rationale Darstellung der Trinitätslehre zu ermöglichen, sondern erwies sich
auch, wie Anselm und Odo (Odardus) von Cambrey zeigten, als geeignete philo-
sophische Grundlage für die Lehre von der Erbsünde und diejenige von der stell-
vertretenden Genugthuung.
4. Umgekehrt entschied sich aus denselben Gründen zunächst das Geschick
des Nominalismus, welcher während dieser Zeit mehr zurückgedrängt und er-
stickt worden ist. Dabei waren seine Anfange ^) harmlos genug. Er erwuchs aus
den Bruchstücken der aristotelischen Logik, insbesondere aus der Schrifb De
categoriis. In dieser waren die Einzeldinge der Erfahrung als die wahren, „ersten"
Substanzen bezeichnet, und hier war die logisch-grammatische Regel aufgestellt,
dass die „Substanz" nicht Prädicat im Urtheil sein könne: res non praedicatur.
Da nun die logische Bedeutung der Universalien wesentlich die ist, die Prädicate
im Urtheil (und im Schluss) abzugeben, so schien dai*aus zu folgen — das lehrte
schon der Commentar Super Porphyrium — , dass die Universalien keine Sub-
stanzen sein können.
"Was sind sie dann? Bei Marcianus Capella war zu lesen, ein Universale sei
die Zusammenfassung vieler Besonderheiten durch Einen Namen (nomen), durch
dasselbe Wort (vox); das Wort aber, hatte Boethius deiinirt, ist eine durch die
Zunge erzeugte Luftbewegung. Damit sind alle Elemente für die These des
extremen Nominalismus gegeben: die Uni versahen seien nichts als Sammelnamen,
gemeinsame Bezeichnungen für verschiedene Dinge, Laute (flatus vocis), welche
als Zeichen für eine Mannigfaltigkeit von Substanzen oder deren Accidenzen
gelten.
In welchem Masse der so formulirte Nominahsmus, der in dieser zugespitzten
1) Vgl. C. S. Bakach, Zur Geschichte des Nominalismus vor Koscellin (Wien 18(>6).
234 III. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Gestalt selbst die realen Veranlassungen für solche CoUectivnamen ignorirt haben
müsste, während jener Zeit thatsächlich aufgestellt und verfochten worden ist*),
lässt sich nicht mehr bestimmen ^) : aber die solcher Erkenntnisslehre entsprechende
Metaphysik des Individualismus tritt uns mit der Behauptung, dass nur
die individuellen Einzeldiuge als Substanzen, als wahrhaft wirklich anzusehen
seien, klar und sicher entgegen. Am schärfsten hat sie zweifellos Roscellin
ausgesprochen, hidem er sie gleichzeitig nach zwei Seiten ausführte: wie die Zu-
sammenfassung vieler Individuen unter demselben Namen nur eine menschliche
Bezeichnung ist, so ist auch die Unterscheidung von Theilen in den Einzel-
substanzen nur eine Zerlegung für das menschliche Denken und Mittheilen*);
das wahrhaft Wirkliche ist allein das individuelle Einzelding.
Das Individuum aber ist das in der sinnlichen Wirklichkeit Gegebene:
daher besteht für diese Metaphysik die Erkenntniss auch nur in der Erfahrung
der Sinne. Dass dieser Sensualismus im Gefolge des Nominalismus aufgetreten
sei, dass es Menschen gebe, die ihr Denken ganz in körperliche Bilder einspinnen
lassen, versichert nicht nur Anselm, sondern auch Abaelard: aber wer diese
Menschen waren und wie sie ihre Lehre ausführten, erfahren wir nicht.
Verhängnissvoll wurde diese Lehre durch ihre Anwendung auf theologische
Fragen bei Berengar von Tours und Roscellin. Der eine bestritt in der Abend-
mahlslehre die Möglichkeit einer Umwandlung der Substanz unter Beibehaltung
der früheren Accidenzen; der andere gelangte zu der Folgerung, dass die drei
Personen der göttlichen Dreieinigkeit als drei verschiedene , nur in gewissen
Eigenschaften und Wirkungen zusammenkommende Substanzen anzusehen seien
(Tritheismus).
5. Wenn in der litterarischen Entwicklung dieser Gegensätze der Realis-
mus als platonisch, der Nominalismus als aristotelisch galt, so war das Letztere
offenbar sehr viel schiefer als das Erstere : aber bei der Mangelhaftigkeit der
Tradition ist es hiernach zu begreifen, dass die Vermittlungstendenzen,
welche sich» zwischen Reahsmus und Nominaüsmus einschoben, sich mit dem Be-
streben einführten, die beiden grossen Denker des Alterthums mit einander zu
versöhnen. Solcher Versuche sind hauptsächlich zwei zu erwähnen: vom Realis-
mus her der sog. Indiflferentismus, vom Nominalismus her die Lehre Abaelard's.
Sobald der Reahsmus auf die gesonderte Existenz der Begriffe (den platoni-
schen 7(0(>i(3(iö?) verzichtete und nur das „universaha in re" aufrechterhielt, machte
sich die Neigung geltend, die verschiedenen Stufen der UniversaUtät als die
realen Zustände eines und desselben Substrats aufzufassen. Eine und dieselbe
absolute Wirklichkeit ist in ihren verschiedenen „status" Lebewesen, Mensch,
Grieche, Sokrates. Als Substrat dieser Zustände galt den gemässigten Reahsten
das Universale (und in letzter Instanz das ens realissimum) : deshalb war es ein
bedeutsames Zugeständniss an den Nominalismus, wenn Andere zum Träger
1) Sicher ist das noch uicht in den Anfangen des Nominalismus (bei Eric von Auxerre,
bei dem Verfasser des Coinmentars Super Porphyriura, etc.) geschehen : denn bei diesen findet
»ich gleichzeitig auch der Ausdruck des Boethius, das genus sei substantialis similitudo ex
diversis speciebus in cogitatione collecta. — 2) Johannes von Salisbury sagt (Polier. VIT, 12 cf.
Metal. II, 17), diese Ansicht sei sogleich mit ihrem Urheber Roscellin wieder verschwunden. —
8) Das Beispiel von dem Hause und der Wand, welches er dabei nach Abaelard (Ouvr.ined. 471)
angewendet hat, war allerdings das denkbar unglücklichste. Wie tief stehen solche üeber-
Icgungen imter den Anfängen des griechischen Denkens!
§ 23. Der Universalienstreit. (Abaelard.) 235
dieser Zustände das Individuum machten. Das wahrhaft Seiende, gaben diese
ZU; sei das Einzelding; aber dasselbe trage in sich als wesenhafte Bestimmungen
seiner eigenen Natur gewisse Eigenschaften und Eigenschaftsgruppen, welche es
mit anderen gemein habe. Diese reale Aehnlichkeit (consimilitudo) sei das In-
differente (Nichtverschiedene) in allen diesen Individuen, und so wohne die
Gattung ihrer Art, die Art ihren Exemplaren indifferenter bei. ■ Als Haupt-
vertreter dieser Kichtung erscheint Adölard von Bath ; doch muss sie, vielleicht
mit noch etwas stärker nominalistischem Accent, weiter verbreitet gewesen sein *).
6. Der lebendige, allseitig wirksame Mittelpunkt des üniversaUenstreites
aber ist Abaelard^) gewesen. Der Schüler und zugleich der Gegner sowohl
Roscellin's als auch Wilhelm's von Champeaux, hat er den Nominalismus und den
Realismus durch einander bekämpft, und da er die Waffen seiner Polemik bald
von der einen bald von der anderen Seite nimmt, so hat es nicht ausbleiben können,
dass seine Stellung gegensätzlichen Auffassungen und Beurtheilungen unterlag").
Und doch liegen die Grundzüge derselben klar und deuthch vor Augen. In
seiner Polemik gegen alle Arten des Realismus kehrt der Gedanke, die Con-
sequenz desselben sei der Pantheismus*, so häufig und energisch wieder, dass
man darin nicht lediglich ein unter kirchlichen Verhältnissen opportunes Kampf-
mittel, sondern vielmehr den Ausdruck einer individualistischen Ueberzeugung
zu sehen hat, wie sie bei einer so energischen, selbstbewussten, stolz auf sich
selbst gestellten Persönlichkeit wohl begreiflich ist. Aber diese Individualität hatte
zugleich ihr innerstes Wesen in klarer, scharfer Verstandesthätigkeit, in echt
französischer Rationalität. Daher ihr nicht minder kräftiger Gegensatz gegen die
sensualistischen Neigungen des Nominalismus.
Die Universalien, lehrt Abaelard, können nicht Sachen, aber sie können
ebensowenig bloss Wörter sein. Das Wort (vox) als Lautcomplex ist ja selbst
etwas Singulares: es kann nur mittelbar allgemeine Bedeutung erlangen, indem
es zur Aussage (sermo) wird. Eine solche Verwendung des Wortes zur Aus-
sage aber ist nur möglich durch das begreifende Denken (conceptus), welches
aus der Vergleichung der Wahmehmungsinhalte dasjenige gewinnt, was sich
seinem Wesen nach zur Aussage eignet (quod de pluribus natum est praedicari*).
Das Allgemeine also ist die begriffliche Aussage (Sermon ismus) oder der Begriff
selbst (Conceptualismus)'^). Wenn aber so das Allgemeine als solches erst im
Denken und Urtheilen und in dem dadurch allein möglichen Aussagen besteht,
so ist es doch darum durchaus nicht ohne Beziehungen zur absoluten Wirkhch-
keit. Die Universalien könnten nicht die unentbehrlichen Formen alles Er-
kennens sein, wie sie es thatsächlich sind, wenn es nicht in der Natur der Dinge
selbst Etwas gäbe, was wir in ihnen begreifen und aussagen. Das aber ist die
Gleichheit oder Aehnlichkeit (conformitas) der Wesensbestimmtheiten der in-
dividuellen Substanzen®). Nicht als numerische oder substantielle Identität,
1) Nach den Angaben in der Schrift De generibus et speciebus und den Mittheilungen
Abaelard's in der Glosse zur Isagoge. Auch scheint es, dass Wilhelm von Champeaux zuletzt
dem Indifferentismus sich zugeneigt hat. — 2) Vgl. S. M. Deutsch, Peter Abaelard, ein kriti-
scher Theolog des zwölften Jahrhunderts (Leipzig 1883). — 8) So macht ihn Rittbr zum Rea-
listen, Haüräaü zum Nominalisten. — 4) Vgl. Arist. de interpr. 7, 17 a 39. — 5) Es scheint,
dass Abaelard zu verschiedenen Zeiten mehr die eine oder die andere Variante betont hat, und
vielleicht hat sich auch seine Schule nach diesen beiden Richtungen verschieden entwickelt. —
6) Andere, welche in der Hauptsache ebenso dachten, z. B. Gilbert de la Porree, halfen sich
236 in. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
sondern als gleichbestimmte Mannigfaltigkeit besteht das Universale in der
Natur, um erst in der Auffassung des menschlichen Denkens zum einheitlichen
Begriff, der die Aussage ermöglicht, zu werden. Jene gleichbestimmte Mannig*
faltigkeit der Individuen erklärt sich aber auch Abaelard daraus, dass Gott die
Welt nach den Urbildern geschaffen habe, welche er in seinem Geiste (Noys)
trug. So bestehen nach ihm die Universalien erstens in Gott als conceptus
mentis vor den Dingen, zweitens in den Dingen als Gleichheit der wesent-
lichen Merkmale von Individuen, diittens nach den Dingen im menschlichen
Verstände als dessen durch vergleichendes Denken gewonnene Begriffe und
Aussagen.
So vereinigen sich in Abaelard die verschiedenen Denkrichtungen der Zeit.
Aber er hatte die einzelnen Elemente dieser Ansicht gelegentlich, zum Theil in
der Polemik, und wohl auch zu wechselnder Zeit mit wechselnder Betonung des
einen oder des anderen entwickelt und niemals eine systematische Gesammtlösung
des Problems gegeben. Sachlich war er so weit vorgedrungen, dass es im
Wesentlichen seine Ansicht war, welche in der von den arabischen Philosophen
(Avicenna) übernommenen Formel „universalia ante multiplicitatem, in multi-
pUcitate et post multiplicitatem^ äu der herrschenden Lehre wurde, den Uni-
vei*salien gebühre gleichmässig eine Bedeutung ante rem hinsichtlich des göttlichen
Geistes, in re hinsichtlich der Natur und post rem hinsichtlich der menschlichen
Erkenntniss. Und da Thomas und Duns Scotus der Hauptsache nach hierin
übereinstimmten, so kam das UniversaUenproblem, das damit freilich noch nicht
gelöst ist^), zu einer vorläufigen Buhe, um erst in der Erneuerung des Nominalis-
mus (vgl. § 27) wieder in den Vordergrund zu treten.
7. Bedeutsamer aber noch als durch diese centrale Stellung im Universalien-
streit ist Abaelard dadurch, dass er in seiner ganzen persönlichen Erscheinung
die Stellung zum typischen Ausdruck brachte, welche die bei jenem Streit ent-
faltete Dialectik in dem geistigen Gesammtleben ihrer Zeit einnahm. Er ist,
soweit es in dem Vorstellungskreise seiner Zeit möglich war, der Wortführer der
freien Wissenschaft, der Prophet des neu erwachten Triebes nach eigener und
selbständiger Erkenntniss gewesen. Abaelard (und mit ihm Gilbert) ist in erster
Linie Bationalist: das Denken ist ihm die Norm der Wahrheit. Die Dialectik
hat die Aufgabe, zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden. Wohl
unterwirft auch er sich der in der Tradition bewahrten Offenbarung: aber doch
mit der (aristo telischen) Unterscheidung erster und zweiter Substanzen oder zwischen Substanz
undSubsistenz; doch braucht Gilbert die letzterenTerminiAbaelard gegenüber in vertauschter
Bedeutung.
1) Selbst wenn man das Universalienproblem auf die Realität der Gattungsbegriffe in
der Weise der Scholastik beschränkt, hat dasselbe in der weiteren Entwicklung noch wesentlich
neue Phasen durchlaufen und kann gerade auf dem heutigen Stande der Wissenschaft nicht
als endg^iltig gelöst angesehen werden. Dahinter aber erhebt sich die allgemeinere und schwie-
rigere Frage, welch' eine metaphysische Bedeutung jenen allgemeinen Bestimmungen zu-
kommt, auf deren Erkenntuiss alle erklärende Wissenschaft hinausläuft: vgl. H. Lotze, Logik
(Leipzig 1874) § 313— 32L Deshalb ist den Forschern von heute, welche den Universalien-
streit als abgcthan zum Gerumpel werfen oder gar wie eine längst überwundene Kinderkrank-
heit behandeln möchten, solange sie nicht mit voller Sicherheit und Klarheit anzugeben wissen,
worin die metajjhysische Wirklichkeit und Wirksamkeit dessen besteht, was wir ein Natur-
gesetz nennen, noch immer zuzurufen: mutato nomine de to fabula narratur. Vgl. auch
0. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit (2. Aufl. Strassburg 1880) 313 ff., 471 ff., und Ge-
danken und Thatsachcn (l. Heft Strassburg 1882) 89ff.
§ 23. Der üniversalienstreit. (Abaelard.) 237
nnr darum, sagt er, glauben wir der göttlichen 0£fenbarung, weil sie Temünftig
ist. Die Dialectik hat daher bei ihm nicht mehr nur die Aufgabe, welche ihr
Anselm (nach Augustin) vorschrieb^ den Glaubensinhalt für den Verstand be-
greiflich zu machen, sondern er verlangt für sie auch das kritische Kecht, in
zweifelhaften Fällen nach ihren Eegeln zu entscheiden. So stellte er in der Schrift
^Sic et non^ die Ansichten der Kirchenväter zu gegenseitiger dialectischer Zer-
setzung einander gegenüber, um schliesslich nur in dem Beweisbaren auch das
Glaubwürdige zu finden. So erscheint auch in seinem Dialogus die erkennende
Vernunft als Eichterin über den verschiedenen Religionen, und wenn Abaelard
das Christenthum als den idealen Abschluss der Keligionsgeschichte betrachtet,
so giebt es Aussprüche bei ihm ^), worin er den Inhalt des Christenthums auf das
ursprüngliche Sittengesetz reducirt, das von Jesus in seiner Reinheit wieder-
hergestellt worden sei. Von diesem Standpunkt gewann auch Abaelard zuerst
wieder einen freien Blick für die Auffassung des Alterthums : er war, sowenig er
von ihnen wusste, ein Bewunderer der Hellenen; er sieht in ihren Philosophen
Christen vor dem Christenthum, und wenn er Männer wie Sokrates und Piaton
als inspirirt betrachtet, so fragt er (den Gedanken der Kirchenväter — vgl.
S. 175 Anm. 5 — umkehrend), ob nicht vielleicht aus diesen Philosophen die
religiöse Ueberlieferung theilweise geschöpft haben könnte. Das Christenthum
gilt ihm als die demokratisirte Philosophie der Griechen.
Wollte man an dieser mehr rehgions- und culturgeschichtlichen als philo-
sophisch neuen Bedeutung des Mannes dadurch irre werden, dass Abaelard, wie
zuletzt fast alle „Aufklärer" des Mittelalters*), doch ein gehorsamer Sohn der
Kirche war, so genügte es, die Angriffe in Betracht zu ziehen, die er erfuhr. In
der That ist sein Streit mit Bernhard von Clairvaux der Kampf des Erkennens
mit dem Glauben, der Vernunft mit der Autorität, der Wissenschaft mit der
Kirche. Und wenn Abaelard schliesslich die Wucht und der innerste Halt der
Persönlichkeit fehlte, um in solchem Bingen obzusiegen^), so will andrerseits
bedacht sein, dass eine Wissenschaft, wie sie das zwölfte Jahrhundert bieten
konnte — auch abgesehen von der äusseren Machtftille, zu der damals die Kirche
erstarkte — der gewaltigen Innerlichkeit des Glaubens hätte unterliegen müssen,
auch wenn sie von einer noch so grossen und hohen Persönlichkeit getragen ge-
wesen wäre. Denn jenes kühne und zukunftsvolle Postulat, dass nur voraus-
setzungslose wissenschaftliche Einsicht den Glauben bestimmen sollte, — was
besass es damals an Mitteln zu seiner Erfüllung? Es waren die hohlen Regeln
der Dialectik, und was diese Wissenschaft an Inhalt aufzuweisen hatte, verdankte
sie eben der Tradition, gegen welche sie sich mit der Kritik des Verstandes
empörte. Dieser Wissenschaft fehlte die sachliche Kraft, um die Rolle durch-
zuführen, zu der sie sich berufen fühlte: aber sie stellte sich eine Aufgabe, die,
wenn sie selbst sie zu lösen ausser Stande war, aus dem Gedächtniss der euro-
päischen Völker nicht wieder verschwunden ist.
Wohl hören wir deshalb von dem lärmenden Treiben derjenigen, die Alles
nur „wissenschaftlich^ behandelt haben wollten*), wohl mehren sich seit Anselm
die Klagen über den wachsenden Rationalismus des Zeitgeistes, über die bösen
1) Vgl. die Belege zum Folgenden bei Reuter, Qesch. der Aufklärung im M.-A.1, 183 ff.
— 2) A. Harnack, Dogmengeschichte lU, 322. — 8) Yk\. Th. Zieoler, Abaelard's Ethica, in
Strassbuig. Abh. z. Phüoa. (Freibarg 1884) p. 221. — 4) „Puri philosophi.''
238 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Menschen, die nur glauben wollen, was sie begreifen und beweisen können, über
die Sophisten, die mit kecker Gewandtheit pro et contra zu disputiren wissen,
über die „Verneiner", welche aus Rationalisten zu Materialisten und Nihilisten
geworden sein sollen : — aber nicht einmal die Namen solcher Männer, ge-
schweige denn ihre Lehren sind erhalten. Und eben dieser Mangel an eigenem
Sachgehalt war der Grund, weshalb die dialectische Bewegung, als deren Fürst
Abaelard erscheint, trotz allen Eifers und allen Scharfsinns ohne directen und
unmittelbaren Erfolg verlief.
% 24. Der Dnalismas von Leib und Seele.
Aus diesen Gründen ist es erklärlich, dass wir im zwölften (und theil weise
schon im eilften) Jahrhundert das Gefühl von der Unfruchtbarkeit der Dialectik
ebenso verbreitet finden wie den fieberhaften Trieb, durch sie zur wahren Er-
kenntniss zu gelangen. Es geht durch diese Zeit neben dem heissen Wissens-
drange ein Zug der Enttäuschung: unbefriedigt von den Spitzfindigkeiten der
Dialectik, welche sich — selbst in Männern wie Anselm — anheischig gemacht
hatte, die letzten Geheimnisse des Glaubens rational zu ergründen, stürzten sich
die Einen aus der unfruchtbaren Theorie in das praktische Leben, „in das
Rauschen der Zeit, in's Rollen der Begebenheit", Andere in mystisch-über-
vemünftiges Schwelgen, Andere endlich in emsige Arbeit empirischer Forschung.
Alle Gegensätze, in welche vorwiegend logische Verstandesthätigkeit treten kann,
entwickeln sich neben der Dialectik und stehen gegen sie in mehr oder minder
fest geschlossenem Bündniss: Praxis, Mystik und Empirie.
Hieraus ergab sich zunächst ein eigenthümlich verschieftes Verhältniss zu
der wissenschaftlichen Tradition. Aristoteles, den man nur als den Vater der
formalen Logik und als den Meister der Dialectik kannte, verdankte es dieser
Unkenntniss, dass er als der Heros rein verstandesmässiger Weltbetrachtung
galt und als solcher dem Glauben und der Kirche verdächtig war: Piaton da-
gegen kannte man theils als den Schöpfer der (unwissentlich nach neuplatoni-
schem Vorgange verfälschten) Ideenlehre, theils vermöge der Erhaltung des
Timaeus als den Begründer einer Naturphilosophie, deren teleologischer Grund-
charakter bei dem rehgiösen Denken die lebhafteste Zustimmung fand. Wenn
daher Gerb er t als Gegengewicht gegen den Uebermuth der Dialectik, in der er
sich selbst Anfangs wenig glücklich versucht hatte, das Studium der Natur
empfahl, für das er durch das Beispiel der Araber die Anregung empfangen
hatte und das seinem eigenen, auf lebenskräftige Weltbethätigung gerichteten
Wesen entsprach, so konnte er auf Beifall fiir dieses Bestreben nur bei den
Männern rechnen, welche gleich ihm auf eine Verbreiterung der sachlichen Kennt-
nisse und zu diesem Behufe auf eine Aneignung der antiken Forschungen aus-
gingen. So erscheint hier zuerst im Gegensatze zur (aristoteUschen) Dialectik der
Rückgriff auf das Alterthum als Quelle sachlicher Einsichten, — eine erste,
schwache Renaissance, welche, halb humanistisch halb naturalistisch, einen
lebendigen Inhalt der Erkenntniss gewinnen wilP). Gerbert's Schüler Fulbert
1) Einen Hauptheerd dieser Bewegung bildete in Italien das Kloster Monte Cassino :
hier wirkte (um 1050) der Mönch Constantinus Africanus, der (wie es auch von dem Platoniker
Adelard von Bath bekannt ist) seine Gelehrsamkeit auf Reisen im Orient gesammelt hatte
und namentlich für die Uebersctzung medicinischer Schriften (Hippokrates, Galen) thätig war.
§ 24. Der Dualismus von Leib und Seele. (Schule von Ohartres.) 239
(gestorben 1029) eröffnete die Schule von Chartres, welche in der Folgezeit der
Sitz des mit dem Naturstudium verschwisterten Piatonismus wurde : hier wirkten
die Brüder Theodorich und Bernhard von Ohartres, von hier empfing Wilhelm von
Conches seine Bichtung. In ihren Schriften mischt sich überall die kräftige
Anr^ung des classischen Alterthums mit dem Interesse lebendiger Naturerkennt-
oiss. So erfahren ¥rir eine der eigenthümlichsten Verschiebungen der Litteratur-
geschichte. Piaton und Aristoteles haben ihre Rollen vertauscht: dieser erscheint
als das Ideal einer abstracten Begriffswissenschaft, jener als der Ausgangspunkt
sacUicher Naturerkenntniss. Was uns in diesem Zeitraum der mittelalterlichen
Wissenschaft als Erkenntniss der äusseren Wirklichkeit entgegentritt, knüpft sich
an den Namen Platon's: sofern es in diesem Zeitalter eine Naturwissenschaft
giebt, ist sie diejenige der Platoniker, eines Bernhard von Ohartres, eines Wilhelm
von Conches und ihrer Genossen ^).
Aber dieser Sinn für die Wirklichkeit, welcher die Platoniker des Mittel-
alters vor der hochfliegenden Metaphysik der Dialectiker auszeichnet, hat noch
eine andere und viel werthvollere Form angenommen. Unfähig noch, der äusseren
Erfahrung bessere Ergebnisse als sie in der Ueberlieferung der griechischen
Wissenschaft vorlagen, abzugewinnen, richtete sich der empirische Trieb des
Mittelalters auf die Erforschung des geistigen Lebens und entfaltete die volle
Energie eigener Beobachtung und scharfsinniger Analyse auf dem Gebiete der
inneren Erfahrung — in der Psychologie. Das ist derjenige Gegenstand wissen-
schaftlicher Arbeit, für welchen das Mittelalter die werthvoUsten Resultate er-
reicht hat*). Hierin stellte sich, mit substantiellem Gehalt erfüllt, die Erfahrung
des praktischen Lebens wie diejenige sublimster Frömmigkeit dem dialectischen
Begriffsspiel entgegen.
1. Der natürliche Führer aber auf diesem Gebiete war Augustin, dessen
psychologische Anschauungen eine um so stärkere Herrschaft ausübten, je mehr
sie einerseits mit der religiösen üeberzeugung verflochten waren und je weniger
andrerseits die aristotehsche Psychologie bekannt war. Augustin aber hatte in
seinem Systeme den vollen Dualismus aufrechterhalten, welcher die Seele als
eine immaterielle Substanz und den Menschen als eine Verbindung zweier Sub-
stanzen, des Leibes und der Seele, betrachtete. Eben deshalb konnte er eine
Erkenntniss der Seele nicht aus ihren Beziehungen zum Leibe erwarten und be-
trat mit vollem Bewusstsein den Standpunkt der inneren Erfahrung.
Das so aus metaphysischen Voraussetzungen entsprungene neue metho-
dische Princip konnte sich ungestört entfalten, solange die monistisch-meta-
physische Psychologie des Peripateticismus noch unbekannt blieb. Und diese
Entfaltung wurde auf das Nachdrücklichste durch diejenigen Bedürfiiisse ge-
fördert, welche das Mittelalter zur Psychologie führten. Der Glaube suchte die
Die Wirkungen zeigen sich nicht nur in der Litteratur, sondern auch in der Gründung der be-
rühmten Schule von Salemo (Mitte des zwölften Jahrhunderts).
1) Dabei ist diese humanistische Naturwissenschaft des früheren Mittelalters durchaus
nicht wählerisch in der Aufnahme der antiken Tradition gewesen ; so hat z. B. Wilhelm von
Conches, wenn man dem Bericht des "Walter von St. Victor (in den Auszügen des Bulaeus,
bei Migne, Bd. 199, 8. 1170) trauen darf, mit seinem Piatonismus eine atomistische Natur-
aafla88uii}2f für vereinbar gehalten. — 2) Vgl. hierzu und zum Folgenden (wie auch später zu
§ 27) die Abhandlungen von H. Sikbkck im I. — IIT. Bande des Archivs für Geschichte der
Philosophie, sowie im 93. u. 94. Bande der Zeitschrift für Philos. u. philos. Krit. (1888 -90).
240 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Selbsterkenntniss der Seele zum Zwecke ihres Heils, und dies Heil wurde
gerade in jenen transscendenten Thätigkeiten gefunden, durch welche die Seele,
dem Leibe entfremdet, einer höheren Welt zustrebt. Deshalb wai^en es haupt-
sächlich die Mystiker, welche die Geheimnisse des inneren Lebens belauschen
wollten und damit zu Psychologen wurden.
Wichtiger und philosophisch bedeutsamer als die einzelnen, oft sehr phan-
tastischen und oft sehr verschwommenen Lehren, die in dieser Richtung auf-
gestellt wurden, ist die Thatsache, dass vermöge dieser Zusammenhänge der
Dualismus der sinnlichen und der übersinnlichen Welt in voller
Schärfe aufrechterhalten wurde und so ein starkes Gegengewicht gegen den neu-
platonischen Monismus bildete. Aber diese metaphysische Wirkung auszuüben
war er erst später berufen : zunächst wurde er in der begrenzteren Form des
anthropologischen Dualismus von Leib und Seele zum Ausgangspunkte der
Psychologie als der Wissenschaft der inneren Erfahrung*).
Sehr merkwürdig ist deshalb die Erscheinung, dass die Vertreter dieser
Psychologie als ^Natui^wissenschaft des inneren Sinnes^, wie sie später genannt
worden ist, gerade dieselben Männer sind, welche sich redlich abmühen, aus allem
Material, dessen sie habhaft werden können, ein Wissen von der äusseren Welt
zu gewinnen. Von der Dialectik abgewendet, suchen sie eine Erkenntniss des
empirisch Wirklichen , eine Naturphilosophie; aber sie theilen dieselbe in zwei
völlig getrennte Gebiete: Physica corporis und Physica animae. Dabei überwiegt
bei den Platonikem die Vorliebe für das Studium der äusseren, bei den Mystikern
diejenige für die innere Natur*).
2. Als das charakteristische , wesentlich neue und förderliche Merkmal
dieser empirischen Psychologie muss nun aber das Bestreben angesehen werden,
die seelischen Thätigkeiten und Zustände nicht nur zu classificireu, sondern den
lebendigen Fluss derselben aufzufassen und ihre Entwicklung zu begreifen.
Diese Männer waren sich in ihren frommen Gefühlen, in ihrem Ringen nach dem
Genuss der göttlichen Gnade eines inneren Erlebnisses, einer Geschichte ihrer
Seele bewusst, und es trieb sie, diese Geschichte zu schreiben ; und wenn sie da-
bei platonische, augustinische und neuplatonische Begrifife in bunter Mischung
zur Bezeichnung der einzelnen Thatsachen benutzten, so ist das Wesentliche
und Entscheidende immer, dass sie den Entwicklungsgang des inneren Lebens
aufzuzeigen unternahmen.
Nicht viel Mühe hat diesen Mystikern, die eine Metaphysik nicht suchten,
sondern im Glauben besassen, die später so schwerwiegend gewordene Frage be-
reitet, wie diese Dualität von Leib und Seele zu verstehen sei. Zwar ist sich
Hugo von St. Victor bewusst, dass, wenn auch die Seele das Niederste in
der immateriellen und der Menschenleib das Höchste in der materiellen Welt
ist, beide doch noch von so gegensätzlicher Beschaffenheit sind, dass ihre Ver-
1) Vgl. auch K. Werner. Kosmologie und Naturlehre des scholastischen Mittelalters,
mit specieller Beziehung auf Wilhelm von Couches; und Der Entwicklungsgang der mittel-
alterlichen Psychologie von Alcuin bis Albertus Magnus (beides Separat abdrücke aus den
Sitzungsberichten (Bd. 75) bezw. Denkschriften (Bd. 25) der Wiener Akademie, 1876). —
2) Doch muss erwähnt werdeo, dass Hugo von St. Victor nicht nur in der Eruditio didascalica
ein encyclopädisches Wissen an den Tag legt, sondern auch sich mit den Lehren der antiken
Medicin, insbesondere mit den Theorien der physiologischen Psychologie (Erklärung der Wahr-
nehmungen, Temperamente etc.) bis in's Genaueste vertraut zeigt..
§ 24. Der Dualismus von Leib und Seele. (Victoriner.) 241
bindung (unio) ein unbegreifliches Bäthsel bleibt; aber er meint, gerade damit
habe Gott gezeigt und zeigen wollen , dass ihm Nichts unmöglich sei. Statt
darüber dialectisch zu grübeln^ nehmen vielmehr die Mystiker diesen Dualismus
zur Voraussetzung, um fiir ihre wissenschaftliche Betrachtung die Seele in sich
zu isoliren und ihr inneres Leben zu beobachten.
Dies Leben aber ist für die Mystik die Entwicklung der Seele zu Gott,
und so ist diese erste Form der Psychologie des inneren Sinnes die
Hcilsgeschichte des Individuums. Die Mystiker betrachten die Seele
wesentlich als Gemüth, sie zeigen die Entfaltung ihres Lebensprocesses aus den
Gefühlen, und sie beweisen ihre schriftstellerische Virtuosität gerade in der
Ausmalung von Gefühlszuständen und Gefiihlsbewegungen. Und auch darin sind
sie die echten Nachfolger Augustinus, dass sie in der Zergliederung dieses Pro-
cesses überall die treibenden Willenskräfte erforschen, dass sie die Stim-
mungen des Willens untersuchen, vermöge deren der Glaube den Verlauf der
Erkenntniss bedingt, und dass ihnen doch am Ende als die höchste Entwicklungs-
stufe der Seele das mystische Schauen Gottes gilt, welches freilich auch hier mit
der Liebe Eins gesetzt wird. So thun es wenigstens die beiden durchweg vom
Geist der Wissenschaft getragenen Victoriner Hugo und Richard, während bei
Beruhard von Clairvaux das praktische Moment des Willens viel stärker betont
wird. Dieser wird nicht müde, den in seiner Zeit erwachten, mit allen Tugenden
und Untugenden sich gebahrenden reinen Trieb des Wissens um des Wissens
willen als heidnisch zu denunciren, und doch ist auch ihm die letzte der zwölf
Stufen der Demuth jene Ekstase der Vergottung, mit welcher das Individuum
in dem ewigen Wesen aufgeht, „wie der Wassertropfen in einem Passe Wein".
Auch die Psychologie der Erkenntniss baut sich bei den Victorinern auf
augustinischem Grundrisse auf. Drei Augen sind dem Menschen gegeben : das
fleischliche um die Körperwelt, das vernünftige um sich selbst in seiner Innerlich-
keit, das contemplative um die geistige Welt und die Gottheit zu erkennen.
Wenn deshalb nach Hugo cogitatio, meditatio und contemplatio die drei Stufen
der intellectuellen Thätigkeit sind, so ist es interessant und für die PersönUchkeit
selbst charakteristisch, in welchem Masse er die Mitwirkung der Einbildungskraft
(imaginatio) in allen Arten der Erkenntniss betont. Auch die Contemplation ist
eine visio intellectualis, ein geistiges Schauen, welches allein die höchste
Wahrheit unverzerrt erfasst, während das Denken nicht dazu im Stande ist.
So ist Altes und Neues in den Schriflien der Victoriner vielfach gemischt:
zwischen feinsinnigste Beobachtungen und feinfühligste Schilderungen der psychi-
schen Functionen drängen sich die Phantasien mystischer Verzückung. Zweifel-
los fallt auch hier die Methode der Selbstbeobachtung in die Gefalir, zur
Schwärmerei zu fuhren -) : aber sie gewinnt andrerseits schon manche eigene
Frucht, sie lockert den Boden für die Poi'schung der Zukunft, und vor Allem,
sie steckt das Feld ab, auf welchem die moderne Psychologie erwachsen sollte.
3. Von ganz anderer Seite hat diese neue Wissenschaft der inneren Er-
fahrung sogleich Unterstützung und Bereicherung erfahren: ein Nebenertrag des
üniversalienstreites — und nicht der schlechteste — kam ihr zu gute. Wenn
der Nominalismus und der Conceptualismus das An-sich-bestehen der Uni-
1) Vgl. Kant, Anthropologie § 4.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 1^
242 ni. Mittelalterliche Philosophie. 1. Erste Periode.
Versalien bestritten und die Arten und Gattungen für subjective Gebilde im er-
kennenden Geiste erklärten, so fiel ihnen die Beweispflicht zu, das Entstehen
dieser allgemeinen Vorstellungen in der Seele des Menschen verständlich zu
machen. So sahen sie sich direct auf das empirische Studium der En twicklung
der Vorstellungen hingewiiesen und brachten für die subUme Poesie der
Mystiker eine zwar nüchterne, aber um so wünschensworthere Ergänzung. Denn
gerade weil es sich um den Nachweis des Ursprungs rein subjectiver Denkinhalte
handeln sollte, die als Producte der zeitlichen Entwicklung des Menschen zu er-
klären wären, so konnte diese Untersuchung nur ein Beitrag zur Psychologie der
inneren Erfahrung werden.
Schon die These des extremen Nominalismus gab ihren Gegnern Anlass,
das Verhältniss des Worts zum Gedanken zu behandeln, und führte bei Abaelard
zu eingehender Betrachtung der Mitwirkung, welche der Sprache bei der Ent-
wicklung der Gedanken zukommt. Die IVage nach der Bedeutung der Zeichen
und Bezeichnungen in der Vorstellungsbewegung wurde dadurch neu in Fluss
gebracht. Noch mehr in das Herz der theoretischen Psychologie führt die Unter-
suchung, welche in der Abhandlung De intellectibus über den nothwendigen Zu-
sammenhang zwischen Tntellect und Wahrnehmung geführt wird. Es w^ird hier
gezeigt, wie die Empfindung als verworrene Vorstellung (confiisa conceptio)
noch in die sie mit anderen zusammenfassende Anschauung (imaginatio) eingeht und
in dieser reproducirbar erhalten bleibt, wie sodann der Verstand dies mannig-
fache Material in successivem Durchlaufen (discursiv) zu Begiiflfen und Urtheilen
verarbeitet, und wie erst nach Erfüllung aller dieser Bedingungen Meinung,
Glauben und Wissen zu Stande kommen, wo dann schliesslich der Intellect den
Gegenstand in einmahger Gesammtanschauung (intuitiv) erkennt.
In ähnlicher Weise hat Johannes von Salisbury den psychischen Ent-
wicklungsprocess dargestellt: aber bei ihm macht sich am stärksten die der augu-
stinischen Auffassung der Seele eigene Tendenz geltend, die verschiedenen
Thätigkeitsformen nicht als über einander oder neben einander liegende Schichten,
sondern als in einander befindliche Functionsrichtungen derselben lebendigen
Einheit zu betrachten. Er sieht schon in der Empfindung und in höherem
Masse in der Anschauung zugleich einen Act des Urtheils, und als Verbindung
der neu eintretenden Empfindungen mit den reproducirten enthält die An-
schauung zugleich die Gcfuhlszustände (passiones) der Furcht und der Hoffnung.
So entwickelt sich aus der Imagination als dem psychischen Grundzustande die
doppelte Reihe des Bewusstseins: in der theoretischen zunächst die Meinung und
durch Vergleichung der Meinungen das Wissen, sowie die vernünftige Ueber-
zeugung (ratio), beide unter der Willenswirkung der Klugheit (prudentia), end-
lich aber vermöge des Strcbens nach ruhender Weisheit (sapientia) die contem-
plative Erkenntniss des Intellects, — in der praktischen Reihe die Gefühle der
Lust und der Unlust mit allen ihren Auszwcigungen in die wechselnden Zustände
des Lebens.
So ist bei Johannes andeutungsweise das ganze Programm der späteren
Associationspsychologie vorgezeichnet, deren Führer gerade seine Landsleute
werden sollten. Und nicht nur in den Problemen, sondern auch in der Art ihrer
Behandlung darf er als ihr Vorbild gelten. Von den weltfremden Speculationen
der Dialectik hält er sich fern; er hat die praktischen Zwecke des Wissens im
§ 24. Der Dualismus von Leib und Seele. (Abaelard.) 243
Auge, er will sich damit in der Welt, worin der Mensch leben soll, und vor allem
in dem wirklichen Innenleben des Menschen selbst zurechtfinden, und er bringt
eine weltmännische Feinheit und Freiheit des G-eistes in die Philosophie mit,
wie sie in jenen Zeiten sonst fehlt. Er verdankt dies nicht zum wenigsten der
Erziehung des Geschmacks und des gesunden Weltverstandes, den die classischen
Studien gewähren: und auch hierin sind ihm seine Landsleute nicht zu ihrem
Schaden gefolgt. Er ist der Vorläufer der englischen Aufklärung, wie Abaelard
derjenige der französischen^).
4. Eine eigenartige Nebenerscheinung dieser Versteifung des Gegensatzes
von Aeusserem und Innerem und dieser Verlegung des wissenschaftlichen Princips
in die InnerUchkeit ist endlich auch Abaelard's Ethik ^). Schon in ihrem Titel
Scito te ipsum kündet sie sich als eine auf innere Erfahrung sich gründende
Lehre an, und ihre Bedeutung besteht gerade darin, dass sie zum ersten Male
wieder die Ethik als eigene philosophische Disciplin behandelt und die dogmatisch-
metaphysischen Bestrebungen von ihr abstreift®). Das gilt von dieser Ethik, ob-
wohl auch sie von dem christlichen Sündenbewusstsein als von der Fundamental-
thatsache ausgeht. Aber gleich hier strebt sie sofort in das Innerste. Gutes
und Böses, sagt sie, besteht nicht in der äusseren Handlung, sondern in deren
innerlicher Ursache. Es besteht aber auch nicht in den Gedanken (suggestio),
Gefühlen und Begierden (delectatio), welche der Willensentscheidung vorher-
gehen, sondern lediglich in diesem Entschluss zur That (consensus) selbst. Denn
die in dem natürlichen Zusammenhange und zum Theil in der leibhchen Con-
stitution begründete Neigung (voluntas), welche zum Guten oder zum Bösen
führen kann, ist nicht selbst im eigentlichen Sinne gut oder böse. Der Fehler
(vitium) — hierauf reducirt Abaelard die Erbsünde — wird erst durch den con-
sensus zur Sünde (peccatum). Ist aber dieser vorhanden, so ist mit ihm auch die
Sünde voU und ganz da, und die leibhch ausgeführte Handlung mit ihren äusseren
Folgen fugt ethisch nichts mehr zu ihr hinzu.
So wird das Wesen des Moralischen von Abaelard lediglich in den Willens-
entschluss (animi intentio) verlegt. Welches ist nun aber die Norm, nach der
dieser Willensentschluss als gut oder böse charakterisirt werden soll? Auch hier
verschmäht Abaelard jede äussere und objective Bestimmung durch ein Gesetz :
er findet die Norm der Beurtheilung lediglich im Innern des sich entschliessen-
den Individuums, und sie besteht in der Uebereinstimmung oder Nicht-Üeber-
einstimmung mit dem Gewissen (conscientia). Gut ist die Handlung, welche
mit der eigenen Ueberzeugung des sich Entschliessenden im Einklang ist: bös ist
nur diejenige, die ihr widerspricht.
Und was ist das Gewissen? Wo Abaelard als Philosoph, als der rationa-
listische Dialectiker lehrt, der er war, da ist es ihm (nach antikem Vorgange —
Cicero) das natürliche Sittengesetz, das, wenn auch in verschiedenem Masse er-
1) Reuter, a. a. 0. II, 80 stellt so Roger Bacon und Abaelard einander gegenüber; doch
findet sich gerade der entscheidende Zug der empirischen Psychologie kräftiger bei Johannes.
— 2) Vgl. darüber Th. Zikqlkr in den Strassburger Abhandlungen zur Philosophie (Frei-
burg 1884). — 8) Es wirft ein überraschendes Licht auf die Klarheit von Abaelard's Denken,
wenn er gelegentlich den metaphysischen Begriflf des Guten (Vollkommenheit = Realität)
genau von dem moralischen Begriff des Guten geschieden haben will, über den allein die Ethik
handle: er zeigt damit, dass er eine der stärksten Problemverschlingungen der Geschichte
durchschaut hatte.
16*
244 in. Mittelalterliche Philosophie.
kannt, allen Menschen gemein ist und das, wie Abaelard überzeugt war, nach
seiner Verdunklung durch menschliche Sünde und Schwäche in der christlichen
ReUgion zu neuer Klarheit erweckt worden ist (vgl. oben § 23, 7). Diese lex
naturalis aber ist für den Theologen identisch mit dem Willen Gottes ^). Dem
Gewissen folgen heisst daher Gott gehorchen, gegen das Gewissen handeln ist
Verachtung Gottes. Wo aber irgendwie der Inhalt des natürlichen Sittengesetzes
zweifelhaft ist, da bleibt dem Individuum nur übrig, nach seinem Gewissen, d. h.
nach seiner Erkenntniss des göttUchen Gebots sich zu entscheiden.
Diese Ethik der Gesinnung*), welche das Haupt der Dialectiker und
Peripatetiker vortrug, erweist sich als eine Steigerung der augustinischen Prin-
cipien der Verinnerlichung und des Willensindividualismus, die aus dem System
des grossen Kirchenlehrers und über die Grenzen desselben hinaus zu frucht-
barer Wirkung in die Zukunft hervordringt.
n. Kapitel Zweite Periode
(seit etwa 1200).
Karl Werner, Der hl. Thomas von Aquiuo, 3 Bde. Regensburg 1858 ff.
— Die Scholastik des späteren Mittelalters. 3 Bde. Wien 1881 ff.
Das Bedürfniss nach inhaltlicher Erkenntniss, welches, nachdem der erste
Rausch der Dialectik verflogen war, sich der abendländischen Wissenschaft be-
mächtigte, sollte sehr bald eine Erfüllung von ungeahnter Ausdehnung finden. Die
Berührung mit der orientalischen Cultur, welche sich gegen den Ansturm
der Kreuz Züge zunächst siegreich behauptete, eröffnete den Völkern Europas
neue Welten des geistigen Lebens. Die arabische und in ihrem Gefolge die
jüdische Wissenschaft^) hielten ihren Einzug in Paris. Sie hatten die Tradition
1) In der theologischen Metaphysik scheint Abaelard (Commentar zum Rönierbriefe II,
241) gelegentlich so weit gegangen zn sein, dass er den Inhalt des Sittengosetzes auf die Will-
kür des göttlichen Willens zurückführte. — 2) Deren nach verschiedenen Richtungen bedeut-
samer Gegensatz gegen die kirchliche Theorie und Praxis hier nicht auszuführen ist. —
3) Auf eine eigene Darstellung der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters
glaubt der Verfasser verzichten zu sollen und zu dürfen — zu sollen insofern, als ihm hier die
Einsicht in die Originalquclleu zum grossen Thcil verschlossen ist und er sich auf die Repro-
duction secundärer Darstellungen angewiesen sähe, — zu dürfen aber deshalb, weil dasjenige,
was aus dieser weitschichtigen Litteratur befruchtend in die europäische Wissenschaft über-
gegangen ist — und darum allein könnte es sich in dieser Darstellung der Gesammtentwicklung
der Philosophie handeln — , mit verschwindenden Ausnalnnen sich durchgängig als geisüges
Eigenthum des Alterthums, der griechischen oder der hellenistischen Philosophie, ergiebt.
Deshalb folgt hier nur eine gedrängte
Uebersicht fiber die arabische und jfidische Philosophie im Mittelalter.
Aus der Litteratur über diese allerdings mehr litterarhistorisch als philosophisch inter-
essante, aber durch die Forschung noch nicht zu voller Klarheit duivhgearbeitete Traditions-
periode, welche eine competente Gesammtdarstellung noch nicht gefunden hat, sind hervor-
zuheben :
Mohammed al Schalirestani, Geschichte der religiösen und philosophischen Secten bei
den Ar. (deutsch von Haarbrückrr, Halle 1850 f.). — A. Schmöldrrs, Documenta philosophiae
Arabum (Bonn 1836) und fissai sur les ecoles philosophiques chez les Ar. (Paris 1842). —
Fr. DiETKRici, Die Philosophie der Ar. im zehnten Jahrhundert (8 Hefte. Leipzig 1865—76). —
Vgl. auch V. Hammrr-Pürqstall, Geschichte der arabischen Litteratur.
S. MuNK, Melange» de philosophie juive et arabe (Paris 1859) und desselben Artikel
über die einzelnen Philosophen im Dictionnaire des sciences philosophiques.
2. Zweite Periode. 245
des griechischen Denkens und Wissens unmittelbarer und vollständiger bewahrt
als die Klöster des Abendlandes, lieber Bagdad und Cordova ergoss sich ein
stärkerer und inhaltsreicherer Strom wissenschaftlicher UeberUeferung als über
Rom und York. Aber auch jener führte an Neuem nicht viel mehr mit sich als
dieser. Vielmehr ist hinsichtlich eigener principieller Gedanken die orientalische
Philosophie des Mittelalters noch ärmer als die europäische. Nur an Breite und
Massigkeit der Tradition, an Umfang des gelehrten Materials und an Ausbreitung
realer Kenntnisse war das Morgenland weit überlegen^ und diese Schätze gingen
nun auch in den Besitz der christlichen Völker über.
[n philosophischem Betracht aber war dabei vor Allem wichtig, dass die
Pariser Wissenschaft nicht nur mit der ganzen Logik des Aristoteles, sondern
auch mit allen sachlichen Theilen seiner Philosophie bekannt wurde. Durch
diese „neue Logik^ wurde der schon in sich absterbenden Dialectik frisches Blut
zugeführt, und wenn nun die Aufgabe der rationalen Auseinanderlegung der
gläubigen Weltanschauung im neuen Ansturm und mit gereifter Technik des
Denkens ergriffen wurde, so bot sich gleichzeitig ein schier unübersehbarer
Stoff des Wissens für die Einordnung in jenen metaphysisch-religiösen Zusammen-
hang dar.
M. EisLBR, Yorlesunf^en über die jüdischen Philosophen des Mittelalters (3 Bde. Wien
1870 — 84). — M. JoEL, Beiträge zur Geschichte der Philosophie (Breslau 1876). — J. Spieoler,
Geschichte der Philosophie des Judenthums (Leipzig 1890). — Vgl. auch Fürst^s Bibliotheca
Judaica und die Geschichten des Judenthums von Graktz und Geiqer.
So eng die Beziehungen sein mögen, in denen auch die Philosophie der beiden
semitischen Culturvölkcr zu den religiösen Interessen stand, so hat doch namentlich die arabi-
sche Wissenschaft ihren eigenthümlichen Charakter dem Umstände verdankt, dass die Ur-
heber und Träger derselben zum weitaus grössten Theil nicht Kleriker, wie im Abendlande,
sondern A erz te waren. (Vgl. F. Wüstenfeld, Geschichte der arab. Aerzte und Naturforscher.
Göttingen 1840.) So ging hier von An&ng an das Studium der antiken Medicin und Natur-
wissenschaft mit demjenigen der Philosophie Hand in Hand. Hippokrates und Galen wurden
ebenso (zum Theil auf dem Umwege über das Syrische) übersetzt und gelesen, wie Piaton,
Aristoteles und die Neuplatonikcr. Daher hält in der arabischen Metaphysik stets der Dialectik
die Naturphilosophie das Gegengewicht. So sehr nun aber dies geeignet war, dem wissen-
schaftlichen Denken eine breitere Basis der thatsächlichen Kenntnisse zu gewähren, so wird
man doch andrerseits die selbständigen Leistungen der Araber in Naturforschung und Medicin
nicht überschätzen dürfen. Auch hier ist die mittelalterliche Wissenschaft wesentlich gelehrte
Tradition. Die Kenntnisse, welche die Araber später dem Abendlande überliefern konnten,
stammten in der Hauptsache aus den Büchern der Griechen. Eine wesentliche Verbreiterung
hat auch das Erfahrungswissen durch eigene Arbeiten der Araber nicht erfahren; nur auf
einigen Gebieten, wie z.B. der Chemie und der Mineralogie und in einigen Theilen der Medicin,
z. B. Physiologie, erscheinen sie selbständiger. In der Methode aber und in den principiellen
Auflassungsweisen, in dem ganzen philosophischen Begriffssystem stehen sie, soweit unsere
Kenntniss darüber reicht, durchweg unter dem combinirtcn Einflüsse des Aristotelismus und
des Neuplatonismus. (Und dasselbe gilt von den Juden.) Auch lässt sich nicht behaupten, dass
sich in der Aneignung dieses Stoffes etwa nationale Eigenthümlichkeit entfalte. Diese ganze
wissenschaftliche Bildung ist vielmehr dem Araberthum künstlich aufgepfropft, sie kann in
ihm keine rechten Wurzeln schlagen, und nach kurzer Blüthe welkt sie kraftlos in sich zusammen.
In der Gesammtgeschichte der Wissenschaft ist ihre Mission nur die, der Entwicklung des
abendländischen Grcistes zum Theil die Continuität zurückzugeben, die er selbst zeitweilig ver-
loren hatt-e.
Der Natur der Sache gemäss hat sich auch hier die Aneignung der antiken Wissenschaft
in rückläufiger Bahn vollzogen. Von dem in syrischer Tradition noch zeitgenössischen und
vermöge seiner religiösen Färbung sympathischen Neuplatonismus fing man an, um zu den
besseren Quellen aun:usteigen : aber die Folge blieb die, dass man auch Aristoteles und Piaton
durch die Brille Plotin's und Proklos' sah. Während der Herrschaft der Abassiden, nament-
lich auf Veranlassung des Chalifen Almamun (im Anfang des neunten Jahrhunderts) herrschte
in Bagdad ein reges wissenschaftliches Leben : die Neuplatonikcr, die besseren Oommentatoren,
246 m. Mittelalterliche Philosophie.
Der so gesteigerten Aufgabe hat sich das mittelalterliche DeDken vollauf ge-
wachsen gezeigt, und es löste sie unter der Nachwirkung des Eindrucks von jener
glänzendsten Periode in der Entwicklungdes Papstthums, welche durch Innocenz III.
heraufgefiihrt worden war. Der neuplatonisch-arabische AristoteUsmus, der mit
seinen naturalistischen Consequenzen anfangs nur den rationaUstischen Muth der
Dialectik zu siegreichem Uebermuth zu kräftigen schien^ ist mit bewunderungs-
würdig schneller Bewältigung in den Dienst des kirchlichen Systems gebeugt
worden. Freilich war das nur so mögUch, dass in dieser nun vollkommen syste-
matischen Ausbildung einer der Grlaubenslehre conformen Philosophie die intel-
lectualistischen und dem Neuplatonismus verwandten Elemente des augustinischen
Denkens ein entschiedenes üebergewicht gewannen. Auf diese Weise vollzog
sich, ohne dass eigentUch ein anderes neues philosophisches Princip als der Trieb
nach Systembildung dabei schöpferisch gewirkt hätte^ die grossartigste Aus-
gleichung weltbewegender Gedankenmassen, welche die Geschichte gesehen hat.
Ihr geistiger Urheber ist Albert von Bollstädt^ ihre allseitig organische
Durchführung, ihre litterarische Codification und danach auch ihre historische
Bezeichnung verdankt sie Thomas von Aquino, und ihre dichterische Dar-
stellungfand sie in Dante's „göttlicher Komödie".
fast die ganzen Lehrschriften des'Aristoteles, Republik, Gesetze und Timaeus Platon^s waren
in Uebersetzungen bekannt.
Die ersten deutlicher hervortretenden Persönlichkeiten, Alkendi (gestorben um 870)
und Alfarabi (gestorben 950) unterscheiden sich in ihren Lehren kaum von den neuplatonischen
Erklärern des Aristoteles: eine grössere Eigeubedeutung wohnt Aviccnna bei (Ibn Sina,
980 — 1037), dessen „Kanon" das Grundbuch der mittelalterlichen Medicin im Occident wie im
Orient geworden ist, der aber auch durch seine überaus zahlreichen philosophischen Schriften
(insbesondere die Metaphysik und die Logik) einen mächtigen Einfluss ausgeübt hat. Seine
Lehre kommt dem reinen Aristo telismus wieder näher und unter allen Arabern wohl am
nächsten.
Die Ausbreitung dieser philosophischen Ansichten wurde aber von der mohammedani-
schen Orthodoxie mit scheelen Augen angesehen, und wie Avicenna selbst, so erfuhr die wissen-
schaftliche Bewegung schon im zehnten Jahrhundert so heftige Verfolgungen, daas sie sich in
den Geheimbund der „lauteren Brüder** flüchtete. Diese haben den äusserst stattlichen Umfang
des damaligen Wissens in einem Schriftencomplex (darüber Dibtbrici, s. oben) niedergelegt,
der jedoch Avicenna gegenüber noch eine stärkere Neigung zum Neuplatonismus zu zeigen
scheint.
Von wissenschaftlichen Leistungen der Gegner ist einerseits die wunderliche Meta-
physik der orthodoxen Motekallemin bekannt, welche sich am Gegensatze gegen die aristote-
Jisch-neuplatonische Anschauung des lebendigen N|iturzusammenhanges zu einer äussersten
Ueberspannung der alleinigen Uausalität Gottes entwickelte und in höchster metaphysischer
Verlegenheit zu einem verzerrten Atomismus griff; andrerseits erscheint hier in den Schriften
des Algazel (1059 — 1111; Destructio philosophorum) eine skeptisch-mystische Zersetzung der
Philosophie.
Diese Tendenzen trugen im Oriente den Sieg um so mehr davon, je schneller die geistige
Erhebung des Mohammedanismus dort wieder in sich zusammenbrach. Die Fortsetzung der
arabischen Wissenschaft ist in Andalusien zu suchen, wo die mohammedanische Cultur ihre
kurze Nachblüthe fand. Hier entwickelte sich in freieren Verhältnissen die Philosophie zu
einem kräftigen Naturalismus, der wieder stark ueuplatonisches Gepräge trug.
Eine charakteristische Darstellung der Erkenntnisslehre dieser Philosophie findet sich
in der „Leitung des Einsamen" von Avempace (gestorben 1138), und ähnliche Gedanken
spitzen sich bei Abubacer (Ibn Tophail; gestorben 1185) zu einer interessanten Auseinander-
setzung der natürlichen mit der positiven Religion zu. Des letzteren philosophischer Roman
(„Der Lebende, des Wachenden Sohn"), der die intellectuelle Entwicklung eines von allem
liistorisch-gesellschafblichen Znsammenhange auf einsamer Insel abgeschlossenen Menschen
darstellt, ist in lateinischer Uebersetzung von Pocock als „Philosophus autodidactus" (Oxford
1671 und 1700 — noch nicht zwanzig Jahre vor dem Erscheinen von Defoe's Robinson Crusoe !)
und in deutscher Uebersetzung als „Der Naturmensch" von Eichhorn (Berlin 1788) heraus-
gegeben worden.
2. Zweitß Periode. 247
Während aber im Tbomismus hellenistische Wissenschaft und christlicher
Glaube zu voller Harmonie gebracht schienen, brach sogleich ihr Gregensatz um
so heftiger heiTor. Unter dem Einfluss arabischer Doctrinen gelangte der in der
logischen Consequenz des Realismus angelegte Pantheismus zu breiter Ver-
wirklichung, und unmittelbar nach Thomas selbst entfaltete sein Ordensgenosse,
Meister Eckhart, den scholastischen Intellectualismus zu der Heterodoxie
einer idealistischen Mystik.
Begreiflich daher^ dass auch der Thomismus auf den Widerstand einer
platonisch-augustinischen Richtung stiess^ welche zwar den Zuwachs des Natur-
wissens (wie früher) und die VervoUkommnung des logischen Apparats gerne auf-
nahm, aber die intellectualistische Metaphysik von sich wies und die entgegen-
gesetzten Momente des Augustinismus um so energischer ausbildete.
Die bedeutendste Erscheinung aber und jedenfalls der selbständigste unter den arabischen
Denkern ist Averroes (1126 in Cordova geboren, eine Zeit lang Richter und dann Leibarzt
(lt»8 Chalifen, später durch eine religiöse Verfolgung nach Marocco verdrängt, 1198 gestorben).
Er hat fast alle Lehrschriften des von ihm als höchsten Lehrer der Wahrheit verehrten Ari-
st4>teles in Paraphrasen und kurzen oder längeren Commentarcn behandelt (gedruckt bei den
älteren Ausgaben des Aristoteles). Von seinen eigenen Werken (Venedig 1553 ; einige existiren
nur noch in hebräischer Ucbertragung) ist die Widerlegung Algazel's, Destructio destructionis,
her\'orzuheben. Zwei seiner Abhandlungen über das Verhältniss von Philosophie und Theologie
sind in deutscher Uebersetzung von M. J. Müllkr (München 1875) herausgegeben worden. Vgl.
E. Rknan, Averroes et Taverroisme, 3 AuH. Paris 1869.
Mit der Verdrängung der Araber aus Spanien verlieren sich auch die Spuren ihrer
philosophischen Thätigkeit.
Die jüdische Wissenschaft des Mittelalters ist in der Hauptsache eine Begleit-
erscheinung der arabischen und von dieser abhängig. Ausgenommen ist davon nur die Kabbala,
jene phantastische Geheimlehre, deren (später freilich viel überarbeitete) Grundzüge dieselbe
eigenthümliche Verquickung orientalischer Mythologie mit Ideen der hellenistischen Wissen-
schaft zeigen und in dieselbe Zeit und dieselben aufgeregten Vorstellungskrcise der Religions-
mischung zurückgehen, wie der christliche Gnosticismus. Vgl. A. Franck, Systeme de la Kab-
bale (Paris 1842, deutsch von Jrllinek, Leipzig 1844). U. Joel, Die Religionsphilosophie
des Sohar (Leipzig 1849). Dagegen sind bezeichnender Weise die Hauptwerke der jüdischen
Philosophie ursprünglich arabisch geschrieben und ei*st verhältnissmassig spät in's Hebräische
übersetzt worden.
Dem frühesten arabischen Aristotelismus und noch mehr den freisinnigeren moham-
medanischen Theologen, den sogenannten Mutuziliten, verwandt ist das Buch von Saadjah
Fiijjumi (gestorben 942) „über Religionen und Philosophien'*, welches eine Apologie des jüdi-
schen Dogmas geben will. Li der nouplatonischen Richtuug begegnet uns Avicebron (Ibn
(lebirol, ein spanischer Jude des eilften Jahrhunderts), von dessen Föns vitae hebräische und
lateinische Bearbeitungen erhalten sind. Als der bedeutendste jüdische Philosoph des Mittel-
alters gilt Moses Maimoni des (1135—1204), der nach sei uer Bildung und Lehre der um
Averroes gruppirten Phase der arabischen Wissenschaft angehört. Seine Hauptschrift, „Lehrer
der Schwankenden", (Doctor pcrplexorum) ist arabisch uud französisch mit Commentar von
MüNK (3 Bde. Paris 1856 — 66) herausgegeben worden. Noch enger ist der Anschluss au
Averroes bei Gersonides (Levi ben Gerson, 1288 — 1344).
Die Juden haben vermöge ihrer weitverzweigten mercantilen Beziehungen durch Ver-
trieb und Uebersetzung am meisten zur Verbreitung der orientalischen Philosophie im Abend-
lande beigetragen : namentlich im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert haben ihre Schulen
in Sudfrankreich diese weittragende Vermittlung orgauisirt.
Zu der arabisch-jüdischen Litteratur, welche die christliche Wissenschaft um 1200 auf-
nahm, gehört endlich auch eine Anzahl pseudonymer und anonymer Schriften, welche
den letzten Zeiten des Neupiaton ismus entstammen, zumTheil auch vielleicht noch jünger sind,
~ darunter hauptsächlich die „Theologie des Aristoteles" (arabisch mid deutsch vouDietkrici,
Leipzig 1882 und 83) und der Li b er de causis (De essentia purae bonitatis), ein Auszug aus
der dem Proklos zugeschriebenen oxoixs^üioi^ ^ioXofix-fi, arabisch, lateinisch und deutsch
herausgegeben von O. Bardeioiewer (Freiburg i. Br. 1882).
248 m. Mittelalterliche Philosophie.
Zur vollen Kraft gelangte diese Richtung in dem scharfsinnigsten und
tiefsten Denker des christhchen Mittelalters^ Duns Scotus, der die Keime der
Willensphilosophie im augustinischen System zur ersten bedeutenden Entfaltung
brachte und damit von der metaphysischen Seite her den Anstoss zu einer völligen
Veränderung der Richtung des philosophischen Denkens gab. Mit ihm beginnt
die durch die hellenistische Philosophie eingeleitete Verschmelzung des religiösen
und des wissenschaftlichen Interesses wieder aus einander zu gehen.
Zu dem gleichen Erfolge führte mit noch nachhaltigerer Kraft auch die
Erneuerung des Nominalismus, zu der sich die geistige Bewegung der
letzten Jahrhunderte des Mittelalters in einer überaus interessanten Combination
zuspitzte. Die neu zur Herrschaft gelangte und in buntem Disputationstreiben
sich ergehende Dialectik bildete in ihren Lehrbüchern der Logik den aristotelisch-
stoischen Schematismus namentlich auch nach der grammatischen Seite und auf
dieser zu einer Theorie aus, welche die Lehre vom Urtheil und vom Schluss an
die Auffassung der Begriffe (Termini) als subjectiver Zeichen für die realiter
bestehenden Einzeldinge anknüpfte. Dieser Terminismus verband sich in
Wilhelm von Occam mit den naturalistischen Tendenzen der arabisch-aristo-
telischen Erkenutnisstheorie zur Bestreitung des Realismus, der im Thomismus
und Scotismus gleichmässig aufrechterhalten worden war. Aber er verband
sich auch mit der augustinischen Willenslehre zu kräftigem Individualismus, mit
den entwicklungsgeschichtlichen Anfangen der empirischen Psychologie zu einer
Art von Idealismus der inneren Erfahrung, und mit der immer breiteren Raum
erobernden Naturforschung zu einem zukunftsreichen Empirismus: so spriessen
unter scholastischer Hülle die Keime des neuen Denkens.
Vergebens tauchten in dieser äusserst vielspältigen Bewegimg hie und da
noch Männer auf, welche sich zutrauten, ein rationales System religiöser Meta-
physik zu schaffen. Vergebens suchte endlich ein Mann von der Bedeutung des
Nicolaus Cnsanus alle diese Elemente einerneuen, weltlichen Wissenschaft
unter die Gewalt eines halb scholastischen und halb mystischen Intellectualismus
zurückzuzwingen: gerade von seinem System aus haben jene Elemente eine um
so stärkere Wirkung auf die Zukunft ausgeübt.
Die Rcception des Aristoteles (worüber hauptsächlich das S. 215 citirte Werk
von A. Jourdain) füllt in das Jahrhundert von 1150 bis 1250. Sie begann mit dem bisher
unbekannten, werthvolleren Theile des Organon (vetus — nova logica) und schritt zu den
metaphysischen, physischen und ethischen Büchern fort, stets von der Einführung der arabi-
schen Erklärungsschriften begleitet. Die Kirche Hess die neue Logik zögernd herein, obwohl
dadurcli der Dialectik frische Schwingen wuchsen; denn bald musste sie sich überzeugen, dass
die neue Methode, die mit Hilfe der Syllogistik eingeführt wurde, der Darstellung ihrer eigenen
Lehre zu gute kam.
Diese im eigentlichen Sinne scholastische Methode besteht darin, dass ein zu
Grunde gelegter Text durch Eintheilung und Erklärung in eine Anzahl von Sätzen aufgelöst
wird, dass daran Fragen geknüpft und die darauf möglichen Antworten zusammengestellt
werden, dass endlich die zur Begründung oder Widerlegung dieser Antworten aufzuführenden
Argumente in der Form von Schlussketten vorgetragen werden, um schliesslich eine Ent-
scheidung über den Gegenstand herbeizuführen.
Dies Schema hat zuerst Alexander von Haies (gestorben 1245) in seiner Smnma
universac theologiae mit einer Virtuosität angewendet, welche der Behandlungswcisc der
früheren Summisten an Reichthum des Inhalts, Klarheit der Entwicklung und Bestimmtheit
der Resultate weit überlegen und auch später kaum übertroffen worden ist. Eine analoge
methodische Umgestaltung vollzogen Vincenz von Beauvais ( Vincentius Bellovacensis ;
gestorben um 1265) durch sein Speculum quadrupicx an dem realencyclopädischen Kenntniss-
material und Johannes Fidanza, genannt Bonaventura (1221 — 1274) an den Lehren der
Mystik, besonders derVictoriner. Charakteristisch ist unter denWerken des letzteren uamentlioL
2. Zweite Periode. 249
die Redactio artium ad theologiam. Vgl. K. Werner, Die Psychologie und Erkeuntnisslehre
des B. (Wien 1876).
Sehr viel zurückhaltender verfuhr die Kirche der Metaphysik und Physik des
Aristoteles gegenüber, und zwar deshalb, weil dieselbe anfangs in engster Verschwisterung
mit dem Averroismus auftrat und weil dieser sogleich die seit Scotus Erigena nie ^anz
vergessene neuplatonische Mystik zu offenem Pantheismus gestaltete. Als Vertreter eines
solchen erscheinen um 1200 Am al rieh von Bena (bei Chartres) und David von Dinant,
über deren Lehren wir nur durch die Späteren, besonders durch Albert und Thomas unter-
richtet sind. Mit der weitverbreiteten, nach dem Lateranconcil von 1215 mit Feuer und
Schwert verfolgten Secte der Amalricauer stand auch das „Ewige Evangelium** von Joachim
von Floris in Verbindung. Vgl. darüber J. N. Schneider (Dillingen 1873).
Das Verdammungsurtheil über den averroistischen Pampsychismus (vgl. § 27) traf zu-
nächst auch den Aristoteles. Diese Verbindung aufgelöst und die kirchliche Macht zur An-
erkennung des Peripateticismus umgestimmt zu haben, ist das Verdienst der beiden Bettel-
orden, der Dominikaner und der Franziskaner. Sic haben in zähem, oft hin und her
schwankenden Kampfe die Errichtung zweier Lehrstühle der aristotelischen Philosophie an
der Pariser Universität und schliesslich die Aufnalime derselben in die Facultät erstritten (vgl.
Kaufmann, Gesch. d.Uuiv. 1, 275 ff.). Nach diesem Siege (1254) stieg das Ansehen des Aristoteles
schnell zu demjenigen der höchsten philosophischen Autorität; er ward als Vorläufer Christi
in Sachen der Natur, wie Johannes der Täufer in Sachen der Gnade gepriesen, und er galt von
nun an der christlichen Wissenschaft (gerade wie dem Averroes) derart als Incarnation der
wissenschaftlichen Wahrheit, dass er in der folgenden Litteratur vielfach nur als „Philosophus**
citirt wird.
Die Lehre der Dominikaner, bis auf heute die officielle Philosophie der katholischen
Kirche, ist durch Albert und Thomas geschaffen worden.
AlbertvouBollstedt (Albertus Magnus) war 1 193 zu Lauingen (Schwaben) geboren,
studirte in Padua und Bologna, docirte in Cölu und Paris, wurde Bischof von Regensburg und
starb 1280 in Cöln. Seine Schriften bestehen zum grösston Theil in Paraphrasen und Cora-
mentaren zu Aristoteles; von selbständigem Werthe ist ausser der Summa besonders seine
Botanik (De vegetabilibus libri VII; herausg. von Mbyer und Jessen, Berlin 1867). Vgl.
J. SiGHART, A. M., sein Leben und seine Wissenschaft (Regeusburg 1857). v. Hertling, A. M.
und die Wissenschaft seiner Zeit (in Hist.-pol. Blätter 1874). J. Bach, A. M. (Wien 1881).
Thomas von Aquino, 1225 oder 27 in Roccasicca (Unteritalien) geboren, ist zuerst
in dem durch seine naturwissenschaftlichen Studien altberühmten Kloster Monte Cassino, dann
in Neapel, Cöln und Paris gebildet worden, darauf abwechselnd an diesen Universitäten, sowie
in Rom und Bologna als Lehrer thätig gewesen uud 1274 in einem Kloster bei Terracina
gestorben. Seine Werke enthalten neben kleineren Abhandlungen die Commentare zu
Aristoteles, dem Liber de causis und den Selitenzen des Petrus Lombardus, ferner haupt-
sächlich die Summa theologiae und die Schrift De veiitate fidei catholicae contra gentiles
(Summa contra gentiles). Die Abhandlung De regimine principum gehört ihm nur zum Theil.
Aus der sehr umfangreichen Litteratur über ihn seien genannt: Cm. Jourdain, La philosophie
de St. Th. (Paris 18^8). Z. Gonzalez, Studien über die Philos. des hl. Th. v. A., aus dem
Spanischen übersetzt von Noltb (Regensburg 1885). R. Eogken, Die Philos. d. Th. v. A.
und die Cultur der Neuzeit (Halle 1886). A. Frohschamäier, Die Philosophie des Th. v. A.
(Leipzig 1889).
Der philosophischen Bedeutung von Dante Alighieri ist unter den Herausgebern am
besten Philalethes in dem Commentar zu seiner Uebersetzung der Divina comedia (3 Bde., in
2. Aufl., Leipzig 1871) gerecht geworden. Neben dem grossen Weltgedicht ist aber in philo-
sophischem Betracht auch die Abhandlung De monarchia nicht zu vergessen. Vgl. A. F. Ozanam,
D. et la Philosophie catholique au 13"*® siede (Paris 1845). — G. Baur, Boethius und Dante,
(Leipzig 1873, Rede).
An sonstigen Thomisten, deren Zahl gross ist, besteht nur litterarhistorisches Interesse.
Dem Dominikanerorden gehörte auch der Vater der deutschen Mystik an, Meister
Eckhart, ein jüngerer Zeitgenosse des Thomas. In der Mitte des 13. Jahrhunderts geboren,
vermuthlich in Sachsen, war er um 1300 Professor der Philosophie in Paris, wurde dann Pro-
vinzial seines Ordens für Sachsen, lebto. zeitweilig in CÖln und Strassburg und starb während
der peinlichen Verhandlungen über die Rechtgläubigkeit seiner Lehre 1329. Die erhaltenen
Schriften (Sammlung von F. Pfeö'ker, IL Leipzig 1857), sind hau])tsächlich Predigten,
Tractate und Sprüche. Vgl. C. Ullmann, Reformatoren vor der Reformation, Bd. II (Ham-
burg 1842). W. Prbger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter (Leipzig 1875 u.81);
dazu die verschiedenen Ausgaben und Abhandlungen von S. Denifle. Ueber E. insbesondere :
250 in. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
J. Bach, M. E. der Vater der deutschen Speculation (Wien 1864). A. Lasson, M.E. der Mystiker
(BerUn 1868).
In der weiteren Entwicklung verzweigte sich die deutsche Mystik in die Häresien der
Bcghardcn und der Basler Gottesfreunde; bei der ersteren führte sie zu radicalster Ver-
knüpfung mit dem aveiToistischcn Pantlieismus. Zu populärer Predigt wurde sie bei Joh.
Tau 1er von Strassburg (1300 — 1361), zu dichterischem Sang bei Heinrich Suso von Constanz
(1300 — 1365). Ihre theoretischen Lehren erhielten sich mit Abschwächung des Hctcrodoxcn
in der „Deutschen Theologie" (zuerst von Luther 1516 herausgegeben).
Die augustinisch-p] atonische Opposition gegen den des Arabismus verdächtigen Ari-
stotelismus hat zu ihren Hauptvertretern:
Wilhelm von Auvergne aus Aurillac, Lehrer und Bischof in Paris, wo er 1249
starb, Verfasser eines Werkes De universo. lieber ihn handelt K. Wkbneb, Die Philosophie
des W. V. A. (Wien 1873).
Heinrich von Gent (Henricus Gandavensis, Heinrich Goethals aus Mudabei Gent,
1217 — 1293) der streitbare Verfechter des Willensprimats gegen den Thomismus. Er schrieb
ausser einem theologischen Compendium Summa quaestionum ordinarium und hauptsächlich
Quodlibeta theologica. Vgl. K. AVerner, H. v. G. als Repräsentant des christlichen Platonis-
mus im 13. Jahrhundert (Wien 1878).
Auch Kichard von Middletown (R. de mediavia, gestorben 1300) und Wilhelm de la
Marre, der Verfasser eines heftigen Correctorium fratris Thomae, können hier genannt werden.
In den folgenden Jahrhunderten hielt sich neben Thomismus und Scotismus eine eigene
augustinische Theologie, als deren Führer Acgydius von Colonna (Aeg. Komanus;
1247—1316) gilt. Vgl. darüber K. Werner, Schob d. spät. M.-A. Bd. IIL
Die schärfste Gegnerschaft erwuchs dem Thomismus aus dem Fi'anziskaner-Orden. Der
nach allen Seiten fruclitbar anregende, aber nach keiner zu fest bestimmter Gestalt heraus-
tretende Geist war hier RogerBacon, geboren 1214 bei llchester, in Oxford imd Paris gebildet,
wegen seiner stark auf die Naturforsch uug gerichteten Beschäftigungen und Ansichten mehr-
fach verfolgt, nur zeitweilig vom Papst Clemens IV. geschützt, bald nach 1292 gestorben.
Seine Lehren sind im Opus maius (herausg. von Jerb, London 1773) und auszugsweise im
Opus minus (herausg. von Brewkr, London 1859) niedergelegt. Vgl. E, Charles, R. B., sa
vie, ses ouvrages, ses doctrines (Paris 1861) und K. Werner, in zwei Abhandlungen über seine
Psychologie, Erkenntnisslehre und Physik (Wien 1879).
Der bedeutendste Denker des christlichen Mittelalters ist Johannes Duns Scotus.
Seine Heimath (Irland oder Northumberland) und sein Geburtsjahr (um 1270) sind nicht sicher
bekannt. Schüler und Lehrer in Oxford, erwarb er in Paris, wo er seit 1304 thätig war, hohen
Kuhm und siedelte 1308 nach Cöln über, wo er bald nach seiner Ankunft — allzufrüh — starb.
In der von seinem Orden veranstalteten Ausgabe seiner Werke (12 Bde., Lyon 1639) ist neben
eigenen Schriften viel Unechtes oder Ueberarbeitetes, besonders auch Nachschriften seiner
Disputationen und Vorträge enthalten. Zu den letzteren gehört das sog. Opus Parisiense, das
einen Commentar zu den Sentenzen des Lombarden biUlet. Aehnlichen Ursprung haben die
Quaestiones quodlibetales. Eine eigene Niederschrift ist das Opus Oxoniense, der ursprüngüche
Commentar zum Lombarden. Dazu kommen die Commentaro zu aristotelischen Schriften und
einige kleinere Tractate. Seine Lehre ist bei Werner und Stöckl dargestellt. Eine er-
schöpfende, seiner Bedeutung entsiirechende Monographie fehlt.
Unter seinen zahlreichen Anhängern ist Franz von Mayro (1325 gestorben) der bekann-
teste. Der Streit zwischen Thomisten und Scotisten war im Anfang des 14. Jahrhunderts ein
sehr lebhafter und brachte viele Zwischenbildungen zu wege : bald jedoch hatten sich beide
Parteien gemeinsam gegen den Terminisnms zu weluren.
Unter den logischen Schulbüchern der späteren Scholastik ist das einflussreichste das
von Petrus Hispanus( als Papst Johann XXI. 1277 gestorben) gewesen. Seine Summulae
logicales waren eine Uebci*setzung eines byzantinisch-griechischen Lehrbuchs, der lövo«}''.« eU
TYjv 'ApiotoisXoüs XoYtxTjv eT[taxYi;j.Yjv von Michael Psellos (im eilften JahrhundeH). Nach
dessen Vorgange (Ypa|J-p.ata rfpot'^c '^pa^ihi Tsyyiv.oq) wurden in der lateinischen Bearbeitung
die bekannten barbarischen Memorialbezeichnungen der Modi des Syllogismus eingefülirt.
Der aus dieser rhetorisch-grammatischen Logik in der nominalistischen Kichtung entwickelte
Terminismus stellte sich als Logica modema der antiqua der Realisten (worunter Scotisten
und Thomisten zusammeugefasst wurden) gegenüber.
In der Erneuerung des Nominalismus begegnen sich auf diesem Grunde Wilhelm
Durand de St. Poury^in (als Bischof von Meaux 1832 gestorben) und Petrus Aureolus (1321
zu Paris gestorben), der eine vom Thomismus, der andere vom Scotismus herkommend, mit
dem viel bedeutenderen Wilhelm von Occam, dem Abaelard der zweiten Periode. Mit
§ 25. Das Reich der Natur und das Reich der Grnade. 251
weitem und scharfem Blick für die Wirklichkeit, mit kühner, unruhiger Neuerungslust vereinigt
er in sich alle Momente, mit denen sich die neue Wissenschaft aus der Scholastik herausdrängte.
In einem Dorf der Grafschaft Surrey geboren, unter Duns Scotus gebildet, war er Professor
in Paris, griff dann in die kirchenpolitischen Kämpfe seiner Zeit energisch ein, indem er mit
Philipp dem Schönen und Ludwig dem Baier gegen das Papstthum stritt (Disputatio inter
clericam et militem super potestateecclcsiastica praclatis atque principibus terrarum commissa,
and das Defensorium gegen Papst Johann XXII.), und starb 1347 in München. Von den
Werken (keine Gesammtansgabe) sind die wichtigsten : Summa totius logices, Expositio aurea
super artem veterem, Quodlibeta Septem, Centilogium theologicum, dazu ein Gommentar über
Petrus Lombardus. Vgl. W. A. Schbeibeb, Die politischen und religiösen Doctrinen unter
Lfodwig dem Baier (Landshut 1858). G. Pbantl, Der Universalienstreit im dreizehnten und
vierze^ten Jahrhundert (Sitz.-Ber. der Münchener Akad. 1874). — Auch Occam harrt noch
seines philosophisch competenten Biographen.
Von Vertretern des terministischen Nominalismus im vierzehnten Jahrhundert pflegen
Johannes Buridan, Rector der Pariser uud Mitbegründer der Wiener Universität, und Mar-
siliua von Inghen, einer der ersten Lehrer in Heidelberg, genannt zu werden. Eine Verbin-
dung mystischer Lehren mit der nominalistischen Ablehnung der Metaphysik findet sich bei
Pierre d*Ailly (Petrus de Alliaco, 1350 — 1425) und bei Johannes Gerson (Charlier, 1363
bis 1429).
Den Versuch einer rein rationalen Darstellung der Kirchenlchre machte im apologeti-
schen und propagatorischen Interesse Raymundus LuUus (aus Catalonien, 1235 — 1315),
banptsächlich bekannt durch die wunderliche Erfindung der „Grossen Kunst", d. h. einer
mechanischen Vorrichtung, welche durch Combination der Grundbegriffe das System aller
möglichen Erkenntnisse hervorbringen sollte. Auszug daraus bei J. E. Ebuhann, Grundriss I,
§ 206. Seine Bestrebungen wiederholen sich im fün&ehnten Jahrhundert bei Raymund
von Sabunde, einem spanischen Ai-zt, der in Toulouse lehrte und durch seine Theologia
naturalis (sive liber creaturarum) Aufsehen erregte. Ueber ihn vgl. D. Matzke (Breslau 1846).
M. HuTTLKE (Augsbui^ 1851).
Eine interessante Zusammenfassung des geistigen Zustandes, in dem sich das ausgehende
Mittelalter befand, voll von Ahnungen der Zukunft, die durch die Gedanken der Zeit über-
wuchert sind, bietet die Philosophie des Nicolaus Cusanus (Nicolaus Chrypffs, in Kues bei
Trier 1401 geboren und als Cardinal und Bischof von Brixen 1464 gestorben). Die Hanpt-
schrift fuhrt den Titel De docta ignorantia (mit den wichtigsten anderen deutsch von F. A.
ScHARPfF, Freiburg i. Br. 1862 herausg.). Vgl. R. Falckenbero, Gruudzüge der Philos. des N.
v. C. (Breslau 1880).
% 85. Das Reich der Natur und das Reich der Gnade.
Bei allen Philosophen des späteren Mittelalters findet sich mit grösserer
oder geringerer Klarheit doch ein stets lebhaftes Gefühl von der zwiefachen
UeberUeferung, welche die Voraussetzung ihres Denkens bildet. Wie von selbst
hatte sich früher alles Wissen und Denken der reUgiösen Metaphysik eingeordnet;
und nun erschien neben dieser eine gewaltige^ feingliedrig in sich zusammen-
hangende Gedankemnasse^ die man noch dazu^ in öder Dialectik nach Inhalt
dürstend, begierig aufzunehmen bereit war. Die mannigfaltigen Beziehungen
dieser beiden einander erfassenden und durchdringenden Systeme haben die
letzten Jahrhunderte des Mittelalters wissenschaftlich bestimmt, und der Ent-
wicklungsgang ist dabei im Allgemeinen der, dass diese antagonistischen Systeme
von ihrem anfangUch schroff hervortretenden Gegensatze zur Versöhnung und
Ausgleichung streben, um, nachdem sie dies Ziel erreicht zu haben scheinen,
um so heftiger wieder aus einander zu gehen. Dieser Lauf der Dinge hat sich
in der Auffassung von dem Verhältniss der verschiedenen Wissenschaften zu
einander ebenso nothwendig eingestellt, wie in der Ansicht von den letzten Zu-
sammenhängen der Dinge. In beiden Richtungen ist auf den Versuch der Syn-
these eine desto tiefer gehende Trennung gefolgt.
Dem religiösen Denken des Abendlandes, dessen höchstes Problem das
Verständmss der götthchen Gnadenwirkuug gewesen war, trat die orientalische
252 I^n. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
Philosophie gegenüber, in welcher zuletzt die altgriechische Richtung der Wissen-
schaft auf Naturerkenntniss zur metaphysischen Herrschaft gelangt war: und
wiederum begann auch hier der Process der Aneignung mit den letzten Folge-
rungen, um erst allmählich zu den Prämissen derselben zurtickzusteigen.
1. Daher war die Form, in der die arabische Wissenschaft zunächst auf-
genommen wurde, der Averroismus. In diesem aber hatte sich die Wissen-
schaft gegen die positive ReHgion auf das Bestimmteste abgegrenzt. Das war
nicht nur im Rückschlag gegen die Angriffe geschehen, denen die philoso-
phische Bewegung im Orient unterlegen war, sondern mehr noch im Gefolge
der grossen geistigen Umwälzungen, welche das Zeitalter der Kreuzzüge durch
den innigen Contact der di'ei monotheistischen ReUgionen erfuhr. Je heisser
dieselben sich in der geschichtlichen Wirklichkeit bekämpften, um so mehr
schliffen sich ihre Gegensätze für die Theorie ab. Diejenigen, welche diesen
Streit der Religionen als denkende Beobachter erlebten, konnten dem Triebe
nicht widerstehen, hinter den Vcrscliiedenheiten die Gemeinsamkeit zu suchen
und über den Schlachtfeldern die Idee einer allgemeinen Religion zu errichten. ')
Um zu dieser zu gelangen, musste man jede Form der besonderen historischen
Offenbarung abstreifen und den Weg allgemeingiltiger wissenschaftlicher Er-
kenn tniss einschlagen. So war man mit neuplatonischen Reminiscenzen zu dem
Gedanken einer allgemeinen auf die Wissenschaft gegründeten Religion zurück-
gekehrt, und den letzten Inhalt dieser gemeinsamen Ueberzeugung bildete das
Sittengesetz. Wie schon Abaelard in seiner Weise dazu gelangt war, so be-
zeichnete später unter arabischen Einflüssen Roger Bacon die Moralität als den
Inhalt der Universalreligion.
Dieser wissenschaftlichen Naturreligion aber hatten die Araber mehr und
mehr den exclusiven Charakter einer esoterischen Lehre aufgeprägt. Die von
Philon stammende und der gesanimtcnPatristik geläufige Unterscheidung zwischen
einem wörtlich-historischen und einem geistig zeitlosen Sinn *) der reUgiösen Ur-
kimden (vgl. S. 173f.) wurde hier zu der Lehre, dass die positive Religion für
die Masse des Volks ein unentbehrliches Bedürfniss sei, während der Mann der
Wissenschaft erst dahinter die volle Wahrheit suche, — eine Lehre, in der
Averroes und Maimonides einig waren, und die den socialen Verhältnissen der
arabischen Wissenschaft durchaus entsprach. Denn diese hatte sich stets in eng-
geschlossenen Kreisen bewegt und als ein fremdes Gewächs niemals rechte
Fühlung mit der Masse des Volks gewonnen : verehrt doch Averroes ausdrücklich
in Aristoteles den Stifter dieser höchsten, aUgcracinsten Religion des Menschen-
geschlechts.
So Hess denn Abubacer seinen „Naturmenschen", der in der Einsamkeit
zur philosophisclien Gotteserkenntniss gelangt ist, schliesslich wieder mit der
geschichthchen Menschheit in Berührung kommen und dabei die Entdeckung
machen, dass, was er klar und begrifflich erkannt hat, hier in bildlicher Hjille
1) Als ein Hauptsitz dieser Vorstellungswcise und überhaupt des Gedankouaustausches
zwischen IVtorgenlaud und Abendland erscheint der Hof des hochjjebildeten Hohenstaufen
Friedricli II. in Sicilien. — 2) In dieser INIeinuug wurde unter den averroistischen Amabicauern
das „ewige Kvangelium" des Joaehim von Floris verbreitet, welches diese Umsetzung alles
Aeussereu in Inneres, alles Histonscheu in Zeitlos-jjjiltigea an dem ganzen Umfange des christ-
lichen Dogmas vollzog: das „pneumatische Evangelium** des Origcncs (vgl. S. 174) wollte hier
Wirklichkeit gewonnen) die Periode des „Geistes'' begonnen haben.
§ 25. Das Reich der Natur und das Reich der Qnade. (Albert.) 253
geglaubt wird und dass, was ihm als selbstTerstÄndliche Forderung der Vernunft
gilt, hier durch Strafe und Lohn der Menge abgezwungen wird.
Ist nun auch damit zugegeben, dass natürliche und geoffenbarte
Religion in letzter Instanz denselben Inhalt haben, so folgt doch daraus, dass
sie wenigstens im Ausdruck der gemeinsamen Wahrheit nothwendig von einander
abweichen, dass die Begriffe der philosophischen Religion von den Gläubigen
nicht verstanden und die bildlichen Vorstellungen der Gläubigen von den Philo-
sophen nicht für volle Wahrheit erachtet werden. Versteht man dann unter Theo-
logie (und so hatte sich im Abendlande wie im Morgenlande das Verhältniss
gestaltet) die nach den formalen Gesetzen der Wissenschaft — aristotelische
Logik — geordnete und vertheidigte Darstellung der positiven Religionslehre,
so ergiebt sich, dass etwas theologisch wahr sein kann, was philosophisch nicht
wahr ist, und umgekehrt. So erklärt sich jene Lehre von der zweifachen
Wahrheit^), der theologischen und der philosophischen, welche durch das ganze
spätere Mittelalter gegangen ist, ohne dass die Urheberschaft dieser Formel ge-
nau festgestellt werden kann ^). Sie ist der adäquate Ausdruck des geistigen Zu-
standes, der durch den Gegensatz der beiden Autoritäten, unter welchen das
Mittelalter stand, der hellenistischen Wissenschaft und der reUgiösen Tradition,
nothwendig herbeigeführt wurde, und wenn sie später oft dazu gedient hat,
wissenschaftliche Ansichten vor kirchUcher Verfolgung zu schützen, so war sie
auch in diesen Fällen meistens der ehrliche Ausdruck des inneren Zwiespalts,
in dem sich gerade die bedeutenden Geister befanden.
2. Diesen Gegensatz übernahm die Wissenschaft der christlichen Völker,
und wenn die Lehre von der zweifachen Wahrheit von kecken Dialectikern wie
Simon von Tournay oder Johann von Brescia ausdrücklich proklamirt, dafür
aber von der kircUichen Macht um so strenger verdammt wurde, so konnten
sich doch auch die leitenden Geister der Thatsache nicht entziehen, dass die
Philosophie, wie man sie unter dem Einflüsse des Aristoteles und der Araber
ausbildete, gerade den specifischen und unterscheidenden Lehren der christlichen
Religion innerlich fremd war und bleiben musste. Mit vollem Bewusstsein dieses
Gegensatzes ging Albert an seine grosse Aufgabe. Er begriff, dass der Unter-
schied zwischen der natürlichen und der geoffenbarten Religion, den
er vorfand, nicht mehr aus der Welt zu schaffen, dass Pliilosophie und Theologie
nicht mehr zu identificiren waren; aber er hoffte und arbeitete mit aller Kralt
daran, diesen Unterschied nicht zu einem Widerspruch werden zu lassen. Er
gab die Rationalisirbarkeit der „Mysterien" der Theologie, der Trinitäts- und
Incamationslehre preis, und er corrigirte andrerseits die Lehre des „Philosophen"
an so wichtigen Punkten, wie an der Frage nach der Ewigkeit oder Zeitlichkeit
der Welt zu Gunsten der kirchlichen Lehre. Er suchte zu zeigen, dass Alles,
was durch das „natürliche Licht" (lumine naturali) in der Philosophie er-
kannt wird, auch in der Theologie gilt, dass aber die menschliche Seele nur das
voll erkennen kann, dessen Principien sie selbst in sich trägt, und dass darum in
1) Vgl.M. Maywald, Die Lehre von der zweifachen Wahrheit. Berlin 1871. — 2) Ebenso-
wenig läset sich feststellen, woher jene weitverbreitete Formel stammt, welche die Stifter der
drei grossen positiven Heligionen als die drei „Betrüger" der Menschheit bezeichnete. Un-
historisch, wie alle Aufklärung, vermochte schon damals die philosophische Opposition das
Mythische, das vor ihrer vergleichenden Kritik nicht Stand hielt, sich nur durch empirische
Interessen zu erklären.
254 ^' Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
solchen Fragen, wo die philosophische Erkenntniss zu keiner endgiltigen Ent-
scheidung kommt und vor der Antinomie verschiedener Möglichkeiten stehen
bleiben muss — hierin folgt Albert hauptsächlich den Ausführungen des Mai-
monides — , die Offenbarung den Aussclüag giebt. Eben deshalb sei der Glaube
verdienstlich, weil er durch keine natürliche Einsicht begründet werden kann.
Die Offenbarung ist übervernünftig, aber nicht widervemünftig.
Dieser Standpunkt der Harmonisirung natürUcher und geoffenbarter Theo-
logie ist im Wesentlichen auch derjenige von Thomas, obwohl der letztere die
Ausdehnung des der philosophischen Einsicht zu Entziehenden und dem Grlauben
Anheimzugebenden möglichst noch mehr zu beschränken sucht. Er fasst aber
ausserdem, seinem systematischen Grundgedanken nach, dies Yerhältniss als ein
solches verschiedener Entwicklungsstufen auf, und er sieht dementsprechend in
der philosophischen Erkenntniss eine in der natürlichen Anlage des Menschen
gegebene Möglichkeit, welche erst durch die in der Offenbarung thätige Gnade
zu voller und ganzer Verwirklichung gebracht wird.
Es ist deshalb wohl zu beachten, dass die Scholastik gerade in diesem
ihrem Höhepunkte weit entfernt gewesen ist, Philosophie und Theologie zu
identificiren oder der ersteren, wie es vielfach dargestellt worden ist, ein rest-
loses Begreifen des Dogmas zur Aufgabe zu machen. Diese Auffassung ge-
hört den Anfangszeiten der mittelalterlichen Wissenschaft (Anselm) an, und sie
findet sich sporadisch in den Zeiten ihrer Auflösung. So hat z. B. Raymundus
Lullus seine „grosse Kunst" *) wesenthch in der Meinung entworfen, dieselbe
werde, indem sie eine systematische Darstellung aller Wahrheiten ermögliche,
dazu geeignet sein, auch alle „Ungläubigen" von der Wahrheit der christlichen
ReUgion zu tiberzeugen. Ebenso hat später Raymund von Sabunde mit Hilfe der
lullischen Kunst beweisen wollen, dass, wenn Gott sich doppelt, in der Bibel
(liber scriptus) und in der Natur (über vivus), offenbart habe, der Inhalt dieser
beiden Offenbarungen, von denen die eine der Theologie, die andere der Philo-
sophie zu Grunde liege, offenbar derselbe sein müsse. Aber in der classischen
Zeit der Scholastik ist man sich des Unterschiedes von natürhcher und geoffen-
barter Theologie stets bewusst gewesen und hat ihn um so schärfer ausgeprägt,
je mehr die Kirche Anlass hatte, der Verwechslung ihrer Lehre mit der „natür-
lichen Theologie" vorzubeugen.
3. Es sind daher sehr treue Söhne der Kirche gewesen, welche die Kluft
zwischen Philosophie und Theologie wieder verbreitert und schliesslich unüber-
brückbar gemacht haben. An ihrer Spitze steht Duns Scotus, der die Theo-
logie nur als eine praktische Disciphn, die Philosophie dagegen als reine Theorie
aufisufassen und zu behandeln lehrte. Daher ist für ihn und für die Fortsetzer
seiner Lehre das Yerhältniss zwischen beiden nicht mehr das der Ergänzung,
1) Diese querköpfige und dabei doch in manchem Betracht interessante, deshalb auch
häufig wieder hervorgesuchte Erfindung bestand in einem System concentrischer Ringe, von
denen jeder eine Begriffsgruppe kreisförmig in Fächer vertiieilt trug und durch deren Ver-
schiebung alle möglichen Combinationen zwischen den Begriffen herbeigeführt, die Probleme
gegeben und ihre Lösungen nahe gelegt werden sollten. So gab es eine Figura A (Dei), welche
die ganze Theologie, eine Figura animae, welche die Psychologie enthielt, etc. Mnemo-
technische Versuche und solche, welche auf die Erfindung einer Weltsprache oder einer philo-
sophischen Zeichenschrifl ausgingen, haben öfters an diese Ars combinatoria angeknüpft: auch
die Einfuhrung der Buchstabenrechnung hängt mit diesen Bestrebungen zusammen.
§ 25. Das Reich der Natur und das Reich der Gnade. (Thomas, Duns Scotus, Occam.) 255
sondern das der Trennung. Die natürliche Theologie schrumpft zwischen den
Gegensätzen der Offenbarung und der Vernunfterkenntniss zu äusserster Armuth
zusammen. Der Kreis der für die natürliche Erkenntniss unzugänglichen
Mysterien der Theologie wächst immer mehr; bei Duns Scotus gehört schon der
zeitliche Anfang der geschaffenen Welt und die UnsterbUchkeit der Menschen-
seele dazu ; und Occam leugnet sogar die Beweiskraft der übUchen Argumente,
mit denen die rationale Theologie das Dasein Gottes zu beweisen pflegte.
Dabei wurzelte diese Kritik wesenthch und mit voller Ehrlichkeit in der
Absicht; dem Glauben sein Recht sicher zu stellen. Im Zusammenhange mit dem
wieder verschärfCfen metaphysischen Dualismus (s. unten No. 5) erschien das an
die sinnliche Wahrnehmung gebundene Erkennen des Verstandes unfähig, die
Geheimnisse der überirdischen Welt zu ergründen. So konnten Männer wie
Gerson gerade auf den Nominalismus ihre mystische Lehre stützen. Die Differenz
zwischen der Philosophie und der Theologie ist nothwendig, der Widerspruch
zwischen Wissen und Glauben ist unvermeidlich. Die Offenbarung stammt aus
der Gnade und hat das göttUche Reich der Gnade zu ihrem Inhalt : die Vernunft-
erkenntniss ist ein Naturprocess der Wechselwirkung zwischen dem erkennen-
den Geiste und den Gegenständen der Wahrnehmung. Deshalb musste der
Nominalismus, wenn er auch aus der scholastischen Methode heraus nur schwer
und spät dahin gelangte, dabei enden, die Natur als das einzige Object der
Wissenschaft zu betrachten. Jedenfalls stellte sich schon jetzt die Philosophie
als weltliche Wissenschaft der Theologie als der göttlichen gegenüber.
So redeten Duns Scotus und Occam äusserlich ganz im Sinne der „zwei-
fachen Wahrheit". Jene Grenzbestimmung sollte besagen, dass in Glaubens-
sachen die Dialectik nicht mitzureden habe. Allein es konnte nicht ausbleiben,
dass diese Trennung bei Anderen zu der entgegengesetzten Consequenz und zu
dem ursprünglichen Sinne der Behauptung einer doppelten Wahrheit zurück-
führte. Sie wurde zu einem Freibrief für die weltUche Philosophie. Man konnte
die dialectische Untersuchung bis zu den kühnsten Sätzen verfolgen und doch
jeden Anstoss vermeiden, wenn man nur hinzufügte, das sei so secundum rationem,
aber secundum fidcm gelte natürlich das Gcgentheil. Das geschah so häufig, dass
Thomisten und Lullisten dagegen eiferten. Bei vielen freilich, die sich dieser
Wendung bedienen, ist nicht zu zweifeln, dass sie es ehrhch so meinten: ebenso
sicher aber ist, dass Andere mit vollem Bewusstsein darin nur eine bequeme
Handhabe fanden, um unter dem Schutze dieser Restriction die Lehren einer
innerlich mit dem Glauben zerfallenen Philosophie vorzutragen. Jedenfalls trifft
das auf die gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Padua blühende Schule
der Averroisten zu.
4. Dieser wechselvollen Umgestaltung des Verhältnisses von Theologie und
Philosophie geht im engsten Zusammenhange parallel eine analoge Entwicklung
der metaphysischen Psychologie, und beide beziehen sich gleichmässig auf
das Grundverhältniss der übersinnlichen und der sinnlichen Welt. Auch hier ist
der Dualismus der Ausgangspunkt und nachher wieder das Ende. Er war ja
am Schluss der ersten Periode zu besonderer Schärfe von den Victorinern aus-
gebildet worden : in dieser Mystik war das Tafeltuch zwischen Leib und Seele
zerschnitten. Geistige und materielle Welt fielen als getrennte Sphären der Welt-
wirkUchkeit aus einander.
256 I^' Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
Nun aber erfüllte der Aristotelismus seine historische Mission, den Dualis-
mus der Zweiweltentheorie zu überwinden, wie einst an Piaton, so auch an
Augustin, und in der thomistischen Psychologie sollte der Begriff der
Entwicklung und des Stufenaufbaus der Erscheinungen jene Trennung be-
siegen. Hatte Hugo von St. Victor die Schneidelinie der creatürlichen Welt
mitten durch das Wesen des Menschen geführt, indem er die völlige Unvergleich-
lichkeit der darin zusammengefügten beiden Substanzen betonte, so sollte nun
gerade die menschliche Seele als das Mittelglied verstanden werden, durch
welches in der einheitlichen Entwicklungsreihe aller Dinge die beiden Welten
organisch in einander greifen.
Dies Resultat gewinnt Thomas durch eine ausserordentlich feinsinnige Um-
gestaltung der aristoteUschen Lehre von den Formen und ihrem Verhältniss zum
StoflF. Materielle und immaterielle Welt charakterisiren sich dadurch, dass in
dieser die reinen Formen (formae separatae; auch subsistcnte Formen genannt)
als thätige Intelligenzen ohne jede Grebundenheit au die Materie wirklich sind,
während in jener die Formen nur in der Verbindung mit der Materie sich ver-
wirklichen (inhärente Formen). Die menschliche Seele aber ist als niederste der
reinen Intelligenzen eine forma separata (worauf ihre Unsterblichkeit beruht) und
zugleich als Entelechie des Leibes die oberste derjenigen Formen, welche sich
an der Materie verwirklichen. Diese beiden Seiten ihres Wesens aber sind in
ihr zu absoluter substantieller Einheit verbunden, und sie ist die einzige Form,
die zugleich subsistent und inhärent ist*). Auf solche Weise führt die Reihe der
Einzelwesen von den niedersten Formen des materiellen Daseins an über pflanz-
liches und thierisches Leben hinaus durch die menschliche Seele mit un-
unterbrochener Continuität in die Welt der reinen Intelligenzen, der Engel, hin-
über^) und endlich bis zu der absoluten Form, der Gottheit. Durch diese
centrale Stellung der metaphysischen Psychologie wird im Thomismus die Kluft
zwischen den beiden Welten geschlossen.
5. Allein der Folgezeit schien es, dass der Riss nur verklebt sei und dass
die Verknüpfung so heterogener Bestimmungen wie der Entelechie des Leibes
und der Subsistenz einer reinen Intelligenz mehr sei als der Begriflf der Einzel-
substauz zu tragen vermöge. Daher schob Duns Scotus, dessen Metaphysik
sich natürlich gleichfalls in der aristoteHschen Terminologie bewegt, zwischen der
intelligenten Seele, die er dann doch auch als „wesentliche Form" des Leibes
bezeichnet, und dem Leibe selbst noch eine (inhärente) forma corporeitatis ein,
und so war trotzdem wieder die augustinisch-victorinische Trennung des be-
wussten Wesens von der physiologischen Lebenskraft hergestellt.
Occam macht nicht nur diese Unterscheidung zu der seinigen, sondern er
zerlegt auch, zu weiterer Einschiebung genöthigt, die bewusste Seele in einen
intellectiven und einen sensitiven Theil, und er schreibt dieser Trennung reale Be-
deutung zu. Mit dem zur Anschauung der immateriellen Welt berufenen Ver-
nunftwesen scheint ihm die sinnliche Vorstellungsthätigkeit ebensowenig verein-
bar wie die Gestaltung und Bewegung des Leibes. So zersplittert ihm die
1) Hierin concentrirt sich begrifflich die anthropocentrische Richtung der Welt-
anschauung, welche auch der Thomismus nicht überwunden hat. — 2) Die Stufenreihe der
Formen construirt Thomas in der materiellen Welt nach Aristoteles, in der geistigen nach
Diogenes Areopagita.
§ 26. Das Reich der Natur und das Keich der Gnade. (Occam.) 257
Seele in eine Anzahl einzelner Kräfte, deren Verhältniss (namentlich auch hin-
sichtlich ihres räumlichen Ineinanderseins) zu bestimmen grosse Schwierigkeiten
bereitet.
6. Das Wesentliche dabei aber ist, dass hiermit die Welt des Bewusst-
seins und diejoiige der Körper wieder völlig aus einander fallen, und das zeigt
sich besonders in Occam's Erkenntnisslehre, welche von diesen Voraussetzungen
her zu einer überaus bedeutsamen Neuerung fortgeschritten ist.
Der altgriechischen Vorstellung, dass im Erkenntnissprocesse durch das
Zusammenwirken der Seele und des äusseren Gegenstandes ein Abbild des
letzteren entstehe, welches dann von der Seele aufgefasst und angeschaut werde,
hatten beide „Bealisten", Thomas und Duns Scotus, gleichmässig, wenn auch
mit einigen Variationen in der Lehre von den „species intelligibiles" Folge ge-
geben. Occam streicht diese species intelligibiles als eine unnütze Verdopplung*)
der äusseren Wirklichkeit, die dadurch, sofern sie Gegenstand der Erkenntniss
ist, noch einmal (in psychischer Wirklichkeit) gesetzt wurde. Damit aber ver-
liert ihm die sinnliche Erkenntniss den Charakter der Abbildlich-
keit ihrem Gegenstande gegenüber. Eine VorsteUung (conceptus, intellectio
rei) ist als solche ein Zustand oder ein Act der Seele (passio — intentio animae)
und bildet in dieser ein Zeichen (signum) für das ihr entsprechende äussere
Ding. Aber dies innerliche Gebilde ist etwas andersartiges als die äussere Wirk-
lichkeit, deren Zeichen es ist, und deshalb kein Abbild davon. Nur insofern
kann von einer ^AehnUchkeit^ die Bede sein, als dabei das innerlich Wirkliche
(esse objective=Bewu8stseinsinlialt) und das äusserlich Wirkliche (esse formaliter
oder subjective = BeaUtät) *) nothwendig auf einander bezogen sind und sozu-
sagen correspondirende Punkte in den beiden heterogenen Sphären bilden.
So entwickelt sich bei den Terministen aus der alten Dualität von Geist
und Körper der Anfang eines psychologisch-erkenntnisstheoretischen Idealis-
mus: die Welt des Bewusstseins ist eine andere als die Welt der Dinge. Was
in jener sich findet, ist kein Abbild, sondern nur ein Zeichen für ein ihm aussen
Entsprechendes. Die Dinge sind anders als unsere Vorstellungen (ideae) von
ihnen.
7. Mit voller Schroffheit war endlich der Dualismus Augustinus in seiner
Auffassung von der Geschichte hervorgetreten. Das Beich Gottes und das
des Teufels, die Kirche und der weltliche Staat standen sich hier in starrer Anti-
these gegenüber. Die historische Wirklichkeit, deren Befiex diese Lehre war,
hatte sich seitdem völlig geändert. Aber bisher hatten dem Mittelalter nicht nur
die historischen Anschauungen gefehlt, welche diese Lehre zu corrigiren geeignet
gewesen wären, sondern es war auch das wissenschaftliche Denken so einseitig
theologisch und dialectisch beschäftigt gewesen, dass ethische und sociale
Probleme dem Gesichtskreise der Philosophen noch ferner geblieben waren
als physische. Und doch sah gleichzeitig die geschichtliche Wirklichkeit Be-
wegungen von so grossartigen Dimensionen, dass auch die Wissenschaft noth-
wendig zu ihr Stellung nehmen musste. Wenn sie dies in der zweiten Periode
in einer der Grösse des Gegenstandes vollkommen würdigen Weise zu thun
1) Nach seinem methodischen Grundsatz: entia praeter necessitatem non esse mul-
tiplicanda. — 2) Die Termini „objecti^" und „subjectiv" haben somit im Mittelalter eine dem
heutigen Sprachgebrauch gegenüber geradezu umgekehrte Bedeutung.
Windelband, Geschichte der Philosophie. ]^7
258 in. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
vermocht hat, . so verdankte sie die Kraft dazu wiederum dem aristotelischen
System, welches ihr die Mittel an die Hand gab^ auch die grossen Zusammen-
hänge des staatlichen und geschichtlichen Lebens im Gedanken zu bewältigen,
auch diese Formen der Entwickluugsreihe ihrer Metaphysik einzuordnen und so
den mächtigen Inhalt dessen^ was sie erlebte, in Begriffe umzusetzen. Ja, in
dieser Richtung, in der auch die arabischen Commentatoren nicht vorangegangen
waren, liegt die glänzendste Leistung der mittelalterlichen Philosophie^): und an
ihr fallt, da Albert's Interesse mehr auf der Seite der Physik lag, der Haupt-
antheil des Verdienstes auf Thomas.
Dieser betrachtet den weltlichen Staat nicht wie Augustin als eine Folge
des Sündenfalls, sondern als ein nothwendiges Glied im Weltleben. Auch da«
Recht ist ihm deshalb ein Ausfluss des göttlichen Wesens und muss als solcher
begriffen werden: über allen menschlichen Satzungen steht die lex naturalis, auf
der die Sittlichkeit und das gesellschaftUche Leben ruhen. Im Besonderen aber
ist der Mensch seiner Natur nach, wie die Sprache, die Hilfsbedürftigkeit des
Einzelnen und der GeseUigkeitstrieb beweisen, zum Leben im Staate bestimmt.
Der Zweck des Staates aber ist — so lehrte Aristoteles — die Tugend zu ver-
wirklichen, und aus diesem Zweck sind (im philosophischen Recht — Natur-
recht) alle Bestimmungen desselben zu entwickeln. Allein (und hier beginnt
der neue Gedanke) jene bürgerhche Tugend, zu der der Staat erziehen soll, er-
schöpft die Bestimmung des Menschen nicht. Mit ihr erfüllt er seinen Zweck
nur als irdisches Wesen ; seine höhere Bestimmung ist das Heil, welches ihm in
der kirchlichen Gemeinschaft die Gnade bietet. Aber wie überall das Höhere
sich durch das Niedere verwirklicht und dieses um jenes willen da ist, so soll
auch die staatliche Gemeinschaft die Vorbereitung für jene höhere Gemeinschaft
des Gottesstaates sein. So ordnet sich der Staat der Kirche als das Mittel dem
Zweck, als das Vorbereitende dem Vollendenden unter. Die Gemeinschaft des
irdischen Lebens ist die Schule für diejenige des himmlischen — praeambula
gratiae.
Neben die Teleologie der Natur, welche die griechische Philosophie
ausgearbeitet, hatte die Patristik die Teleologie der Geschichte gestellt
(vgl. S. 205) : aber beide waren unvermittelt aus einander geblieben. Die Staats-
lehre des Thomas ordnet die eine der andern in begriiAichen Zusammenhängen
unter und vollzieht damit die tiefst und weitest greifende Verknüpfung von an-
tiker und christlicher Weltauffassung, welche je versucht worden ist.
Damit aber fügt sich dem metaphysischen Gebäude des Thomismus der
Schlussstein ein. Durch diesen Uebergang aus der natürlichen Gemeinschaft in
diejenige der Gnade erfüllt der Mensch die Aufgabe, welche ihm seine Stellung
im Universum anweist: aber er erfüllt sie nicht als Individuum, sondern nur in
der Gattung. Der antike Staatsgedanke ist im Christenthum wieder lebendig
geworden; aber er ist nicht mehr Selbstzweck, er ist das vornehmste Mittel für
die Ausführung des göttlichen Weltplans. Gratia naturam non tolht sed perficit.
8. Allein auch diese höchste Synthese hatte nicht langen Bestand. Wie in
der poUtischen Wirküchkeit, so gestaltete sich auch in der Theorie das Verhält-
niss von Kirche und Staat sehr viel weniger versöhnlich. Schon bei Dante wird
1) Vgl. W. DiLTHEY, Einleitung in die GeisteswissenBchaften I, 41 8 ff.
§ 26. Der Primat des Willens oder des Verstandes. (Thomas, Dante, Occam.) 259
die Unterordnung mit einer Nebenordnung vertauscht. Dabei theüt der Dichter
mit dem Metaphysiker die Vorstellung, dass, weil die menschliche Bestimmung
nur in der Gattung zu erreichen ist, sie auch eine vollkommene EinheitUchkeit
der poütischen Organisation erforderlich mache: beide verlangen den Welt-
staat, die „Monarchie^, und sie sehen im Kaiserthum die Erfüllung dieses
Postulats. Allein der grosse GhibelUne kann nicht theokratisch denken, wie der
Dominikanermönch: und wo dieser dem Imperium die Unterordnung unter das
Sacerdotium zuweist, da stellt jener beide als gleichberechtigte Mächte einander
gegenüber. Gott hat den Menschen gleichmässig zu irdischer wie zu himmli-
scher GlückseUgkeit bestimmt: zu jener fuhrt ihn der Staat durch die natürliche
Erkenntniss der Philosophie, zu dieser die Kirche durch die Oflfenbarung. Es
bricht in dieser Coordination die Weltfreude der Renaissance ebenso siegreich
durch wie das Kraftgefühl des weltlichen Staates.
Und nach dieser Richtung ist die Entwicklung fortgeschritten. Wenn die
von Thomas construirte Stufenfolge der ReaUtät wieder mitten im menschlichen
Wesen zerschnitten wurde, so fielen, wie die geistige und die körperliche Welt,
so auch die geistliche und die staatliche Macht aus einander, und die Theorie bot
die Handhaben, um das Sacerdotium in die überweltUche Innerhchkeit zu ver-
weisen und dafür das Imperium zur alleinigen Herrschaft in der Sinnenwelt
einzusetzen. Genau das ist der Gesichtspunkt, von dem aus Occam in seiner
Disputatio zu dem Streite zwischen Papstthum und weltUcher Macht auf der
Seite der letzteren Stellung nahm. Bei seinen Voraussetzungen ist es aber auch
nicht mehr mögUch, die Theorie des Staates auf den (reaUstischen) Gedanken
eines einheitlichen Zweckzusammenhanges des menschlichen Geschlechts zu grün-
den. Der Nominalist sieht in dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Leben
als substantiellen Hintergrund nur die wollenden Individuen, und er betrachtet
Staat und Gesellschaft als Producte der Interessen (bonum commune). In der
Theorie wie im Leben behält der Individualismus das Wort*).
g 26. Der Primat des Willens oder des Verstandes.
W. Kahl, Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustinus, Duns Scotus und Descartes.
Strassburg 1886.
Im engsten Zusammenhange mit allen diesen allgemeinen Fragen steht ein
psychologisches Specialproblem, dessen lebhafte Discussion sich durch diese
ganze Zeit hindurchzieht und an dem sich die Parteigegensätze derselben in ver-
kleinertem Massstabe, aber in desto schärferer Beleuchtung erkennen lassen. Es
ist die Frage, ob unter den Vermögen der Seele dem Willen oder dem Verstände
die höhere Würde zukomme (utra potentia nobilior). Sie nimmt in der Litteratur
dieses Zeitraums einen so breiten Raum ein, dass man versucht sein könnte, den
psychologischen Gegensatz, der sich an ihr entfaltet, für das Leitmotiv der ganzen
Periode anzusehen. Allein der Verlauf der Entwicklung zeigt doch zu deutUch,
dass die eigentUch treibenden Kräfte in der religiösen Metaphysik lagen, und die
Straffheit der systematischen Conception, welche die philosophischen Lehren
1) Bis zu der äussersten Folgerung staatlicher Omnipotenz steigert sich diese weltliche
Rechtslehre Occam's bei seinem Freunde Marsilius von Fadua, dessen Schrift Defensor
pacis (1346) auch die utilistisch-nominalis tische Begründung der Theorie des Staates in kräf>
tigen tilgen durchführt.
17*
260 ni. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
dieser Zeit auszeichnet, erklärt zur Genüge, dass die Stellung zu einem Einzel-
problem für die verschiedenen Denker als typisch erscheinen kann. Immerhin
bleibt charakteristisch, dass dies Problem eine Frage aus dem Gebiete der Innen-
welt ist.
Auch hierin waren die beiden Hauptmassen der Ueberlieferung, Augustinis-
mus und Aristotelismus^ nicht einig ; aber ihr Yerhältniss war hier keineswegs
dasjenige eines ausgesprochenen Gegensatzes. Für den Augustinismus war die
Frage überhaupt schief gestellt. In ihm war das einheitliche Wesen der Persön-
lichkeit so stark betont und das Ineinander der verschiedenen Seiten ihrer Thätig-
keit so vielfach hervorgehoben, dass von einem Rangverhältniss derselben im
eigentlichen Sinne nicht recht hätte die Rede sein können. Aber andrerseits
hatte doch Augustin, namentlich in seiner Erkenntnisslehre, dem Willen als der
treibenden Kraft auch im Vorstellungsprocesse eine so centrale Stellung an-
gewiesen, dass dieselbe in ihrer Bedeutung für die empirischen Zusammenhänge
nicht erschüttert wurde, wenn auch als letztes Ziel der Entwicklung das neu-
platonische Schauen der Gottheit aufrechterhalten werden sollte. Völlig zweifellos
war dagegen der Intellectualismus des aristotelischen Systems, und wenn derselbe
noch eine Steigerung zuliess, so hatte er sie durch die arabische Philosophie, ins-
besondere durch den Averroismus erfahren. So boten sich in der That Gegen-
sätze dar, welche schnell genug zu oflfenem Streit hervorbrechen sollten.
Der Thomismus folgt auch hierin unbedingt dem Aristoteles, findet aber
dabei an seiner Seite die nahverwandte deutsche Mystik und als Gegner die
Augustinisten, Scotisten und Occamisten^ sodass bei dieser Gruppirung der
Gegensatz der Dominikaner und der Franziskaner sich durchgängig ausprägt.
1. Die Frage nach dem Vorrange des Willens oder des Verstandes ent-
wickelt sich zunächst als rein psychologische Controverse und verlangt eine Ent-
scheidung darüber, ob im Verlauf des seelischen Lebens die Abhängigkeit der
Willensentscheidungen von Vorstellungen oder diejenige der Vorstellungsbewe-
gungen vom Willen grösser sei. Sie war also geeignet, die Anlange einer ent-
wicklungsgeschichtlichen Behandlung der Psychologie (vgl. § 24) zu fordern, und
hätte dies in höherem Masse als es geschah zu thun vermocht, wenn sie nicht
immer gleich entweder auf den Boden der Dialectik oder auf das metaphysische
Gebiet hinübergespielt worden wäre. Und zwar geschah das letztere hauptsäch-
lich dadurch, dass als Streitpunkt der stets auch in ethische und religiöse Fragen
übergreifende Begriff der Freiheit angesehen wurde. Zwar wollten dabei
beide Parteien, schon im Interesse der Verantwortlichkeit, die „Freiheit" des
Menschen aufrechterhalten, bezw. vertheidigen: aber das war doch nur so mög-
lich, dass sie gar Verschiedenes darunter verstanden.
Im Einzelnen giebt nun zwar Thomas einen Einfluss des Willens auf die
Bewegung nicht nur, sondern auch auf Bejahung oder Verneinung der Vor-
stellungen zu. Insbesondere erkennt er einen solchen im Glauben durchaus an.
Aber im Allgemeinen betrachtet er doch ganz nach antikem Muster den Willen
als durch die Erkenntniss des Guten bestimmt. Der Verstand ist es nicht nur,
welcher die Idee des Guten überhaupt erfasst, sondern welcher auch iin Einzelnen
erkennt, was gut ist, und dadurch den Willen bestimmt. Nach dem für gut Er-
kannten strebt der Wille mit Nothwendigkeit; er ist also vom Verstände ab-
hängig. Dieser ist der supremus motor des Seelenlebens; die „Vernünftigkeit" ist,
§ 26. Der Primat des Willens oder des Verstandes. (Thomismus und Scotismus.) 261
SO sagte anch Eckhart; das Haupt der Seele, und nur an der Erkenntniss haftet
auch die „Minne". Freiheit (als ethisches Ideal) ist daher nach Thomas diejenige
Nothwendigkeit, welche auf dem Grunde des Wissens besteht, und andrerseits
ist — nach ihm wie nach Albert — die (psychologische) Wahlfreiheit (facultas
electiva) doch nur dadurch möghch, dass der Verstand verschiedene Möglich-
keiten als Mittel zum Zweck dem Willen darbietet^ der sich dann für das als best
erkannte entscheidet. Dieser intellectualistische Determinismus^ bei
welchem Thomas selbst immer betonte, dass der Willensentscheid nur von den
rein innerlichen Erkenntnissthätigkeiten abhänge, wurde von seinem Zeit-
genossen Gottfried von Fontaines sogar dahin überspannt, dass er auch
die sinnliche Vorstellung (phantasma) zur causa efficiens der Willensthätigkeit
machte.
Aber gerade bei diesem Begriff der nothwendigen Bestimmung setzten die
Gegner an. Das Entstehen der Vorstellungen, so lehrte schon Heinrich von
Gent und nach ihm Duns Scotus wie später Occam, ist ein Naturprocess, und
in diesen wird der Wille unabwendbar verstrickt, wenn er durchgängig von den
Vorstellungen abhängig sein soll. Damit aber, sagte Duns, sei die Contingenz
(d. h. das Auchandersseinkönnen) der Willensfiinctionen unvereinbar: denn der
Naturprocess sei überall eindeutig bestimmt; wo er waltet, gebe es keine Wahl.
Mit der Contingenz aber fallt die VerantwortUchkeit. Diese ist also nur auf-
rechtzuerhalten, wenn anerkannt wird, dass der Verstand keine zwingende Ge-
walt über den Willen ausübt. Freilich ist die Mitwirkung des Vorstellungs-
vermögens bei jeder Willensthätigkeit unerlässlich : sie bietet dem Willen die
Gegenstände und die MögUchkeiten seiner Wahl dar. Aber sie thut es nur wie
der Diener, und die Entscheidung bleibt bei dem Herrn. Die Vorstellung ist
nie mehr als die Gelegenheitsursache (causa per accidens) des einzelnen Wollens;
die Lehre des Thomas verwechselt die praktische Ueberlegung mit dem reinen
Intellect. Giebt der letztere auch den Gegenstand, so ist doch die Entscheidung
lediglich Sache des Willens: dieser ist das movens per se, ihm kommt die ab-
solute Selbstbestinmiung zu.
Der Indeterminismus, wie ihn Duns und Occam lehren, sieht also im
Willen die Grundkraft der Seele, und er behauptet nun umgekehrt, dass that-
sächlich der Wille seinerseits die Entwicklung der Verstandesthätigkeiten be-
stimme. Dies hat nach dem Vorgang des Heinrich von Gent *) , dem zufolge
die theoretischen Functionen um so aktiver werden, je immaterieller sie sind,
namentlich Duns in einer höchst interessanten Weise zu constatiren gesucht.
Der Naturprocess, sagt er, treibt als ersten Bewusstseinsinhalt (cogitatio prima)
eine Menge von Vorstellungen herbei, welche mehr oder minder verworren (con-
fiisae-indistinctae) und unvollkommen sind, und von denen nur diejenige deutlich
(distincta) und vollkommen wird, auf welche der Wille, der dabei durch Nichts
weiter bestimmt ist, seine Aufmerksamkeit richtet. Auch lehrt Duns zugleich,
dass der Wille diese Vorstellungen, welche er aus dem verworrenen in den deut-
lichen Zustand erhebt, in ihrer Intensität verstärkt, und dass die Vorstellungen,
denen er sich nicht zuwendet, wegen ihrer Schwäche schliesshch wieder aufhören
zu existiren.
1) Dem sich in dieser Hinsicht auch Richard von Middletown durchgängig anschloss.
262 ni. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
Zu diesen psychologischen Gründen tritt in der Controverse die Berufung
auf die Autoritäten von Anselm und Aristoteles einerseits, von Augustin andrer-
seits und dann noch eine Reihe von anderen Argumenten. Zum Theü sind diese
rein dialectischer Natur. So ist es, wenn Thomas behauptet, das verum, worauf
der Intellect sich richte, stehe im Range höher als das bonum, wonach der Wille
strebe, und wenn Duns die Berechtigung dieser Rangordnung anzweifelt; so,
wenn Thomas meint, der Verstand erfasse den reinen, einheitlichen Begriff des
Guten, während der Wille nur auf dessen empirische Sondergestaltungen gehe,
und wenn Heinrich von Gent und Duns, dies geradezu umkehrend, entwickeln,
der Wille sei vielmehr stets nur auf das Gute als solches gerichtet und der Ver-
stand habe zu zeigen, worin das Gute im einzelnen Falle bestände. Mit solchen
Variationen ist die Sache später viel hin und her geworfen worden, und so steht
z. B.Johannes Buridan unentschieden zwischen Determinismus und Indeter-
minismus. Denn für diesen spreche die Verantwortlichkeit, für jenen der Satz,
dass alles Geschehen durch seine Bedingungen nothwendig bestimmt sei.
Andere Argumente, die sich in den Streit flechten, greifen auf allgemeinere
Gebiete der Welt- und Lebensauffassung über.
2« Dahin gehört zunächst die Uebertragung des Rangverhältnisses von
Willen und Verstand auf Gott. Der extreme Intellectualismus der Araber
hatte in Averroes nach dem aristotelischen Motiv, dass alles Wollen ein Bedürfen,
ein Unfertig- und Abhängigsein bedeute, von dem höchsten Wesen den Willen
ausgeschlossen; umgekehrt hatte Avicebron, der stark auf Duns Scotus wirkte,
das religiöse Princip der Weltschöpfung durch den göttlichen Willen vertheidigt,
und in gleicher Richtung war bei Wilhelm vonAuvergnedie Urspininglichkeit
des WiUens neben dem Intellect im Wesen Gottes und in seiner schöpferischen
Thätigkeit behauptet worden. Diese Gegensätze spielen sich nun zwischen
Thomismus und Scotismus fort.
Selbstverständlich erkennt zwar Thomas die ReaUtät des götthchen Willens
an; aber er betrachtet ihn als die nothweudige Folge des göttlichen Intellects und
als durch diesen inhaltlich bestimmt. Gott schafft nur, was er in seiner Weis-
heit als gut erkennt; er will nothwendig sich selbst, d. h. den ideellen Inhalt
seines Intellects, und darin besteht die nur durch sich selbst bestimmte Freiheit,
mit der er die einzelnen Dinge will. So ist der göttliche Wille an die ihm über-
legene Weisheit Gottes gebunden.
Darin aber gerade sehen die Gegner eine Beschränkung der Allmacht,
welche sich mit dem Begriffe des ens realissimum nicht vertrage. Ein Wille
scheint ihnen nur dadurch souverän, dass es für ihn keinerlei Bestimmung noch
Beschränkung giebt. Gott hat die Welt, so lehrt Duns, lediglich aus absoluter
Willkür geschaffen; er hätte sie, wenn er gewollt hätte, auch in anderen Formen,
Beziehungen und Verhältnissen schaffen können , und über diesen seinen völUg
indetermfnirten Willen hinaus, giebt es keine Ursachen. Der Wille Gottes mit
seinen durch Nichts bestimmten schöpferischen Entschlüssen ist die Urthatsache
aller Wirklichkeit, nach deren Gründen nicht mehr gefragt werden darf, —
ebenso, wie die Entscheidung, welche der vor die gegebenen Möglichkeiten
gestellte Wille des endlichen Wesens mit seinem liberum arbitrium in-
differentiae trifft, jedes Mal eine neue, nicht als nothwendig zu begreifende
Thatsache schafft.
§26. Der Primat des Willens oder des Verstandes. (Thomismus und Scotismus.) 263
3. Am schärfsten kommt dieser Gegensatz in den metaphysischen Grund-
besLimmtmgen der Ethik zu Tage. Auf beiden Seiten gilt natürlich das Sitten-
gesetz als Gottes Gebot. Aber Thomas lehrt, Gott gebiete das Gute, weil es gut
ist und von seiner Weisheit als gut erkannt wird; Duns behauptet, es sei nur
deshalb gut, weil Gott es gewollt und geboten hat, und Occam fügt hinzu, Gott
hätte auch Anderes, hätte auch das Gegentheil zum Inhalt des Sittengesetzes be-
stimmen können. Für Thomas gilt daher die Güte als nothwendige Folge und
Erscheinung der göttlichen Weisheit, und auch Eckhart sagt, dass ^unter dem
Kleide der Güte" sich das Wesen Gottes verhülle; der Intellectualismus lehrt
die Perseitas boni, die Rationalität des Guten. Für ihn ist die Moral eine
philosophische Disciplin, deren Principien durch das „natürliche Licht" zu er-
kennen sind. Das „Gewissen" (synteresis ^)) ist die Erkenntniss Gottes sub
ratione boni. Bei Duns und Occam dagegen kann das Gute kein Gegenstand der
natürlichen Erkenntniss sein: denn es hätte auch anders sein können, es ist nicht
durch die Vernunft, sondern durch den grundlosen Willen bestimmt. Nichts,
so lehrt mit äusserster Consequenz Pierre d'Ailly, ist an sich (per se) Sünde; erst
das göttliche Gebot und Verbot macht etwas dazu, — eine Lehre, deren Trag-
weite man begreift, wenn man bedenkt, dass nach der Anschauung dieser
Männer der Befehl Gottes dem Menschen nur durch den Mund der Kirche be-
kannt wird.
Hiermit hängt es denn auch genau zusammen, dass die Theologie, welche
für Thomas doch immerhin eine „speculative" Wissenschaft blieb, bei seinen
Gegnern, wie bereits oben (§ 25, 3) berührt, zu einer „praktischen" Disciplin
wurde. Schon Albert hatte derartige Andeutungen gemacht, Richard vonMiddle-
town und Bonaventura hatten den „affectiven" Charakter der Theologie betont,
Roger Bacon hatte gelehrt, dass, wenn alle anderen Wissenschaften auf Ver-
nunft oder Erfajirung begründet seien, die Theologie allein die Autorität des
göttlichen Willens zum Fundament habe: Duns Scotus vollendete und befestigte
die Trennung zwischen Theologie und Philosophie, indem er sie zu einer noth-
wendigen Folgerung seiner Willensmetaphysik machte.
4. Mit gleicher Schärfe aber entfaltet sich derselbe Gegensatz in den Lehren
von der letzten Bestimmung des Menschen, von seinem Zustande in der ewigen
Seligkeit. Hatte schon bei Augustin die antike d-scopta, das willen- und bedürf-
nisslose Schauen der göttlichen Herrlichkeit, den idealen Zustand des begnadeten
und verklärten Menschen gebildet und war dies Ideal auch durch die Lehren der
früheren Mystiker nur wenig ins Schwanken gerathen, so fand es jetzt neue Nah-
rung an dem aristotehschen Intellectualismus, mit dem Albert fand, dass der
Mensch, sofern er wahrhaft Mensch ist, Intellect sei. Das Theilhaben an dem
göttlichen Wesen, das der Mensch durch die Erkenntniss gewinnt, ist die höchste
Lebensstufe, die er erreichen kann. Deshalb stellt auch Thomas die dianoeti-
schen Tugenden über die praktischen, deshalb ist ihm die visio divinae essentiae,
1) Dies Wort (auch sinderesis, scinderesis geschriebeii) hat seit Albert von BoUstädt
viel etymologisches Kop&erbrechen verursacht. Da jedoch bei den späteren Aerzten des
Alterthums (Sext. £mp.) xr^pr^o:(i als terminus technicus für „Beobachtung'' vorkommt , so
dürfte oovTYjpTjoig (das im vierten Jahrhundert bezeugt ist) analog dem neuplatonischen
Sprachgebrauch in oovaiod-rjai; oder ouvcidY^ai; (vf(l. S. 184) ursprünglich „ Selbstbeobachtung''
bedeutet und so den ethisch-religiösen Sinn des „Gewissens" (conscientia) angenommen haben.
264 in. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
die intuitive^ über alles Zeitliche hinausgerückte ewige Anschauung Gottes das
Ziel alles menschlichen Strebens. Aus dieser Anschauung folgt eo ipso die Liebe
Gottes, wie überall die Bestimmtheit des Willens sich nothwendig an diejenige
des Intellects anschliesst. Gerade diese Tendenz des Thomismus hat sein Dichter,
Dante, zum schönsten Ausdruck gebracht. Dies Ideal ist für alle Zeiten in
Beatrice poetisch verkörpert.
Indessen machte sich auch hier eine Gegenströmung geltend. Schon Hugo
von St. Victor hatte den höchsten Engelchor durch die Liebe und erst den
zweiten durch die Weisheit bestimmt, und wenn Bonaventura als höchste Stufe
der Nachahmung Christi die Contemplation ansah, so betonte er ausdrücklich,
dass diese mit der „Liebe" identisch sei. Duns Scotus aber lehrte mit ent-
schieden polemischer Tendenz, dass die Seligkeit ein Zustand des Willens und
zwar des allein auf Gott gerichteten Willens sei: er sieht nicht im Schauen,
sondern erst in der Liebe, die jenes überragt, die letzte Verklärung des Menschen,
und er beruft sich auf das Wort des Apostels: „die Liebe ist die grosseste unter
ihnen".
Wenn daher bei Thomas der Intellect, bei Duns der Wille als das ent-
scheidende Wesen des Menschen angesehen wurde, so konnte Thomas an der
Lehre Augustinus von der gratia irresistibüis festhalten, wonach die Offenbarung
den Intellect und mit ihm den Willen des Menschen unweigerlich bestimmt;
während Duns Scotus sich zu der „synergistischen" Ansicht gedrängt hat, dass
die Annahme der Gnadenwirkung in gewisser Ausdehnung durch den freien
Willen des Lidividuums bedingt sei. So entschied sich der grosse Nachfolger
Augustin's mit starker Folgerichtigkeit gegen die augustinische Prädestinations-
lehre.
5. Dagegen hat nun derintellectualismus des Thomas seine äussersten Con-
sequenzen in der deutschen Mystik entwickelt, deren Schöpfer Eckhart in
den begrifflichen Grundzügen seiner Lehre durchaus von dem Lehrer seines
Ordens abhängig ist ^). Nur darin geht Eckhart weit über ihn hinaus, dass er
als eine viel ursprünglichere Persönlichkeit das tiefe und gewaltige Gefühl seiner
Frömmigkeit restlos in Erkenntniss umzusetzen bemüht ist und in diesem Drange
seiner Innerlichkeit die statutarischen Schranken durchbricht, vor denen jener
Halt gemacht hatte, üeberzeugt, dass die im religiösen Bewusstsein gegebene
Weltanschauung auch zum Inhalt des höchsten Wissens müsse gemacht werden
können, sublimirt er sein frommes Glauben zu einer speculativen Erkenntniss^
deren reiner Geistigkeit gegenüber das kirchliche Dogma nur als äusseres^ zeit-
liches Symbol erscheinen soll. Aber wenn er diese Tendenz mit vielen Vorgängen
theilt, so ist seine Eigenthümlichkeit gerade die, dass er die innerste und wahrate
Wahrheit nicht als den Vorzug eines exclusiven Kreises bewahrt wissen, sondern
vielmehr allem Volke mittheilen will. Für diesen tiefsten Kern der religiösen
Lehre glaubt er gerade bei der einfachen Frömmigkeit das rechte Verständniss
zu finden ^, und so wirft er die feinsten Begriffsbildungen der Wissenschaft von
1) Vgl. S. Dendtle im Archiv für Litterat.- u. Kult.-Gesch. d. M.-A. 11, 417 ff. — Sofern
daher wirklich Eckhart der „Vater der deutschen Speculation" sein sollte, so stammte dieselbe
von Thomas von Aquin, bzw. von seinem Lehrer Albert. — 2) So hängt auch die deutsche
Mystik mit der allgemeineren Erscheinung zusammen, dass die schnell steigende Veräusser-
lichun^, welche das^irchenleben im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ergriff, übendl
die Frömmigkeit in ausserkirchliche Bahnen trieb.
§ 26. Der Primat des Willens oder des Verstandes. (Eckhart.) 265
der Kanzel unter das Volk. Mit genialer Sprachgewaltigkeit prägt er die Scho-
lastik in ergreifende Predigt um, und schafft seiner Nation die für die Zukunft
bestimmenden Anfange ihrer philosophischen Ausdrucksweise.
In seiner Lehre aber verstärken sich die mystisch-intellectuaUstischen Ele-
mente des Thomismus durch den neuplatonischen Idealismus^ der ihm vermuth-
lich durch Scotus Erigena zugeführt wurde, bis zu der letzten Folgerung: Sein
und Erkenntniss ist Eins, und alles Geschehen in der Welt ist seinem tief-
sten Wesen nach Erkennen. Ein Process der Erkenntniss^ der Selbstoffenbarung
ist das Hervorgehen der Welt aus Gott — ein Process der Erkenntniss, der
immer höheren Anschauung ist der Rückgang der Dinge in Gott. Die ideelle
Existenz alles Wirklichen — so sagte später Nicolaus Cusanus, der sich diese
Lehre Eckhart's zu eigen machte — ist wahrer als die in Baum und Zeit er-
scheinende körperliche Existenz.
Deshalb aber muss der Urgrund aller Dinge, die Gottheit, über Sein und
Erkenntniss hinausliegen ^); sie ist üebervernunft, üebersein, ihr fehlt jede Be-
stimmung, sie ist „Nichts''. Aber diese „Gottheit^ (der negativen Theologie)
offenbart sich in dem dreieinigen Gotte^), und der seiende und erkennende Gott
schafft aus dem Nichts die Creaturen, deren Ideen er in sich erkennt; denn dies
Erkennen ist sein Schaffen. Dabei gehört dieser Process der Selbstoffenbarung
zu dem Wesen der Gottheit; er ist daher eine zeitlose Nothwendigkeit, und Gott
bedarf, um die Welt zu erzeugen, keines eigenen WiUensactes. Die Gottheit als
erzeugendes Wesen, als „ungenaturte Natur" ist nur dadurch wirklich, dass sie
sich in Gott und Welt als erzeugte Wirklichkeit, als „genaturte Natur" *) er-
kennt und entfaltet. Gott schafft Alles — sagte Nicolaus Cusanus — das heisst:
er ist Alles. Und andrerseits haben alle Dinge nach Eckhart nur insofern Wesen^
als sie selbst Gott sind : was in ihnen sonst erscheint, ihre räunüiche und zeitliche
Bestimmung, ihr „Hie" und „Nu" (hie et nunc bei Thomas) ist Nichts*).
Deshalb aber ist auch die menschliche Seele in ihrer innersten Natur gött-
lichen Wesens, und nur ihrer zeitlichen Erscheinung nach besitzt sie die Mannig-
faltigkeit der „Elräfte", mit denen sie als Glied der natura naturata wirkt.
Jenes Innerste in ihr nennt Eckhart den „Funken" *), und darin erkennt er den
lebendigen Umkehrpunkt des Weltprocesses.
Denn dem „Werden" entspricht das „Entwerden", das Vergehen, und auch
dies ist die Erkenntniss, mit der die aus der Gottheit entäusserten Dinge in den
Urgrund zurückgenommen werden. Indem sie vom Menschen erkannt wird, findet
die Sinnenwelt ihr wahres, geistiges Wesen wieder. Daher besteht das mensch-
liche Erkennen mit seinem Aufsteigen aus der sinnlichen Wahrnehmung zur ver-
nünftigen Einsicht«) in dem „Abscheiden" der Vielheit und der MateriaUtät: das
1) Offenbar dasselbe Yerhältniss, wie es bei Plotin zwischen dem ev und dem voug statt-
fand, in welchem auch Denken und Sein coincidiren solHen. — 2) Die Unterscheidung zwischen
Gottheit und Gott (divinitas und deus) war dialectisch im Zusammenhange mit dem Umversalien-
streite und seinen Beziehungen zur Trinitätslehre von Gilbert de la rorr^e gemacht worden.
— 8) Ueber die vermuthlich durch den Averro'ismus (vgl. § 27, 1) verbreiteten Termini
natura naturans und natura naturata vgl. H. Siebeck, Archiv f. Gesch. d. Philos. HI, 370 ff. —
4) Ohne auf die dialectischen Formeln einzugehen, behandelt somit Eckhart die thomistische
Ideenlehre ganz in dem Sinne des strengen Kealismus von Scotus Erigena : er spricht von den
Nominalisten seiner Zeit abschätzig als von den „kleinen Meistern". — 5) Auch das „Ge-
müthe" oder Synteresis. — 6) Die emzelnen Stufen dieses Processes werden von Eckhart nach
thomistisch-augustinischem Schema entwickelt.
266 nr. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
geistige Wesen wird aus seiner Hülle herausgeschält. Und dies ist im zeitlichen
Leben die höchste Aufgabe des Menschen, von dessen Kräften eben das Er-
kennen die werthvollste ist. Wohl soll er auch in dieser Welt thätig sein und
sein vernünftiges Wesen darin zur Geltung und zur Herrschaft bringen : aber
über allem äusseren Thun, über der sinnlichen Werkgerechtigkeit steht zunächst
das „innere Werk", die Reinheit der Gesinnung, die Lauterkeit des Herzens,
und darüber wieder steht die „Abgeschiedenheit" und „Armuth" der Seele, ihr
volles Zurückgehen aus der Aussen weit in ihr innerstes Wesen, in die Gottheit.
Im Erkennen erreicht sie jene Zwecklosigkeit des Thuns, jene Freiheit in sich
selbst, worin ihre Schönheit besteht.
Aber auch dies ist nicht vollkommen, so lange das Erkennen nicht seine
höchste Weihe findet. Das Ziel alles Lebens ist die Erkenntniss Gottes. Aber
Erkennen ist Sein, ist Lebens- und Seinsgemeinschaft mit dem Erkannten. Will
die Seele Gott erkennen, so muss sie Gott sein, so muss sie aufhören, sie selbst
zu sein. Nicht nur der Sünde und der Welt, auch sich selbst muss sie entsagen.
Alles Wissen, alles Erkennen der Erscheinung muss sie von sich abstreifen; wie
die Gottheit „Nichts" ist, so wird sie auch nur in diesem Wissen des Nicht-
wissens — docta ignorantia nannte es später Nicolaus — erfasst, und wie jenes
„Nichts" der Urgrund aller Wirklichkeit, so ist auch dies Nichtwissen das höchste,
seligste Schauen. Das ist nicht mehr ein Thun des Individuums, das ist das
Thun Gottes im Menschen ; er gebiert sich in die Seele hinein, und in seinem
reinen, ewigen Wesen hat der „Funke" alle seine Kräfte zeitlicher Wirksamkeit
abgestreift und ihren Unterschied ausgelöscht. Das ist der Zustand des über-
vemünftigen Erkennens, des Auslebens des Menschen in Gott, — der Zustand,
von dem Nicolaus von Cusa sagte : es sei die evrige Liebe (charitas), welche durch
Liebe (amore) erkannt und durch Erkenntniss gebebt wird.
% 27. Das Problem der Individualität
Entsprungen aus tiefster persönlicher Frömmigkeit, aus echt individuellem
Bedürfniss rein innerlich religiösen Lebens läuft so die Lehre der deutschen
Mystik in ein Ideal der Aufhebung, der Selbstentäusserung, der Weltvemichtung
aus, dem gegenüber wie in altorientalischer Anschauung alle Besonderung, alle
Einzelwirklichkeit als Sünde oder als UnvoUkommenheit erscheint Damit ist
der Widerspruch, der in den Tiefen des augustinischen Systems steckte (vgl.
S. 226), zu voller und unmittelbar greifbarer Entwicklung gelangt, und es kommt
damit klar zu Tage, dass der neuplatonische Intellectualismus, in welcher Ge-
stalt auch immer er von Augustin bis zu Meister Eckhart auftrat, für sich
allein stets geneigt sein musste, dem Individuum die metaphysische Selb-
ständigkeit zu bestreiten, welche von der anderen Seite her als ein Postulat der
Willenslehre behauptet wurde. Steigerte sich sonach mit dem Intellectualismus
auch die universalistische Tendenz, so musste ebenfalls die Gegenströmung
um so kräftiger hervorgerufen werden, und derselbe Gegensatz der Denkmotive,
welcher zu der Dialectik des Universalienstreites geführt hatte (vgl. S. 228),
nahm nun in der Frage nach dem Seinsgrunde des Einzelwesens (principium
individuationis) eine mehr sachlich-metaphysische Gestalt an.
1. Den dringenden Anlass dazu boten die weitgehenden Folgerungen, zu
denen Universalismus und IntellectuaUsmus bei den Arabern geführt hatten.
§ 27. Das Problem der Individualität. (Averroee.) 267
Diese nämlich waren bei der Auffassung der aristotelischen Lehre in der Rich-
tung fortgeschritten, welche im Alterthum durch Straten eingeleitet (vgl. S. 140 f.)
und unter den späteren Commentatoren hauptsächlich von Alexander von Aphro-
disias eingehalten worden war^ in der Richtung des Naturalismus, der aus dem
System des Stagiriten auch die letzten Reste einer metaphysischen Trennung
des Idealen vom Sinnlichen entfernen wollte. Auf zwei Punkte hatte sich dies
Bestreben concentrirt: auf das Verhältniss Gottes zur Welt und auf dasjenige
der Vernunft zu den anderen Seelenkräften. Nach diesen beiden Seiten hin
entwickelt sich auch die Eigenthümlichkeit des arabischen Peripateticismus, und
zwar geschieht dies durch vielverschlungene Umbildungen des aristotelischen Be-
griffsschematismus von Form und Materie.
Im Allgemeinen zeigt sich dabei in der andalusischen Philosophie eine
metaphysische Verselbständigung der Materie. Sie wird nicht als das nur abstract
Mögliche, sondern als dasjenige aufgefasst^ was die ihm eigenthümlichen Formen
als Lebenskeime in sich trägt und in seiner Bewegung zur Verwirklichimg bringt.
Dabei hielt nun zwar auch Averroes hinsichtlich des einzelnen Geschehens an dem
aristotelischen Princip fest, dass jede Bewegung der Materie, durch welche sie
eine niedere Form aus sich heraus verwirklicht, durch eine höhere Form hervor-
gerufen werden muss, und die Stufenreihe der Formen findet auch hier ihren
oberen Abschluss in Gott als dem höchsten und ersten Beweger. Damit bheb,
wie die Lehre Avicebron's zeigt, die Transscendenz Gottes nur noch verein-
bar, wenn man die Materie selbst als durch den göttlichen Willen geschaffen
ansah. Aber andrerseits betonte derselbe jüdische Philosoph von denselben
Voraussetzungen her, dass ausser der Gottheit kein Wesen anders als mit Materie
behaftet gedacht werden könne, dass somit auch die geistigen Formen zu ihrer
Wirklicheit einer Materie bedürfen, der sie inhäriren, und dass schliesslich die
Lebensgemeinschaft des Universums für das ganze Reich der Formen eine ein-
heitliche Materie als Grundlage verlange. Je mehr aber bei Averroes die
Materie als ewig in sich bewegt und einheitlich lebendig angesehen wurde, um
so weniger konnte schüesslich die bewegende Form realiter von ihr getrennt sein,
und so erschien denn dasselbe göttUche Allwesen einerseits als Form und be-
wegende E[raft (natura naturans) und andrerseits als Materie, als bewegte Welt
(natura naturata).
Zu dieser Lehre von der Einheitlichkeit, innerlichen Geformtheit
und ewigen Selbstbewegung der Materie, die sich mit dem Averroismus
als eine extrem naturalistische Deutung der Philosophie des Aristoteles ver-
breitete, kamen nun aber jene Consequenzen des dialectischen ReaUsmus hinzu,
welche dazu drängten, in Gott als dem Ens generalissimum die einzige Substanz
zu sehen, von der die Einzeldinge nur mehr oder minder vorübergehende Form-
verwirklichungen seien (vgl. §23). So lehren denn die Amalricaner, dass Gott
das einheitliche Wesen (essentia) aller Dinge, dass die Schöpfung nur eine Selbst-
gestaltung dieses götthchen Wesens, eine in ewiger Bewegung sich vollziehende
Realisirung aller in dieser einheitlichen Materie enthaltenen Möglichkeiten sei.
Denselben Pantheismus begründet David von Dinant^) mit den Begriffen
1) Im Anschlufls an den Liber de causis und an die pseudo-boethianische Schrift De
uno et unitate: vgl. B. Haub^ü in den Memoires de Tacad. des inscript. XX TX (1877) und
ausserdem A. Jumdt, Histoire du pantheisme populaire au M.-A. (Paris 1875).
268 ni. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
Avicebron's, indem er lehrt: wie die Hyle (d. h. die körperliche Materie) die
Substanz aller Körper, so ist der Geist (ratio — mens) die Substanz aller Seelen;
da aber Gott als das allgemeinste aller Wesen die Substanz aller Dinge überhaupt
ist, so sind in letzter Instanz Gott, Materie und Geist identisch und die Welt
nur ihre Selbstverwirklichung in einzelnen Formen.
2. Insbesondere aber wurde die metaphysische Selbständigkeit der geistigen
Individualität noch durch eine andere Gedankenreihe in Frage gestellt. Ari-
stoteles hatte den voöc als die überall identische Vernunftthätigkeit der animalen
Seele „von aussen" hinzutreten lassen, und er war über die Schwierigkeiten dieser
Lehre deshalb hinweggegangen, weil das Problem der Persönlichkeit, das
erst mit dem stoischen ßegriflfe des "f^/siJiovtxöv auftauchte, noch nicht im Umkreise
seines Denkens lag. Die Commentatoren aber, die griechischen und die arabischen,
welche sein System ausbauten, sind vor den Folgerungen nicht zurückgeschreckt,
welche sich daraus für die metaphysische Werthung der geistigen Individualität
ergaben.
Bei Alexander von Aphrodisias begegnet uns unter dem Namen des
„passiven Intellects" (vgl. S. 1 1 7) noch die Fähigkeit der individuellen Psyche, ihren
ganzen animalen und empirischen Dispositionen nach die Einwirkung der thätigen
Vernunft in sich aufzunehmen, und dieser Intellectus agens wird hier (der natura-
listischen Auffassung des ganzen Systems gemäss) mit dem göttlichen Geiste
identificirt, der nur so noch als „getrennte Form" gedacht wird (intellectus
separatus). Schon bei Simplicius aber wird nach neuplatonischer Metaphysik
dieser intellectus agens, welcher sich in der Vernunfterkenntniss des Menschen
realisirt, zu der niedersten der Intelligenzen, welche die sublunarische Welt beherr-
schen*). Eine origineUe Ausbildung aber findet diese Lehre bei Averroes*).
Nach ihm ist der Intellectus passivus in der Erkenntnissfähigkeit des Indi-
viduums zu suchen, welche, wie dieses selbst, entsteht und vergeht als Form des
einzelnen Leibes *, sie hat daher nur individuelle und das Einzelne betreffende
Geltung: der Intellectus agens dagegen ist als eine ausserhalb und unabhängig
von den empirischen Individuen bestehende Form die ewige Gattungsvernunft
des menschlichen Geschlechtes, welche nicht entsteht und nicht vergeht und
welche in einer für Alle gültigen Weise die allgemeinen Wahrheiten enthält. Sie
ist die Substanz des wahrhaft geistigen Lebens, von der die Erkenntnissthätig-
keit des Individuums nur eine Sondererscheinung bildet. Diese (actuelle) Er-
kenntnißsthätigkeit ist (als Intellectus acquisitus) zwar ihrem Inhalt, ihrem Wesen
nach ewig, sofern sie eben die thätige Vernunft selbst ist; sie ist dagegen als em-
pirische Function individuellen Erkennens vergängKch wie die Einzelseele selbst.
Die vollständigste Incarnation der thätigen Vernunft ist nach Averroes in Ari-
stoteles gegeben*). Das vernünftige Erkennen des Menschen ist also eine un-
persönliche oder überpersönliche Function : es ist das zeitliche Theilhaben des
Individuums an der ewigen Gattungsvemunft. Diese ist das einheitUche Wesen,
welches sich in den werthvoUsten Thätigkeiten der Persönlichkeit realisirt.
Dieser Pampsychismus tritt andeutungsweise im Gefolge neuplatonischer
1) Die sog. „Theologie des Aristoteles" identificirt diesen voö; mit dem Xoyo?. Das
Nähere bei E. Renan, Av. et TAv. II, § 6 ff. — 2) Vgl. hauptsächlich dessen Schrift De animae
beatitudine. — 8) Und damit wird bei ihm die unbedingte Anerkennung der Autorität des
Stagiriten theoretisch gerechtfertigt.
§ 27. Das Problem der Individualität. (Thomismus und Scotismos.) 269
Mystik gelegentUch schon frülier in der abendländischen Litteratnr auf: als
ausgesprochene und verbreitete Lehre erscheint er neben dem Averroismus
um 1200; er wird überall mit zuerst genannt, wo die Irrlehren des arabischen
Peripateticismus verdammt werden, und es ist ein Hauptbestreben der Domini-
kaner^ Aristoteles selbst gegen die Verwechslung mit dieser Lehre zu schützen :
Albert und Thomas schrieben beide De unitate intellectus contra Averroistas.
3. Dem Pampsychismus tritt bei den christlichen Denkern als entscheidendes
Motiv das durch Augustin genährte Grefuhl von dem metaphysischen Eigen-
werthe der Persönlichkeit entgegen. Das ist der Standpunkt, aus dem Männer
wie Wilhelm von Auvergne und Heinrich von Gent den Averroes bestreiten.
Und das ist auch der eigentliche Grund, weshalb die Hauptsysteme der Scho-
lastik — im diametralen Gegensatze zu Eckhart's Mystik — den Realismus,
welcher in den intellectualistischen Grundlagen ihrer Metaphysik steckte, nicht
zur vollen Entfaltung haben kommen lassen. In schwieriger Lage war hier der
Thomismus, der nach der Formel Avicenna's (vgl. S. 236) zwar behauptete, dass
die Universalien (also auch die Gattung „Seele**) nur „individuirt", d. h. in den
einzelnen empirischen Exemplaren als deren allgemeine Wesenheit (quidditas)
existiren, ihnen aber doch die metaphysische Priorität im götthchen Geiste zu-
schrieb. Er musste daher erklären, wie es komme, dass sich dies einheitliche
Wesen (als allgemeine Materie) in so mannigfaltigen Formen darstelle, d. h.
er fragte nach dem principium individuationis, und er fand dasselbe darin,
dass die Materie in Raum und Zeit quantitativ bestimmt sei (materia signata).
In der Fähigkeit der Materie, quantitative Differenzen anzunehmen, besteht die
Möglichkeit der Individuation, d. h. die Möglichkeit, dass dieselbe Form (z. B.
die Menschheit) in verschiedenen Exemplaren als Einzelsubstanzen wirklich ist.
Daher sind nach Thomas die reinen Formen (separatae sive subsistentes) nur
durch sich selbst individuirt, d. h. es entspricht ihnen nur Ein Exemplar. Jeder
Engel ist Gattung und Individuum zugleich. Die inhärenten Formen dagegen,
zu denen ja auch trotz ihrer Subsistenz die menschliche Seele gehört (vgl. S. 256),
sind je nach den quantitativen Differenzen von Raum und Zeit, die ihre Materie
darbietet, in vielen Exemplaren wirklich.
Dem gegenüber gilt nun denFranziskanern zunächst in ihrer an Augustin
grossgezogenen religiös-metaphysischen Psychologie die Einzelseele, sodann aber
mit consequenter Erweiterung in der allgemeinen Metaphysik das Einzelwesen
überhaupt als in sich selbständige Realität. Sie verwerfen den Unterschied
separirter und inhärenter Formen. Schon Bonaventura (und ebenso übrigens
auch Heinrich von Gent), energischer aber noch Duns Scotus behauptet nach
Ayicebron, dass auch die geistigen Formen ihre eigene Materie haben, und der
letztere lehrt, dass die „Seele" nicht erst (wie nach Thomas) durch ihr Verhält-
niss au einem bestimmten Leibe, sondern schon in sich selbst individualisirt und
substantialisirt sei. Der Scotismus zeigt in dieser Hinsicht eine in dem Geiste
seines Urhebers offenbar noch nicht ausgetragene Zwiespältigkeit. Er betont
einerseits auf das Stärkste die Realität des Universale, indem er die Einheit der
Materie (materia primo-prima) ganz im arabischen Sinne aufrechterhält, und er
lehrt andrerseits, dass dies Allgemeine nur wklich sei, indem es durch die Reihe
der vom Allgemeinen zum Besonderen absteigenden Formen schliesslich vermöge
der bestimmten Einzelform (haecceitas) realisirt sei. Diese gilt deshalb bei Duns
270 ^I- Mittelalterliche Philosophie. 2, Zweite Periode.
Scotus als ein ursprünglich ThatsächlicheS; nach dessen Grunde nicht weiter ge-
fragt werden darf. Er bezeichnet die Individualität (sowohl im Sinne der einzelnen
Substanz^ als auch des einzelnen Geschehens) als das Zufällige (contingens),
d. h. als dasjenige, was nicht aus einem allgemeinen Grunde abzuleiten, son-
dern nur als thatsächlich zu constatiren ist. Für ihn hat daher, wie schon für
seinen Vorgänger Roger Bacon^ die Frage nach dem Princip der Individuation
keinen Sinn: das Individuum ist die „letzte" Form aller Wirklichkeit, durch
welche allein die allgemeine Materie existirt, und es fragt sich vielmehr um-
gekehrt, wie bei dieser alleinigen ReaUtät der formbestimmten Einzelwesen von
einer Realität der allgemeinen „Naturen" geredet werden kann^).
Aus dieser merkwürdigen Verschränkung der scotistischen Lehre erklärt
es sich, dass, während einige ihrer Anhänger, wie Franz von Mayron, von ihr aus
zum extremen Realismus fortschritten, sie bei Occam in die Erneuerung der
nominalistischen These umschlug, dass das Wirkliche nur das Einzelwesen
und dass das Allgemeine nur ein Froduct des vergleichenden Denkens sei.
4. Die siegreiche Entfaltung, welehe der Nominalismus in dem zweiten
Zeitraum der mittelalterlichen Philosophie gefunden bat, beruht auf einer höchst
eigenthüQilichen Combination sehr verschiedenartiger Denkmotive. In der Tiefe
waltet das augustinische Gefiihlsmomeut, welches der individuellen Persönlich-
keit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will; in der philosophischen Haupt-
strömung macht sich die antiplatonische Tendenz der jetzt erst bekannt werden-
den aristotelischen Erkenntnisstheorie geltend, welche nur dem empirischen
Einzelwesen den Werth der „ersten Substanz" zuerkennen will; und an der Ober-
fläche spielt ein logisch-granmiatischer Schematismus, der aus der ersten Wirkung
der byzantinischen Tradition des Alterthums herstammt ^). Alle diese Einflüsse
concentriren sich in der leidenschaftlich bewegten, eindrucksvollen Persönlichkeit
Wilhelm's von Occam.
Die Lehrbücher der „modernen" Logik, als deren Typus dasjenige von
Petrus Hispanus gelten kann, legten in einer Weise, welche auch im Alterthiun
nicht ohne Vorgang ist*), bei der Darstellung der BegrifiFslehre und ihrer An-
wendung auf Urtheil und Schluss ein Hauptgewicht auf die Theorie der Suppo-
sition, wonach ein Gattungsbegriff (Terminus) für die Summe seiner Arten, ein
Artbegriff für diejenige aller seiner Exemplare (homo = omnes homines) sprach-
lich und, wie man meinte, auch logisch eintreten kann, sodass er in den Opera-
tionen des Denkens als Zeichen für dasjenige, was er bedeutet, angewendet
wird. In den Formen dieses Terminismus*) entwickelt Occam den Nominalis-
mus (vgl. S. 257). Die Einzeldinge, denen er nach Duns Scotus die Realität
ursprünglicher Formen zuerkennt, werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung
von species intelligibles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die
„natürUchen" Zeichen für jene Dinge und haben zu ihnen nur eine nothwendige
1) Diese |dem Duns Scotus eigenthümlichc Art der Lösung des üniversalienproblems
pflegt als Formalismus bezeichnet zu werden. — 2) In der That darf man in der Wirkung
des Lehrbuchs von Michael Psellos den ersten Verstoss derjenigen Zufuhr antiken Bildungs-
stofles sehen, welche das Abendland über Byzanz erfuhr und welche später in der Renaissance
den beiden anderen Traditionen über Rom — York und über Bagdad — Cordova abschliessend
an die Seite trat. — 8) Es sei nur an die Untersuchungen des rhilodemos über Zeichen und
Bezeichnungen (S. 127, vgl. auch S. 161) erinnert. — 4) Vgl. K. Prantl, in den Sitz.-Ber. der
Münch. Aead. 1864, 11, a, 58 ff.
§27. Das Problem der Individualität. (Terminismus.) 271
Beziehung, dagegen eine sachliche Aehnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies
sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten Gegenstandes nöthig ist. Dies
Verhältniss ist dasjenige der „ersten Intention". Wie nun aber die Individual-
vorstellungen für die Individualdinge, so können im Denken, Sprechen und
Schreiben auch die „unbestimmten" Allgemein Vorstellungen der abstractiven
Erkenntniss, bzw. die wieder sie ausdrückenden gesprochenen oder geschriebenen
Wörter für die IndividualYorstellung „supponiren". Diese „zweite Intention",
worin die Allgemeinvorstellung mit Hilfe des Worts sich nicht mehr direct auf
die Sache, sondern zunächst auf deren Vorstellung bezieht, ist nicht mehr natür-
lich, sondern behebig (ad placitum instituta *). Auf diese Unterscheidung stützt
Occam auch diejenige realer und rationaler Wissenschaft: die erste bezieht
sich unmittelbar (intuitiv) auf die Sachen, die andere bezieht sich (abstractiv)
auf die immanenten Verhältnisse der Vorstellungen unter einander.
Klar ist danach, dass auch die rationale Wissenschaft die „reale" voraus-
setzt und an das von dieser geUeferte empirische Vorstellungsmaterial gebunden
ist, klar aber auch, dass selbst das „reale" Wissen nur eine innere Welt der
Vorstellungen erfasst, die zwar als „Zeichen" der Dinge gelten dürfen, aber von
diesen selbst verschieden sind. Der Geist, so hatte gelegentlich auch Albert ge-
sagt und Nicolaus Cusanus führte es später aus, erkennt nur, was er in sich hat;
seine Welterkenntniss, folgert der terministischeNominaUsmus, ist auf die inneren
Zustände angewiesen, in die ihn der Lebenszusammenhang mit dem Wirkhchen
versetzt. Dem wahren Wesen der Dinge gegenüber, lehrt Nicolaus Cusanus,
der sich durchaus zu diesem idealistischen Nominalismus bekannte, besitzt
das menschliche Denken nur Conjecturen, d. h. nur die seinem eigenen Wesen
entspringenden Vorstellungsweisen, und die Erkenntniss dieser Relativität aller
positiven Aussagen, das Wissen des Nichtwissens, die docta ignorantia, ist
der einzige Weg, um auch über die rationale Wissenschaft hinaus zu der unaus-
sagbaren, zeichenlosen, unmittelbaren Erkenntnissgemeinschaft mit dem wahren
Sein, der Gottheit, zu gelangen.
5. Trotz dieser weittragenden erkenntnisstheoretischen Bestriction ist die
eigenthche Lebenskraft des Nominalismus auf die Entwicklung der realen Wissen-
schaft gerichtet, und wenn deren Erfolge während des vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhunderts nur sehr beschränkt geblieben sind, so lag das wesentUch daran,
dass die zu voller Ausbildung gelangte scholastische Methode mit ihrer buch-
gelehrten Discussion der Autoritäten den Betrieb der Wissenschaft nach wie vor
allmächtig beherrschte, und dass die neuen Ideen, in diese Form gezwängt, sich
nicht frei entfalten konnten, — eine Erscheinung übrigens, welche sich noch bis
tief in die Philosophie der Renaissance hineinzieht. Gleichwohl haben Duns
Scotus und Occam den hauptsächlichsten Anstoss dazu gegeben, dass sich all-
mähUch neben der bisher wesentUch religiös interessirten Metaphysik die Philo-
sophie wieder als eine weltliche Wissenschaft des Thatsächlich-Wirk-
lichen constituirte und dass diese sich mit immer stärker ausgeprägtem
Bewusstsein auf den Boden des Empirismus stellte. Wenn Duns Scotus die
Haecceitas, die ursprüngliche Individualform als das Contingente bezeichnete, so
hiess das, sie sei nicht durch logische Deduction, sondern nur durch thatsäch-
1) Die Anklänge an den auch in der antiken Sprachphilosophie (Piaton, Kratylqs)
geltend gemachten Gegensatz von ^si^ und cpuai^ liegen auf der Hand.
272 m. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
liehe Constatirung zu erkennen^ und wenn Occam die Einzelwesen für das allein
wahrhaft Reale erklärte, so wies er damit der „realen Wissenschaft" den Weg
in die unmittelbare Auffassung des Wirklichen. Beide Franziskaner aber stehen
damit unter der Einwirkung Eoger Bacon^s, der mit aller Energie die Wissen-
schaft seiner Zeit von den Autoritäten zu den Sachen, von den Meinungen zu
den Quellen, von der Dialectik zur Erfahrung, von den Büchern zur Natur ge-
rufen hatte. Ihm war Albert an die Seite getreten, der unter den Dominikanern
die gleiche Richtung vertrat, den Werth der autoptischen Beobachtung und
des Experiments zu würdigen wusste und in seinen botanischen Studien die Selb-
ständigkeit eigener Forschung glänzend bethätigte. Aber für die Naturforschung
war die Zeit noch nicht reif, so sehr auch Roger Bacon nach arabischem Muster
auf quantitative Bestimmungen der Beobachtung und auf mathematische Schu-
lung drang. Versuche, wie diejenigen von Alexander Nekkam (um 1200) oder
später (um 1350) von Nicolaus d'Autricuria verhallten wirkungslos.
Fruchtbar entfaltete sich der Empirismus während dieser Zeit nur in der
Psychologie. Unter dem Einfluss der Araber, insbesondere Avicenna's imd
der physiologischen Optik von Alhacen, nahmen die Untersuchungen über das
Seelenleben schon bei Alexander von Haies, bei seinem Schüler Johann von
Rochelle, bei Vincenz von Beauvais und namentlich bei Albert eine mehr auf
Feststellung und Ordnung des Thatsächlichen gerichtete Tendenz an, und schon
bei Alfred dem Engländer (Alfred de Sereshel, in der ersten Hälfte des dreizehnten
Jahrhunderts) finden wir eine rein physiologische Psychologie mit allen radicalen
Consequenzen. Diese Regungen eines psychologischen Empirismus wären aber
durch die metaphysische Psychologie des Thomismus erstickt worden, wenn sie
nicht ihren Halt an der augustinischen Strömung geftinden hätten, welche die
Selbsterfahrung der Persönlichkeit als höchstes Princip festhielt. In
diesem Sinne trat dem Thomismus namentlich Heinrich von Gent gegenüber,
der den Standpunkt der inneren Erfahrung scharf formulirte und ihn besonders
in der Untersuchung über die Gemüthszustände zu entscheidender Geltung
brachte. Gerade in dieser Hinsicht, in der empirischen Auffassung des Ge-
ftihlslebens, dessen Theorie damit zugleich von derjenigen des Willens und des
Intellects emancipirt wurde, kam ihm Roger Bacon entgegen, der mit klarem
Blick ohne Beimischung metaphysischer Gesichtspunkte auch die pnncipielle
Verschiedenheit äusserer und innerer Erfahrung deutlich erfasste.
So kam es zu dem merkwürdigen Erfolge, dass sich die rein theoretische
Wissenschaft im Gegensatz gegen den intellectualistischen Thomismus an der
Hand der augustinischen Lehre von der Selbstgewissheit der Persönlichkeit ent-
wickelte. Diese Selbsterkenntniss galt, wie es auch bei den nominalistischen
Mystikern z. B. bei Pierre d'Ailly zu Tage tritt, als das Gewisseste der „realen
Wissenschaft^. Daher hat die letztere im ausgehenden Mittelalter sich mehr
dem bewegten Menschenleben als der Natur zugewandt, und die Anfänge einer
weltlichen Wissenschaft von den Zusammenhängen der menschlichen Gesellschaft
finden sich nicht nur in den Theorien von Occam und Marsilius von Padua (vgl.
S. 269), nicht nur in dem Anwachsen einer reicheren, lebensvolleren und inner-
licheren Geschichtsschreibung, sondern auch in empirischer. Betrachtung der
socialen Verhältnisse, wie sie ein Nicolas d'Oresme (gest. 1382) anbahnte^).
1) Vgl. über ihn W. Koscher, Zeitschr. f. Staatawissensch. 1863, 805 fif.
§ 27. Problem der iDdividualität. (Nicolaus Casanus.) 273
6« Die getheilte Stimmung, in welcher sich das ausgehende Mittelalter
zwischen den ursprünglichen Voraussetzungen seines Denkens und diesen An-
fangen eines neuen ^ erfahrungskräftigen Forschens befand, kommt nirgends
lebendiger zum Ausdruck, als in der vieldeutigen Philosophie des Nicolaus
Cusanus, der, von dem frischen Zuge der Zeit in allen Fasern ergriffen, doch
nicht darauf verzichten möchte, die neuen Gedanken dem Zusammenhange der
alten Weltauffassung einzuordnen.
Dieser Versuch gewinnt erhöhtes Interesse durch die begrifflichen Formen,
in denen er unternommen wurde. Das Leitmotiv ist dabei, zu zeigen, dass das
Individuum auch in seiner metaphysischen Besonderung mit dem allgemeinsten,
dem göttlichen Wesen identisch sei. Zu diesem Zwecke verwendet Nicolaus zum
ersten Male mit systematischer Durchfuhrung das Begriffspaar des Unendlichen
und des Endlichen. Dem gesammten Alterthum hatte das Vollkommene als
das in sich Begrenzte^ und als unendlich nur die unbestimmte Möglichkeit ge-
golten. In der alexandrinischen Philosophie dagegen war das höchste Wesen
aller endlichen Bestimmungen entkleidet, bei Plotin das ^Eine^ als die Alles ge-
staltende Kraft wegen der Unendlichkeit der Materie, an der sie sich entfaltet,
mit unbegrenzter Seinsintensität ausgestattet und auch im christlichen Denken
die Macht, wie der Wille und das Wissen Gottes mehr und mehr als schranken-
los gedacht worden. Hier kam vor Allem das Motiv hinzu, dass der Wille schon
im Individuum als ein rastloses, nimmer ruhendes Streben gefühlt und dass diese
Unendlichkeit der inneren Erfahrung zum metaphysischen Princip er-
hoben wurde. Aber erst Nicolaus hat die Methode der negativen Theologie auf
den positiven Ausdruck gebracht, dass er die Unendlichkeit als das wesent-
liche Merkmal Gottes im Gegensatze zur Welt behandelte. Die Identität
von Gott und Welt, welche die mystische Weltanschauung ebenso verlangte
wie die naturalistische, wurde daher so formulirt, dass in Gott dasselbe absolute
Sein unendlich enthalten sei, welches in der Welt sich in endlicher Gestaltung
darstellt.
Damit war der weitere Gegensatz der Einheit und der Vielheit ge-
geben. Das Unendliche ist die lebendige und ewige Einheit dessen, was im End-
lichen als ausgebreitete Vielheit erscheint. Aber diese Vielheit ist — und darauf
legt der Cusaner besonderes Gewicht — auch diejenige der Gegensätze. Was
im Endlichen auf Verschiedenes vertheilt und nur dadurch neben einander möglich
erscheint, das muss in der Unendlichkeit des göttlichen Wesens sich ausgleichen.
Gott ist die Einheit aller Gegensätze, die coincidentia oppositorum^). Er
ist daher die absolute Wirklichkeit, in der alle Möglichkeiten eo ipso als solche
realisirt sind (Possest), während jedes der vielen Endlichen an sich nur möghch
und erst durch ihn wirklich ist*).
1) Auch seine eigene Lehre, welche allen Motiven der früheren Philosophie gerecht werden
will, bezeichnet Nicolaus, den gegensätzlichen Systemen gegenüber, als eine coincidentia opposi-
torum : vgl. die Stellen bei Falckenrerg a. a. 0. p. 60 £f. — §) Denselben Gedanken hatte Thomas so
ausgesprochen, dass Gott das einzige nothwendige Wesen, d. h. dasjenige sei, welches kraft seiner
eigenen Natur existirt (ein GedaiJce, welcher als Niederschlag von Anselm^s ontologischem
Beweise — vgl. S. 230 — anzusehen ist) , während bei aUen Creaturen die Essenz (oder
Quidditas — Washeit) von der Existenz real derartig getrennt ist, dass die erstere an sich nur
möglich ist und dass die letztere zu ihr als Verwirklichung hinzutritt : die Beziehung dieser
Lehre zu den aristotelischen Grundbegriffen, actus und potentia, liegt auf der Hand.
Windelband, Geschichte der PhUosophie. jg
274 ni. Mittelalterliche Philosophie. 2. Zweite Periode.
Unter den Gegensätzen, die in Gott vereinigt sind, erscheinen eben deshalb
die zwischen ihm selbst und der Welt, d. h. diejenigen des Unendlichen und End-
lichen und der Einheit und Vielheit, als die wichtigsten. Demzufolge ist der
ünendHche zugleich endlich; in jeder seiner Erscheinungen ist der einheitUche
Dens implicitus zugleich der in die Vielheit ergossene Deus exphcitus (ygl. S. 229).
Gott ist das Grösste und dabei auch das Kleinste. Demzufolge ist aber auch
andrerseits dies Kleinste und Endüche in seiner Weise der Unendlichkeit theil-
haftig, und stellt in sich selbst, wie das. Ganze, eine harmonische Einheit des
Vielen dar.
Danach ist zunächst auch das Universum zwar nicht in demselben Sinne
wie Gott, aber in seiner Weise unendUch, d. h. es ist in Raum und Zeit un-
begrenzt (interminatum oder privativ unendUch). Ebenso aber kommt auch
jedem Einzeldinge eine gewisse Unendlichkeit in dem Sinne zu, dass es in seinen
Wesensbestimmungen auch diejenige aller anderen Individuen in sich trägt. Alles
ist in Allem: omnia ubique. Auf diese Weise enthält jedes Individuum in sich
das Weltall, aber in beschränkter, ihm allein eigener und von allen anderen ver-
schiedener Form. In omnibus partibus relucet totum. Jedes Einzelding ist —
so hatte schon der arabische Philosoph Alkendi gelegentlich gesprochen — , wenn
recht und voll erkannt, ein Spiegel des Universums.
Insbesondere gilt dies natürlich vom Menschen, und in der Auffassung des-
selben als Mikrokosmos knüpft Nicolaus sinnig an die terministische Lehre an.
Die besondere Art, in welcher die übrigen Dinge im Menschen enthalten sind,
ist durch die Vorstellungen charakterisirt, welche in ihm die Zeichen für die
Aussenwelt bilden. Der Mensch spiegelt das Universum durch seine ^ Conj ecturen ",
durch die ihm eigene Vorstellungsweise (vgl. oben S. 271).
So ist mit und in dem Unendlichen auch das Endliche, mit und in dem All-
gemeinen auch das Individuum gegeben. Dabei ist das Unendliche in sich noth-
wendig, das Endliche aber (nach Duns Scotus) absolut contingent, d. h. blosse
Thatsacbe. Es giebt keine Proportion zwischen dem Unendlichen und dem End--
liehen; auch die endlose Reihe des Endlichen bleibt mit dem wahrhaft Unend-
lichen inconmiensurabel. Die Ableitung der Welt aus Gott ist unbegreiflich, und
aus der Kenntniss des Endlichen führt kein Weg in das Unendliche. Das Indi-
viduell-WirkUche will empirisch erkannt, seine Verhältnisse und die darin walten-
den Gegensätze wollen durch den Verstand aufgefasst und unterschieden sein:
aber die Anschauung der unendUchen Einheit, die, über alle diese Gegensätze
erhaben, sie alle in sich schliesst, ist nur durch die Abstreifung all solchen end-
lichen Wissens, durch die mystische Erhebung der docta ignorantia möglich.
So fallen die Elemente, welche der Cusaner vereinigen wollte, in eben dieser
Verknüpfung wieder auseinander. Der Versuch, die mittelalterliche Philosophie
allseitig abzuschUessen, fuhrt zu ihrer inneren Zersetzung.
275
IV. TlieiL
Die PMlosopMe der Benaissance.
J. £. E&DHANN, Versuch einer wifisenschafllichen Darstellung der Geschichte der neueren
Philosophie, 3 Thle. in 6 Bänden, Riga und Leipzig 1834 — 53.
H. Ulrici, Geschichte und Kritik der rrincipien der neueren Philosophie, 3 Bde.
Leipzig! 845.
£[uNO Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, dritte Aufl. München 1880 fT.
Ed. Zellbb, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. 2. Aufl. Berlin 1875.
"W. WiNDELBA-ND, Geschichte der neueren Philosophie. 2 Bde. Leipzig 1878—80.
R. Falckenbero, Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig 1886.
J. Schaller, Geschichte der Naturphilosophie seit Bacon. 2 Bde. Leipzig 1841 — 44.
J. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie.
2 Bde. Berlin 1868 f.
F. VoBLlNDEB, Geschichte der philosophischen Moral-, Rechts- und Staatslehre der
Engländer und Franzosen. Marbui^ 1855.
F. JoDL, Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie. 2 Bde. Stuttgart 1882—89.
B. PüNJER, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation. 2 Bde.
Braunschweig 1880—83.
Die Gegensätze; welche im Ausgang der mittelalterlichen Philosophie zu
Tage treten, haben eine allgemeinere Bedeutung: sie zeigen in der theoretischen
Form das selbstbewusste Erstarken der weltlichen Cultur neben der geistlichen.
Die ünterströmung, welche ein Jahrtausend lang, hie und da zu kräftigerer Ge-
walt anschwellend, die religiöse Hauptbewegung des intellectuellen Lebens bei
den abendländischen Völkern begleitet hatte, kam nun zu entscheidendem
Durchbruch, und ihr langsam aufringender Sieg macht in den Jahrhunderten
des Uebergangs das wesentliche Merkmal für den Beginn der Neuzeit aus.
In allmählicher Entwicklung, in stetigem Fortschritt hat sich so die moderne
Wissenschaft aus den mittelalterlichen Anschauungen herausgelöst; und ihr viel-
verschlungenes Werden geht Hand in Hand mit den viellebendigen Anfangen
des gesammten modernen Lebens. Denn dies beginnt überall mit der natur-
kräftigen Entfaltung der Besonderheiten-, die lapidare Einheit, zu der das mittel-
alterliche Leben zusammendrängte, geht mit der Zeit aus einander, und ur-
wüchsige Daseinsfrische sprengt den Ring der gemeinsamen Tradition, den die
Geschichte um den Geist der Völker gezogen. So kündet sich die neue Zeit
durch das Erwachen nationaler Lebensgestaltung an; die Zeit der Weltreiche
ist auch geistig vorüber, und an die Stelle der einheitlichen Concentration, worin
das Mittelalter gearbeitet hatte, tritt die reiche Lebensfiille der Decentrali-
sation. Rom und Paris hören auf, die beherrschenden Mittelpunkte der abend-
ländischen Cultur, das Lateinische hört auf, die alleinige Sprache der gebildeten
Welt zu sein.
Auf dem religiösen Gebiete zunächst zeigte sich dieser Vorgang darin, dass
Rom die Alleinherrschaft über das kirchliche Leben des Christenthums verlor.
Wittenberg, Genf^ London u. a. wurden neue Centren des religiösen Daseins.
Die Innerlichkeit des Glaubens, die schon in der Mystik sich gegen die Ver-
18*
276 IV. Philosophie der Renaissance.
weltlichung des Kirchenlebens empört hatte, erhob sich zu siegreicher Be-
freiung, um sogleich wieder der unerlässlichen Organisation in der Aussenwelt zu
verfallen. Allein die Zersplitterung, die damit hereinbrach, weckte zwar alle
Tiefen des religiösen Gefühls und wühlte für die nächsten Jahrhunderte die
Leidenschaft und den Fanatismus confessioneller Gegensätze auf; aber eben da-
durch wurde die Vorherrschaft einer geschlossenen reUgiösen Ueberzeugung auf
den Höhen des wissenschaftlichen Lebens gebrochen. Was im Zeitalter der
Kreuzzüge durch den Contact der Religionen begonnen war, vollendete sich nun
durch den Streit der christUchen Confessionen.
Es ist nicht zufällig, dass in gleichem Masse neben Paris die Zahl der
Mittelpunkte des wissenschaftlichen Lebens im schnellen Wachsthum begrififen
war. Hatte schon vorher Oxford als Heerd der Opposition der Franziskaner
eigene Bedeutung gewonnen, so entfalteten nun erst Wien, Heidelberg, Prag,
dann die zahlreichen Akademien Italiens, endlich die reiche Fülle der neuen
Universitäten des protestantischen Deutschland ihre selbständige Lebenskraft.
Zugleich aber gewann durch die Erfindung der Buchdruckerkunst das litterari-
sche Leben eine solche Ausdehnung und eine so viel verzweigte Bewegung, dass
es, innerem Drange folgend, sich von dem strengen Schulzusammenhange ab-
lösen, die Fesseln der gelehrten Tradition abstreifen und sich in ungebundener
Ausgestaltung der Persönlichkeiten ergehen konnte. So verliert die Philosophie
in der Renaissance den zunftmässigen Charakter, und sie wird in ihren besten
Leistungen zur freien That der Ladividuen; sie sucht ihre Quellen in der Breite
der zeitgenössischen Wirklichkeit, und sie stellt sich auch äusserlich mehr und
mehr im Gewände der modernen Nationalsprachen dar.
In dieser Weise wurde die Wissenschaft von einer gewaltigen Gährung
ergriffen. Die zwei Jahrtausende alten Formen des geistigen Lebens schienen
ausgelebt und unbrauchbar geworden. Eine leidenschafthche, zunächst noch
unklare Neuerungssucht erfiiUte die Geister, und die aufgeregte Phantasie be-
mächtigte sich der Bewegung. An ihrer Hand aber kam die ganze Mannigfaltig-
keit der Interessen des weltlichen Lebens in der Philosophie zur Geltung: die
kräftige Entfaltung des Staatslebens, die reiche Steigerung der äusseren Cultur,
die Ausbreitung der europäischen CiviUsation über die fremden Welttheile, nicht
zum wenigsten die Weltfreude der neu erwachten Kunst. Und diese lebens-
frische Fülle neuen Inhalts brachte es mit sich, dass die Philosophie keinem
jener Interessen vorwiegend unterthan wurde, dass sie vielmelu* alle in sich auf-
nahm und sich mit der Zeit darüber wieder zu freier Erkenntnissarbeit, zu dem
Ideale des Wissens um seiner selbst willen erhob.
Die Wiedergeburt des rein theoretischen Geistes ist der wahre
Sinn der wissenschaftlichen „Renaissance", und darin besteht auch die Con-
genialität mit dem griechischen Denken, welche für ihre Entwicklung
entscheidend gewesen ist. Die Unterstellung unter Zwecke des praktischen,
ethischen und reUgösen Lebens, welche in der gesammten Philosophie der
hellenistisch-römischen Zeit und des Mittelalters vorgewaltet hatte, hörte mit
dem Beginn der neueren Zeit mehr und mehr auf, und die Erkenntniss der Wirk-
lichkeit erschien wieder als der Selbstzweck der wissenschaftlichen Forschung.
Gerade aber wie in den Anfangen des griechischen Denkens richtete sich dieser
theoretische Trieb wesentUch auf die Naturwissenschaft. So sehr der moderne
lY. Philosophie der Renaissance. 277
Geist, welcher die Errungenschaften des späteren Alterthums und des Mittel-
alters in sich aufgenommen hat, dem antiken gegenüber von vom herein zum
Selbstbewusstsein erstarkt, y erinnerlicht und in sich vertieft erscheint, so ist
doch seine erste selbständige intellectuelle Bethätigung die Eückkehr zu einer
von keinem anderen Interesse beeinflussten Auffassung der Natur gewesen:
dahin drängt die gesammte Philosophie der Renaissance, und in dieser Richtung
hat sie ihre grossen Erfolge errungen.
Im Gefühl solcher Verwandtschaft des Grundtriebes ergriff der neuzeitliche
Geist bei seinem leidenschaftlichen Suchen nach dem Neuen zunächst das Ael teste.
Begierig wurde die von der humanistischen Bewegung entgegengebrachte Kennt-
niss der alten Philosophie aufgenommen^ und in heftigem Gegensatze gegen die
mittelalterliche Tradition wurden die Systeme der griechischen Philosophie
erneuert. Aber diese Rückkehr zum Alterthum stellt sich im Gesammtverlauf
der Geschichte nur als die instinctive Vorbereitung ftir die eigene Arbeit des
modernen Geistes dar ^), der in diesem castalischen Bade zu seiner Jugendkraft
erstarkte. Indem er sich in die griechische Begriffswelt einlebte, gewann er
darin die Fähigkeit, sein eigenes reiches Aussenleben im Gedanken zu bemeistem,
und so gerüstet kehrte die Wissenschaft aus der Grübelwelt der Innerlichkeit
mit gesättigter Kraft zur Erforschung der Natur zurück, um sich darin neue und
weitere Bahnen zu öffnen.
Die Geschichte der Philosophie der Renaissance ist deshalb der Haupt-
sache nach dies allmähliche Herausarbeiten der naturwissenschaftUchen Welt-
betrachtung aus der humanistischen Erneuerung der griechischen Wissenschaft:
sie zerfallt deshalb sachgemäss in zwei Perioden, eine humanistische und eine
naturwissenschaftliche. Als Grenzscheide zwischen beiden darf etwa das
Jahr 1600 angesehen werden. Die erste dieser Perioden enthält die Verdrängung
der mittelalterlichen Tradition durch diejenige des echten Griechenthums; über*
reich an culturhistorischem Interesse und an litterarischer Bewegtheit, zeigen
diese beiden Jahrhunderte in philosophischem Betracht nur diejenige Ver-
schiebung früherer Gedanken, durch welche die neuen vorbereitet werden: die
zweite Periode umfasst die zur Selbständigkeit herausgerungenen Anfange der
modernen Naturforschung und in deren Gefolge die grossen metaphysischen
Systeme des 17. Jahrhunderts.
Beide Zeiträume bilden in engster Zusammengehörigkeit ein Ganzes.
Denn das innerlich treibende Motiv in der philosophischen Bewegung des Huma-
nismus ist derselbe Drang nach einer von Grund aus neuen Erkenntniss der
Welt, welcher schliesslich durch die Begründung und die principielle Ausgestal-
tung der Naturwissenschaft seine Erfüllung fand: aber die Art wie dies geschah,
und die begrifflichen Formen, in denen es sich vollzog, zeigen sich an allen
wichtigen Punkten von den Anregungen abhängig, die von der Aufnahme der
griechischen Philosophie ausgingen. Die moderne Naturwissenschaft ist
die Tochter des Humanismus.
1) In dieser Hinsicht ist der Entwicklungseang der Wissenschaft in der Renaissance
genau demjenigen der Kunst parallel gelaufen. Auen die Linie, welche von Giotto zu Lionardo,
Kafael, Michelangelo, Tizian, Dürer und Rembrandt leitet, geht von der Wiederbelebung der
classischen Formen Schritt für Schritt zu eigener und unmittelbarer Auffassung der Natur über.
Und ebenso ist Goethe der Beweis, dass för uns Moderne der Weg zur Natur durch das
Griecbenthum führt.
278 IV. Philosophie der Ronaissance.
1. Kapitel. Die hnmanistisohe Periode.
Jac. Bubckhabdt, Die Gultur der Renaissance in Italien. 4. Aufl. Leipzig 1886.
Mob« CABBiiiBE, Die philosophische Weltanschaming der Reformationszeit. 2. Aufl.
Leipzig 1687.
A. Stöckl, Geschichte der Philosophie des Mittelalters, dritter Band. Mainz 1866.
Die Continuität in der geistigen Entwicklung der europäischen Mensch-
heit tritt an keinem Punkte so merkwürdig zu Tage wie in der Eenaissance. Zu
keiner Zeit vielleicht ist das Bedürfniss nach etwas vöUig Neuem^ nach einer
totalen und radicalen Umgestaltung nicht nur des Erkenntnisslebens, sondern
auch des ganzen Zustandes der Gesellschaft so lebhaft gefühlt, so mannigfach
und so leidenschaftlich zum Ausdruck gebracht worden wie damals, und keine
Zeit hat so viele, so abenteuerliche, so weitfliegende Neuerungsversuche erlebt
wie diese: und doch, wenn man genau zusieht und sich weder durch das groteske
Selbstbewusstsein noch durch die naive Grosssprecherei täuschen lässt, welche
in dieser Litteratur an der Tagesordnung sind, so zeigt sich, dass das ganze
vielgestaltige Treiben sich im Rahmen der antiken und der mittelalterlichen
Traditionen abspielt und nur in dunklem Drange einem mehr geahnten als klar
begriffenen Ziele zustrebt. Erst das 17. Jahrhundert hat die Ausgährung und
Abklärung der so mit einander ringenden Gedankenmassen gesehen.
Das wesentliche Ferment aber dieser Bewegung war der Gegensatz zwischen
der überkommenen, in sich bereits der Auflösung verfallenden Philosophie des
Mittelaltei*s und den mit dem 15. Jahrhundert bekannt werdenden Original-
werken der griechischen Denker. Von ßyzanz her brach über Florenz und Eom
ein neuer Bildungsstrom herein, der den Lauf des abendländischen Denkens
abermals von seiner bisherigen Richtung stark ablenkte. Insofern erscheint die
humanistische Renaissance, die sog. Wiedergeburt des classischen Alterthums
als Fortsetzung und Vollendung jenes gewaltigen Aneignungsprocesses, den das
Mittelalter darstellt (vgl. S. 208 f., 245), und wenn dieser in einem rückläufigen
Aufrollen der antiken Gedankenbewegung bestand, so erreicht er nun sein
Ende, indem von der originalen altgriechischen Litteratur alles dasjenige bekannt
wurde, worauf unsere Kenntmss im WesentUchen noch heute beschränkt ist.
Das Bekanntwerden der griechischen Originale und die Ausbreitung der
humanistischen Bildung rief zunächst in Italien und sodann auch in Deutsch-
land, Frankreich und England eine oppositionelle Bewegung gegen die Scholastik
hervor. Sie wendete sich der Sache nach gegen die mittelalterlichen üm-
deutungen der griechischen Metaphysik, der Methode nach gegen die autori-
tative Deduction aus vorausgesetzten BegrifiFen, der Form nach gegen die ge-
schmacklose Härte des mönchischen Latein: und mit der bewunderungsvollen
Wiedergabe der antiken Gedanken, mit der frischen Anschaulichkeit eines lebens-
lustigen Geschlechts, mit der Feinheit und dem Witz einer künstlerisch gebildeten
Zeit erwarb diese Opposition einen schnellen Sieg.
Aber sie war in sich gespalten. Da waren Platoniker, die zum grössten
Theil besser Neuplatoniker genannt würden, da waren Aristoteliker, die
wieder je nach dem Anschluss an den einen oder den anderen der alten Aus-
leger in verschiedene, sich lebhaft bekämpfende Gruppen zerfielen. Da wachten
auch die älteren Lehren der griechischen Kosmologie, der Jonier, der Pjtha-
1. Humamstisclie Periode. 279
•
goreer wieder auf ; da erhob sich die demokritisch-epikureische Natur-
auffassung zu neuer Kraft. Da wurden der Skepticismus und der populär -
philosophische Eclecticismus wieder lebendig.
War diese humanistische Bewegung entweder religiös indifferent oder gar
mit offenem „Heidenthum^ im Kampf gegen das christliche Dogma begriffen^
so spielte sich im kirchlichen Leben ein ebenso heftiger Streit der Ueberlieferungen
ab. Die katholische Kirche verschanzte sich gegen den Ansturm der Geister
unter Führung der Jesuiten immer fester hinter dem Bollwerk des Thomis-
mus. Bei den Protestanten war — eine Fortsetzung des Antagonismus,
den das Mittelalter zeigt, — Augustin der leitende Geist. Aber in der philo-
sophischen Ausgestaltung des Dogmas blieben ihm die Reformirten näher: in
der lutherischen Kirche überwog in Folge des Einflusses des Humanismus
eine Anlehnung an die ursprüngliche Gestalt des aristotelischen Systems.
Daneben aber erhielt sich im religiösen Bedürfniss des Volks die deutsche
Mystik mit all den viel verzweigten Traditionen, die sie in sich vereinigte (vgl.
S. 264 ff.), zu fruchtbarer Wirkung für die Philosophie der Zukunft lebens-
kräftiger, als die kirchliche Gelehrsamkeit, die sie vergeblich zu ersticken suchte.
Das Neue, welches sich in diesen vielspältigen Kämpfen vorbereitete, war
der Abschluss derjenigen Bewegung, welche auf dem Höhepunkte der mittel-
alterlichen Philosophie, bei Duns Scotus begonnen hatte: die Ablösung der
Philosophie von der Theologie. Je mehr sich die Philosophie neben der Theo-
logie als selbständige weltliche "Wissenschaft constituirte, um so mehr wurde als
ihre eigentliche Aufgabe die Erkenntniss der Natur erfasst. In diesem
Ergebniss kommen alle Bichtungen der Philosophie der Renaissance zusammen.
Philosophie soll Naturwissenschaft sein, — das ist die Parole der Zeit.
Die Ausführung dieses Vorhabens jedoch musste sich zunächst innerhalb
der traditionellen Vorstellungsweisen bewegen : diese aber hatten ihre Gemein-
samkeit in dem anthropocentrischen Charakter der Weltanschauung, der die
Folge der Ausbildung der Philosophie als Lebensansicht und Lebenskunst ge-
wesen war. Deshalb nimmt die Naturphilosophie der Benaissance auf allen Linien
die Stellung des Menschen im Weltzusammenhange zum Ausgang ihrer
Problembildung, und der Umschwung der Vorstellungen, welcher sich in dieser
Hinsicht unter dem Einflüsse der veränderten Culturzustände vollzog, wurde für
die Neugestaltung der ganzen Weltansicht massgebend. An diesem Punkte
wurde die metaphysische Phantasie am tiefsten aufgeregt, und von hier aus er-
zeugte sie ihre für die Zukunft vorbildlichen Weltdichtungen in den Lehren von
Giordano Bruno und Jacob Boehme.
lieber die Erneuerung der antiken Philosophie im Allgemeinen handeln:
L. HEEREN, Geschichte der Studien der classischen Litteratur, Göttingen 1797 — 1802. —
G. Vogt, Die "Wiederbelebung des classischen Alterthums. Berlin 1880 f.
Der Hauptsitz des Piatonismus war die Akademie zu Florenz, welche von Cos-
musvonMedici gegründet und von seinen Nachfolgern glänzend erhalten wurde. Die An-
regung dazu hatte Georgios Gemistos Plethon (1355 — 1450) gegeben, der Verfasser zahl-
reicher Commentare und Oompendien, sowie einer (griechischen) Schrift über den Unterschied
der platonischen und der aristotelischen Doctrin. vgl. Fb. Schtjltze, G. G. P. Jena 1874. —
Sein einflussreicher Schüler war Bessarion (geb. 1403 in Trapezunt, gestorben als Cardinal
der römischen Kirche in Kavenna 1472). Die Hauptschrift Adversus calumniatorem Piatonis
erschien Rom 1469. Ges. Werke inMigne's Sammlung, Paris 1866. — Die bedeutendsten Er-
scheinungen aus dem platonischen Kreise waren Marsilio Fi cino (aus Florenz, 1433—1499),
der Üebersetzer der Werke Platon's und Plotin's und Verfasser einer Theologia Platonica
(Florenz 1482), und spater Francesco Patrizzi (1529—1597), welcher die Naturphilosophie
280 rV* FbiloBophie der Eenaissanoe.
dieser Richiiing in seiner Nova de unlversis philosophia (Ferrara 1591) zur geschlossensten
Darstellung brachte.
Aehnhch wie bei dem letzteren zeigt sich der Neuplatonismus mit neupythagoreischen
und altpythagoreischen Motiven versetzt schon bei Johannes Pico von Mirandola
(1463—1494).
Das quellenmässige Studium des Aristoteles wurde in Italien durch Georgiosvon
Trapezunt (1396 — 14^; Comparatio Piatonis et Aristotelis, Venedig 1523) und Theodoros
Gaza (gest. 1478), in Holland und Deutschland durch Rudolf Agricola (1442 — 1485), in
Frankreich durch Jacques Lefövre (Faber Stapulensis, 1455 — 1537) befördert.
Die Aristoteliker der B^enaissance zerfallen (abgeselien von der kirchlich-scholastischen
Richtung) in die beiden Parteien der Ave rr eisten und der Alexandristen. Die Uni-
versität Padua war, als der Hauptsitz des Averroismus, auch der Ort der lebhaftesten Streitig-
keiten zwischen beiden.
Als Vertreter des Averroismus sind Nicoletto Vernias (gest. 1499), besonders
der Bolo^eser Alexander Achillini (gest. 1518; Werke Venedig 1545), femer Au-
gostinoNifo (1473 — 1546, Hauptschrifl De intellectu et daemonibus; Opuscula Paris 1654)
und der Neapolitaner Zimara(gest. 1532) zu erwähnen.
Zu den Alexandristen zählen Ermolao Barbaro (Venetianer, 1454 — 1493; Com-
pendium scientiae naturalis ex Aristo tele, Ven. 1547), ferner der bedeutendste Aristoteliker
der Renaissance Pietro Poroponazzi (1462 in Mantua geb., 1524 in Bologna gestorben.
Seine wichtigsten Schriften sind: De immortalitate animae mit dem Defensorium g^enNiphus,
De fato libero arbitrio praedestinatione Providentia dei libri quinque; vgl. L. Ferri, la psico-
logia di P. P., Rom 1877) und seine Schüler Gasparo Contarini (gest. 1542), Simon
Porta (gest. 1555) und Julius Caesar Scaliger (1484 — 1558).
Bei den späteren Aristotelikem Jacopo Zabarella (1532 — 1589), Andreas Cae-
salpinus (1519 — 1603), Cesare Cremonini (1552—1631) u. A. erscheinen jene Gegensätze
mehr ausgeglichen.
Von Erneuerungen andrer griechischer Philosophien sind besonders zu nennen :
JoestLips (1547 — 1606), Manuductio ad Stoicam philosophiam (Antwerpen 1604)
und andre Schriften; und Caspar Schoppe, Elementa Stoicae philosophiae moralis (Mainz
1606), femer
Dav. Sennert (1572— 1637) Physica (Wittenberg 1618), Sebastian Basso (Philosophia
naturalis adversus Aristotelem, Genf 1621) und Johannes Magnenus, Democritus revivis-
cens (Pavia 1646),
Claude de Berigard als Erneuerer der ionischen Naturphilosophie in seinen Cerculi
Pisani (üdine 1648ff.),
Pierre Gassend (1592 — 1655) De vita moribus et doctrina Epicuri (Leyden 1647),
endlich
Emanuel Maignanus (1601 — 1671), dessen Cursus philoaophicus (Toulouse 1652)
empedokleische Lehren vertritt.
Im Sinne des antiken Skepti eis mus schrieben: Michel de Montaigne (1533 —
1592; Essais, Bordeaux 1580, neue Ausgaben Paris 1865 und Bordeaux 1870), Franko is
San che z (1562 — 1632; ein in Toulouse lehrender Portugiese, Verfasser des Tractatus de
multum nobili et prima universal! seien tia quod nihil scitur, Lyon 1581; vgl. L. Gerkrath, F. S.,
Wien 1860), Pierre Charron (1541 — 1603; De la sagesse, Bordeaux l&l); später Francis
de la Motte le Vayer (1586—1672, Cinq dialogues. Mens 1673), Samuel Sorbiöre (1615—
1670, üebersetzer des Scxtus Empiricus) und Simon F euch er (1644 — 1696, Verf. einer Ge-
schichte der akademischen Skeptiker, Paris 1690). —
Die schärfste Polemik gegen die Scholastik ging von denjenigen Humanisten aus, welche
ihr die römische eclectischePopularphilosophie des gesunden Menschenverstandes in
geschmackvoller Formund möglichst im rhetorischen Gewände entgegen stellten. Auch
hier ist Agricola mit seiner Schrift De inventione dialectica (1480) zu nennen, vor ihm Lau-
rentius Valla (1408 — 1457 ;I)ialecticaedi8putatione8 contra Aristoteleos, Ven. 1499), Ludo-
vi CO Vives (geb. zu Valencia 1492, gest. 1546 zu Brügge; De disciplinis, Brügge 1531, ges.
Werke', Basel 1555; vgl. A. Lange in Schmidt's Encyclopädie der Pädagogik Bd. fe),
Marius Nizolius (1498 — 1576; De veris principiis et vera ratione philosophandi, Parma
1553), endlich Pierre de laRamce (Petrus Ramus, 1515 — 1572, Institutiones dialectioae,
Paris 1543; vgl. Ch. Waddington, Paris 1849 und 1855).
Die Tradition der thomistischen Scholastik hielt sich am kräftigsten an den
spanischen Universitäten. Unter ihren Vertretern ragt Franz Suarez (aus Granada,
1548—1617; Disputationes metaphysicae 1605, ges. Werice, 26 Bde. Paris 1856—66; vgl.
K. AVicBNER, S. und die Scholastik der letzten Jahrhunderte, Regensburg 1861) hervor; da«
1. Hmnanistische Periode. 281
«
neben ist das Sammelwerk der Jesuiten von Coimbra, das sog. Collegium Gonembricense zu
erwähnen.
Der Protestantismus stand von vornherein der humanistischen Bewegung näher.
Besonders in Deutschland gingen beide vielfach Hand in Hand : vgL K. Haoen, Deutschlands
litterarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, 3 Bde., Frankfurt 1868.
An den protestantischen Universitäten wurde der Aristotelismus hauptsächlich durch
Philipp Melanchthon eingeführt. In der Ausgabe seiner Werke von BRETSCHNEiDEa und
Bindseil bilden die philosophischen Werke den 13. und 16. Bd., darunter hauptsächlich die
Lehrbücher der Logik (Dialectik) und Ethik. Vgl. A. Bichtbr, M.^s Verdienste um den
philosophischen Unterricht (Leipzig 1870). K. Hartfelder, M. als Praeceptor Germaniae
(BerHn 1889).
Luther selbst stand dem Augustinismus sehr viel näher (v^l. Ohr. Weisse, Die
Christologie Luther's, Leipzig 1852): noch mehr war dies bei Calvin der Fall, während
Zwingli der zeitgenössischen Philosophie, namentlich dem italienischen Neuplatonismus
freundlicher gesinnt war. Doch liegt die wissenschaftliche Bedeutung aller drei grossen
Reformatoren so ausschliesslich auf dem theologischen Gebiet, dass sie hier nur als wesentliche
Momente der allgemeinen Geistesbewegung im 16. Jahrhundert zu erwähnen sind.
Der protestantische Aristotelismus fand seine Gegner in Nicolaus Taurellus (1547
— 1606, Professor in Basel und Altorf; Philosophiae triumphus, Basel 1573, Alpes caesae,
Frankfurt 1597 ; vgl. F. X. Schmidt-Schwarzenbero N. T., Der erste deutsche Philosoph, Er-
langen 1864), femer in dem Socinianismus, welchen Lelio Sozzini (1525 — 1562, aus
Siena) und sein Neffe Fausto (1539 — 1604) begründeten (vgl. A. FooK, Der Socinianismus,
Kiel 1847, und den Artikel S. von Herzoo in dessen theoL Encycl. 2. Aufl. XIV, 377 ff.), be-
sonders aber in der Volksbewegung der Mystik. Unter deren Vertretern ragen hervor:
Andreas Osiander (1498— 1552), Caspar Schwenckfeld (1490— 1561), Sebastian
Franok (1500 — 1545; vgl. K. Hagen, a. a. 0. in cap. 5) und besonders Valentin Weigel
(1553—1588; Libellus de vita beata 1606, Der guldne Griff 1613, Vom Ort der Welt 1613,
Didog^s de Christianismo 1614, TvÄä-t oaitov 1615; vgl. J. 0. Opel, V. W. Leipzig 1864).
Die naturphilosophische Tendenz tritt im Anschluss an Nie. Cusanus stärker
hervor bei Charles Bouille (ßovillus, 1470 — 1553; De intellectu und De sensibus; De sa-
pientia. Vgl. J. Ddppel, Versuch einer System. Darstellung der Fhilos. des C. B., Würzburg
1862) und Girolamo Oardano (1501 — 1576, De vitapropria. De varietate rerum. De subtili-
tate; ges. Werke, Lyon 1663). Vgl. hierzu und zum Folgenden: Bixnbb und Siber, Leben und
Lehrmeinungen berühmter JPhysiker im 16. und 17. Jahrhundert, 7 Hefte, Sulzbach 1819 ff.
Die glänzendste Erscheinung unter den italienischen Naturphilosophen istGiordano
Bruno aus Nola in Campanien. 1548 geboren und in Neapel erzogen, fand er bei dem
Dominikanerorden, in den er getreten war, solche Beargwöhnnng, dass er entfloh und von da
an ein unstetes Leben führte. Er ging über Born und Oberitalien nach Genf, Lyon, Toulouse,
hielt Vorlesungen in Paris und Oxford, dann in Wittenberg und Helmstädt, berührte auch
Marburg, Frag, Frankfurt und Zürich und verfiel schliesslich in Venedig dem Schicksal, durch
Verrath in die Hände der Inquisition zu kommen, nach Bom ausgeliefert und dort nach jahre-
langer Haft wegen standhafter Verweigerung des Widerrufs 1600 verbrannt zu werden. Seine
lateinischen Werke (3 Bde. Neapel 1880 — 1891) betreffen theils die Lullische Kunst (bes. De
imaginum signorum et idearum compositione), theils sind es Lehrgedichte oder metaphysische
Schriften (De monade numero et flgura; De triplici minimo): die italienischen Schriften
(hrsg. von A. Wagner, Leipzig 1829; neue Ausgabe von F. de Laoardb, 2. Bd. Göttingen 1888)
sind einerseits satirische Dichtimgen (D candel^jo, La cena delle cineri, Spaccio della bestia
trionfante, deutsch von Kühlenbeck, Leipzig 1 890, Cabala del cavallo Pe^seo) andrerseits
die vollkommensten Darstellungen seiner Lehre: Dialoghi della causa principio ed uno, deutsch
von Lasson, Berlin 1872; Degli eroici furori; Dell' infinite, universo e dei mondi. Vgl. Bab-
THOLM^ss, G. B., Paris 1816 f.; Dom. Berti, Vita di G. B., Turin 1867 und Documenti intomo
a G. B.; Turin 1880; Chr. Sigwart in „Kleine Schriften" I, Freiburg 1889; H. Brunnhofer,
G. B.*s Weltanschauung und Verhängniss, Leipzig 1882.
Eine andere Richtung vertreten BernardinoTelesio (1508 — 1588; De rerum natura
iuxta propria principia, Bom 1565 und Neapel 1586: über ihn F. Fiorentino, Florenz 1872
und 74; L. Ferri, Turin 1873) und sein bedeutenderer Nachfolger Tommaso Campanella.
1568 in Stilo (Calabrien) geboren, früh Dominikaner geworden, nach vielen Verfolgungen und
lan^ähriger Gefangenschaft nach Frankreich gerettet, wo er mit dem cartesianischen Freundes-
kreise verkehrte, starb er in Paris 1639, ehe die Gesammtausgabe seiner Schriften, welche
Instauratio scientiarum heissen sollte, vollendet war. Eine neuere Ausgabe mit biographi-
scher Einleitung von d*Ancona ist Turin 1854 erschienen. Von den sehr zahlreichen Schriften
seien erwähnt: Frodromus philosophiae instaurandae, 1617; Bealis philosophiae partes quatuor
(mit dem Anhang Givitas Solis), 1623; De monarchia hispanica, 1625; Philosophiae rationalis
partes quinqne, 1638; Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum iuxta propria prin-
282 IV. Philosophie der Renaissance. 1. Humanistische Periode.
cipia partes tres, 1638. Ygl. Baldachini, Yita e filosofia diT. 0., Neapel 1840 und 43; Dom.
Berti, Nuovi documenti (u T. C, Eom 1881.
Theosophisch-magische Lehren finden sich bei Johannes Beuchlin (1455 — 1522;
De verbo minfico, De arte cabbalistica), Agrippa von Nettesheim (1487 — 1535; De
occulta philosophia; De incerütudine et vanitate scientiarum) Francesco Zorzi (1460 —
1540, De harmonia mundi, Paris 1549).
Bedeutender und selbständiger ist Theophrastus Bombastus Paracelsus von Höhen-
heim (1493 zu Einsiedeln geb., abenteuernden Lebens, Professor der Chemie in Basel, 1541 in
Salzburg gestorben). Unter seinen Werken (Ausgabe von Huser, Strassburg 1616 — 18) sind
das Opus paramirum, Die grosse Wundarznei und De natura rerum hervorzuheben. Vgl.
B. EüCKEN, Beiträge zur Gesch. der neueren Philos., Heidelberg 1886. — Von seinen zahl-
reichen Schülern treten Johann Baptist vanHelmont (1577 — 1644; deutsche Ausgabe
seiner Werke 1683) und dessen Sohn Franz Mercurius, femer Eobert Fludd (1574 — 1637,
Philosophia Mosaica, Guda 1638) u. A. hervor.
Den merkwürdigsten Niederschlag dieser Bewegungen bildet die Lehre von Jacob
Boehme. Er war 1575 in der Nähe von Görlitz geboren, sog auf der Wanderschaft allerlei
Gedanken ein und verarbeitete sie still in sich. Als Schuhmachermeister in Görlitz nieder-
gelassen, trat er 1610 mit seiner Hauptschrift „Aurora" hervor, der später, nachdem er zeit-
weilig zum Schweigen gezwungen worden war, noch viele andere folgten, darunter besonders
„Vierzig Fragen von der Seele** (1620), Mysterium magnum (1623), „Von der Gnadenwahl**
(1623). Er starb 1624. Ges. Werke, hrsg. von Sghibbler, Leipzig 1862. Vgl. H. A. Fechner,
J. B., sein Leben und seine Schriften, Görlitz 1853; A. Pbip, J. B., der deutsche Philosoph,
Leipzig 1860.
§ 28. Der Kampf der Traditionen.
Die unmittelbare Anlehnung an die griechische Philosophie, welche in der
Renaissance herrschend wurde, ist im Mittelalter nicht ganz ohne Vorgang, und
wenn mit der humanistischen Bewegung ein steigendes Interesse für die Natur-
erkenntniss Hand in Hand ging, so sind Männer wie Bernhard von Chartres und
Wilhelm von Conches (vgl. S. 239) typische Vorbilder dafür. Merkwürdig und
für das wechselnde Geschick der üeberlieferungen charakteristisch ist es, dass
jetzt wie damals die Verbindung zwischen Humanismus und Naturphilosophie
sich an Piaton knüpft und im Gegensatze zu Aristoteles steht.
1. In der That erwies sich die Erneuerung der antiken Litteratur zunächst
als eine Stärkung des Piatonismus. Die humanistische Bewegung war seit den
Tagen von Dante, Petrarca und Boccaccio in Fluss und stammte aus dem In-
teresse für die römische Profanlitteratui', die mit dem Erwachen des italienischen
Nationalbewusstseins eng zusammenhing : aber zum siegreichen Anschwellen ver-
half dieser Strömung erst der äussere Anstoss, der von der Uebersiedlung der
byzantinischen Gelehrten nach Italien ausging. Unter diesen waren nun Aristo-
teliker von gleicher Zahl und Bedeutung wie Platoniker; aber die letzteren
brachten das verhältnissmässig Unbekanntere und deshalb Eindrucksvollere.
Dazu kam, dass Aristoteles im Abendlande als der mit der Kirchenlehre ein-
stimmige Philosoph angesehen wurde und dass somit die Opposition, welche nach
Neuem verlangte, bei Piaton ungleich mehr ihre Rechnung zu finden hoffte;
dazu kam weiter der ästhetische Zauber, der von den Schriften des grossen
Atheners ausgeht und den keine Zeit lebhafter zu empfinden wusste als diese.
So berauschte sich zunächst Italien in einer Begeisterung für Piaton, die der-
jenigen des ausgehenden Alterthums gleich kam. Wie zum directen Anschluss
daran sollte in Florenz die Akademie wieder aufleben, und unter dem Schutze
der Mediceer entfaltete sich hier wirklich ein reiches wissenschaftliches Treiben,
worin den Führern wie Gemistos Plethon und Bessarion nicht geringere Ehr-
furcht gezoUt wurde als einst den Scholarchen des Neuplatonismus.
§ 28. Kampf der Traditionen. (Platoniker and Aristoteliker.) 283
Aber die Verwandtschaft mit diesem ging tiefer : die byzantinische Tradition^
in der man die platonische Lehre empfing; war die neuplatonische. Was damals
in Florenz als Piatonismus gelehrt wurde^ war in Wahrheit Neuplatonismus.
Marsilio Ficino übersetzte Plotin ebenso wie Platon^ und seine „platonische
Theologie^ unterschied sich nicht viel von derjenigen des Proklos. Ebenso ist
die phantastische Naturphilosophie von Patrizzi ihren begrifflichen Grundlagen
nach nichts Anderes als das neuplatonische Emanationssystem : aber bedeutsam
ist eSy dass dabei die dualistischen Momente des Neuplatonismus ganz abgestreift
und die monistische Tendenz reiner und voller zum Austrag gebracht wird. Des-
halb stellt der Neuplatoniker der Renaissance die Schönheit des Universums
in den Vordergrund; deshalb ist ihm schon die Gottheit; das Unomnia; eine
erhabene Welteinheit; welche die Vielheit harmonisch in sich schliesst ; deshalb
vermag er auch die Unendlichkejit des Weltalls in phantasieberückender Weise zu
verherrlichen.
2. Der pantheistische Zug; der darin unverkennbar ist; genügte; um diesen
Piatonismus kirchlich verdächtig zu machen und damit den peripatetischen
Gegnern die wiUkommene Handhabe zu seiner Bestreitung zu geben; und zwar
nutzten das nicht nur scholastische Aristoteliker, sondern auch die übrigen aus.
Umgekehrt freilich konnten die Platoniker gerade dem neuen humanistischen
Aristotelismus seine naturalistischen Tendenzen vorwerfen und die eigene
Richtung auf das Uebersinnliche als dem Christenthum verwandt preisen. So
bekämpften sich wieder die beiden grossen Ueberlieferungen der griechischen
Philosophie; indem eine der anderen ihre Unchristlichkeit vorhielt ^). In diesem
Sinne hatte Plethon in der yö(ia>v csoYYpafii] gegen die Aristoteliker polemisirt
und dafür die Verdanmiung von Seiten des Patriarchen Gennadios in Con-
stantinopel eingetragen; in diesem Sinne griff Georg von Trapezunt die Aka-
demie aU; und in demselben antwortete ihm; wenn auch milder, Bessarion. So
wurde die Animosität zwischen beiden Schulen und der. litterarische Klatsch;
den sie im Alterthum erzeugt; in die Renaissance herübergenommen; und ver-
gebens mahnten Männer wie Leonicus Thomaeus in Padua (gest. 1633) zum
Verständniss der tieferen Einheit; welche zwischen den beiden Heroen der Philo-
sophie besteht.
3. Dabei war unter den Aristotelikern selbst durchaus keine Einheit.
Die griechischen Ausleger des Stagiriten un4 ihre Anhänger sahen auf die Aver-
roisten ebenso verächtUch herab, wie auf die Thomisten. Beide galten ihnen
gleichmässig als Barbaren ; sie selbst aber waren zum grössten Theil in der dem
Stratonismus nahestehenden Auffassung des Meisters befangen; welche unter
den Commentatoren am besten durch Alexander von Aphrodisias vertreten
war. Auch hier stand also eine überlieferte Ansicht gegen die andere. Besonders
hart stiess man in Padua auf einander, wo die Aver reisten ihre Hochburg
durch die erfolgreiche Lehrthätigkeit des Pomponatius bedroht sahen. Den
Hauptstreitpunkt bildete das Problem der Unsterblichkeit. Eine volle individuelle
1) Gkinz dasselbe Yerhältniss wiederholt sich bei den verschiedenen Gruppen der
Aristoteliker, von denen jede als rechtgläubig gelten wollte, — sei es auch um den Preis der
«zweifachen Wahrheit". Damit waren namentlich die Averroisten bei der Hand, und so konnte
es kommen, dass einer derselben, Nifo, sich vom Pabst mit der AViderlegung von Pomponazzi's
Unsterblichkeitslehre betrauen liess. Freilich deckte sich auch dieser mit demselben Schilde.
284 ^* Philosophie der Renaissance. 1. Humanistische Periode.
Unsterblichkeit liessen zwax beide Parteien nicht zu. Aber der Averroismus
glaubte wenigstens in der Einheit des Intellects einen Ersatz dafür zu besitzen;
während die Alexandristen auch den vernünftigen Theil der Seele an die ani-
maUschen Bedingungen geknüpft und mit diesen vergänglich erachteten. Im
Zusammenhange damit standen die Discussionen über die Theodicee, über Vor-
sehung, Schicksal und Willensfreiheit, Wunder und Zeichen, in denen Pompo-
nazzi sich vielfach stark zu der stoischen Lehre neigte.
Im Laufe der Zeit wurde auch diese Abhängigkeit von den Commentatoren
und ihren Gegensätzen abgestreift und eine reine, unmittelbare AufiTassung des
Aristoteles angebahnt. Am besten ist dies bei Caesalpinus gelungen, der sich
selbst vollständig zu Aristoteles bekannte. Ein ebenso richtiges Yerständniss
des peripatetischen Systems haben von philologischem Standpunkte her auch
die deutschen Humanisten gewonnen, in ihrer eigenen Lehre aber nach dem
Vorgänge Melanchthon's dasselbe nur soweit angenommen, wie es mit der pro-
testantischen Dogmatik übereinstimmte.
4. In allen diesen Fällen führte die Aufnahme der griechischen Philosophie
zu einem sachUchen Gegensatze gegen die Scholastik: eine andere Richtung des
Humanismus, die der römischen Litteratur naher stand, neigte zu einer vorwiegend
formalen Oppositioiir, für welche als mittelalterhcher Vorläufer Johannes von
Salisbury gelten darf. Der Geschmack der Humanisten empörte sich gegen die
barbarische Aussenseite der mittelalterlichen Litteratur: an die glatte Feinheit
und durchsichtige AnschauUchkeit der antiken Schriftsteller gewöhnt, vermochten
sie den charaktervollen Kern, der hinter der rauhen Schale in der scholastischen
Terminologie steckt, nicht zu würdigen; die wesentUch ästhetisch gestimmten
Geister der Renaissance hatten keinen Sinn mehr für das abstracto Wesen jener
Begriffswissenschaft. So eröffnen sie denn auf allen Linien mit den Waffen des
Ernstes und des Spottes den Kampf: statt der Begriffe verlangen sie die
Sachen, statt der künstUchen Wortbildungen die Sprache der gebildeten Welt,
statt der spitzfindigen Beweise und Distinctionen eine geschmackvolle, zu Phan-
tasie und Gemüth des lebendigen Menschen sprechende Darstellung.
Laurentius Valla war der Erste, der diesen Ruf erschallen liess. Agri-
cola nahm ihn in munterem Streite auf, und auch Erasmus stimmte ein. Die
Vorbilder dieser Männer waren Cicero und Quintilian, und wenn nun an deren
Hand die Methode der Philosophie geändert werden sollte, so wurde die scho-
lastische Dialectik verdrängt, und an ihre Stelle schoben sich die Principien der
Rhetorik und der Grammatik ein. Die wahre Dialectik ist die Wissenschaft von
der Rede ^). Die „aristotelische" Logik bildet daher den Gegenstand heftigster
Polemik; die Syllogistik soll vereinfacht und aus der beherrschenden Stellung
vertrieben werden. Der Syllogismus ist unfähig Neues zu ergeben, er ist eine
unfruchtbare Denkform : das haben später Bruno, Bacon und Descartes ebenso
stark betont wie diese Humanisten.
Je enger aber die Herrschaft des Syllogismus mit dem dialectischen „Rea-
lismus'* zusammenhing, um so mehr verbanden sich mit der humanistischen Oppo-
sition nominaUstische und terministische Motive. Das zeigt sich bei Vives
undNizolius. Sie eifern gegen die Herrschaft der allgemeinen Begriffe; in
1) Petr. Ramus, Dialect. instit. im Anfang.
§ 28. Kampf der Traditionen. (Ramus.) 285
ihr besteht nach Vives der wahre Grund fiir die mittelalterliche Verderbniss
der Wissenschaften. Die Universalien, lehrt Nizolius *), sind Collectivnamen,
welche durch „Comprehension", nicht durch Abstraction entstehen ; das Wirk-
liche sind die Einzeldinge mit ihren Qualitäten. Diese gilt es aufzufassen, und*
die secundäre Thätigkeit des vergleichenden Verstandes ist so einfach und un-
gekünstelt wie möglich auszuführen. Aus der Logik müssen daher alle meta-
physischen Voraussetzungen, die in der bisherigen Dialectik eine so grosse
Schwierigkeit bereiten, verbannt werden. Der Empirismus kann nur eine rein
formale Logik brauchen.
Die „natürliche" Dialectik aber suchte man bei der Rhetorik und Gram-
matik. Denn sie soll, meinte Ramus, uns nur lehren bei unserem willkürlichen
Denken denselben Gesetzen zu folgen, die nach der Natur der Vernunft auch
unser unwillkürliches Denken beherrschen und sich im richtigen Ausdruck des-
selben von selbst darstellen. Bei allem Nachdenken aber handelt es sich darum,
den für die Frage bestimmenden Gesichtspunkt aufzufinden und diesen alsdann
richtig auf den Gegenstand anzuwenden. Hiemach theilt Ramus, einer Be-
merkung von Vives *) folgend, seine neue Dialectik in die Lehren von der Inventio
und vom Judicium ein. Der erste Theil ist eine Art von allgemeiner Logik,
welche doch nicht umhin kann, in der Form der „loci" wiederum die Kategorien,
wie Causalität, Inhärenz, Gattung etc. einzufuhren, und mit deren systemloser
Aufzählung der naiven Metaphysik der gewöhnlichen Weltvorstellung verfallt.
Die Lehre von der Urtheilskraft entwickelt Ramus in drei Stufen: die erste
ist die einfache Entscheidung der Frage durch Subsumtion des Gegenstandes
unter den gefundenen Gesichtspunkt; hier habe die Syllogistik, die sich da-
nach sehr reduciren soll, ihre Stelle. In zweiter Linie soll die Urtheilskraft
zusammengehörige Erkenntnisse durch Definitionen und Divisionen zu einem
systematischen Ganzen vereinigen: ihre höchste Aufgabe aber erfiillt sie erst
damit, dass sie alles Wissen auf Gott bezieht und in ihm begründet findet. So
gipfelt die natürliche Dialectik in Theosophie').
So wenig tief und eigentlich originell dieser Rhetoricismus war, so erregte
er doch in jener nach Neuem begierigen Zeit grosses Aufsehen. NamentUch
in Deutschland lagen Ramisten und Antiramisten in heftigem Streit; unter den
Freunden der Lehre ist besonders Johannes Sturm*) hervorzuheben, der
typische Pädagoge des Humanismus, welcher der Erziehung die Aufgabe stellte,
den Schüler dahin zu bringen, dass er die Sachen kenne und über dieselben
nach richtigen Gesichtspunkten zu urtheilen und in gebildeter Form zu
sprechen wisse.
5. Charakteristisch ist für diese Richtung das kühle Verhältniss zur Meta-
physik : sie beweist eben damit ihre Abstammung aus der römischen Popular-
philosophie. Cicero, an den sie sich namentlich anschloss, wirkte besonders
vermöge seines akademischen Skepticismus oder ProbabiUsmus. Der Ueber-
druss an begriffichen Erörterungen entfremdete einen beträchtlichen Theil der
Humanisten auch den grossen Systemen des Alterthums. Die Ausbreitung des
1) Mar. Nizolius, De ver. princ. I, 4 — 7; III, 7. — 2) Lud. Vives, De causis corr. art.
(erster TheÜ von De disciplinis) ni,5. — 3) Vfjl. P. Lobstkin, P. R. als Theologe, Strass-
burg 1878. — 4) Vgl. E. Laas, Die l^dagogik des J. St. kritisch und historisch beleuchtet
(Berlin 1872).
286 rV. Philosophie der Renaissance. 1. Humanistische Periode.
religiösen Unglaubens oder IndüFerentismus kam hinzu, um in vielen Kreisen
den Skepticismus als die rechte Stimmung des gebildeten Mannes erscheinen
zu lassen. Der Beiz des äusseren Lebens, der Glanz verfeinerter Cultur thaten
das Uebrige, um Gleichgiltigkeit gegen philosophische Grübeleien heranzuziehen.
Diesen weltmännischen Skepticismus hat Montaigne auf den vollendeten
Ausdruck gebracht. Mit der spielenden Feinheit eines grossen Schriftstellers
hat er damit der französischen Litteratur einen Grundton gegeben, der ihr
wesentlich geblieben ist. Aber auch diese Bewegung läuft im antiken Geleise.
Was von philosophischen Gedanken in die „Essays" eingesprengt ist, stammt
aus dem Fyrrhonismus. Damit wird ein lange fallen gelassener Faden der
Tradition wieder aufgenommen. Die Relativität theoretischer Meinungen und
sittlicher Ansichten, die Täuschungen der Sinne, die Kluft zwischen Subject
und Object, die stetige Veränderung, worin beide begriffen sind, die Abhängig-
keit aller Verstandesarbeit von so zweifelhaften Daten, — alle diese Argumente
der antiken Skepsis begegnen uns hier ; aber nicht in systematischer Ausbildung,
sondern viel eindrucksvoller gelegentlich bei der Besprechung einzelner Fragen.
Schulmässiger wurde der Fyrrhonismus gleichzeitig von Sanchez erneuert,
auch von ihm jedoch in lebhafter Form und nicht ohne Hoffnung, dass dem
Menschen doch einmal eine sicherere Einsicht beschieden sein könne. Er be-
schliesst, wie die einzelnen Kapitel, so das Ganze „Nescis? At ego nescio.
Quid?** Auf dies grosse „Quid?" hat er nun freilich keine Antwort gegeben,
und die Anleitung zu einer wahren Erkenntniss ist er schuldig geblieben. Aber
in welcher Richtung er sie suchte, darüber hat er keinen Zweifel gelassen. Es
ist dieselbe, die Montaigne ebenfalls andeutet : von dem "Wortkram der Schul-
weisheit muss die Wissenschaft sich &ei machen und unmittelbar die Sachen
selbst befragen. So fordert und ahnt Sanchez ein neues Wissen : aber er ist
nicht damit fertig geworden, wo und wie es zu suchen sei. An manchen Stellen
scheint es, als ginge er auf empirische Naturforschung aus ; aber gerade hier ver-
mag er nicht über die skeptische Lehre von der äusseren Wahrnehmung fort-
zukommen : und wenn er die grössere Sicherheit der inneren Erfahrung anerkennt,
so verliert ihm diese wieder durch ihre Unbestimmtheit den Werth.
Fester schon tritt Charron auf, indem er den praktischen Zweck der
Weisheit in's Auge fasst. An der Möglichkeit sicheren theoretischen Wissens
verzweifelt er wie seine beiden Vorgänger; in dieser Hinsicht setzen alle drei
die Autorität der Kirche und des Glaubens ein: eine Metaphysik kann nur offen-
bart sein ] die menschliche Erkenntnisskraft reicht für sie nicht aus. Um so
mehr genügt die letztere, fahrt Charron fort, zu derjenigen Selbsterkenntniss,
welche für das sitthche Leben erforderlich ist. Dazu gehört vor Allem die
Demuth des Skeptikers, der sich selbst keine wahre Erkenntniss zutraut, und in
dieser wurzelt die Freiheit des Geistes, womit er sein theoretisches Urtheil
überall zurückhält. Zweifellos dagegen wird in dieser Selbsterkenntniss das
ethische Gebot der Rechtschaffenheit und der Pflichterfüllung erkannt.
Diese Ablenkung auf das praktische Gebiet war, dem allgemeinen Zuge
der Zeit entsprechend, nicht von Dauer. Die späteren Skeptiker kehrten wieder
die theoretische Seite der pyrrhonischen Ueberlieferung hervor, und die Wirkung,
welche sich daraus für die allgemeine geistige Stimmung ergab, traf schliessUch
doch am meisten die Sicherheit der dogmatischen Ueberzeugungen.
§ 28. Kampf der Traditionen. (Katholicismus und Protestantismus.) 287
6« Der so mächtig hereinbrechenden Gedankemnassen vermochte die
Kirchenlehre nicht mehr in der "Weise Herr zu werden, wie es mit der
arabisch-aristotelischen Invasion gelungen war: dazu war einerseits diese neue
Ideenwelt zu mannigfaltig und zu gegensätzlich, andrerseits aber die eigene
Assimilationskraft des Dogmas zu erschöpft. Die römische Kirche beschränkte
sich deshalb auf die Yertheidigung mit allen Mitteln ihrer geistigen und äusseren
Macht; und war nur darauf bedacht, ihre eigene Ueberlieferung so sicher wie
mögUch in sich zu befestigen. In dieser veränderten Form lösten jetzt die
Jesuiten dieselbe Aufgabe, welche im 13. Jahrhundert den Bettelorden zugefallen
war. Mit ihrer Hälfe wurde auf dem Concil zu Trient (1563) der Abschluss
des Kirchendogmas gegen alle Neuerungen festgesetzt, und für die philosophische
Lehre im Wesentlichen der Thomismus als massgebend erklärt. Es konnte
sich also für die Folge nicht mehr um principielle Aenderungen, sondern nur
noch um geschicktere Darstellungen und gelegentliche Einfügungen handeln.
Auf diese Weise schloss sich die Kirche von der frischen Bewegung der Zeit
aus, und die von ihr abhängige Philosophie verfiel für die nächsten Jahrhunderte
der unvermeidlichen Stagnation. Auch die kurze Nachblüthe, welche die Scho-
lastik um 1600 auf den Universitäten der iberischen Halbinsel erlebte^ trug
keine eigene Frucht. Suarez war ein bedeutender Schriftsteller^ klar, scharf-
sinnig, sicher und von grosser Fähigkeit einer lichtvollen Disposition der Ge-
danken; auch übertrieb er in der sprachlichen Form die meisten älteren Scho-
lastiker beträchtlich : aber in dem Inhalte seiner Lehre ist er ebenso durch die
Ueberlieferung gebunden, wie dies bei dem grossen Sammelwerk der Jesuiten
von Coimbra sich von selbst versteht.
Dieser Form der religiösen Tradition trat nun in den protestantischen
Kirchen eine andere gegenüber. Auch hier nahm die Opposition die ältere
Ueberlieferung für sich in Anspruch und lehnte deren mittelalterliche Um-
bildungen ab. Die Reformation wollte dem K^thohcismus gegenüber das ur-
sprüngUche Christenthum erneuern. Sie zog den Kreis der kanonischen Bücher
wieder enger, sie erkannte mit Ablehnung der Yulgata nur den griechischen Text
als massgebend an, sie kehrte zu dem Glaubensbekenntniss von Nicaea zurück.
Der Dogmenstreit des 16. Jahrhunderts hat — theoretisch betrachtet — zum
Angelpunkt die Frage, welche Tradition des Chnstenthums die bindende sein solle.
Der theologische Gegensatz aber zog den philosophischen nach sich, und
hier wiederholte sich abermals ein Yerhältniss, das während des Mittelalters an
vielen Punkten zu Tage getreten war. In der Lehre Augustinus fand das
religiöse Bedürfhiss tiefere, reichere Befriedigung und unmittelbareren Ausdruck
als in der Begrifisarbeit der Scholastiker. Der Ernst des Sündenbewusstseins,
die leidenschaftUche Sehnsucht nach Erlösung, die ganze Innigkeit und Inner-
lichkeit des Glaubens, — alles das waren Züge des augustinischen Wesens,
die sich bei Luther und Calvin wiederfanden. Aber nur des letzteren Lehre
zeigt den dauernden Einfluss des grossen Kirchenvaters: gerade dadurch jedoch
wurde wiederum ein Antagonismus von Thomismus und Augustinismus
geschaffen, der sich namentlich in der französischen Litteratur des 17. Jahr-
hunderts bestimmend erweist (vgl. § 30 f.). Für die Katholiken unter Führung
des Jesuitismus war Thomas, für die Reformirten und die freieren Richtungen
im Katholicismus selbst war Augustin die herrschende Autorität.
288 IV. Philosophie der Renaissance. 1. Humanistische Periode.
Der deutsche Protestantismus ging andere Wege. In der Ausbildung des
lutherischen Dogmas trat der Eigenart Luther's die Mitwirkung Melanchthon^s
und damit der Humanismus an die Seite. So wenig zu der gewaltigen Urkraft
von Luther's glaubenstiefem Gemüth das theoretisch-ästhetische und religiös
indifferente "Wesen der Humanisten stimmen mochte ^), — er musste sich doch,
als er seinem Werke wissenschaftliche Form geben sollte, dazu bequemen, der
Philosophie die begrif&ichen Grundlagen daiür zu entlehnen. Hier aber trat
Melanchthon^s ausgleichende Natur ein, und wenn Luther den scholastischen
Aristotelismus mit Leidenschaft von sich gewiesen hatte, so fährte sein gelehrter
Genosse den humanistischen Aristotelismus als diePhilosophie des
Protestantismus ein, auch hier die ältere Ueberlieferung der umgestalteten
entgegensetzend. Freilich musste dieser originale Aristotelismus an manchen
Stellen durch die Schrift corrigirt werden, und die Zusammenfägung der Lehren
konnte nicht zu einer solchen organischen Verschmelzung gedeihen, wie sie durch
das langsame Ausreifen des Thomismus im Mittelalter erreicht worden war : aber
das peripatetische System wurde diesmal mehr nur als die profanwissenschaftliche
Ergänzung der Theologie behandelt, und für diesen Zweck wusste Melanchthon
in seinen Lehrbüchern den Stoff mit so grossem Geschick zu sichten, zu ordnen
und darzustellen, dass sie die Grundlage für eine in der Hauptsache einheitliche
Lehre auf den protestantischen Universitäten für zwei Jahrhunderte wurden.
7. Allein im Protestantismus waren noch andere traditionelle Mächte
lebendig. Luther's befreiende That verdankte ihren Ursprung und ihren Erfolg
nicht zum wenigsten der Mystik, — nicht freilich jener subhmen Form ver-
geistigter Weltanschauung, der Meister Eckhart den genialen Ausdruck gegeben
hatte, wohl aber der Bewegung tiefernster Frömmigkeit, welche sich vom Rhein
her in dem „Bunde der Gottesfreuude^, in den „Brüdern vom gemeinsamen
Leben** als „praktische Mystik** weithin verbreitet hatte. Ihr war die Gesinnung,
die Reinheit des Herzens, die Nachfolge Christi der einzige Inhalt der Religion ;
das Fürwahrhalten der Dogmen, die äussere Werkheiligkeit, die ganze weltUche
Organisation des Kirchenlebens erschienen als gleichgiltig und gar als hinderlich:
über all dies Aussenwerk hinaus verlangte das gläubige Gemüth nur die Freiheit
seines religiösen Eigenlebens. Dies war die innere Quelle der Reformation.
Luther selbst hatte nicht nur im Augustin geforscht, er hatte auch die ^ deutsche
Theologie" herausgegeben: und sein Wort entfesselte den Sturm dieser religiösen
Sehnsucht, der sich im Kampfe gegen Rom ein Drang nationaler Selbständigkeit
beimischte.
Als nun aber die protestantische Staatskirche sich wiederum in den festen
Formen einer theoretischen Dogmenbildung consoUdirte und an diesen um so
ängstlicher sich anklammerte, je mehr sie in dem Streite der Confessionen um
ihre Existenz ringen musste, da war der überconfessionelle Trieb der Mystik
ebenso enttäuscht wie das nationale Bewusstsein. Die theologische Fbcirung des
Reformationsgedankens erschien als dessen Verderb : und wie Luther einst gegen
die „Sophisterei" der Scholastiker gewettert hatte, so richtete sich jetzt eine still im
Volke weiter wühlende Bewegung der Mystik gegen seine eigene Schöpfung. In
Männern wie Osiander und Schwenckfeld hatte er Theile seines eigenen
1) Ueher das Verhaltnifls von Reformation und Hnmanismns vgl. Th. Zikoler, Gesch.
der Ethik, n, 414 m
§ 29. Makrokosmus und Mikrokosmus. 289
Wesens und seiner Entwicklung zu bekämpfen. Dabei aber erwies sich nun,
dass die Lehren der mittelalterlichen Mystik in der Stille unter allerlei phanta-
stischen Anschauungen und in unklaren Bildern sich erhalten und sagenhaft
fortgesponnen hatten. Was davon bei Männern wie Sebastian Franck oder
in den geheim verbreiteten Tractätchen von Valentin Weigel zu Tage trat,
das war von jenem Idealismus Eckhart's getragen, der alles Aeussere in Lmeres,
alles Historische in Ewiges verwandelte, und der in der Er&hrung der Natur
wie der Geschichte nur das Symbol des Geistigen und Göttlichen erblickte.
Das bildete, wenn auch oft in wunderhcher Form, den Untergrund des Kampfes,
den die Mystiker des 16. Jahrhunderts in Deutschland gegen den „Buchstaben"
der Theologie führten.
8. Wohin wir in der intellectuellen Bewegung des 15. und 16. Jahr-
hunderts blicken, überall steht Tradition gegen Tradition, und jeder Streit ist
ein Kampf der UeberUeferungen. Der Geist der abendländischen Völker hat
nun den ganzen Bildungsstoff der Vergangenheit in sich aufgenommen, und in
der fieberhaften Erregung, worin ihn zuletzt die directe Berührung mit den
höchsten Leistungen der antiken Wissenschaft versetzt, ringt er zu voller Selb-
ständigkeit auf. Er fühlt sich gestählt genug, eigene Arbeit zu verrichten, und
strotzend von Gedankenftille sucht er sich neue Aufgaben. Den Jugendtrieb
fühlt man in dieser Litteratur pulsiren, als müsse etwas Unerhörtes, nie früher
Dagewesenes geschehen; nicht weniger verkünden uns die Männer der Renais-
sance, als dass eine totale Erneuerung der Wissenschaft und des Zustandes
der Menschheit bevorstehe. Der Kampf der UeberUeferungen fuhrt zum Ueber-
druss an der Vergangenheit, die gelehrte Forschung nach der alten Weisheit
endet mit dem Abwerfen allen Bücherkrams, und jugendlicher Werdelust voll
zieht der Geist aus in das AVeltleben der ewig jungen Natur.
Die classische Schilderung dieser Stimmung der Renaissance ist der erste
Monolog in Goethe's Faust.
% 29. Makrokosmas und Mikrokosmns«
Durch Scotismus und Terminismus war die Glaubensmetaphysik des Mittel-
alters zersetzt und in der Mitte gespalten worden: alles Uebersinnliche war dem
Dogma anheimgegeben, und als Gegenstand der Philosophie blieb die Erfahrungs-
welt übrig. Ehe aber noch das Denken Zeit gehabt hatte^ um sich über die
Methode und die besonderen Aufgaben dieser weltlichen Erkenntniss klar zu
werden, brach der Humanismus und mit ihm vor Allem die platonische Welt-
anschauung herein. Kein Wunder, dass man bei dieser zunächst die Lösung
der Aufgabe suchte, die man selbst erst im Dämmerschein vor sich sah : und
um so willkommener mussta gerade diese L^hre, zumal in ihrer neuplatoni-
schen Ausgestaltung sein, als sie die Welt des Uebersinnlichen ahnungsvoll im
Hintergrunde zeigte, daraus aber das sinnUch Besondere in zweckvoll bestimmten
Umrissen deutlich hervortreten Uess. Mochte also das Uebersinnliche selbst und
alles, was daran mit dem Heilsleben des Menschen. zusammenhing, getrost der
Theologie anheimgestellt werden: die Philosophie konnte sich der Aufgabe,
Naturwissenschaft zu sein, um so ruhigeren Gewissens widmen, je mehf sie
nach neuplatonischem Vorgang auch die Natur als ein Product des Geistes auf-
fasste und so im Begriffe der Gottheit einen höchsten Einheitspunkt für die
Windelband, Geschichte der Philosophie. ]^9
290 ^* Philosophie der ReDaissance. 1. Hainanistische Periode.
sich scheidenden Zweige der Wissenschaft, den geistlichen und den weltlichen,
beizubehalten meinte. Lehrte die Theologie, wie sich Gott in der Schrift
offenbart, so war es nun Sache der Philosophie, seine Offenbarung in der
Natur bewunderungsYoU aufzufassen. Deshalb sind die Anfange der modernen
Naturwissenschaft theosophisch und durchweg neuplatonisch gewesen.
1. Dabei aber ist das Charakteristische, dass bei dieser Erneuerung des
Neuplatonismus auch die letzten dualistischen Motive, welche demselben an-
gehaftet hatten, völlig bei Seite gedrängt wurden. Sie wichen zusammen mit
dem specifisch religiösen Interesse, das sie getragen hatte, und das theoretische
Moment, in der Natur die schaffende Gotteskraft zu erkennen, trat rein her-
vor^). Der Grundzug in der Naturphilosophie der Renaissance war deshalb
die phantasievoUe Auffassung der göttlichen Einheit des Alllebens, die
Bewunderung des Makrokosmus: Plotin's Grundgedanke von der Schön-
heit des Universums ist von keiner anderen Zeit so sympathisch aufgenom-
men worden, wie von dieser: und diese Schönheit wurde auch jetzt als Er-
scheinung der göttlichen Idee betrachtet. Eine solche Anschauung spricht
sich fast ganz in neuplatonischen Formen bei Patrizzi, in originellerer Gestalt
und mit starker poetischer Eigenheit bei Giordano Bruno und ebenso bei
Jacob Boehme aus. Bei jenem waltet noch das Bild des allgestaltenden und
allbelebenden ürlichtes (vgl. S. 192 f.) vor, bei diesen dagegen dasjenige des
Organismus: die Welt ist ein Baum, der von der Wurzel bis zur Blüthe und
Frucht von Einem Lebenssafte durchquollen, durch die eigene Keimthätigkeit
von innen heraus gestaltet und gegliedert ist ^).
Darin liegt der Natur der Sache nach die Neigung zum vollen Monis-
mus und Pantheismus. Alles muss seine Ursache haben, und die letzte Ur-
sache kann nur Eine sein, — Gott"). Er ist nach Bruno zugleich die formale,
die wirkende und die Zweckursache, nach Boehme zugleich der ^ Urgrund^ und
die „Ursache" (principium und causa bei Bruno) der Welt. Daher aber ist auch
das Weltall nichts als „die creattirlich gemachte Wesenheit Gottes selbst" *).
Und doch verbindet sich mit dieser Anschauung wie im Neuplatonismus so
auch hier die Vorstellung von der Transscendenz Gottes. Boehme hält darauf,
dass Gott nicht als vemunft- und „wissenschafts"lose Kraft, sondern als der
„allwissende, allsehende, allhörende, allrüchende, allschmeckende" Geist ge-
dacht werde; und Bruno fügt eine andere Analogie hinzu, ihm ist Gott der
Künstler, der unaufhörlich wirkt und sein Inneres zu reichem Leben aus-
gestaltet.
Danach ist denn auch für Bruno Harmonie das innerste Wesen der Welt^
und wer sie mit begeistertem Blicke aufzufassen vermag (wie der Philosoph es
in den Dialogen und Dichtungen Degli eroici furori thut), für den verachwinden
die scheinbaren Mängel und Unvollkommenheiten des Einzelnen in der Schön-
heit des Ganzen, Er bedarf keiner besonderen Theodicee; die Welt ist voll-
kommen, weil sie Gottes Leben ist, bis in alles Einzelne hinein, und nur derjenige
klagt, welcher sich nicht zur Anschauung des Ganzen erheben kann. Die Welt-
1) In gewissem Sinne könnte man dies auch so ausdrücken, dass damit die stoischen
Elemente des Neuplatonismus beherrschend in den Vordergrund traten. — 2) Vgl. die merk-
würdige Üebereinstimmung zwischen öiord. Bruno, Della causa pr. e. u. II (Lag. I, 231 f.) und
Jac. Boehme, Aurora, Vorrede. — 8) Aurora, cap. 3. — 4) Ibid. 2.
§ 29. Makrokosmus und Mikrokosmus. (Bnino.) 291
freudigkeit der ästhetischen RenaissaDce singt in Brano's Schriften philosophi-
sche Dithyramben: ein universalistischer Optimismus von hinreissendem
Schwung waltet in seinen Dichtungen.
2. Die Begriffe; welche dieser Entfaltung der metaphysischen Phantasie bei
Bruno zu Grunde liegen, weisen der Hauptsache nach auf Nicolaus Cusanus
zurück, dessen Lehren durch Charles Bouill6 aufrecht erhalten worden waren,
in dieser Darstellung jedoch ihre belebende Frische einigermassen eingebüsst
hatten. Gerade diese wusste ihnen der Nolaner wiederzugeben. Er steigerte
nicht nur das Princip der coincidentia oppositorum zu der künstlerischen
Aussöhnung der Gegensätze, zur harmonischen Gesammtwirkung widerstreiten-
der Theilkräfte des göttlichen Urwesens, sondern er gab vor Allem dem Begriffs-
paar des Unendlichen und Endlichen eine sehr viel weiter tragende Be-
deutung. Hinsichtlich der Gottheit und ihrer Beziehung zur Welt bleibt es im
Wesentlichen bei den neuplatonischen Verhältnissen. Gott selbst als die über
alle Gegensätze erhabene Einheit ist durch keine endUche Bestimmung erfassbar
und deshalb seinem eigensten Wesen nach unerkennbar (negative Theologie);
dabei aber wird er doch als die unei'schöpfbare, unendliche Weltkraft, als die
natura naturans gedacht, welcher in ewiger Veränderung sich gosetzmässig und
zweckvoll zur natura naturata gestaltet und „explicirf. Diese Identification des
Wesens von Gott und Welt ist eine allgemeine Lehre der Naturphilosophie der
Renaissance, sie findet sich ebenso bei Paracelsus, bei Sebastian Franck, bei
Boehme und schUesslich auch bei den gesammten „Platonikern^. Dass sie auch
sehr extrem naturalistische Gestalt annehmen, zur Leugnung aller Transscendenz
fuhren konnte, bewies die agitatorisch zugespitzte, reklamehaft polemische Lehre
von Vanini^).
Für die natura naturata dagegen, das „Universum^, denLibegriff der Crea-
turen, wird nicht das Merkmal der wahren „UnendUchkeit^, wohl aber dasjenige
der Unbegrenztheitin Raum und Zeit in Anspruch genommen. Dieser Be-
griff aber gewann eine unvergleichlich deutlichere Gestalt und festere Bedeutung
durch die kopernikanische Theorie*). Dem Cusaner war, wie den alten
Pytbagoreem und wohl durch dieselben, die Kugelgestalt und die Axendrehuug
der Erde eine bekannte Vorstellung gewesen : aber erst die siegreich bewiesene
Hypothese von der Bewegung der Erde um die Sonne war im Stande, die völlig
neue Ansicht von der Stellung des Menschen im Weltall zu begründen,
welche der Wissenschaft der Renaissance eigen ist. Die anthropocentrische Welt-
vorstellung, welche das Mittelalter beherrscht hatte, ging aus den Fugen. Wie
die Erde, so musste erst recht der Mensch aufhören, als Mittelpunkt des Welt-
alls und des Weltgeschehens zu gelten. Ueber solche „Beschränktheit" hoben
sich auf Grund der Lehre Köpernik's, die deshalb auch von den dogmatischen
Mächten aller Confessionen verdammt wurde, auch solche Männer wie Patrizzi
und Boehme hinaus: aber der Ruhm, das kopernikanische System naturphilo-
sophisch und metaphysisch zu Ende gedacht zu haben, gebührt Giordano
Bruno.
1) Lucilio Vanini (1585 in Neapel geb., 1619 in Toulouse verbrannt), ein wüster Aben*
teurer, schrieb Amphitbeatrum aetemae providentiae (Lyon 1615) und De admirandis naturae
reginae deaeque mortalium arcanis (Paris 1616). — 2) Nicolaus EÖpemik, De revolutionibus
orbiam coelestium, Nürnberg 1543.
19*
292 IV. Philosophie der Renaissance. 1. Humanistische Periode.
Er entwickelte daraus die Anschauung, dass das Universum ein System
zahlloser Welten bilde, von denen jede, um ihren sonnenhaften Mittelpunkt be-
wegt; ihr Eigenleben führe, aus chaotischen Zuständen zu klarer Ausgestaltung
emporblühe und dem Geschick des Vergehens wieder anheimfalle. Wohl hat
bei dieser Conception von der Pluralität entstehender und wieder absterbender
Welten die demokritisch- epikureische Tradition mitgewirkt ; allein gerade das
ist das Eigenthümliche der Bruno'schen Lehre, dass ihm die Vielheit der Sonnen-
systeme nicht als ein mechanisches Beieinander, sondern als ein organischer
Lebenszusammenhang, dass ihm der Process des Aufblühens und Welkens der
Welten als getragen von dem Pulsschlag des Einen göttUchen Alllebens galt.
3« Drohte in dieser Weise der Universalismus mit dem kühnen Flug in
räumliche und zeitliche Unbegrenztheit die Phantasie ganz für sich in Anspruch
zu nehmen, so bestand ein wirksames Gegengewicht in der peripatetisch-stoischen
Lehre von der Analogie zwischen Makrokosmus und Mikrokosmus,
welche im Wesen des Menschen den Inbegriff, die „Quintessenz" der kosmischen
Gewalten fand. In den verschiedensten Formen sehen wir diese Lehre während
der Benaissance wieder aufleben*, sie behen*scht durchweg die Erkenntnisstheorie
dieser Zeit, und zwar ist dabei fast überall die neuplatonische Dreitheilung mass-
gebend, welche das Schema für eine metaphysische Anthropologie ab-
giebt. Man kann nur erkennen, heisst es bei Valentin Weigel, was man
selbst ist: der Mensch erkennt das All, sofern er es selbst ist. Das war ein durch-
greifendes Princip der Eckhart'schen Mystik. Aber dieser Idealismus nahm nun
hier bestimmte Form an. Als Leib gehört der Mensch der materiellen Welt an;
ja, er vereinigt in sich, wie Paracelsus und nach ihm Weigel und Boehme
lehren, das Wesen aller materiellen Dinge in feinster Verdichtung: eben deshalb
ist er befugt, die Körperwelt zu begreifen. Als intellectuelles Wesen aber ist er
„siderischen" Ursprungs und vermag deshalb die geistige Welt in allen ihren
Ausgestaltungen zu erkennen. Endhch als göttlicher „Funke", als spiraculum
vitae, als Theilerscheinung des höchsten Lebensprincips vermag er auch des gött-
lichen Wesens bewusst zu werden, dessen Ebenbild er ist.
Eine mehr abstracte Anwendung desselben Princips, wonach alle Welt-
erkenntniss in der Selbsterkenntniss des Menschen wurzelt, findet sich bei
Campanella: sie involvirt nicht die neuplatonische Trennung der Weltschichten
(obwohl auch diese bei Campanella vorkommt), sondern die Grundkategorien
aller Wirklichkeit. Der Mensch, heisst es auch hier, erkennt eigentlich nur sich
selbst und das Uebrige nur von sich aus. Alles Wissen ist Wahrnehmen (sentire) ;
aber wir nehmen nicht die Dinge wahr, sondern nur die Zustände, in welche uns
dieselben versetzen. Dabei aber erfahren wir der Hauptsache nach, dass wir,
indem wir sind, etwas können, etwas wissen und etwas wollen, und dass wir uns
durch entsprechende Functionen anderer Wesen beschränkt finden. Daraus er-
giebt sich, dass Macht, Wissen und Wollen die „Primalitäten" alles Wirklichen
sind, und dass, wenn sie Gott unbeschränkt zukommen, er als allmächtig, all-
wissend und allgütig erkannt wird.
4. Die Lehre, dass alle Gottes- imd Welterkenntniss schUesslich in der
Selbsterkenntniss des Menschen beschlossen sei, ist jedoch nur eine erkenntniss-
theoretische Folgerung aus dem allgemeineren metaphysischen Princip, wonach
das göttliche Wesen in jeder seiner endUchen Erscheinungen voU und ganz ent-
§ 29. Makrokosmus and Mikrokosmus. (Bruno.) 293
halten sein sollte. Anch darin folgt Giordano Bruno dem Cusaner, dass nach
ihm Gott ebenso das Kleinste wie das Grösste, ebenso das Lebensprincip des
Einzelwesens wie dasjenige des üniversuiAS ist. Und danach wird also jedes
Einzeldingy nicht bloss der Mensch, zum „Spiegel^ der Weltsubstanz. Jedes,
ausnahmslos, ist seinem Wesen nach die Gottheit selbst, aber jedes in eigener^
von allen anderen unterschiedener Weise. Diesen Gedanken legte Bruno in dem
Begriff der Monade nieder. Er verstand darunter das urlebendige, unvergäng-
liche Einzelwesen^ welches, ebenso körperlicher wie geistiger Natur, als stets
geformter Stoff eine der Theilerscheinungen der Weltkraft bildet, in deren
Wechselwirkung das Weltleben besteht. Jede Monade ist eine individuelle Da-
seinsform des göttlichen Seins, eine endliche Existenzform der unendlichen Essenz.
Da nun nichts ist als Gott und die Monaden, so ist das Universimi bis in den
kleinsten Winkel hinein beseelt, und das unendUche Allleben individualisirt sich
an jedem Punkte zu besonderer Eigenart. Daraus ergiebt sich, dass jedes Ding
(wie der Weltkörper sich zugleich um die eigene Axe und um seine Sonne be-
wegt) in seiner Lebensbewegung theils dem Gesetze seines besonderen Wesens,
theils einem aUgemeineren Gesetze folgt. Campanella, der mit dem kopemikani-
schen System auch diese Lehre aufnahm, bezeichnete dies Streben zum Ganzen,
diesen Zug zum Urquell aller Wirklichkeit als ReUgion und sprach in diesem
Sinne von einer „natürUchen^ Religion, d. h. von der Religion als „Naturtrieb^
{— man würde jetzt etwa sagen Centripetaltrieb — ), den er folgerichtig allen
Dingen überhaupt zuschrieb und der im Menschen die Sonderform der „ratio-
nalen^ Religion annehmen sollte, d. h. des Strebens, durch Liebe und Erkennt-
niss mit Gott Eins zu werden.
Dies Princip der unendlichen Variabilität des göttlichen Weltgrundes,
welcher sich in jedem Einzeldinge in besonderer Form darstelle, findet sich auch
ähnlich bei Paracelsus. Hier wird wie bei Nicolaus Cusanus gelehrt, dass in
jedem Dinge alle Stoffe vorhanden seien, jedes also einen Mikrokosmus darstelle,
jedes aber auch wieder noch sein besonderes Lebens- und Wirkensprincip habe.
Diesen Sondergeist des Individuums nennt Paracelsus den Archeus; Jacob
Boehme, auf den auch diese Lehre übergegangen ist, nennt ihn den Primus.
Bei Bruno verknüpft sich der Begriff der Monade in sehr interessanter
Weise, wenn auch ohne weitere Wirkung auf seine physicaUschen Anschauungen,
mit demjenigen des Atoms, der ihm, wie der früheren Zeit, durch die epi-
kureische Tradition (Lucrez) zugeführt wurde. Das „Kleinste", in der Meta-
physik die Monade, in der Mathematik der Punkt, ist in der Physik das Atom,
das untheilbare, kugelförmige Element der Körperwelt. Erinnerungen der pytha-
goreisch-platonischen Elementenlehre und der verwandten demokritischen Atom-
theorie wurden so mitten im Neuplatonismus lebendig; sie fanden aber auch bei
Männern wie Basso, Sennert u. A. selbständige Erneuerung und fährten so zu
der sog.Korpuskulartheorie, wonach die Körperwelt aus untrennbaren Atom-
complexen, den Korpuskeln, bestehen sollte. In den Atomen selbst wurde im
Zusammenhange mit ihrer mathematischen Form eine ursprüngliche und unver-
änderliche Gesetzmässigkeit angenommen, auf welche auch die Wirkungsweise
der Korpuskeln zurückzufahren sei ').
1) Vgl. E. Lasswitz, Geschichte des Atomismus. I (Hamburg-Leipzig 1890) 3* 359 ff.
294 ^' Philosophie der Renaissance. 1 . Humanistische Periode.
5. Schon hierbei machen sich in der altpythagoreischen Form, bzw. deren
demokritischer und platonischer Umbildung die Wirkungen der Mathematik
geltend. Die letzten Bestandtheile der physischen Wirklichkeit sind durch ihre
stereometrische Form bestimmt, und auf diese müssen die qualitativen Bestim-
mungen der Erfahrung zurückgeführt werden. Die Verknüpfung der Elemente
aber setzt als Princip der Mannigfaltigkeit die Zahlen und ihre Ordnung voraus ').
So treten wieder die Raumformen und Zahlenverhältnisse als das Wesentliche
und Ursprüngliche in der physischen Welt hervor*, und damit wird die aristotelisch-
stoische Lehre von den qualitativ bestimmten Kräften, von den inneren „Formen"
der Dinge, von den qualitates occultae verdrängt. Wie sie einst über das pj'tha-
goreisch- demokritisch -platonische Princip gesiegt hatte, so musste sie diesem
wiederum weichen: und hierin liegt eine der wichtigsten Vorbereitungen für den
Ursprung der neueren Naturwissenschaft.
Die Anfange dazu finden sich auch schon bei Nicolaus Cusanus; aber jetzt
erfuhren sie eine wesentliche Stärkung aus derselben Quelle, woraus sie bei
ihm sich erklären: aus der alten Litteratur, insbesondere aus den neupythagorei-
schen Schriften. Eben deshalb aber haben sie auch um diese Zeit noch das
phantastisch-metaphysische Gewand derZahlenmystik und Zahlensymbolik.
Das Buch der Natur ist in Zahlen geschrieben, die Harmonie der Dinge ist die-
jenige des Zahlensystems. Alles ist von Gott nach Mass und Zahl geordnet, alles
Leben ist eine Entwicklung mathematischer Verhältnisse. Allein ebenso wie im
späteren Alterthum, so entfaltet sich auch hier dieser Gedanke zunächst als eine
willkürliche BegriflFsdeuterei und eine geheimnissvolle Speculation. Von der Con-
struction der Dreieinigkeit an, wie sie z. B. auch Bouill6 versuchte, soll das Her-
vorgehen der Welt aus Gott wieder als der Process der Verwandlung der Ein-
heit in das Zahlensystem begriffen werden. Solchen Phantasien gingen Männer
wie Cardanus und Pico nach. Reuchlin fügte noch die mythologischen Gebilde
der jüdischen Cabbala hinzu.
6. So trat das zu fruchtbarster Entfaltung bestimmte Princip zunächst
wieder mit alter metaphysischer Wunderlichkeit umhüllt in die neue Welt, und es
bedurfte noch frischer Kräfte, um es daraus zu rechter Wirkung herauszuschälen.
Inzwischen aber mischte es sich mit ganz anderen Bestrebungen, die gleichfalls
in der neuplatonischen Tradition ihren Ursprung hatten. Zu der Idee eines
seelischen Universallebens, zu der phantasievollen Vergeistigung der Natur ge-
hörte auch der Trieb, mit geheimnissvollen Mitteln, mit Beschwörungen und
Zauberkünsten in den Lauf der Dinge einzugreifen und ihn nach dem Willen des
Menschen zu leiten. Auch hier schwebte dem phantastischen Drange der auf-
geregten Zeit ein hoher Gedanke vor: die Beherrschung der Natur durch die
Kenntniss der in ihr wirkenden Kräfte. Aber auch diesen übernahm man in der
Hülle antiken Aberglaubens. Betrachtete man mit den Neuplatonikern das Leben
der Natur als ein Walten von Geistern, als einen geheimnissvollen Zusammen-
hang innerlicher Ejräfte, so galt es sich diese durch Wissen und Willen unter-
than zu machen. So wurde die Magie zu einem Lieblingsgegenstande der
Renaissance, und ihre Wissenschaft bemühte sich wieder System in den Aber-
glauben zu bringen.
1) Vgl. hierzu besonders G. Bruno, De triplici minimo.
§ 29. Makrokosmos nnd Mikrokosmus. (Paracelsus, Boehme.) 295
Die Astrologie mit ihreii Einwirkungen der Gestirne auf das Menschen-
leben, die Traum- und Zeichendeutung; die Nekromantik mit ihren Geister-
beschwörungen, die Wahrsagungen der Ekstatischen — alle diese Elemente der
stoisch-neuplatonischen Mantik standen damals in üppigster Blüthe. Pico und
Reuchlin brachten sie mit der Zahlenmystik in Verbindung, Agrippa von Nettes-
heim adoptirte alle skeptischen Angriffe gegen die Möglichkeit rationaler Wissen-
schaft, um bei mystischen Erleuchtungen und geheimen Zauberkünsten Hilfe zu
suchen. Cardanus ging allen Ernstes daran, die Gesetzmässigkeit dieser Wir-
kungen zu bestimmen, und Campanella räumte ihnen in seiner Weltvorstellung
einen ungewöhnUch breiten Raum ein.
Insbesondere zeigten sich diesen magischen Künsten die Aerzte geneigt,
deren Beruf den Eingriff in den Naturverlauf verlangte und in den geheimen
Künsten besondere Förderung erwarten zu dürfen schien. Von diesem Gesichts-
punkt aus wollte Paracelsus die Medicin reformiren. Auch er geht von der
Sympathie aller Dinge, von dem geistigen Zusammenhange des Universums aus.
Er findet das Wesen der Krankheit in der Beeinträchtigung des individuellen
Lebensprincips, des Archeus, durch fremde Mächte, und er sucht die Mittel,
um den Archeus zu befreien und zu kräftigen. Da aber dies durch entsprechende
Zusammensetzung der Stoffe geschehen sollte, so mussten allerlei Wundertränke,
Tincturen und sonstige Geheimmittel gebraut werden, und so wurden die Künste
der Alchymie in Bewegung gesetzt, die trotz aller Wunderlichkeiten bei einem
unglaubUchen Massenbetrieb schliesslich doch eine Anzahl brauchbarer Ergeb-
nisse für chemische Einsichten abwarfen.
Dabei fährte die metaphysische Grundvoraussetzung von der wesentlichen
Einheitlichkeit aller Lebenskraft von selbst zu dem Gedanken, dass ea auch ein
einfaches, kräftigstes Gesammtmittel zur Stärkung jedes beUebigen Archeus, dass
es eine Panacee gegen alle Krankheiten und zur Aufrechterhaltung aller Lebens-
kräfte geben müsse; und der Zusammenhang mit den makrokosmischen Bestre-
bungen der Magie nährte die Hoffnung, dass der Besitz dieses Geheimnisses die
höchste Zaubermacht verleihen und die begehrtesten Schätze gewähren werde.
Das Alles sollte der „Stein der Weisen" leisten: alle Krankheiten sollte er
heilen, alle Stoffe in Gold verwandeln, alle Geister in die Gewalt seines Besitzers
bannen. Und so waren es schliesslich sehr reale und nüchterne Absichten, welche
in den Abenteuern der Alchymie sich zu befriedigen dachten.
7. Die Einfügung dieser magischen Naturanschauung in das religiöse Grübel-
system der deutschen Mystik macht das EigenthümUche von Jac. Boehme's
Philosophie aus. Auch er ist von dem Gedanken, dass die Philosophie Natur-
erkenntniss sein solle, ergriffen: aber der tiefe Ernst des religiösen Bedürfnisses,
welcher der deutschen Reformation zu Grunde lag, liess ihn sich nicht bei der
seiner Zeit üblichen Scheidung von religiöser Metaphysik und Naturwissenschaft
begnügen, und er suchte beide wieder in Eins zu arbeiten. Derartige Bestre-
bungen, die über die dogmatische Fixirung des Protestantismus hinaustrieben
und mit einer christlichen Metaphysik die Aufgaben der neuen Wissenschaft zu
lösen hofften, wuchsen auch sonst neben dem officiellen Peripateticismus empor.
Taurellus wollte eine solche überconfessioneUe Philosophie des Christenthums
liefern und eignete sich mit richtigem Instinct daftlr manche Elemente der
augustinischen Willenslehre an, vermochte aber nicht genug aus dem realen
296 IV. Philosophie der Renaissance. 1. Htimanistische Periode.
Inhalt des Zeitinteresses in diese Gedanken hineinzuarbeiten^ gelangte vielmehr
schUesslich zu einer völligen Abscheidung der empirischen Forschung von aller
Metaphysik. Aehnlich erging es der mystischen Bewegung, die mit volksthüm-
Uchem Gegensatz gegen die neue Orthodoxie um so mehr anschwoll, je mehr
diese in sich vertrocknete und verknöcherte: auch die mystischen Lehren blieben
in vager Allgemeinheit hangen, bis ihnen zuerst durch Weigel und dann voll-
ständig durch Boehme der Paracelsismus zugeführt wurde.
In Boehme^B Lehre nimmt der Neuplatonismus wieder völlig reUgiöse
Färbung an. Auch hier gilt der Mensch als der Mikrokosmus, von dem aus die
leibUche, die „siderische^ und die göttliche Welt erkannt werden können, wenn
man unbeirrt von gelehrten Theorien, der rechten Erleuchtung folgt. Die Selbst-
erkenntniss jedoch ist die reUgiöse, welche den Gegensatz des Guten und des
Bösen als Grundzug des menschlichen Wesens findet. Derselbe Gegensatz er-
füllt die ganze Welt-, er herrscht im Himmel wie auf Erden, und da Alles nur
in Gott seine Ursache haben kann, so muss er auch in diesem aufgesucht werden.
Boehme dehnt die coincidentia oppositorum bis auf die äusserste Grenze aus,
und er findet den Grund der Dualität in der Nothwendigkeit der Selbstoffen-
barung des göttlichen Urgrundes. Wie das Licht nur an der Finsterniss, so
kann Gottes Güte nur an seinem Zorn offenbar werden. So schildert denn
Boehme den Process der ewigen Selbstgebärung Gottes, wie aus dem
dunklen Seinsgrunde in ihm der „Drang" oder der Wille, welcher nur sich selbst
zum Gegenstande hat, zur Selbstoffenbarung in der göttlichen Weisheit gelangt,
und wie der so offenbar Gewordene sich in die Welt gestaltet. Geht so un-
mittelbar die theogonische in die kosmogonische Entwicklung über, so zeigt sich
in der letzteren überall das Bestreben, den religiösen Grundgegensatz in den
naturphilosophischen Ejitegorien des paracelsischen Systems durchzuführen. So
werden drei Reiche der Welt und sieben Gestalten oder „Qualen** construirt,
welche von den materiellen Kräften der Anziehung und Abstossung zu denen
des Lichts und der Wärme und von da zu denen der sensiblen und intellectuellen
Functionen aufsteigen. An diese Schilderung des ewigen Wesens der Dinge
knüpft sich dann die Geschichte der irdischen Welt, welche mit dem SündenMl
Lucifer's und der Yersinnlichung jenes geistigen Wesens beginnt und mit der
Ueberwindung des hochmüthigen „Vergaffitseins" in die Creatur, mit der reinen
mystischen Hingabe des Menschen an die Gottheit, schliesslich mit der Wieder-
herstellung der geistigen Natur endet. Das Alles vrird von Boehme in propheten-
hafter Bede, voll tiefer Ueberzeugung, mit einer einzigartigen Mischung von
Tiefsinn und Dilettantismus vorgetragen. Es ist der Versuch der Eckhart^schen
Mystik, der modernen Interessen der Wissenschaft Herr zu werden, und der erste
noch tastend unsichere Schritt dazu, die Naturwissenschaft in eine ideaUstische
Metaphysik emporzuheben. Aber weil dies aus innerstem religiösen Leben her
geschieht, so treten bei Boehme die intellectualistischen Züge der älteren Mystik
mehr zurück : wenn der Weltprocess bei Eckhart im Entstehen wie im Vergehen
eine Erkenntniss sein sollte, so ist er bei Boehme vielmehr ein Bingen des Willens
zwischen dem Guten und dem Bösen.
8. Auf allen diesen Wegen war der Erfolg der Ablösung der Philosophie
von der dogmatischen Theologie doch immer der, dass die gesuchte Natur-
erkenntniss die Form der älteren Metaphysik annahm. Dieser Vorgang war 90-^
§ 29. Makrokoemus und Mikrokosmus. (Vives, Telesio.) 297
lange unvermeidlich; wie der Wunsch nach Naturerkenntniss noch weder üher
ein selbsterworbenes Thatsachenmaterial noch über neue begriffliche Formen
zu dessen Verarbeitung verfugen konnte. Als Vorbedingung dazu aber war es
erforderlich, dass man die Unzulänghchkeit der metaphysischen Theorien einsah
imd sich mit Ablehnung derselben dem Empirismus zuwendete. Diesen Dienst
haben der Genesis des modernen Denkens die Tendenzen des Nominalismus
und TerminismuS; zum Theil auch die rhetorisch-grammatische Opposition
gegen die Schulwissenschaft; sowie die Erneuerung der antiken Skepsis ge-
leistet.
Als gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Bestrebungen müssen die Schriften
von Ludovico Vives angesehen werden; aber sie beweisen auch, dass die Be-
deutung derselben wesentUch negativen Charakters bleibt. An Stelle der dunklen
Wörter und der willkürlichen Begriffe der Metaphysik mrd in nominalistischer
Weise die unmittelbare^ intuitive Auffassung der Sachen selbst durch die Er-
fahrung verlangt: aber die Bemerkungen über die Art, wie diese nun wissen-
schaftUch angestellt werden soll, sind dürftig und unsicher ; vom Experiment ist
die Rede, aber ohne tiefere Einsicht in das Wesen desselben. Ganz ebenso liegt
die Sache später bei Sanchez. und wenn die Verkünstelungen der syllogistischen
Methode mit grossem Lärm angegriffen wurden, so hatte an deren Stelle diese
Richtung schliesslich nur die ramistischen Einfalle der „natürlichen Logik^ zu
setzen.
Es kam hinzu, dass dieser Empirismus gerade vermöge seines Ursprungs
aus dem Terminismus sich der äusseren Natur gegenüber nur sehr unsicher be-
wegen konnte. Er vermochte den Hintergrund des Occam'schen DuaUsmus nicht
zu verleugnen. Die Sinneswahrnehmung galt ja nicht als ein Abbüd des Dinges^
sondern als ein der Gegenwart desselben entsprechender innerer Zustand des
Subjects. Diese Bedenken konnten durch die Theorien der antiken Skepsis nur
verstärkt werden : denn es kam nun die Lehre von den Sinnestäuschungen, die
Betrachtung der Relativität und des Wechsels aller Wahrnehmungen hinzu.
Daher warf sich auch jetzt dieser Empirismus der Humanisten mehr auf die
innere Wahrnehmung, die allgemein für sehr viel sicherer erachtet ward als die
äussere. Am glückUchsten ist Vives, wo er der empirischen Psychologie das
Wort redet ; Männer wie Nizolius, Montaigne, Sanchez theilten diese Ansicht,
und Charron gab ihr praktische Bedeutung. Bei allen diesen geht, so sehr sie
auf Anschauung der Sachen selbst dringen, doch schliesslich die äussere Wahr-
nehmung verhältnissmässig leer aus.
Wie wenig selbstgewiss und wie wenig fruchtbar in principieller Hinsicht
dieser Empirismus damals war, zeigen gerade am meisten seine beiden Haupt-
vertreter in ItaUen: Telesio und Campanella. Der erstere, einer der rührigsten
und einflussreichsten Gegner des Aristotelismus, wird schon in seiner Zeit (auch
von Bruno und Bacon) überall als derjenige gerühmt, welcher am schärfsten
verlangt habe, dass die Wissenschaft sich nur auf dem Boden sinnUch wahr-
genommener Thatsachen aufbauen solle, und er gründete in Neapel eine Aka-
demie, welche sich nach seiner Heimath diecosentinische nannte und in der
That viel zur Pflege des empiristisch-naturwissenschaftUchen Sinnes beigetragen
hat. Sehen wir aber zu, wie er nun selbst über die Natur Juxta propria prin-
cipia" handelt, so begegnen uns echt naturphilosophische Theorien^ welche ganz
298 IV. Philosophie der RenaisBance.
in der Weise der alten Jonier von wenigen Beobachtungen her schnellfertig zu
allgemeinsten metaphysischen Principien überspringen. Da werden das Trocken-
Warme und das Feucht-Kalte als die beiden gegensätzlichen Grundmächte dar-
gestellt, aus deren Kampf sich das makrokosmische wie das mikrokosmische
Leben erklären soll. Fast noch mehr tritt derselbe innere Widerspruch bei
Campanella hervor. Dieser lehrt den ausgesprochensten Sensualismus. Alles
Wissen ist ihm ein „Fühlen" (sentire); selbst Erinnerung, ürtheil und Schluss
sind ihm nur modificirte Formen jenes Fühlens. Aber auch bei ihm kippt der
Sensualismus in den psychologischen Idealismus um: er ist viel zu sehr Nomina-
list, um nicht zu wissen, dass alles Wahrnehmen nur das Fühlen der Zustände
des Wahrnehmenden selbst ist. So nimmt er denn seinen Ausgang von der
inneren Erfsihrung und baut auf ein einfaches Apergu (vgl. oben) nach dem
Princip der Analogie von Makrokosmus und Mikrokosmus eine vielgliedrige On-
tologie. In dieselbe zieht er dann auch noch den ganz scholastischen Gegensatz
des Seins und des Nichtseins (ens und non-ens) herein, welcher nach neuplatoni-
schem Muster mit demjenigen des Vollkommenen und des unvollkommenen
identificirt wird, und zväschen beiden spannt er das bunte metaphysische Bild
eines schichtenweis gegliederten Weltsystems aus.
So zähe hängen sich überall die lang eingelebten Gewohnheiten des meta-
physischen Denkens an die Anfange der neuen Forschung.
2. Kapitel. Die natnrwissensoliaftliGlie Periode.
DAMmoN, Essai sur Thistoire de la philosophie au 17. si^cle. Paris 1846.
KuNO Fischer, Fr. Bacon und seine Nachfolger. 2. Aufl. Leipzig 1875.
Ch. De R^MUSAT; Histoire de la philosophie en Angleterre depuis Bacon jusqu'ä Locke,
2 Tom. Paris 1875.
Den entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der neueren Philosophie
hat die Naturwissenschaft erst dadurch gewonnen^ dass sie mit bewusst
methodischer Ausgestaltung ihre eigene Selbständigkeit gewann und von dieser
aus die allgemeine Bewegung des Denkens der Form und dem Inhalt nach zu
bestimmen vermochte. Insofern ist die Entwicklung der naturwissenschaftlichen
Methode von Kepler und Galilei bis zu Newton zwar nicht selbst der Werde-
process der modernen Philosophie, aber doch diejenige Ereignissreihe, aufweiche
derselbe stetig bezogen erscheint.
Ueberhaupt aber sind deshalb die positiven Anfange der modernen Philo-
sophie nicht so sehr in neuen inhaltlichen Conceptionen, als vielmehr in der
methodischen Besinnung zu suchen, aus der dann freilich mit der Zeit auch
neue sachliche Gesichtspunkte für die Behandlung der theoretischen wie der
praktischen Probleme sich ergeben haben. Zunächst aber waren die Spring-
punkte des modernen Denkens überall diejenigen, an welchen aus der huma-
nistischen Opposition gegen die Scholastik und aus den aufgeregten metaphysi-
schen Phantasien der Uebergangszeit sich dauernd fruchtbare Auffassungen von
der Aufgabe und dem dadurch bedingten Verfahren der neuen Wissenschaft
herausgelöst haben.
Hierin besteht von vornherein ein wesentlicher Unterschied der modernen
Philosophie von der antiken: jene beginnt ebenso refiectirt, wie diese naiv, und
das versteht sich von selbst, weil jene sich aus denjenigen Traditionen heraus
3. Natarwissenschaftliche Periode. 299
entwickeln musste, welche diese geschaffen hat. Auf diese Weise ist es der über-
wiegenden Anzahl der Systeme der neueren Philosophie eigen^ von methodologi-
schen und erkenntnisstheoretischen Ueberlegungen her den Weg zu den sach-
lichen Problemen zu suchen, und im Besonderen kann man das 17. Jahrhundert
in Betreff seiner Philosophie als einen Kampf der Methoden charakterisiren.
Während aber die Bewegung der humanistischen Periode der Hauptsache
nach in Italien und Deutschland sich abgespielt hatte, trat nunmehr die kühlere
Besonnenheit der beiden westlichen Culturvölker hervor. Italien war durch die
Gegenreformation stumm gemacht; Deutschland durch den verderblichen Con-
fessionskrieg lahm gelegt. England und Frankreich dagegen erlebten im
17. Jahrhundert die Blüthe ihrer intellectuellen Cultur, und zwischen ihnen
wurden die Niederlande eine lebensvolle Heimstätte für Kunst und Wissen-
schaft.
In der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode convergirten die
Richtungen des Empirismus und der mathematischen Theorie: in der
philosophischen Verallgemeinerung traten beide unabhängiger gegen einander
hervor. Das Programm der Erfahrungsphilosophie stellte Bacon auf, ohne
dem methodischen Grundgedanken die fruchtbare Ausführung abzugewinnen, die
er in Aussicht stellte. Beträchtlich vielseitiger fasste Descartes die natur-
wissenschafthche Bewegung seiner Zeit zu einer Neubegründung des Rationa-
lismus zusammen, indem er das scholastische Begriffssystem mit dem reichen
Inhalt der Galilei'schen Forschung erfüllte. Daraus aber ergaben sich weit-
tragende metaphysische Probleme, welche in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts eine ausserordentlich lebhafte Bewegung des philosophischen Denkens
hervorriefen, — eine Bewegung, in welcher die neuen Principien mannigfache
gegensätzliche Verbindungen mit solchen der mittelalterlichen Philosophie ein-
gingen. Aus der cartesianischen Schule entsprang der Occasionalismus,
dessen Hauptvertreter Geulincx und Malebranche sind^ ihren Austrag aber
&nd diese Entwicklung in den beiden grossen philosophischen Systemen, welche
Spinoza und Leibniz aufstellten.
Die Einwirkung, welche die mächtige Ent<ung der theoretischen Philosophie
auch auf die Behandlung der praktischen Probleme ausübte, zeigt sich haupt-
sächhch auf dem Gebiete derRechtsphilosophie. Auf diesem nimmt Hob b es,
der gleichmässig ein Schüler Bacon's und Descartes' war und als solcher auch
in der methodisch-metaphysischen Linie einen wichtigen Punkt bedeutet, die
entscheidende Stellung als der Führer eines ethischen Naturahsmus ein, welcher
sich in veränderter Form auch bei seinen Gegnern wie Herbert von Cherbury
und Cumberland findet: in diesen Gegensätzen bereiten sich die Probleme der
Aufklärungsphilosophie vor.
Die Reihe der grossen Naturforscher, welche unmittelbar auch in philosophische Fra-
gen eingeffriflfen haben, eröffnet Johann K epl er (1571— 1630), aus Weil der Stadt in Württem-
berg, nach einem mit Noth und Sorge ringenden Leben in ReffeuKburg gestorben. Unter
seinen Werken (Ausgabe von Febsch, Frankfurt 1858—71, 8 Bde.) sind Mysterium cosmo-
graphicum, Harmonice mundi, Astronomia nova seu physica coelestis tradita commentariis
de motibus stellae Martis hervorzuheben. Vgl Chb, Siowart, Kleine Schriften I, 182 ff.
R. EucKEN, Fhilos. Monatsh. 1878, S. 30 ff. — Unmittelbar an ihn schliesst sich Galileo Galilei
(1564 zu Pisa geboren, 1642 zu Arcetri gestorben). Von den Werken (15 Bde. Florenz 1842
— ^56 mit einem biographischen Supplementbande von Arago) enthalten Bd. 11 — 14 die Fisico-
mathematica; darunter II saggiatore (1623) und den Dituog über das ptolemäiBche und das
kopemikanische System (1632). Vgl. H. Martin, G., les droits de la science et la methode
300 rV. Philosophie der Renaissance.
des Sciences physiques (Paris 1868); P. Natobp, G. als Philosoph (Philos. Monatsh. 1882,
S. 193 ff.).
Isaak Newton (1642 — 1727) kommt hauptsächlich wegen der Philosophiae naturaHs
principia mathematica (1687; 2. Aufl. von Cotes 1713; deutsch von Wolfers 1872) und seiner
Optik (1704) in Betracht. — Von seinen Zeitgenossen sind der Chemiker Robert Boyle (1626
— 1691; Ghemista scepticus; Origo formarum et qualitatum; De ipsa natura) und der Nieder-
länder Christian Huyghens (1629 — 1695; De causa gravitatis; De lumine) hervorzuheben. —
Vgl. W. Whewkll, History of the inductive sciences (London 1837; deutsch von
LiTTROW, Leipzig 1839 ff.). — E. P. Apelt, Die Epochen der Geschichte der Menschheit
(Jena 1845). — E. Dühring, Kritische Geschichte der Principien der Mechanik (Leipzig
1872). — A. Lange, Geschichte des Materialismus, 2. Aufl. (Iserlohn 1873). — E. Lasswitz,
Geschichte der Atomistik, 2 Bde. (Hamburg und Leipzig 1890).
Francis Bacon, Baron vonVerulam, Viscount von St. Albans, war 1561 geboren,
studirte in Cambridge, machte unter der Regierung der Elisabeth und Jacob I eine glänzende
Carriere, bis er aus der Stellung des Grosskimzlers in einem politischen Tendenzprocess durch
Ueberfiihrung der Bestechlichkeit gestürzt wurde. Er starb 1626. Die letzte Ausgabe seiner
Werke ist die von SPEDDm'ound Heath (London 1857 ff.). Die Hauptschriften ausser den Essays
(Sermones fideles) sind De dignitate et augmentis scientiarum (1623; ursprünglich On the
proficience and aavancement of leaming divme and human, 1605) und Novum organon scien-
tiarum (1620, ursprünglich Cogitata et visa, 1612)^). Vgl. Ch. de R£mx7SAT, B. sa vie, son
temps, sa philosophie et son influence jusqu'ä nos jours (Paris 1854). H. Heüsslbr, Fr. B. und
seine geschichtliche Stellung (Breslau 1889).
Ren^ Descartes (Cartesius), 1596 in der Touraine geboren, in der Jesuitenschule la
Fläche erzogen, war ursprünglich zum Soldaten bestimmt und machte in verschiedenen
Diensten die Feldzüge von 1618 — 1621 mit, zog sich dann aber erst in Paris und später viele
Jahre an verschiedenen Orten der Niederlande in eine wissenschaftliche Einsamkeit zurück,
die er geflissentlich und sorgfältigst bewahrte. Nachdem ihm diesen Aufenthalt die Streitig-
keiten verleidet hatten, in welche seine Lehre an den dortigen Universitäten verwickelt wurde,
folgte er 1649 einem Rufe der Königin Christine von Schweden nach Stockholm, wo er jedoch
schon im folgenden Jahre starb. Die Werke sind lateinisch in den Amsterdamer Ausgaben
(1650 u. a.)i französisch von V. Cousin (11 Bde., Paris 1824 ff.) gesammelt; die grundlegenden
Schriften von Küno Fischer (Mannheim 1863) übersetzt. Die Hauptwerke sind: Le monde
ou traite de la lumiöre (erst posthum 1654 gedr.); Essays, 1637, darunter der Discours de la
methode und die Dioptrik;Meditationes de prima philosophia, 1641, vermehrt durch die Ein-
würfe verschiedener Gelehrten und D.*8 Antworten; Principia philosophiae 1644; Passions
de Vhne, 1650. Vgl. F. Boüillibb, Histoire de la philosophie cart^sienne (Paris 1 854). X. Schmio-
ScHWABZBNBEBO, K. D. und seine Reform der Philosophie (Nördlingen 1859). G-. Glooaü in
Zeitschr. f. Philos. 1878, S. 209 ff. P. Natorp, D.'s Erkenntnisstheone (Marbu^ 1882).
Zwischen diesen beiden Führern der neueren Philosophie steht Thomas Hobbes, 1588
geboren, in Oxford gebildet, durch Studien früh nach Frankreich gezogen und häufig wieder
dahin zurückgekehrt, in persönlicher Bekanntschaft mit Bacon, Gassendi, Campanella und dem
cartesianischen Kreise, 1679 gestorben. Die Gesammtausgabe seiner Werke, englisch und
lateinisch, hat Moleswobth, London 1839 ff. besorgt. Seine erste Schrift Elements of law
natural and political (1639) wurde von seinen Freunden in zwei Theilen Human nature und
De corpore politioo 1650 herausgegeben: vorher veröffentlichte er Elementa philosophiae de
cive 1642 u. 47, ferner Leviathan or the matter form and authority of govemment 1661.
Eine Zusammenfassung geben die Elementa philosophiae, I De corpore II de homine 1668
(beide vorher englisch 1655 u. 1658). Vgl. F. Tömkibs in Vierteljahrsschr. f. w. Philos. 1879 ff.
Aus der cartesianischen Schule (vgl. Boüilueb a. a. 0.) sind die Jansenisten
von Port-Royal hervorzuheben, aus deren Kreisen die von Anton Arnauld (1612 — 1694) und
Pierre Nicole (1625 — 1695) herausgegebene Logique ou Tart de penser (1662) stamimte;
femer die Mystiker Blaise Pascal (1623 — 1662; Pensees sur la religion; vgl. die Mono-
graphien von J. G. Drbtoorfp, Leipzig 1870 u, 75) und Pierre Poiret (1646 — 1719; De
eruditione triplici, solida superficiaria et falsa).
Die Entwicklung zum Occasionalismus schreitet allmählich in Louis de la Forge
(Traitß de Tesprit humain 1666), Clauberg (1622 — 1665; De coniunctione corporis et animae
1) Bekanntlich ist in neuster Zeit viel Larmens um die Entdeckung gemacht worden,
Lord Bacon habe in seinen Mussestunden auch Shakespeare^s Werke geschrieben. Zwei grosse
litterarische Erscheinungen in eine zu verschmelzen, mag sein Verlockendes haben: jedenfalls
aber hat man sich dabei in der Person vergriffen. Denn sehr viel wahrscheinlicher wäre es
doch, dass Shakespeare gelegentlich auch die Baconische Philosophie gedichtet hätte.
2. Naturwissenschaftliche Periode. 301
in homine) Oordemoy (Le discernement du corps et de Tarne, 1666) vor, findet aber unab-
hängig von diesen seine volle Ausbildung bei Arnold Geul in ex (1625 — 1669; Universitäts-
lehrer in Loewen und Leyden). Dessen Hauptwerk ist die Ethik (1665; 2 Aufl. mit Anmerk.
1675); Logik 1662, Methodus 1663. Neue Ausgabe der W. von J. F. N. Land (I. Bd. Haag
1891>. Vgl. E. Pfleidebeb, A. G. als Hauptvertreter der occ. Metaphysik und Ethik (Tübingen
1882). y. VAN DEB Haeghbk, G. Etüde sur sa vie, sa philosophie et ses ouvrages (Lüttich 1886).
Aus dem vom Cardinal Berulle, einem Freunde Descartes, gegründeten Oratorium,
dem auch Gibieuf (De libertate dei et creaturae, Paris 1630) angehörte, ging Nicole Male-
branche hervor (1638 — 1715). Sein Hauptwerk De la recherche de la verit^ erschien 1675,
die Entretiens sur la metaphysique et sur la religion 1688. Die ges. Werke hat J. Simon
(Paris 1871) herausgegeben.
Baruch (Benedict de) Spinoza, 1682 zu Amsterdam in der portugiesischen Juden-
gemeinde geboren, später aus dieser seiner Ansichten wegen ausgestossen , lebte in gross -
artiger Einfachheit und Einsamkeit an verschiedenen Orten Hollands und starb im Haag
1677. Er hatte eine Darstellung der cartesianischen Philosophie mit einem selbständigen
metaphysischen Anhang (1663) und den Tractatus theologico-politicus (anonym 1670) ver-
öffentlicht. Nach seinem Tode erschienen in den Opera posthuma (1677) sein Hauptwerk,
Ethica more geometrico demonstrata, der Tractatus politicus und das Bruchstück De intel-
lectus emendatione. Ausserdem kommt sein Briefwechsel und das neu zu Tage getretene
Jugendwerk Tractatus (brevis) de deo et homine eiusque felicitate in Betracht, lieber das
letztere vgl. Chr. Sigwart (Tübingen 1870). Die beste Ausgabe seiner Werke ist die von
VAN Ylotbn und Land (2 Bde. Amsterdam 1882f.). Vgl. T. Oahereb, Die Lehre Sp.*s (Stutt-
gart 1877).
Von philosophischen Schriftstellern, die sich in Deutschland dem Zuge der Be-
wegung unter den beiden westlichen Oulturvölkem anschlössen, sind zu erwähnen: Joachim
Jung (1587 — 1657; Logica Hamburgiensis, 1688; vgl. G. E. Guhracer, J. J. und sein Zeit-
alter, Stuttg. und Tüb. 1859); der Jenenser Mathematiker Erhard Weigel, der Lehrer von
Leibniz und Pufendorf ; Walther von Tschirnhausen (1651 — 1708; Medicina mentis sive
aitis inveniendi praecepta generalia, Amsterdam 1687) und Samuel Pufendorf (1632 — 1694;
pseudon. Severinus a Monzambano, de stetu rei publicae germanicae, 1667, deutsch von
H. Bresslaü, Berlin 1870; De jure naturae et gentium, London 1672).
Leibniz gehört in diese Periode nicht nur der Zeit, sondern auch der Entstehung
und den Motiven seiner Metaphysik nach, während er mit anderen Literessen seiner unglaub-
lichen Vielseitigkeit in das Zeitalter der Aufklärung hinüberragt : vgl. darüber Theil V. Es
kommen deshalb von seinen Schriften hier hauptsächlich die methodologischen und meta-
physischen in Betracht: De principio individui, 1663; De arte combinatoria 1666; Nova
methodus pro maximis et minimis, 1684; De scientia universali seu calculo philosophico, 1684
(vgL A. Trbndblenburg, Hist. Beiträge zur Philosophie III, Iff.); De primae philosophiae
emendatione, 1694; Systeme nouveau de la nature^ 1695, mit den drei dazu gehörigen flclair-
cissemente 1696; ausserdem die Monadologie 1714^ die Principes de la nature et de la grace,
1714, und ein grosser Theil des ausgebreiteten Briefwechsels. Unter den Ausgaben der
philosophischen Schriften ist die vortreffliche von J. E. Ebdmann (Berlin 1840), jetzt durch
diejenige von C. J. Gbrha&dt (7 Bde., Berhn 1875 — 91) überholt. — Ueber das System als
Ganzes vgl. L. Feuerbach, Darstellung, Entwicklung und Kritik derL.'schen Philosophie
(Ansbach 1837) A. Noubisson, La philos. de L. (Paris 1860), E. Wendt, Die Entwicklung der
L.'schen Monadenlehre bis 1695 (Berlin 1886).
Ueber das histerische und systematische Yerhältniss derSysteme zu einander :
H. 0. W. SiGWABT, Ueber den Zusammenhang des Spinozismus mit der cartes. Philosophie
(Tübingen 1816) und Die Leibniz'sche Lehre von der prästebilirten Harmonie in ihrem Zu-
sammenhang mit früheren Philosophemen (ibid. 1822). — 0. Schaabschmidt, Descartes und
Spinoza (Bonn 1850). — A. Fouchbb de Careil, Leibniz, Descartes et Spinoza (Paris 1863).
— E. Pkleiderer, L. und Geulincx (Tübingen 1884). — E. Zeller, Sitz.-Ber. der Berliner
Akad. 1884, S. 673ff. — F. Tönnies, Leibniz und Hobbes in Philos. Monatsh. 1887, S. 357 CT.
— L. Stein, Leibniz und Spinoza (Berlin 1890).
Zu den Begründern der Rechtsphilosophie (vgl. C. v. Kaltenbqrn, Die Vorläufer des
Hugo Grotius, Leipzig 1848; und R. v. Mohl, Geschichte und Litteratur der Staatswissen-
schaften, Erlangen 1855 — 58) gehören: Nicolo Macchiavelli (1469 — 1527; 11 Principe,
Discorsi sulla prima decade di Tite Livio); Thomas Moore (1480 — 1535, De optimo
rei publicae stetu sive de nova insula Utopia, 1516) ; Jean Bo din (1530 — 1597; Six livres de la
republique, 1577; aus dem Heptaplomeres hat Gubraüer, Berlin 1841, einen Auszug ge-
geben). Albericus Gentilis (1561 — 1611, De jure belli 1588); Johannes A Uhus (1557 —
1638, Politica, Groningen 1610, vgl. 0. Gierke, Unters, z. deutsch. Staats- u. Rechtsgesch.,
302 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
Breslau 1880); Hugo de Groot (1583—1645; De jure belli et pacis, 1645; vgl. H. Luden,
H. G., BerUn 1806).
Von protestantischen Rechtsphilosophen können neben Melanchthon J. Olden-
dorf (Elementaris introductio, 1539), Nie. Hemming (De lege naturae, 1562) Ben. Winkler
(Principia iuris 1615); von katholischen neben Suarez Rob. Bellarmin (1542 — 1621; De
potestate pontificis in temporalibus) und Mariana (1537 — 1624, De rege et regis institutione)
genannt werden.
Naturreligion und Naturmoral fanden im 17. Jahrhundert bei den Engländern ihre
Hauptvertreter in Herbert von Cherbury (1581 — 1648; Tractatus de veritate, 1624;
De religione gentilium errorumque apud eos causis, 1663; über ihn Oh. de R^xüsat, Paria
1873) und Richard Cumberland (De legibus naturae disquisitiophilosophica, London 1672).
Unter den Platönikem bzw. Neupiaton ikern Englands in der gleichen Zeit ragen hervor
Ralph Cudworth (1617 — 1688; The intellectual System of the universe, London 1678,
lateinisch Jena 1733) und Henry More (1614 — 1687; Encheiridion metaphysicum. Seine
Correspondenz mit Desoartes ist bei dessen Werken ^- Cousin Bd. X. — gedruckt).
% 30« Das Problem der Methode.
Allen Anfangen der modernen Philosophie ist eine impulsive Opposition
gegen die ^Scholastik^ und dabei eine naive Verständnisslosigkeit für die Ab-
hängigkeit gemeinsam, in der sie sich trotzdem von irgend einer Tradition der-
selben befinden. Dieser oppositionelle Grundcharakter aber bringt es mit sich, dass
überall da, wo nicht bloss Gremüthsbedürfnisse oder phantasievolle Anscliauungen
gegen die alten Lehren gestellt werden, die Besinnung auf neue Methoden
der Erkenntniss im Vordergrunde steht. Aus der Einsicht in die Unfruchtbarkeit
des „Syllogismus^, der ledigUch das schon Gewusste beweisend oder widerlegend
herausstellen oder auf Besonderes anwenden könne, ergiebt sich das Verlangen
nach einer Ars inveniendi, einer Methode der Forschung, einem sicheren
Wege zur Auffindung des Neuen.
1. Da lag nun, wenn mit der Rhetorik doch nichts zu machen war, am
nächsten, das Ding umgekehrt von dem Einzelnen, von den Thatsachen her an-
zugreifen. Das hatten Vives und Sanchez empfohlen, Telesio und Campanella
gethan. Aber sie hatten weder volles Zutrauen zu den Erfahrungen gewonnen,
noch hinterher mit den Thatsachen etwas Siebtes anzufiangen gewusst. In beiden
Richtungen glaubte Bacon der Wissenschaft neue Wege weisen zu können, und
in diesem Sinne stellte er sein „neues Organen^ dem aristotelischen gegenüber.
Die alltägliche Wahrnehmung, gesteht er mit Aufnahme der bekannten
skeptischen Argumente zu, bietet fi'eilich keinen sicheren Boden für rechte Natur-
crkenntniss : sie muss, um wissenschaftlich brauchbare Erfahrung zu werden, erst
von allen den irrthümlichen Zusätzen gereinigt werden, mit denen sie in der un-
willkürlichen Auffassung verwachsen ist. Diese Fälschungen der reinen Erfahrung
nennt Bacon Idole, und er stellt die Lehre von den Trugbildern in Analogie
zu der von den Trugschlüssen in der alten Dialectik '). Da sind zunächst die
„Trugbilder der Gattung" (idola tribus), die mit dem menschlichen Wesen im All-
gemeinen gegebenen Täuschungen, wonach wir in den Dingen immer Ordnung und
Zweck vermuthen, uns selbst zum Mass der Aussenwelt machen, eine durch Ein-
drücke einmal erregte Vorstellungsrichtung blind innehalten und ähnl.; sodann
die „Trugbilder der Höhle" (idola specus), vermöge deren jeder Einzelne noch
besonders mit seiner Anlage und seiner Lebensstellung sich in seine Höhle *)
1) Nov. Org. I, 39 ff. — 2) Bacon *s meist stark rhetorisck bilderreiche Sprache will
mit dieser Bezeichnung (vgl. De augnu V, cap. 4) an das bekannte Höhlengleichniss von Flaton
§ 30. Problem der Methode. (Bacon.) 303
gesperrt findet ; weiter die „Trugbilder des Markts^ (idola fori); die Irrthümer,
welche durch den Verkehr der Menschen, insbesondere durch die Sprache, durch
das Kleben am Wort, das wir dem Begriff unterschieben, überall hervorgerufen
werden; endlich die „Trugbilder der Bühne" (idola theatri), die Wahngebilde
der Ansichten, welche wir aus der menschlichen Geschichte gläubig über-
nehmen und urtheilslos nachsprechen. Hierbei findet Bacon Gelegenheit, so
heftig wie nur irgend ein Anderer gegen die Wortweisheit der Scholastik, gegen
die Herrschaft der Autorität, gegen den Anthropomorphismus der früheren
Philosophie zu polemisiren und Autopsie der Dinge, unbefangene Aufnahme
der Wirklichkeit zu yerlangen. Jedoch kommt er über dies Verlangen nicht
hinaus: denn die Angaben über die Axt und Weise, wie nun die mera ex-
perientia gewonnen und aus den Umhüllungen der Idole herausgeschält werden
soll, sind äusserst mager, und wenn Bacon lehrt, man dürfe sich nicht auf die
zufalligen Wahrnehmungen beschränken, sondern die Beobachtung methodisch
anstellen und durch das selbsterdachte und selbstgemachte Experiment er-
gänzen '), so ist auch dies nur eine allgemeine Bezeichnung der Aufgabe, wobei
es an einer theoretischen Einsicht in das Wesen des Experiments noch gebricht.
Ganz ähnlich steht es mit der Methode der Induction, welche Bacon als
die einzig richtige Art der Verarbeitung der Thatsachen proklamirte. Mit ihrer
Hilfe soll man zu den allgemeinen Einsichten (Axiome) fortschreiten, um von
diesen her schliesslich andere Erscheinungen zu ericlären. Dabei soll der mensch-
liche Geist, zu dessen constitutionellen Fehlem die vorschnelle Verallgemeinerung
gehört, bei dieser Thätigkeit so sehr wie möglich zurückgehalten werden, er soll
ganz allmählich die Stufenleiter des Allgemeineren bis zum Allgemeinsten empor-
klimmen. So gesund und schätzenswerth diese Vorschriften sind, so sehr über-
rascht es, ihre nähere Ausführung bei Bacon ii: durchaus scholastischen Anschau-
ungen und Begriffen sich vollziehen zu sehen *).
Alle Naturerkenntniss hat den Zweck, die Ursachen der Dinge zu ver-
stehen. Die Ursachen aber sind — nach altem aristotelischen Schema — formal,
material, wirkend oder final. Von diesen kommen nur die „formalen '^ Ursachen
in Betracht: denn alles Geschehen wurzelt in den „Formen", in den „Naturen"
der Dinge. Wenn daher die Induction Bacon's nach der „Form" der Er-
scheinungen, z. B. nach der Form der Wärme forscht, so wird dabei unter Form
ganz im Sinne des Scotismus das bleibende Wesen der Erscheinungen ver-
standen. Die Form des in der Wahrnehmung Gegebenen setzt sich aus ein-
facheren „Formen" und deren „Differenzen" zusammen, und diese gilt es auszu-
kundschaften. Zu diesem Zwecke werden als positive Instanzen möglichst viele
Fälle, bei denen die betreffende Erscheinung vorkommt, zu einer tabula praesentiae
zusammengestellt, ingleichem zu einer tabula absentiae solche, in denen sie fehlt;
dazu kommt drittens eine tabula graduum, in der die verschiedene Stärke, womit
die Erscheinimg auftritt, mit derjenigen andrer Erscheinungen verghchen wird.
Danach soll dann durch schrittweise Ausschliessung (exclusio) die Aufgabe gelöst
werden. Die „Form" der Wärme z. B. wird also das sein, was überall ist, wo
sich Wärme findet, was nirgends ist, wo Wärme fehlt, was stärker vorhanden ist,
(Rep. 514) erinnerD, was um so unglücklicher ist, als es sich in der platonischen Stelle gerade
um die allgemeine Beschränktheit der Sinneserkenntniss handelt.
1) Nov. Org. I, 82. — 2) Vgl. die umständliche Darstellung im zweite^ Buch des Nov. Org.
304 IV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
WO mehr Wärme, schwächer, wo weniger Wärme stattfindet'). Was Bacon
somit als Induction präsentirt, ist allerdings keine einfache Enumeration, aber ein
verwickeltes Abstractionsverfahren, welches auf den metaphysischen Voraus-
setzungen des scholastischen Formalismus (vgl. S. 269 f.) beruht ^) : die Ahnung
des Neuen ist noch ganz in die alten Denkgewohnheiten eingebettet.
2. Es ist hiernach begreiflich, dass Bacon nicht der Mann war, um der
Naturforschung selbst methodische oder sachliche Förderung zu bringen: aber
das thut seiner philosophischen Bedeutung^) keinen Eintrag, welche gerade darin
besteht, dass er die allgemeine Anwendung eines Princips verlangte, dem er fiir
den nächsten Gegenstand, die Erkenntniss der Körperwelt, noch keine brauch-
bare oder fruchtbare Gestalt zu geben vermochte. Er hatte verstanden, dass
die neue Wissenschaft sich von der endlosen Discussion der Begriffe zu den
Sachen selbst wenden müsse, dass sie sich nur auf Anschauimg aufbauen könne
und dass sie von dieser nur vorsichtig und allmählich zu dem Abstracteren auf-
steigen dürfe *) : und er hatte nicht weniger verstanden, dass es sich bei dieser
Induction um nichts anderes handeln würde als um die Aufsuchung der einfachen
Elemente des Wirklichen, aus deren „Natur'' in ihrer gesetzmässigen Beziehung
und Verknüpfung der ganze Umfang des Wahrgenommenen erklärt werden sollte.
Die Induction, meinte er, wird die „Formen" finden, durch welche die Natur
„interpretirt" werden muss. Aber während er es in der Kosmologie nicht viel
über eine Anlehnung an den traditionellen Atomismus hinausbrachte, und sich
sogar gegen die grosse Errungenschaft der kopernikanischen Theorie verschloss,
so verlangte er die Anwendung jenes empiristischen Princips auch auf die
Erkenntniss des Menschen. Nicht nur die leibliche Existenz in ihren
normalen wie in ihren anomalen Lebensprocessen, sondern auch die Bewegung
der Vorstellungen und der Willensthätigkeiten, insbesondere auch der sociale
und poUtische Zusammenhang — alles dies sollte nach der naturwissenschaft-
liehen Methode auf seine bewegenden Kräfte („Formen") hin untersucht
und vorurtheilslos erklärt werden. Der anthropologische und sociale
Naturalismus, den Bacon in den encyclopädischen Bemerkungen seines
Werks De augmentis scientiarum verkündet, enthält für viele Wissenszweige
programmatische Aufstellungen ^) und geht überall von der Grundabsicht aus,
den Menschen und seine gesammte Lebensbethätigung als ein Product derselben
einfachen Elemente der Wirkhchkeit zu begreifen, die auch der äusseren Natur
zu Grunde liegen.
1) Wobei sich im Beispiel herausstellt, dass die Form der Wärme Bewe^ng
und zwar eine in der Ausdehnung begriifene, dabei aber durch Hemmung auf die kleinsten
Theile des Körpers vertheilte Bewegung ist, vgl. II, 20. — 2) Vgl. Chr. Sigwabt,
Logik II § 93, 3. — 8) Vgl. Chr. Sigwart in den Preuss. Jahrb. 1863, 93 ff. —
4) Die pädagogischen Consequenzen der Baconischen Lehre hat im Gegensatz zum
Humanismus, mit dem überhaupt in dieser Hinsicht die naturwissenschaftlicne Richtung
bald auseinander kam, hauptsächlich Arnos Komenius (1592 — 1671) gezogen. Seine Didactica
magna stellt den Lehrgang als ein stufenweises Aufsteigen vom Anschaulich-Ooncreten zum
Abstracteren dar; sein Orbis pictus will für die Schide die anschauliche GrundlM^e des sach-
lichen Unterrichts geben; seine Janua linguarum rcserrata endlich will das Erlernen der
fremden Sprachen nur so eingerichtet wissen, wie es als Hilfsmittel für die sachliche Er-
kenntniss erforderlich ist. Aehnlich sind die pädagogischen Ansichten auch bei Battich
(1571 — 1685). — 5) Wollte man deshalb alles in Aussicht Gestellte bei Bacon für geleistet
ansehen, so könnte man bei ihm schon die ganze heutige Naturwissenschaft finden.
§30. Problem der Methode. (Baoon.) 305
In diesem anthropologischen Interesse aber kommt noch ein anderes
Moment zu Tage. Auch das Yerständniss des Menschen ist für Bacon nicht
Selbstzweck, ebensowenig wie dasjenige der Natur. Sein ganzes Denken steht
vielmehr unter einem praktischen Zweck, und diesen fasst er im grössten Stile
auf. Alle menschUche Wissenschaft hat zuletzt nur die Aufgabe, durch die
Erkenntniss der Welt dem Menschen die Herrschaft über dieselbe zu ver-
schaflfen. Wissen ist Macht, und es ist die einzige dauernde Macht. Wenn
deshalb die Magie mit phantastischen Künsten sich der wirkenden Kräfte zu
bemächtigen suchte, so klärte sich dies dunkle Bestreben bei Bacon zu der
Einsicht ab, dass der Mensch die Gewalt über die Dinge nur einer nüchternen
Erforschung ihres wahren Wesens werde verdanken können. Deshalb ist ihm
die Interpretationaturae nur das Mittel, die Natur dem menschlichen Geiste
zu unterwerfen: und sein grosses Werk der „Erneuerung der Wissen-
schaften" — Instauratio magna, „Temporis partus maximus" — trägt auch den
Titel De regno hominis.
Bacon sprach damit aus, was Tausenden seiner Zeit unter dem Eindrucke
grosser Ereignisse das Herz bewegte. Mit jener Reihe der überseeischen Ent-
deckungen, wo durch Irrthümer, Abenteuer und Verbrechen hindurch der Mensch
erst vollständig von seinem Planeten Besitz ergriffen hatte, mit Erfindungen
wie denen der Bussole, des Schiesspulvers, der Buchdruckerkunst *) war in kurzer
Zeit eine mächtige Veränderung im grossen wie im kleinen Leben des Menschen
eingetreten. Eine neue Epoche der Cultur schien eröffnet, und eine exotische
Aufregung ergriff die Phantasie. Unerhörtes sollte gelingen, nichts mehr un-
möglich sein. Das Femrohr erschloss die Geheimnisse des Himmels, und die
Mächte der Erde begannen dem Forscher zu gehorchen. Die Wissenschaft wollte
die Führerin des Menschengeistes bei seinem Siegeszuge durch die Natur sein.
Durch ihre Erfindungen sollte das menschliche Leben vollkommen umgestaltet
werden. Welche Hoffnungen die Phantasie in dieser Hinsicht entfesselte, sieht
man aus Bacon's utopischem Fragment der Nova Atlantis und ebenso aus Cam-
panella's Sonnenstaat. Der englische Kanzler aber meinte, die Aufgabe der
Naturerkenntniss sei schliesslich diejenige, das Erfinden, welches bisher meist
Sache des Zufalls gewesen sei, zu einer bewusst auszuübenden Kunst zu machen.
Freilich hat er nur in dem phantastischen Bilde des Salomonischen Hauses in
seiner Utopie diesem Gedanken Leben gegeben; ihn ernsthaft auszufuhren hat er
sich wohl gehütet: aber dieser Sinn, welchen er der Ars inveniendi beilegte,
machte ihn zum Gegner des rein theoretischen Wissens und der „contemplativen**
Erkenntniss ; gerade von diesem Gesichtspunkte her bekämpfte er den Aristoteles
und die Unfruchtbarkeit der klösterUchen Wissenschaft. In seiner Hand war die
Philosophie in Gefahr, aus der Herrschaft des religiösen Zwecks unter diejenige
der technischen Interessen zu fallen.
Der Erfolg aber bewies wiederum, dass die goldenen Früchte des Wissens
nur da reifen, wo sie nicht gesucht werden. In der Hast der Utilität verfehlte
Bacon sein Ziel, und die geistigen Schöpfungen, welche die Naturforschung
befähigt haben, die Grundlage unsrer äusseren Cultur zu werden, gingen von
den vornehmeren Denkern aus, die reinen Sinnes und ohne Weltverbesserungs-
gelüste die Ordnung der Natur, welche sie bewunderten, verstehen wollten.
1) Ygl. O. Feschel, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen, 2. Aufl. Leipzig 1879.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 20
306 IV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
3. Die Richtung auf den praktischen Zweck der Erfindung raubte Bacon
den Blick für den theoretischen Werth der Mathematik. Auch dieser aber war
zunächst (vgl. oben § 29^ 5) in den phantastischen Formen zum Bewusstsein ge-
kommen^ welche nach pythagoreischem Vorgange in neuplatonischer Ueber-
schwengUchkeit die Zahlenharmonie des Universums priesen. Von der gleichen
Bewunderimg der Schönheit und der Ordnung des Weltalls sind auch die grossen
Naturforscher ausgegangen : aber das Neue in ihren Lehren besteht eben darin^
dass sie diesen mathematischen Sinn der Weltordnung nicht mehr in symbolischen
Zahlenspeculationen suchen, sondern dass sie ihn aus den Thatsachen ver-
stehen und beweisen wollen. Die moderne Naturforschung ist als empirischer
Pythagoreismus geboren worden. Diese Aufgabe hatte schon Lionardo
da Vinci gesehen^) — sie zuerst gelöst zu haben, ist der Ruhm Kepler's.
Das psychologische Motiv seines Forschens war die philosophische Ueberzeugung
von der mathematischen Ordnung des Weltalls; und er bestätigte dieselbe,
indem er durch eine grossartige Induction die Gesetze der Planetenbewegung
entdeckte.
Dabei zeigte sich einerseits, dass die wahre Aufgabe der naturwissen-
schaftlichen Induction darin besteht, dasjenige mathematischeVerhältniss
au&ufinden, welches in der ganzen Reihe der durch Messung bestimmten Er-
scheinungen gleich bleibt; andrerseits dass der Gegenstand, an welchem die
Forschung diese Au%abe zu leisten vermag, kein andrer ist als die Bewegung.
Die göttliche Arithmetik und Geometrie, welche Kepler im Universum suchte,
fand sich in den Gesetzen des Geschehens. Von diesem Princip her
schuf mit schon deutlicherem methodischen Bewusstsein Galilei die Me-
chanik als die mathematische Theorie der Bewegung. Es ist überaus
lehrreich, die Gedanken, welche dieser im Saggiatore vorträgt, mit Bacon's Inter-
pretation der Natur zu vergleichen. Beide gehen darauf aus, die in der
Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen in ihre Elemente zu zerlegen, um aus
deren Verknüpfung die Erscheinungen zu erklären. Aber wo Bacon's Induc-
tion die „Formen" sucht, da spürt Galileis resolutive Methode den ein-
fachsten mathematisch bestimmbaren Vorgängen der Bewegung nach, und
während die Interpretation bei Jenem in dem Aufweis der Zusammenwirkung
der Naturen zu dem empirischen Gebilde besteht, so zeigt Dieser in der com-
positiven Methode, dass die mathematische Theorie unter der Voraus-
setzung der einfachen Bewegungselemente zu denselben Resultaten führt, welche
die Erfahrung aufweist*). Auf diesem Standpunkt gewinnt auch das Experi-
ment eine ganz andere Bedeutung: es ist nicht bloss eine kluge Frage
an die Natur, sondern es ist der zielbewusste EingriflF, durch welchen ein-
fache Formen des Geschehens isolirt werden, um sie der Messung zu unter-
werfen. So erhält alles, was Bacon nur geahnt, bei Galilei durch das mathe-
matische Princip und durch die Anwendung auf die Bewegung eine bestimmte,
für die Naturforschung brauchbare Bedeutung; und nach diesen Principien
der Mechanik vermochte Newton durch die Hypothese der Gravitation die
mathematische Theorie für die Erklärung der Kepler'schen Gesetze zu geben.
1) Vgl. über ihn als Philosophen K. Prantl, Sitz.-Ber. der Münchencr Akad. 1885, 1 fF. —
2) Diesen methodischen Standpunkt machte sich Hobbes (vgl. De corp. cap. 6) ganz zu eigen,
und zwar in ausdrücklich rationalistischem Gegensatze gegen den Empirismus Bacon's.
§ 30. Problem der Methode. (Galilei, Hobbes, Descartes.) 307
Hiermit war in völlig neuer Form der Sieg des demokritisch- plato-
nischen Princips besiegelt, dass der Gegenstand der wahren Katurerkenntniss
lediglich das quantitativ Bestimmbare sei: es betraf aber diesmal ausdrück-
lich nicht das Sein, sondern das Geschehen in der Natur. Die wissenschaftliche
Einsicht reicht so weit wie die mathematische Theorie der Bewegung. Genau
diesen Standpunkt der Galilei'schen Physik nimmt in der theoretischen Philo-
sophie Hobbes*) ein. Die Geometrie ist die einzige sichere Disciplin, alle
Naturerkenntniss wurzelt in ihr. Wir vermögen nur solche Gegenstände zu er-
kennen; die wir construiren können, sodass wir aus dieser unsrer eigenen Operation
alle weiteren Folgerungen ableiten. Daher besteht die Erkenntniss aller Dinge,
soweit sie uns zugänglich ist, in der Zurtickföhrung des Wahrgenommenen auf
Bewegung der Körper im Raum. Die Wissenschaft hat von den Erscheinungen
auf die Ursachen und von diesen wiederum auf ihre Wirkungen zu schliessen:
aber die Erscheinungen sind ihrem Wesen nach Bewegungen, die Ursachen sind
die einfachen Bewegungselemente, und die Wirkungen sind wiederum Bewegungen.
So kommt der materialistisch scheinende Satz zu Stande: Philosophie ist die
Lehre von der Bewegung der Körper! Das ist die äusserste Consequenz ihrer
mit den englischen Minoriten begonnenen Ablösung von der Theologie.
Das philosophisch WesentUche in diesen methodischen Anfangen der Natur-
forschung ist also zweierlei: der Empirismus wurde durch die Mathematik
corrigirt, und der gestaltlose Pythagoreismus der humanistischen Tradition
wurde durch den Empirismus zur mathematischen Theorie bestimmt. Den
Knotenpunkt dieser Yerschlingung bildet Galilei.
4. In der mathematischen Theorie war damit jenes rationale Moment
gefunden worden, welches Giordano Bruno bei der Behandlung der kopernika-
nischen Lehre zur kritischen Bearbeitung der Sinneswahrnehmung verlangt
hatte *). Die rationale Wissenschaft ist die Mathematik. Von dieser Ueberzeu-
gung aus hat Descartes seine Reform der Philosophie unternommen. Er hatte,
in der jesuitischen Scholastik aufgewachsen, die persönliche Ueberzeugung ge-
wonnen'), dass für ein ernstes Wahrheitsbedür&iss weder in den metaphysischen
Theorien noch in der gelehrten Vielwisserei der empirischen Disciplinen, son-
dern allein in der Mathematik Befriedigung zu finden sei, und nach deren Muster
meinte er, selbst bekanntlich ein schöpferischer Mathematiker, das ganze übrige
Wissen des Menschen umgestalten zu sollen: seine Philosophie will eine Uni-
versalmathematik sein. Bei der damit erforderlichen Verallgemeinerung des
Galilei'schen Princips fielen einige der Momente, welche dasselbe für die be-
sonderen Aufgaben der Naturforschung fruchtbar machten, hinweg, sodass Des-
cartes' Lehre in der Geschichte der Physik nicht als Fortschritt gezählt zu
werden pflegt: um so grösser aber war die Macht seiner Einwirkung auf die
philosophische Entwicklung, in der er der beherrschende Geist für das 17. Jahr-
hundert und darüber hinaus gewesen ist.
Denjenigen methodischen Gedanken, welche Bacon und Galilei gemeinsam
sind, fügte Descartes ein Postulat von grösster Tragweite hinzu: er verlangte,
dass die inductive oder resolutive Methode zu einem einzigen Princip
höchster und absoluter Gewissheit führen solle, von dem aus alsdann nach
1) Vgl. den Anfang von De corpore. — 2) G. Bruno, DelF inf. univ e. mond. 1 in. (L.
307 f.) — 8) Vgl. die schöne Darstellung im Discours de la m^thode.
20*
308 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
compositiver Methode der gesammte umfang der Erfahrung seine Erklärung
finden müsse. Diese Forderung war durchaus originell und wurzelte in dem
Bedürfniss nach einem systematischen Zusammenhange aller menschlichen Er-
kenntniss: sie beruhte zuletzt auf dem üeberdruss an der traditionellen Auf-
nahme des historisch zusammengelesenen Wissens und auf der Sehnsucht nach
einer neuen philosophischen Schöpfung aus Einem Guss. So will denn Descartes
durch eine inductive Enumeration und eine kritische Sichtung aller Vorstellungen
zu dem einzig gewissen Punkte vordringen, um von hier aus die Ableitung aller
weiteren Wahrheiten zu gewinnen. Die erste Aufgabe der Philosophie ist
analytisch, die zweite synthetisch.
Die classische Ausfuhrung dieses Gedankens bieten die Meditationen.
In dramatischem Selbstgespräch schildert der Philosoph sein Ringen nach Wahr-
heit. Von dem Grundsatze aus „De omnibus dubitandum" wird der Umkreis
der Vorstellungen allseitig durchmustert, und dabei begegnet uns der ganze Apparat
der skeptischen Argumente. Den Wechsel der Meinungen und die Täuschungen
der Sinne erleben wir zu oft, sagt Descartes, als dass wir ihnen trauen dürften.
Bei der Verschiedenheit der Eindrücke, welche derselbe Gegenstand unter ver-
schiedenen Umständen macht, ist nicht zu entscheiden, welcher von ihnen und
ob überhaupt einer das wahre Wesen des Dinges enthält, und die Lebhaftig-
keit und Sicherheit, mit der wir erfahrungsmässig zu träumen vermögen, muss
uns das niemals völlig abzuweisende Bedenken erregen, ob wir nicht vielleicht
auch da träumen, wo wir wach zu sein und wahrzunehmen glauben. Indessen
hegen doch allen den Combinationen, welche die Einbildung schaffen kann, die
einfachen Vorstellungselemente zu Grunde, und bei ihnen stossen wir auf Wahr-
heiten, von denen wir unweigerlich sagen müssen, dass wir nicht anders können
als sie anerkennen, wie z. B. die einfachen Sätze der Arithmetik, 2X2 = 4
u. ähnl. Aber wie, wenn wir nun so eingerichtet wären, dass wir unsrer
Natur nach nothwendig irren müssten? wie, wenn uns irgend ein Dämon ge-
schaffen hätte, dem es gefiel, uns eine Vernunft mitzugeben, die, indem sie
Wahrheit zu lehren meint, nothwendig täuschte ? Gegen ein solches Blendwerk
wären wir wehrlos, und dieser Gedanke muss uns misstrauisch auch gegen die
evidentesten Sprüche der Vernunft machen.
Nachdem so der grundsätzUche Zweifel bis zum Aeussersten vorgedrungen
ist, erweist sich, dass er selbst sich die Spitze abbricht, dass er selbst eine That-
sache von vöUig unangreifbarer Gewissheit darstellt: um zu zweifeln, um zu
träumen, um getäuscht zu werden, muss ich sein. Der Zweifel selbst beweist,
dass ich als ein denkendes^ bewusstes Wesen (res cogitans) existire. Der
Satz cogito sum ist wahr, so oft ich ihn denke oder ausspreche. Und zwar ist die
Gewissheit des Seins in keiner anderen meiner Thätigkeiten enthalten als in der
des Bewusstseins. Dass ich spazieren gehe, kann ich im Traume mir einbilden ^) :
dass ich bewusst bin, kann ich mir nicht bloss einbilden, denn die Einbildung ist
selbst eine Art des Bewusstseins*). Die Seinsgewissheit des Bewusst-
1) Descartes' Eesponsion gegen ö^assendi's Objection (V, 2) vgl. Princ. phil. I, 9. —
2) Die übliche Uebersetzung von cogitare, cogitatio mit „Denken** ist nicht ohne Ghefahr des
Missverständnisses, da Denken im Deutschen eine besondere Art des theoretischen Be-
wusstseins bedeutet. Descartes selbst erläutert den Sinn des cogitare (Medit. 3; Princ. phiL
I, 9) durch Enumerationen: er verstehe darunter zweifeln, bejahen, verneinen, begreifen,
wollen, verabscheuen, einbilden, empfinden etc. Für das allen diesen Functionen Gemein-
§ 80. Problem der Methode. (Desoartes.) 309
Seins ist die einheitliche und fundamentale Wahrheit, welche Descartes durch
die analytische Methode findet.
Die Rettung aus dem Zweifel also besteht in dem augustinischen
Argument (vgl. S. 218f.) von der Realität des bewussten Wesens.
Aber die Anwendung desselben ist bei Descartes ^) nicht dieselbe wie bei Augustin
selbst und der grossen Zahl derjenigen, auf welche dessen Lehre gerade in der
Uebergangszeit wirkte. Hier galt die Selbstgewissheit der Seele als die sicherste
aller Erfahrungen; als die Grundthatsache der inneren Wahrnehmung, wodurch
die letztere das erkenntnisstheoretische Uebergewicht über die äussere Wahrneh-
mung erhielt. So hatte — um nicht wieder an Charron's moralisirende Deutung
zu erinnern — das augustinische Princip namentlich Campanella gewendet, wenn
er, dem grossen Kirchenvater nicht unähnlich, die Momente dieser Selbst*
er&hrung in die metaphysischen Primalitäten aller Dinge umdeutete (vgl. oben
§ 29, 3). In völlig analoger Weise hat später — von Locke ganz abgesehen*)
— in vermeintlichem Anschluss an Descartes auch Tschirnhausen die Selbst-
erkenntniss als die experientiaevidentissima angesehen"), welche deshalb als der
aposteriorische Anfang der Philosophie (vgl. unten Nr. 7) zu gelten habe, sodass
von ihr aus alle weiteren Einsichten a priori construirt werden können: denn in
ihr sei die dreifache Wahrheit enthalten, dass wir von einigem wohl, von anderem
übel berührt werden, dass wir einiges begreifen, anderes nicht, dass wir uns im
Vorstellen der Aussenwelt gegenüber leidend verhalten — drei Ansatzpunkte
für die drei rationalen Wissenschafben Ethik, Logik und Physik.
5. Bei Descartes dagegen hat der Satz cogito sum nicht sowohl die
Bedeutung einer Erfahrung, als vielmehr diejenige der ersten, grundlegenden
rationalen Wahrheit. Seine Evidenz ist auch nicht etwa die eines Schlusses^),
sondern diejenige unmittelbarer intuitiver Gewissheit. Die analytische
Methode sucht hier wie bei Galilei die einfachen selbstverständlichen
Elemente, aus denen alles Uebrige erklärt werden soll: während aber der
Physiker die anschauliche Grundform der Bewegung entdeckt, die alles körper-
liche Geschehen begreiflich machen soll, fahndet der Metaphysiker auf die
elementaren Wahrheiten des Bewusstseins. Darin besteht der Ratio-
nalismus Descartes'.
Er spricht sich darin aus, dass der Vorzug des Selbstbewusstseins in der
vollen Klarheit und Deutlichkeit gefunden wird und dass Descartes als
Princip für die synthetische Methode den Grundsatz aufstellte, alles müsse
wahr sein, was ebenso klar und deutlich sei wie das Selbstbewusst-
sein, d. h. was ebenso sicher und unableitbar vor dem Blicke des Geistes sich
darstellt wie seine eigene Existenz. Klar definirt Descartes^) als das dem Geiste
intuitiv Vorschwebende, deutlich als das durchweg in sich Klare und fest Be-
stimmte. Und diejenigen Vorstellungen — oder wie er nach Art der späteren
Scholastik sagt Ideen — , welche in diesem Sinne klar und deutlich sind, deren
Evidenz von keiner anderen ableitbar, sondern lediglich in sich selbst begründet
same haben wir im Deutschen kaum ein anderes Wort als „Bewusstsein". Dasselbe gilt auch
für Spinoza's Gebrauch des Terminus; vgl. dessen Princ. phil. Cart. I, prop. 4 schol. und dazu
Eth. II ax. 3 u. sonst.
1) Der übrigens Anfangs den historischen Ursprung dieses Arguments nicht gekannt zu
haben scheint: vgl. Obj. IV und Resp. — 2) Vgl. unten § 33 f. — 8) Tschirnh^iuson, Med. ment.
(1695) p. 290—94. — I) Kesp. ad Obj. 11. -r 5) Pnno. phü. I, 45.
310 IV. Philosophie der Renaissance. 2. NatorwissenschafUiche Periode.
ist; nennt er eingeborene Ideen^). Mit diesem Ausdruck verbindet er zwar
gelegentlich auch die psychogenetische Vorstellung; dass diese Ideen der mensch-
lichen Seele von Gott eingeprägt seien, will er aber meistens nur die er-
kenntnisstheoretische Bedeutung der unmittelbaren rationalen Evidenz
bezeichnen.
Eigenthümhch gemischt finden sich beide Bedeutungen in Descartes'
Beweisen für das Dasein Gottes^ welche einen integrir enden Bestandtheil
seiner Erkenntnisslehre bilden, insofern diese „Idee" die erste ist, für welche
in dem syntlietischen Fortschritt seiner Methode die gleiche Klaiiieit und
Deutlichkeit oder intuitive Evidenz des „natürlichen Lichtes" in Anspruch
genommen wird wie für das Selbstbewusstsein. Der neue (sog. cartesianische)
Beweis, den er dabei einführt^), hat eine Menge scholastischer Voraussetzungen.
Er constatirt, dass das individuelle Selbstbewusstsein sich als endlich und des-
halb als unvollkommen (nach der alten Identification von Werthbestimmungen
mit ontologischen Gradationen) wisse, dass aber dies Wissen nur aus dem Be-
griffe eines absolut vollkommenen Wesens (ens perfectissimum) herstammen
könne. Dieser Begriff, den wir in uns finden, müsse eine Ursache haben, die
jedoch weder in uns selbst, noch in irgend welchen anderen endlichen Dingen
zu finden sei. Denn das Princip der Causalität verlange, dass in der Ursache
mindestens ebenso viel Realität enthalten sei wie in der Wirkung. Dieser —
im scholastischen Sinn — realistische Grundsatz wird nun nach Analogie
Anselm's auf das Verhaltniss des Vorgestellten (esse in intellectu oder esse
objective) zu dem Realen (esse in re oder esse formaliter) angewendet, um zu
schliessen, dass wir die Idee eines vollkommensten Wesens nicht haben würden,
wenn sie nicht von einem solchen Wesen selbst in uns hervorgebracht worden
wäre. Dieser anthropologisch-metaphysische Beweis hat dann bei Descartes die
Bedeutung, dass dadurch jenes skeptisch -hypothetische Wahngebilde eines
täuschenden Dämons wieder zerstreut wird, — dass, weil die Vollkommenheit
Gottes seine Wahrhaftigkeit involvirt und er uns unmögUch so hat schaffen
können, dass wir nothwendig irren, das Vertrauen in das lumen naturale,
d. h. in die unmittelbare Evidenz der Vemunfterkenntniss wiederhergestellt
und damit definitiv begründet wird. So wird von Descartes auf scholastischem
Umwege der moderne Rationalismus eingeführt: denn dieser Beweis giebt nun
den Freibrief dafür, dass alle der Vernunft klar und deuthch einleuchtenden Sätze
mit voller Gewissheit anerkannt werden können. Dazu gehören in erster Linie
alle Wahrheiten der Mathematik, dazu gehört aber auch ebenso der onto-
logische Beweis für das Dasein Gottes. Denn mit derselben Denknothwendig-
keit — so nimmt Descartes®) das Anselm'sche Argument auf — , mit der aus der
Definition des Dreiecks die geometrischen Sätze über dasselbe folgen, ergiebt
sich auch aus der blossen Definition des allerrealsten Wesens, dass demselben
das Merkmal der Existenz zukommt. Die MögUchkeit, Gott zu denken, genügt,
um seine Existenz zu beweisen.
In dieser Weise folgt aus dem Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit,
1) Vgl. E. Grom, D.*s Lehre von den angeborenen Ideen (Jena 1873) und auch P. Natobp,
D.*8 Erkenntnisstheorie (Marburg 1882). Dass innatus besser durch eingeboren als durch das
übliche angeboren übersetzt wird, hat R. Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe
der Gegenwart p. 73 bemerkt, — 2) Med. 3. — 8) Ibid. 5.
§30. Problem der Methode. (Descartes.) 311
dass auch von den endlichen Dingen und insbesondere von den Körpern so viel
erkannt werden kann, als klar und deutlich darin vorgestellt wird. Dies ist aber
auch für Descartes wiederum das Mathematische; und beschränkt sich auf die
quantitativen Bestimmungen, während alles sinnlich -Qualitative in der
Wahrnehmung für den Philosophen als unklar und verworren gilt. Deshalb enden
Metaphysik und Erkenntnisstheorie auch für ihn in eine mathematische
Physik. Er bezeichnet^) die sinnliche Auffassung des Qualitativen als Ein-
bildung (imaginatio), diejenige des mathematisch Construirbaren dagegen als
Yerstandeserkenntniss (intellectio); und so sehr er die Hilfe zu schätzen weiss,
welche die Er&hrung in der ersteren Gestalt gewährt, so beruht ihm doch eine
wirklich wissenschaftliche Einsicht nur auf der letzteren.-
Die (auf Duns Scotus und weiter zurückgreifende) Unterscheidung zwischen
distincten und confusen Vorstellungen dient Descartes ausserdem, um das
Problem des Irrthums zu lösen, welches sich für ihn aus dem Princip der
veracitas dei deshalb ergiebt, weil danach nicht abzusehen scheint, wie die voll-
konmiene Gottheit die menschliche Natur so hat einrichten können, dass sie
überhaupt zu irren vermag. Hier hilft sich') Descartes mit einer eigenthümUch
verschr&ikten Freiheitslehre, die dem thomistischen Determinismus und dem
scotistiscben Indeterminismus gleichmässig gerecht werden möchte. Es wird
nämlich angenommen, dass nur die klaren und deutUchen Vorstellungen eine so
zwingende und überwältigende Macht auf den Geist ausüben, dass er sich ihrer
Anerkennung nicht entziehen kann, während er unklaren und verworrenen Vor-
stellungen gegenüber die schrankenlose und grundlose Bethätigung des liberum
arbitrium indifferentiae (seiner weitest greifenden Kraft, die nach scotistischer
Weise mit der Freiheit Gottes in Analogie gestellt wird) behält. So entsteht
der Irrthum, wenn Bejahung und Verneinung willkürUch (grandlos) bei un-
klarem und undeutlichem Urtheilsmaterial erfolgen^). Die daraus sich ergebende
Forderung, das Urtheil überall zurückzuhalten, wo nicht völlig klare und deut-
Uche Einsicht vorliegt, erinnert zu deuthch an die antike Itccxiij, als dass die
Verwandtschaft dieser Irrthumstheorie mit den Lehren der Skeptiker und Stoiker
von der oüpcatdOeoig (vgl. S. 131 u. 163) übersehen werden könnte*). In der
That hat Descartes (was ebenfalls mit Augustinus und Duns Scotus' Erkenntniss-
lehre übereinstimmt) das Willensmoment im Ui*theil deutlich erkannt, und Spinoza
ist ihm darin so weit gefolgt, dass er sogar Bejahung oder Verneinung als ein
nothwendiges Merkmal jeder Vorstellung bezeichnete und damit lehrte, der
Mensch könne nicht denken, ohne zugleich zu wollen^).
6. Descartes' mathematische Reform der Philosophie hatte ein eigenes
Schicksal. Ihre metaphysischen Ergebnisse eröffneten eine reiche und fruchtbare
Entwicklung: ihre methodische Tendenz aber unterlag sehr bald einem Miss-
verständniss, das ihre Bedeutung geradezu verkehrte. Der Philosoph selbst wollte
1) Ibid. 6. — 2) Ibid. 4. — 8) Der Irrthum erseheint danach als Act der Wülensfreiheit
in Parallele zur Sünde und damit als Schuld: er ist die Schuld der Selbsttäuschung. Diesen
Gedanken hat namentlich Malebranche (Entret. Ulf.) ausgeführt. — 4) Diese Verwandt-
schaft erstreckt sich folgerichtig auch auf die Ethik De8cartes\ Aus der klaren und deutlichen
Erkenntniss der Vernunft folgt nothwendig das rechte Wollen und Handeln; aus den dunkeln
und verworrenen Trieben der Sinnlichkeit ergiebt sich praktisch die Sünde wie theoretisch
der Lrthum durch Missbrauch der Freiheit. Das sittliche Ideal ist das sokratisch-stoische
der Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit. — 5) Eth. U, prop. 49.
312 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
auch bei den einzelnen Problemen die analytische Methode im grossen Massstabe
angewendet sehen; und er dachte die synthetische als einen entdeckenden Fort-
schritt von einer intuitiven Wahrheit zur anderen. Die Schüler aber verwechselten
die schöpferisch freie Geistesthätigkeit, die Descartes im Auge hatte, mit jenem
streng beweisenden System der Darstellung, welches sie in Euklid's Lehrbuch
der Geometrie fanden. Der monistische Zug der cartesianischen Methodo-
logie, ihre Aufstellung eines höchsten Frincips, aus dem alle andre Gewissheit
folgen sollte, begünstigte diese Verwechselung, und aus der neuen Forschungs-
methode wurde wieder eine Ars demonstrandi: als Ideal der Philosophie erschien
die Aufgabe, ihre gesammten Erkenntnisse als ein System von ebenso strenger
Folgerichtigkeit aus dem Grundprindp heraus zu entwickeln, wie Euklid's Lehr-
buch die Geometrie mit allen ihren Lehrsätzen aus den Axiomen und Definitionen
ableitet.
Auf ein solches Ansinnen hatte Descartes unter ausdrücklichem Hinweis
auf die Bedenklichkeit dieser Uebertragung mit einer probeweisen Skizze ge-
antwortet*): aber gerade dadurch scheint die Verlockung, die Bedeutung der
Mathematik für die Methode der Philosophie darin zu sehen, dass sie als
Ideal der beweisenden Wissenschaft betrachtet wurde, nur verstärkt
worden zu sein. Wenigstens hat sich in dieser Richtung der Einfluss der car-
tesianischen Philosophie für die folgende Zeit am stärksten gezeigt. In allem
Wechsel der erkenntnisstheoretischen Untersuchungen bis weit in das 18. Jahr-
hundert hinein, ist diese Auffassung der Mathematik für alle Parteien ein
feststehendes Axiom gewesen. Ja, sie ist sogar unter dem directen Einflüsse
Descartes' bei Männern wie Pascal zum Hebel des Skepticismus und Mysti-
cismus geworden. Da keine andre menschliche Wissenschaft, so folgerte dieser,
weder die Metaphysik noch die empirischen DiscipUnen, die mathematische
Evidenz zu erreichen vermögen, so muss der Mensch sich in seinem rationalen
Erkenntnissstreben bescheiden und um so mehr dem Triebe seines Herzens zum
ahnungsvollen Glauben und dem Tactgefühl einer edlen Lebensführung folgen.
Auch der (von Böhme beeinflusste) Mystiker Po ir et und der orthodoxe Skeptiker
Huet^ haben sich von dem Cartesianismus deshalb abgewandt, weil er das
Programm der Universalmathematik nicht einzuhalten veimochte.
Positive Ansätze zu einer Umgestaltung der cartesianischen Methode in den
euklidischen Beweisgang finden sich in der Logik von Port-Royal und in
den logischen Schriften von Geuhncx : fertig aber wie aus Einem Gusse steht dieser
methodische Schematismus bei Spinoza vor uns. Er gab zunächst eine Dar-
stellung der cartesianischen Philosophie „moregeometrico^, indem er nach
AufsteUung von Definitionen und Axiomen den Lehrgehalt des Systems Schritt
für Schritt in Lehrsätzen (Propositionen) entwickelte, von denen jeder aus den
Definitionen, Axiomen und vorhergehenden Lehrsätzen bewiesen wurde; an die
einzelnen fugten sich Corollarien und freier erläuternde Scholien. In dieselbe
schwerfällig-wuchtige Form presste aber Spinoza auch seine eigene Philosophie
in der ;,Ethik^ und damit glaubte er diese so sicher bewiesen zu haben, wie das
l)Ee8p. ad Obj. 11. — 2) Pierre Daniel Hu et (1630— 1721), der gelehrte Bischof
von Avranches, schrieb Censura philosophiae cartesianae (1689) und Traite de la fiublesse de
Tesprit humain (1723). Instructiv ist in obiger Hinsicht augh seine Autobiographie (1718).
Vgl. über ihn Ch. Babtholmiss (Paris 1850),
§ 80. Problem der Methode. (Spinoza, Leibniz.) 313
euklidische System der Geometrie. Das setzte nicht nur die lückenlose Correct-
heit des BeweisverfahrenS; sondern auch eine unzweideutige Evidenz und wider-
spruchslose Geltung der Definitionen und Axiome voraus. Ein Blick auf den
Anfang der Ethik (und nicht nur des ersten, sondern auch der folgenden Bücher)
genügt, um sich von der Naivetät zu überzeugen, mit der Spinoza die verdichteten
Gebilde des scholastischen Denkens als selbstverständliche Begriffe und Principien
vorträgt und damit allerdings dann schon sein ganzes metaphysisches System
implicite vorwegnimmt.
Diese geometrische Methode hat aber — und darin besteht ihre
psychogenetische Rechtfertigung — bei Spinoza zugleich ihre sachliche Bedeutung.
Die reUgiöse Grundüberzeugung, dass aus dem einheitlichen Wesen Gottes alle
Dinge nothwendig hervorgehen, schien ihm eine Methode der philosophischen
Erkenntniss zu verlangen, welche in derselben Weise aus der Idee Gottes die-
jenigen aller Dinge ableitete. In der wahren Philosophie soll die Ordnung der
Ideen dieselbe sein, wie die reale Ordnung der Dinge *). Daraus aber folgt von
selbst, dass der reale Frocess des Hervorgehens der Dinge aus Gott nach der
Analogie des logischen Hervorgehens der Folge aus dem Grunde gedacht werden
muss, und so involvirte die methodische Bestinmaung der Aufgabe der Philosophie
bei Spinoza bereits den metaphysischen Charakter ihrer Lösung; vgl. § 31.
7. So wenig man in der nächsten Zeit wagte, sich den Inhalt der spino-
zistischen Philosophie zu eigen zu machen, so imponirend wirkte doch ihre me-
thodische Form : und je mehr sich die geometrische Methode gerade in der schul-
mässigen Philosophie einbürgeile, um so mehr hielt damit eigentlich wieder das
syllogistische Verfahren seinen Einzug, indem alle Erkenntnisse durch
regelrechte Schlussfolgerungen aus den höchsten Wahrheiten abgeleitet werden
sollten. Insbesondere fasstendie mathematisch geschulten Cartesianer in Deutsch-
land die geometrische Methode in dieser Richtung auf: so geschah es von Jung
und W ei gel, und der akademische Trieb zur Anfertigung von Lehrbüchern
fand in dieser Methode eine ihm äusserst sympathische Form. Im 18. Jahr-
hundert hat Christian Wolff (vgl. V. Theil) mit seinen lateinischen Lehr-
büchern dieser Neigung in der umfassendsten Weise Folge gegeben, und für die
Systematisirung eines feststehenden und in sich klar durchdachten Lehrstoffes
konnte es in der That keine bessere Form geben. Das zeigte sich schon, als
Pufendorf es unternahm, nach geometrischer Methode aus dem einzigen Princip
des Geselligkeitsbedürfnisses heraus das ganze System des Naturrechts als eine
logische Nothwendigkeit zu deduciren.
Als diese Ansicht im Werden war, wuchs Leibniz besonders unter dem
Einfluss von Erhard Weigel in dieselbe hinein, und er war anfanglich einer ihrer
consequentesten Vertreter. Er machte sich nicht nur den Scherz, einer politischen
Broschüre dies ungewohnte Gewand zu geben "), sondern er meinte emstlich, dass
die philosophischen Streitigkeiten erst dann ihr Ende finden würden, wenn einmal
]) Die Ansicht, dass die wahre Erkenntniss als genetische Definition die Entstehung
ihres Gegenstandes wiederholen müsse, hat namentlich Tschibnhaüsen ausgeführt: und er
schreckte (Med. ment. 67 f.) nicht vor der Paradoxie zurück, dass eine vollständige Definition
des Lachens im Stande sein müsse, das Lachen selbst hervorzurufen! — 2) In dem Pseudonymen
Specimen demonstrationum politicarum pi*o rege Polonorum eligendo (1669) bewies er nach
„geometrischer Methode*' in sechszig Propositionen und Demonstrationen, dass inan den Ffal^-
grafen von Neuburg zuw König von Polen wählen müsse.
314 ^« Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
eine Philosophie so klar und sicher auftreten könnte wie eine mathematische
Rechnung ^).
Leihniz ist diesem Gedanken sehr energisch nachgegangen. Die Anregung
von Hobbes, der auch — wenn schon in ganz anderer Absicht^ vgl. § 31, 2 — das
Denken für ein Bechnen mit den begriffiichen Zeichen der Dinge erklärte,
mochte hinzukommen ; die luUische Kunst und die Mühe, welche sich Giordano
Bruno mit ihrer Verbesserung gegeben hatte, waren ihm wohl bekannt. Auch
in den cartesianischen Kreisen war der Gedanke, die mathematische Methode
zu einer regelrechten Erfindungskunst umzugestalten, viel erörtert worden: neben
Joachim Jung hat in dieser Hinsicht der Altorfer Professor Job. Christoph
Sturm^) auf Leibniz gewirkt. Es trat endlich hinzu, dass der Gedanke, die
metaphysischen Grundbegriffe und ebenso die logischen Operationen ihrer Ver-
knüpfung nach Art der mathematischen Zeichensprache durch bestimmte Cha-
raktere auszudrücken, die Möglichkeit in Aussicht zu stellen schien, eine philo-
sophische Untersuchung in allgemeinen Formeln zu schreiben und sie dadurch
über den Ausdruck in einer bestimmten Sprache hinauszuheben; — ein Bemühen
um eine wissenschaftliche Universalsprache, eine „Lingua Adamica^, das gleich-
falls zu Leibniz' Zeit in zahlreichen Vertretern zu Tage trat ^). So hat sich
denn auch Leibniz ausserordentlich viel mit dem Gedanken einer Characteristica
universalis und einer Methode des philosophischen Kalküls abgegeben^).
Der Ertrag dieser wunderUchen Bemühungen lag wesentlich darin, dass ver-
sucht werden musste, jene höchsten Wahrheiten festzustellen, aus deren logi-
schen Combinationen alle Erkenntnisse abgeleitet werden sollten. So musste auch
Leibniz, wie Galilei und Descartes, auf die Erforschung desjenigen ausgehen, was
unmittelbar und intuitiv gewiss sich dem Geiste als selbstverständlich
aufnöthigt und durch seine Verknüpfungen alle abgeleiteten Erkenntnisse be-
gründet. Bei diesen Ueberlegungen aber stiess Leibniz ^) auf die Entdeckung
(die vor ihm Aristoteles gemacht hatte), dass es zwei völlig verschiedene Arten
dieser intuitiven Erkenntnisse giebt : die allgemeinen, der Vernunft von selbst
einleuchtenden Wahrheiten und die Thatsachen der Erfahrung. Die einen haben
zeitlose, die anderen einmaUge Geltung: vSritSs Sternelles und vSrit^s de
fait. Beide aber haben das gemeinsam, dass sie intuitiv, d. h. in sich selbst
und nicht durch Ableitung von irgend etwas Anderem gewiss sind ; sie heissen
deshalb primae veritates oder auch primae possibilitates, weil in
ihnen die MögUchkeit alles Abgeleiteten begründet ist. Denn die „Möglichkeit^
eines Begriffs erkennt man entweder durch eine „Causaldefinition", welche den-
selben aus den ersten Möglichkeiten ableitet, d. h. a priori, oder durch die
unmittelbare Erfahrung seiner Wirklichkeit, d. h. a posteriori.
In sehr interessanter Weise hat nun Leibniz diese beiden Arten der
„ersten Wahrheiten" — die rationalen und die empirischen, wie man sieht — an die
beiden cartesianischen Merkmale der intuitiven Selbstverständlichkeit, die Klar-
heit undDeutlichkeit, angeknüpft. Er verschiebt dazu um ein Geringes
1) De scientia universali seu calculo phüosophico (1684). — 2) Der Verfasser eines Com-
pcndium universalium seu metaphysicae eaclideae. — 8) Solche Entwürfe hatten J. J. Becker
(1661), G. Dalgam (1661) und besonders Athanasius Kircher (1663) geschrieben. — 4) Vgl.
A. Tremdelbnbürg, Historische Beiträge zu Philosophie, Bd. iL u. III. — 5) Meditationes de
cognitione veritate et ideis (1684).
§31. Sabsianz und Gausalität. (Leibniz.) 315
die Bedeutung beider Ausdrücke*). Klar ist die Vorstellung, welche, von allen
anderen sicher unterschieden, zur Recognition ihres Gegenstandes tauglich ist;
deutlich diejenige, welche bis in ihre einzelnen Bestandtheile hinein und bis zur
Erkenntniss der Verknüpfung derselben klar ist. Hiernach sind die apriorischen,
^geometrischen^ oder „metaphysischen^ ewigen Wahrheiten klar und deutlich,
die aposteriorischen dagegen oder die thatsächlichen Wahrheiten zwar klar,
aber nicht deutlich. Die ersteren sind daher, vollkommen durchsichtig, mit der
Ueberzeugung von der Unmöglichkeit des Gegentheils verbunden, bei
den letzteren bleibt das Gegentheil denkbar. Bei den ersteren beruht die intui-
tive Gewissheit auf dem Satze des Widerspruchs, bei den letzteren bedarf
die durch die thatsächhche Wirklichkeit gewährleistete MögUchkeit noch einer
Erklärung nach dem Satze vom zur eichenden Grunde.
AnfangUch meinte Leibniz diese Unterschiede nur in Bezug auf die Unvoll-
kommenheit des menschlichen Verstandes. Bei den rationalen Wahrheiten sehen
wir die Unmöglichkeit des Gegentheils ein, bei den empirischen ist das nicht der
Eall, und wir müssen uns mit der Feststellung der Wirklichkeit begnügen ^) : aber
auch die letzteren sind in natura rerum und für den göttlichen Verstand so be-
gründet, dass das Gegentheil unmöglich ist, wenn es auch für uns denkbar bleibt.
Wenn Leibniz jenen Unterschied mit demjenigen der commensurablen und der
incommensurablen Grössen verghch, so meinte er anfanglich, die Incommen-
surabiUtät stecke nur in der begrenzten Erkenntnissfahigkeit des Menschen.
Aber im- Laufe seiner Entwicklung wurde ihm dieser Gegensatz zu einem
absoluten: er gewann metaphysische Bedeutung. Leibniz unterschied nun rea-
liter zwischen einer unbedingten Nothwendigkeit, welche die logische
Unmöglichkeit des Gegentheils involvire, und einer bedingten Nothwendig-
keit, welche 7,nur^ thatsächlichen Charakters sei. Er theilte die Principien der
Dinge in solche, deren Gegentheil undenkbar, und solche, deren Gegen-
theil denkbar sei: er unterschied auch metaphysisch zwischen nothwendigen
und zufälligen Wahrheiten. Das aber hing mit metaphysischen Motiven
zusammen, welche aus einer Nachwirkung der scotistischen Theorie von der Con-
tingenz des Endlichen entsprangen und die geometrische Methode über den
Haufen warfen.
% 81. Substanz und Causalität.
Der sachliche Erfolg der neuen Methoden war in der Metaphysik wie in der
Naturwissenschaft eine Umgestaltung der Grundvorstellungen von dem Wesen
der Dinge und von der Art ihres Zusammenhanges im Geschehen: die Begriffe
der Substanz und der Causahtät gewannen einen neuen Inhalt. Aber diese Ver-
änderung konnte in der Metaphysik nicht so radical vorgehen, wie in der Natur-
wissenschaft. Auf diesem begrenzteren Gebiete vermochte man, nachdem einmal
das Galilei'sche Princip gefunden war, gewissermassen ab ovo zu beginnen und
eine in der That vollkommen neue Theorie zu liefern : in den allgemeineren
philosophischen Lehren war die Macht und das Recht der Tradition viel zu gross,
als dass sie hätte völlig bei Seite geschoben werden können oder dürfen.
1) A. a. 0. Anf., E. 79. — 2) Die aristotelische Unterscheidimg des 3t6n und 3tt.
316 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Natnrwissensohaftliche Periode.
Dieser Unterschied machte sich schon bei dem delikaten Verhältniss
zn den religiösen Begriffen geltend. Die Naturforschung konnte sich
gegen die Theologie absolut isoliren und sich gegen dieselbe völlig indifferent
verhalten: die Metaphysik wurde durch den Begriff der Gottheit und durch die
Theorie von der geistigen Welt immer wieder sei es in feindliche sei es in freund-
liche Berührung mit dem rehgiösen Vorstellungskreise gebracht. Ein Gralilei er-
klärte; dass die Untersuchungen der Physik; welches auch ihr Resultat sei, mit
der Lehre der Bibel nicht das geringste zu thun hätten ^); und einen Newton
hinderte seine mathematische Naturphilosophie nicht; sich mit wärmster Frömmig-
keit in die Geheimnisse der Apokalypse zu vertiefen. Die Metaphysiker aber,
mochten sie religiös noch so indifferent denken und ihre Wissenschaft nur im rein
theoretischen Geiste betreiben; mussten doch immer darauf Bedacht haben, dass
sie von Gegenständen zu handeln hatten; über welche die Kirchenlehre fixirt war.
Dies gab der neueren Philosophie eine einigermassen heikle Stellung : die mittel-
alterliche Philosophie hatte den Gegenständen des Dogmas auch ihrerseits ein
wesentlich religiöses Interesse entgegengebracht; die neuere betrachtete sie,
wenn überhaupt; nur aus dem theoretischen Standpunkte. Am sichersten
fühlten sich daher diejenigen; welche wie Bacon und Hobbes auch die Philo-
sophie ganz auf Naturforschung beschränkten; eine eigentliche Metaphysik ab-
lehnten und über Fragen wie die nach der Gottheit und der übersinnlichen Be-
stimmung des Menschen nur das Dogma reden lassen wollten. Bacon that das
mit grossen Worten, hinter denen seine wahre Gesinnung schwer zu erkennen
ist^); Hobbes liess eher durchblicken, dass seine naturalistische Meinung nach Art
der epikureischen in den übernatürlichen Vorstellungen einen auf Mangel an
Naturerkenntniss beruhenden Aberglauben sah, der durch die staatliche Ordnung
zur bindenden Macht der Religion werde *). Sehr viel schwieriger aber war die
Stellung derjenigen Philosophen, welche den metaphysischen Begriff der Gottheit
in der Naturerklärung selbst festhielten; Descartes' ganze literarische Thätig-
keit ist von der ängstlichen Vorsicht zur Vermeidung jeden religiösen Anstosses er-
füllt; während Leibniz viel positiver die Conformität seiner Metaphysik mit der
Rehgion durchzufuhren versuchen konnte ; und andrerseits zeigte das Beispiel
Spinoza' 8; wie gefahrUch es war; wenn die Philosophie die Verschiedenheit ihres
Gottesbegriffs von dem dogmatischen offen hervorkehrte.
1. Die Hauptschwierigkeit der Sache aber steckte in dem Umstände, dass das
neue methodische Princip der Mechanik jede Zurückfiihrung der körperlichen
Erscheinungen auf geistige Kräfte ausschloss. Die Natur wurde entgeistert; die
Wissenschaft wollte in ihr nichts als die Bewegungen kleinster Körper sehen, von
denen eine die Ursache der anderen sei. Da blieb kein Raum für die Einwirkung
übernatürlicher Mächte. So wurden zunächst mit Einem Schlage MagiC; Astro-
logie und Alchymio; in denen der neuplatonische Geisterspuk gewaltet hatte,
zu einem wissenschafthch überwundenen Standpunkte. Schon Lionardo hatte
verlangt, dass die Erscheinungen der Aussenwelt nur durch natürliche
Ursachen erklärt werden sollten; die grossen Systeme des 17. Jahrhunderts
erkennen ausnahmslos nur solche aU; und ein Caxtesianer; Balthasar Bekker,
1) Vgl. den Brief an die Grossherzogin Christine, Op. 11, 26 ff. — 2) De augm. scient. IX,
wo das Uebernatürliche und Unbegreifliche als das Charakteristische und Verdienstliche des
Glaubens dargestellt wird, -^ 3} Leviathan, I, 6j vgl do^ drastischen Ausdruck Jbi^. IV, 82,
§81. Substanz und Causalitat. (Bacon, Hobbes, Deecartes, Spmoza.) 317
schrieb ein eigenes Buch ^), um zu zeigen^ dass nach den Principien der modernen
Wissenschaft alle Oeistererscheinungen^ Beschwörungen^ Zaubereien unter die
verderblichen Irrthümer gerechnet werden müssten, — ein Mahnwort, das dem
reichlichen Aberglauben der Renaissance gegenüber sehr am Platze war.
Mit den Geistern aber musste auch dieTeleologie weichen. Die Er-
klärung von Naturerscheinungen durch ihre Zweckmässigkeit lief zuletzt immer
irgendwie auf den Gedanken einer geistigen Erzeugung oder Ordnung der Dinge
hinaus: und so widersprach sie dem Princip der Mechanik. An diesem Punkte
war der Sieg des Demokritismus über die platonisch-aristotelische Naturphilo-
sophie am fühlbarsten: diesen betonte aber auch die neue Philosophie am
kräftigsten. Bacon rechnete die teleologische Naturbetrachtung zu den Idolen,
und zwar zu den gefahrlichen Gattungsidolen, zu den Grundirrthümern, welche
dem Menschen durch seine Natur selbst vorgespiegelt werden: er lehrte, dass
die Philosophie es nur mit den formalen oder wirkenden Ursachen zu thun habe,
und er drückte seine Beschränkung derselben auf Physik, seine Ablehnung der
Metaphysik gerade dadurch aus, dass er sagte, die Naturerklärung sei Physik,
wenn sie auf die causae efficientes, Metaphysik, wenn sie auf die causae finales
ginge ^. Bei Hobbes, der sein und Galilei's Schüler war, ist dieselbe Ansicht
selbstverständlich. Aber auch Descartes will alle finalen Ursachen von der
Erklärung der Natur femgehalten sehen, — er erklärt es für verwegen, die
Absichten Gottes erkennen zu wollen *). Viel oflFener und bei weitem am schärfsten
polemisirt Spinoza*) gegen den Anthropomorphismus der Teleologie. Bei seiner
Vorstellung von Gott und dessen Verhaltniss zur Welt ist es absurd, von Zwecken
der Gottheit und gar von solchen zu reden, die sich auf den Menschen beziehen:
wo Alles mit ewiger Nothwendigkeit aus dem Wesen der Gottheit folgt,
ist für eine Zweckthätigkeit kein Raum. Gegen diesen mechanisch-antiteleo-
logischen Grundzug der neuen Metaphysik haben die englischen Neuplatoniker,
wie Cudworth und Henry More mit der ganzen Beredsamkeit der alten Argumente,
aber erfolglos gekämpft. Die teleologische Ueberzeugung musste auf die wissen-
schaftliche Erklärung der einzelnen Erscheinungen definitiv verzichten, und nur
in der metaphysischen Gesammtau&ssung fand schliesshch Leibniz (vgl. unten
Nr. 8) und ähnlich ein Theil der englischen Naturforscher einen befiiedigenden
Ausgleich zwischen den widerstrebenden Principien.
Mit dem Ausschluss des Geistigen aus der Naturerklärung fiel aber noch
ein drittes Moment der alten Weltanschauung dahin: die Meinung von der Ver-
schiedenartigkeit und Verschiedenwerthigkeit der Sphären der Natur, wie sie nach
altpythagoreischem Vorgange in dem neuplatonischen Stufenreich der Dinge am
deutlichsten niedergelegt war. In dieser Hinsicht hatte die phantastische Natur-
philosophie der Renaissance schon kräftig vorgearbeitet. Durch Nicolaus Cu-
sanus war die stoische Lehre von der Allgegenwart aller Stoffe an jedem Punkte
des Weltalls erneuert worden ; aber erst mit dem Siege des kopemikanischen
Systems war, wie man bei Bruno sieht, auch die Vorstellung von der Gleich-
artigkeit aller Theile des Universums völlig durchgedrungen: diesublu-
narische Welt konnte nicht mehr als das Reich der Unvollkommenheit der
1) Balthasar Bekker (1634r— 1698) De betoverte wereld (1690). — 2) De augm. IIT, 4. —
8) Medit. IV. — 4) Vgl. hauptsächlich Eth. I append.
318 ^- Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
geistigeren Sphäre des Sternenhimmels gegenübergestellt werden ; Stoff und Be-
wegung sind in beiden gleich. Von diesem Gedanken gingen Kepler und Galilei
aus, und er vollendete sich^ als Newton die Identität der Kraft im Fall des
Apfels und im Umschwung der Gestirne erkannte. Für die moderne Natur-
wissenschaft besteht der alte "Wesens- und Werthunterschied von Himmel und
Erde nicht mehr. Das Universum ist durchweg einheitlich. Dieselbe
Anschauung aber kehrte sich auch gegen das aristotelisch -thomistische Ehit-
wickelungssystem von Stoffen und Formen, sie räumte mit dem ganzen Heer der
niederen und höheren Kräfte — der viel bekämpften qualitates occultae — auf,
sie erkannte als Erklärungsgrund aller Erscheinungen nur das mechanische
Princip der Bewegung an, und sie hob deshalb auch den p r in cipi eilen Unter-
schied zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten auf. Wenn
auch hier der Neuplatonismus durch die Anschauung der Alllebendigkeit des
Universums zur Ueberwindung jenes Gegensatzes mitgewirkt hatte, so erwuchs
nun der Galilei'schen Mechanik umgekehrt die Aufgabe, auch die Erschei-
nungen des Lebens mechanisch zu erklären. Die Entdeckung des
Mechanismus des Blutumlaufs durch Harvey (1626) ') gab dieser Tendenz einen
lebhaften Impuls; Descartes sprach es principiell aus, dass die animalischen Leiber
wissenschaftlich als complicirteste Automaten anzusehen und dass ihre Lebens-
thätigkeiten als mechanische Processe zu betrachten seien. Hobbes und Spinoza
fährten diesen Gedanken schon genauer durch ; in den Aerzteschulen Frankreichs
und der Niederlande begann ein eifriges Studium der Reflexbewegungen, und der
Begriff der Seele als Lebenskraft ging seiner völligen Zersetzung entgegen. Nur
die Platoniker und die Anhänger des paracelsisch-böhmischen Vitalismus, wie
van Helmont, hielten in alter Weise daran fest.
2. Diese mechanistische Entgeistigung der Natur entsprach nun
durchaus jener dualistischen Weltansicht, welche aus erkenntnisstheoreti-
schen Motiven sich in dem terministischen Nominalismus vorbereitet hatte, der
Ansicht von einer totalen Verschiedenheit der innerlichen und der
äusseren Welt. Zu der Erkenntniss ihrer qualitativen Differenz trat jetzt
diejenige ihrer realen und causalen Getrenntheit. Die Welt der Körper erschien
nicht nur ganz andersartig als diejenige des Geistes, sondern auch in ihrer Exi-
stenz und in dem Ablauf ihrer Bewegungen durchaus von derselben gesondert.
Zur Verschärfung jenes Gegensatzes hatte in der Philosophie der Renaissance
die humanistisch erneuerte Lehre von der Intellectualität der Sinnes-
qualitäten ausserordentlich viel beigetragen. Aus der skeptischen und der
epikureischen Litteratur war die Lehre, dass Farben, Töne, Gerüche, Ge-
schmäcke, Druck-, Wärme- und Tastqualitäten nicht wirkliche Eigenschaften
der Dinge, sondern nur Zeichen für solche im Geiste seien, unter Wiederholung
der antiken Beispiele in die meisten Lehren der neueren Philosophie über-
gegangen. Vives, Montaigne, Sanchez, Campanella waren darin einig; Galilei *),
Hobbes, Descartes erneuerten die demokritische Lehre, dass diesen qualitativen
Differenzen der Wahrnehmung in natura rerum nur quantitative Unterschiede
so entsprächen, dass jene die innere Vorstellungsweise für diese seien. Descartes
betrachtete ^) die sinnlichen Qualitäten als dunkle und verworrene Vorstellungen,
1) Worin ihm Michael Servet (1553 in Genf durch Calvin verbrannt) vorangegangen
war. - 2) Saggiat. IT, 340. — 8) Med. 6.
§ 81. Substanz und Causalität. (Descartes, Hobbes.) 319
während ihm die Auffassung der quantitativen Bestimmungen der Aussenwelt
ihres mathematischen Charakters wegen als die einzig klare und deutliche Vor-
stellung derselben galt.
Deshalb gehören nach Descartes nicht nur die sinnlichen Gefühle^ sondern
auch die Empfindungsinhalte nicht der räumlichen, sondern nur der seelischen
Welt an und vertreten in dieser die geometrischen Gebilde, deren Zeichen sie
sind. Freilich können wir^) von diesem wahren mathematischen Wesen der
Körper bei der Erforschung des Einzelnen eine Kenntniss nur mit Hilfe der
Wahrnehmungen gewinnen, in denen dasselbe stets mit den qualitativen Ele-
menten der ,,Imagination^ versetzt ist. Aber darin eben besteht die Aufgabe
der physicalischen Forschung, durch die Reflexion auf die klaren und deutlichen
Elemente der Wahrnehmung dies reale Wesen der Körper aus den subjectiven
Vorstellungsweisen herauszulösen. John Locke, der sich auch diese Ansicht
Descartes' später popularisirend aneignete, bezeichnete^ diejenigen Eigen-
schaften, welche hiernach dem Körper an sich zukommen, als primär, dagegen
alssecundär solche, welche ihm nur vermöge seiner Wirkung auf unsere Sinne,
bzw. unsere Sinnesempfindung zukommen'). Descartes liess als primäre Eigen-
schaften nur Gestalt, Grösse, Lage und Bewegung gelten, sodass ihm der physi-
calische Körper mit dem mathematischen zusammenfiel (vgl. unten Nr. 4). Um
dagegen die Unterscheidung beider aufrecht zu erhalten, verlangte Henry More^)
auch die Undurchdringlichkeit als Princip der Raumerfiillung zum Wesen des
Körpers zu rechnen, und danach nahm Locke ^) die solidity unter die primären
Eigenschaften auf.
Bei Hobbes^) verschieben sich diese Gedanken mehr nach der terministi-
schen Auffassung hin. Ihm gelten auch der Raum (als phantasma rei existentis)
und die Zeit (als phantasma motus) für Vorstellungsweisen, und gerade weil
wir sie deshalb selbst construiren können, hat die mathematische Theorie den
Vorzug der einzig rationalen Wissenschaft. Statt aber daraus phänomenalistische
Oonsequenzen zu ziehen, folgert er, die Philosophie könne nur von Körpern
handeln und müsse alles Geistige der Offenbarung überlassen. Gleichwohl
besteht ihm in Folge dessen das wissenschafthche Denken nur in der immanenten
Verknüpfung von Zeichen. Diese sind theils unwillkürlich in den Wahr-
nehmungen, theils willkürlich in den Worten. (Aehnlich Occam, vgl. S. 271).
Erst durch die letzteren werden allgemeine Begriffe und Sätze möglich. Unser
Denken ist daher ein Rechnen mit Wortzeichen. Es hat seine Wahrheit in
sich und steht als etwas völlig Heterogenes neben der Aussenwelt, auf die es
sich bezieht.
3. Alle diese Anregungen verdichteten sich bei Descartes zu der Lehre
von dem Dualismus der Substanzen. Die analytische Methode sollte die
einÜEUihen, selbstverständlichen, nicht weiter ableitbaren Elemente der Wirklich-
keit auffinden. Descartes entdeckte, dass alles Erfahrbare entweder eine Art
des räumlichen oder des bewussten Seins ist. Räumlichkeit und Bewusst-
1) Vgl. Med. 6, welche das sehr enge Verhältniss, das Descartes' pbysicalische
Forschung zur Erüahruiig hatte, wohl am deutlichsten hervortreten lässt. — 2) Essay cohg,
hum. und. 11, 8, § 23 f. — 8) Als tertiäre Eigenschaften fugte Locke noch die „Kräfte"
zur Einwirkung eines Körpers auf andre hinzu. — 4) Desc. Oeuy. (C.) X p. 181 fiT. — 5) Essay
II, 4. — 6) Human nature, cap. 2 — 5, Leviathan cap. 4 ff.
320 rV. Philosophie der Renaissaxice. 2. Natarwissenschaftliche Periode.
sein (Ausdehnung und Denken nach der gewöhnlichen Uebersetzung von extensio
und cogitatio) sind die letzten, einfachen, ursprünglichen Attribute der Reali-
tät. Alles was ist, ist entweder räumlich oder bewusst. Denn diese beiden Ur-
prädicate verhalten sich zu einander disjunctiv: was räumlich ist, ist nicht
bewusst; was bewusst ist; ist nicht räumlich. Die Selbstgewissheit des Geistes
ist nur diejenige der Persönlichkeit als eines bewussten Wesens. Der Körper
ist nur so weit real; als er die quantitatiTen Bestimmungen räumUchen Seins und
Geschehens; der Ausdehnung und der Bewegung, an sich hat. Alle Dinge sind
entweder Körper oder Geister; die Substanzen sind entweder räumlich oder
bewusst: res extensae und res cogitantes.
So zerfallt die Welt in zwei völlig verschiedene und vöUig getrennte Reiche :
das der Körper und das der Geister. Aber im Hintergrunde dieses Dualismus
steht beiDescartes der Begriff der Gottheit als des ens perfec tissimum oder
der vollkommenen Substanz. Körper und Geister sind endliche Dinge,
Gott ist das unendliche Sein*). Die Meditationen lassen keinen Zweifel
darüber; dass Descartes den Gottesbegriff ganz nach der Auffassung des scho-
lastischen Realismus übernahm. Der Geist soll in seinem eigenen Sein,
das er als ein begrenztes und unvollkommenes erkennt; mit derselben intui-
tiven Gewissheit auch die Realität des vollkommenen unendlichen Seins erfassen
(vgl. oben § 30, 5). Zu dem ontologischen Argument kommt das Yerhältniss
von Gott und Welt in der durch Nicolaus Cusanus zur Geltung gebrachten Form
des Gegensatzes des Unendlichen und des EndUchen hinzu. Jene Verwandtschaft
aber mit dem Realismus des Mittelalters tritt gerade am deutlichsten in der auf
Descartes folgenden Entwicklung der Metaphysik hervor: denn diepantheisti-
schenConsequenzen dieser Voraussetzung; welche in der scholastischen Zeit
mühsam zurückgehalten worden waren, wurden jetzt mit voller Klarheit und Sicher-
heit ausgesprochen; und wenn in den Lehren von Descartes' Nachfolgern eine
starke Aehnlichkeit mit solchen zu finden ist; welche im Mittelalter nur eine mehr
oder minder unterdrückte Existenz fuhren konnten, so begreift sich dies auch ohne
die Annahme einer directen historischen Abhängigkeit bloss durch den prag-
matischen Zusammenhang und die sachUche Nothwendigkeit der Folgerungen.
4. Der gemeinsame metaphysische Name der „Substanz'* für Gott im
unendhcheu; für Geister und Körper im endUchen Sinne konnte die Probleme;
welche darunter verborgen waren, nicht dauernd verdecken. Der Begriff der
Substanz war in Fluss gerathen und bedurfte weiterer Umgestaltung. Mit der
Vorstellung des „Dinges", der Kategorie der Inhärenz, hatte er fast die
Fühlung verloren: denn gerade die dieser Kategorie wesentUche Verknüpfung
einer Mannigfaltigkeit von Bestinmiungen zur Vorstellung eines einheitlich Wirk-
lichen fehlte in Descartes' Begriff der endUchen Substanzen völlig, indem
dieselben durch eine Grundeigenschaft, der Räumlichkeit oder des Bewusstseins,
charakterisirt sein sollten. Alles was sich sonst an den Substanzen fand; musste
also als Modification ihrer Grundeigenschaft, ihres Attributs betrachtet werden.
Alle Eigenschaften und Zustände des Körpers sind Modi seiner Räumlichkeit
(Ausdehnung); alle Eigenschaften und Zustände des Geistes sind Modi des Be-
wusstseins (modi cogitandi).
1) Ebenso sa^ Malebrancbe (Recb. m, 2, 9 a. E.) Gott dürfe eigentlicb nur heisseu
Celui qui est, er sei 1 etre sans restriction, tout ctre infini et universol.
§ 31. Substanz und Causalität. (Descaries, Malebranobe.) 321
Darin jedoch liegt, dass alle zu einer der beiden Klassen gehörigen Einzel-
substanzen, also einerseits alle Körper, andrerseits alle Geister, ihrem Wesen,
ihrem constitutiven Attribut nach gleich sind. Von hier aber ist nur noch ein
Schritt zu der Vorstellung, dass diese Gleichheit als metaphysische Identität
gedacht wird. Alle Körper sind räumlich, alle Geister sind bewusst: die einzelnen
Körper unterscheiden sich Ton einander nur durch verschiedene Modi der Räum-
lichkeit (Gestalt, Grösse, Lage, Bewegung), die einzelnen Geister unterscheiden
sich von einander nur durch verschiedene Modi des Bewusstseins (Ideen, TJr-
theile, Willensthätigkeiten). Die einzelnen Körper sind Modi der Räumlichkeit,
die einzelnen Geister sind Modi des Bewusstseins. Auf diese Weise erhält das
Attribut das metaphysische üebergewicht über die einzelnen Substanzen, welche
jetzt als seine ModiiScationen erscheinen; aus den res extensae werden modi
extensionis, aus den res cogitantes modi cogitationis.
Descartes selbst hat diese Consequenz nur auf dem naturphilosophischen
Gebiete gezogen, auf welches er überhaupt die principielle Ausführung seiner
metaphysischen Lehre beschränkte. Hier aber nalim der aUgemeine Begriff der
Modification von selbst eine bestimmte und anschauliche Bedeutung an, diejenige
der Begrenzung (determinatio). Die Körper sind Theile des Raumes, Be-
grenzungen der allgemeinen Räumlichkeit oder Ausdehnung *). Daher fallt für
Descartes der Begriff des Körpers mit demjenigen einer begrenzten Raumgrösse
zusammen. Der Körper ist seinem wahren Wesen nach ein Stück Raum. Die
Elemente der Körperwelt sind die „Korpuskeln"*), d. h. die realiter nicht
mehr theilbaren, festen Raumstücke: als mathematische Gebilde aber sind auch
sie bis in's Unendliche theilbar, d. h. es giebt keine Atome. Ebenso folgt aus
diesen Voraussetzungen fiir Descartes die Unmöglichkeit des leeren Raumes
und die Unendlichkeit der Körperwelt.
Für die Geisterwelt ist die analoge Forderung von Malebranche ausge-
sprochen worden. Im Zusammenhange mit den erkenntnisstheoretischen Motiven
(vgl. unten Nr. 8), welche ihm keine andere Erkenntniss der Dinge als die in Gott
möglich erscheinen liessen, kam er') auf den Begriff der Raison universelle,
die, in allen Einzelgeistem gleich, nicht zu den Modis des endlichen Geistes
gehören kann, sondern von der vielmehr die endlichen Geister selbst Modificationen
sind, die aber eben deshalb nichts anderes sein kann als ein Attribut Gottes.
Insofern ist Gott der „Ort der Geister" ebenso wie der Raum der Ort der
Körper ist. Auch hier liegt, wie schon der Ausdruck beweist, das begriffliche
Verhältniss des Allgemeinen und des Besonderen zu Grunde, und nach Analogie
der cartesianischen Auffassung vom Raum und vom Körper wird es anschaulich
als Participation^) gedacht. Alle menschliche Einsicht ist eine Participation
an der unendlichen Vernunft, alle Ideen der endlichen Dinge sind nur Deter*
minationen der Idee Gottes, alle auf das Einzelne gerichteten Begierden nur
1) Vgl. Frinc. phil. II, 9 f. wo zugleich ganz klar hervortritt, dass dies Verhältniss des
einzelnen Körpers zum allgemeinen Raum demjenigen von Individuum und Gattung gleich-
gesetzt werden soll. — 2) Für die Korpuskulartheorie fand Descartes in Bacon, Hobbes, Basso,
ennert u. A. viele Anregungen. Die Mannigfaltigkeit der Ausbildung dieser Theorie, welche
auf der Dialectik zwischen dem mathematischen und dem physicalischen Moment beruht, hat
mehr naturwissenschaftliches als philosophisches Interesse: eine vorzügliche Darstellung hat
sie in Lasswitz* Geschichte der Atomistik gefunden. — 8) Rech, de la ver. LLE, 2, 6; Entret. 1, 10.
— 4) Man erinnere sich der platonischen p.i^e5:<!
Windelband, Geschichte der Philosophie. 21
322 TV. Philosophie der Renaissance. 2, Naturwissenschaftliche Periode.
Participationen an der dem endlichen Geist nothwendig innewohnenden Liebe
zu Gott als seinem Wesens- und Lebensgrunde. Freilich kam Malebranche
dadurch; dass er so den endlichen Geist völlig in den allgemeinen Gottesgeist
als dessen Modification aufgehen liess^ in eine sehr bedenkliche Lage. Denn
wie sollte er hiernach die Selbständigkeit und Selbstthätigkeit erklären, welche
doch in den Gott widerstrebenden Neigungen und Willensthätigkeiten des
Menschen ganz offenkundig vorzuliegen schien? Da half nichts als das Wort
„Freiheit", wobei denn freilich Malebranche bekennen musste, die Freiheit sei
ein undurchdringUches Geheimniss ^).
5. In diesem Gedankengange von Malebranche tritt die unabweisbare
Folgerichtigkeit zu Tage, womit die Attribute, welche bei Descartes als das
gemeinsame Wesen je einer der beiden Klassen von endlichen Substanzen galten,
schliesslich selbst nur als die Attribute der unendlichen Substanz oder
der Gottheit gedacht werden konnten. Genau darin aber besteht das Grund-
motiv des Spinozismus, der sich in dieser Richtung direct und zuerst aus
dem Cartesianismus heraus und sogleich bis zur letzten Consequenz entwickelt
hat. Auch er hält ebenso an dem qualitativen wie an dem causalen Dualismus
von Räumlichkeit und Bewusstsein fest. Die räumliche und die geistige Welt
sind durchaus heterogen und absolut unabhängig von einander. Aber die ganze
endlose Reihe der Körper mit ihren Theilungen, Gestaltungen und Bewegungen
sind ebenso nur die Modi der RäumUchkeit wie die endlose Reihe der Geister mit
ihren Ideen und VoUtionen nur die Modi des Bewusstseins sind. Diesen endlichen
„Dingen" gebührt daher nicht mehr der Name der „Substanz". Substanz kann
nur dasjenige heissen, dessen Attribute die Räumlichkeit und das Bewusstsein
selbst sind: das unendliche Sein, die Go ttheit. Ihr Wesen aber kann wiederum
sich nicht in diesen beiden der menschlichen Erfahrung zugänglichen Attributen
erschöpfen: das ens realissimum involvirt in sich die Wirklichkeit der unend-
lichen Anzahl aller möglichen Attribute.
Auch hierfür hegt der letzte Grund in dem scholastisch -realistischen
Begriffe des allerrealsten Wesens. Spinoza's Definition der Substanz oder
der Gottheit als des Wesens (essentia), welches seine Existenz involvirt, ist
nur der verdichtete Ausdruck des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes:
die „Aseität" ist in dem Terminus „causa sui" aufrechterhalten, die Substanz
als dasjenige „quod in se est et per se concipitur" ist wiederum nur eine andere
Umschreibung desselben Gedankens. Von diesen Definitionen aus war der
Beweis für die Einzigkeit und Unendlichkeit der Substanz^) selbstverständlich.
Dass wir es aber hier mit einem durchweg realistisclien Gedankengange
zu thun haben, ergiebt sich deutlich aus Spinoza's Lehre von dem Wesen der
Substanz selbst und ihrem Verhältniss zu den Attributen. Denn von der
Substanz oder der Gottheit sagt das spinozistische System schlechterdings
nichts weiter aus, als was in dem Begriffe des ens realissimum, des absoluten
Seins, an formalen Bestimmungen enthalten ist. Jedes inhaltliche Prädicat
dagegen wird ausdrücklich veraeint: und insbesondere lässt es Spinoza sich an-
gelegen sein, die Modificationen des Bewusstseins wie Erkenntniss und Willen
dem göttlichen Wesen abzusprechen"). Ebensowenig erkennt er diesem selbst-
1) Vgl. oben S. 311, Anm. 3. — 2) Eth. I prop. 1—14. — 8) Ibid. I, 31.
§ 31. Sabstanz und Causalität. (Spinoza.) 323
verständlich Modificationen der Räumlichkeit als Prädicate seines Wesens zu,
obwohl er dies besonders auszusprechen keine polemische Veranlassung hatte.
Gott selbst also ist weder Geist noch Körper, von ihm kann nur gesagt werden :
er ist. Es ist deutlich, dass hier mit veränderter Ausdrucksweise das alte
Princip der negativen Theologie vorliegt. Die Erkenntniss aller endlichen
Dinge und Zustände führt auf zwei höchste Allgemeinbegriffe, Bäumlichkeit und
Bewusstsein : diesen beiden wird eine höhere metaphysische Dignität zugeschrieben
als den endlichen Dingen; sie sind die Attribute, und die Dinge sind ihre Modi.
Steigt nun aber die Abstraction von diesen beiden letzten inhaltlichen Bestim-
mungen zu dem Allgemeinsten, dem ens generalissimum , auf, so fallt aus dessen
Begriff aller bestimmte Inhalt fort und es bleibt nur die leere Form der Sub-
stanz übrig. Auch für Spinoza ist die Gottheit Alles und damit — Nichts.
Seine Gotteslehre liegt ganz auf dem Wege der Mystik *).
Wenn aber Gott so das allgemeine Wesen der endlichen Dinge ist, so existirt
er nicht anders als in ihnen und mit ihnen. Das trifft zunächst die Attribute : Gott
ist nicht von ihnen und sie sind nicht von ihm verschieden, so wenig wie die Dimen-
sionen des Raumes von diesem selbst verschieden sind. Daher kann Spinoza
auch sagen, Gott bestehe aus den unzähligen Attributen, oder Dens sive omnia
eius attributa^). Und dasselbe Verhätniss widerholt sich nachher zwischen den
Attributen und den Modi. Jedes Attribut ist, weil es das unendliche Wesen
Gottes in bestimmter Art ausdrückt wieder in seiner Weise unendlich : aber
es existirt nicht anders als mit und in seinen zahllosen Modificationen. So
existirt denn Gott nur in den Dingen als ihr allgemeines Wesen, und sie nur in
ihm als die Modi seiner Realität. In diesem Sinne nimmt Spinoza von Nicolaus
Cusanus und Giordano Bruno die Ausdrücke naturanaturans und natura
naturata auf. Gott ist die Natur: als das allgemeine Weltwesen ist er die
natura naturans; als Inbegriff der Eiuzeldinge, in welchen diese Essenz modificirt
existirt, ist er die natura naturata. Wenn dabei die natura naturans auch gelegent-
Uch die wirkende Ursache der Dinge genannt wird, so darf diese schaffende Kraft
nicht als etwas von ihren Wirkungen Verschiedenes gedacht werden : diese Ur-
sache existirt nirgends als in ihren Wirkungen. Das ist Spinoza's voller und
rückhaltsloser Pantheismus.
Es wiederholt sich endhch dies Verhältniss noch einmal in der Unter-
scheidung, welche Spinoza zwischen den unendlichen und den endUchen Modi
statuirt *). Wenn jedes der zahllosen Endlichen ein Modus Gottes ist, so muss
auch der unendliche Zusammenhang, der zwischen denselben besteht, als ein
Modus und zwar eben als ein u n e n d 1 i c h e r M o d u s gelten. Spinoza statuirt
deren drei ^). Die Gottheit als das allgemeine Weltding erscheint in den Einzel-
dingen als endlichen Modi: ihnen entspricht als unendlicher Modus das Universum.
Im Attribut der Räumlichkeit sind die endlichen Modi die einzelnen Raum-
1) Dem entspricht auch seine dreistufige Erkenntnisslehre, welche über die
Wahmehmang und die Verstandesthätigkeit die „Intuition" stellt als die unmittelbare
Auffassung von dem ewigen Folgen aller Dinge aus (lott, als die Erkenntniss sub specie
aeternitatis. Sie fällt mit der docta ignoraniia des Cusaners zusammen. — 3) Was aber
keinesfalls so aufzufassen ist, als sollten (wie K. Thomas, Sp. als Metaphysiker, Königsberg
1840, meinte) die Attribute selbständige Urwirklichkeiten und „Gott" nur der Sammelname
fiir dieselben sein. Solch ein grober nominalistischer Schlussstein würde das ganze System aus
den Eugen drücken. — 8) Eth. I, 23 u. 30 ff. — 4) Ep. 64 (Op. II, 219).
21*
324 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode,
gestalten, der unendliche Modus ist der unendliche Raum oder die Materie *)
selbst in ihrer Bewegung und Ruhe. Für das Attribut des Bewusstseins steht
neben den einzelnen Functionen des Vorstellens und Wollens der „inteUectus
infinitus" ^). Hier erinnert Spinoza unmittelbar an den realistischen Pantheismus
des David von Dinant (vgl. S. 267 f.). Seine Metaphysik ist das letzte Wort des
mittelalterlichen Realismus ").
6. Mit diesen auf das Problem der qualitativen Di£ferenz der Substanzen
bezüglichen Motiven strebte die neuere Philosophie aus ihren dualistischen Vor-
aussetzungen einem monistischen Ausgleich zu: damit aber verschlangen sich noch
kräftigere Motive, welche aus der realen und causalen Trennung der räumlichen
und der bewussten Welt erwuchsen. Zunächst freilich beförderten gerade die
Principien der Mechanik den Versuch, den Ablauf des Geschehens in jeder der
beiden Sphären der endlichen Substanzen völlig gegen die andere zu isoliren.
Verhältnissmässig einfach gelang dies in der Körperwelt. Auf diesem
Gebiete hatte durch Galilei die Causalvorstellung eine völlig neue Be-
deutung gewonnen. Nach der scholastischen Auffassung (die mit axiomatischer
Geltung auch noch in Descartes' Meditationen an entscheidender Stelle vor-
getragen wurde) waren Ursachen Substanzen oder Dinge, Wirkungen dagegen
entweder deren Thätigkeiten oder andere Substanzen und Dinge, welche
durch solche Thätigkeiten zu Stande kommen sollten : das war der platonisch-
aristoteUsche Begriff der akia. Galilei dagegen griff auf die Vorstellung der
älteren griechischen Denker (vgl. § 5) zurück, welche das ursächliche VerhäJtniss
nur auf die Zustände, das hiess jetzt die Bewegungen der Substanzen, nicht
auf das Sein der letzteren selbst anwendeten. Ursachen sind Bewegungen und Wir-
kungen sind Bewegungen. Das Verhältniss von Stoss und Gegenstoss, der
Uebergang der Bewegung von einem Korpuskel auf das andere*) ist
die anschauliche, selbstverständliche, ursprüngliche und alle anderen erklärende
Grundform des Causalverhältnisses. Und die Frage nach dem Wesen
dieses Grund Verhältnisses wurde durch das Princip der mathematischen
Gleichheit gelöst, welches dann in dasjenige der metaphysischen Iden-
tität überging. So viel Bewegung wie in der Ursache ist, so viel ist auch in der
Wirkung. Descartes formulirte dies als das Gesetz von der Erhaltung
derBewegungin der Natur. Die Summe der Bewegung in der Natur bleibt
immer dieselbe: was ein Körper an Bewegung verliert, giebt er an einen anderen
ab. Hinsichtlich der Bewegungsgrösse giebt es in der Natur nichts Neues, ins-
besondere keine Impulse aus der geistigen Welt ^). Selbst für das Reich der
1) Diese Identification ffiii bei Spinoza ebenso wie bei Descartes. — 2) Dieser jntellectus
infinitus erscheint in dem ethischen Theile des spinozistischen Systems wieder als amor iu-
tellualis quo deus se ipsum amat. In beiden Fällen kommt Malebranche's „raison uni-
verselle" auf dasselbe hinaus. — 3) Aehnlich wie Spinoza und Malebranche hat auch GeoHncx
die endlichen Körper und G-eister nur als „Limitationen" oder „Präcisionen" des allgemeinen
unendlichen Körpers und des göttlichen Geistes betrachtet vgl. Metaph. p. 56. Wenn wir, sagt
er ibid. 237 flF., die Beschrankung von uns fortdenken, so bleibt übrig — Gott. — 4) Daher
schlosa für Descartes das mechanische Princip die Möglichkeit einer Wirkung in die Feme
ebenso aus, wie den leeren Raum. Dies nöthigte ihn zu den künstlichen Bypothesen der
Wirbeltheorie, wodurch er die kopemikanische Weltvorstellung physicalisch begründen
wollte. (Populäre Darstellung von Fontenelle, Entretiens sur la pluralitc des mondes, 1686).
Die Gründe, weshalb diese Lehre durch die Newton'sche Gravitationstheorie verdrängt wurde,
sind nicht mehr philosophischer, sondern rein physicalischer Natur. — 5) Daher schloss Hobbes
den aristotelisch-thomistischen Begriff des unbewegten Bewegers aus der Physik aus, während
§ 81. Substanz und CauBalität. (Desoartes, Spinoza.) 325
Organismen wurde dies Princip wenigstens als ein Postulat; wenn auch noch mit
sehr schwachen Gründen durchgeführt. Auch die Thiere sind Maschinen^ deren
Bewegungen durch den Mechanismus des Nervensystems hervorgerufen und be-
stimmt werden. Des Näheren dachte sich Descartes (und mit ihm Hobbes und
Spinoza) diesen Mechanismus als eine Bewegung feinster (gasförmiger) Stoffe,
der sog. spiritus animales'), und den üebergang aus dem sensiblen in das
motorische Nervensystem suchte er beim Menschen in einem nicht paarig ver-
tretenen Theile des Gehirns, der Zirbeldrüse (conarium, glans pinealis).
Sehr viel schwieriger erwies sich der andere Theil der Aufgabe: das Ver-
ständniss des geistigen Lebens ohne jede Beziehung auf das körperliche. So leicht
und anschauUch die Einwirkung eines Körpers auf den anderen war, so wenig gab
es eine wissenschaftlich brauchbare Vorstellung von einem körperlosen Zu-
sammenhange zwischen verschiedenen Geistern. Das allgemeine metaphysische
Postulat prägte z. B. Spinoza sehr energisch aus, wenn er im Eingange des
dritten Buchs der Ethik versprach, er wolle die Handlungen und Begierden des
Menschen so behandeln, als wenn von Linien, Flächen und Körpern die Rede
wäre ; denn es komme darauf an, sie weder zu begeifern noch zu verspotten,
sondern zu begreifen. Allein die Lösung dieser Aufgabe beschränkte sich
von vornherein auf die Untersuchung des Causalzusammenhanges zwischen den
Bewusstseinsthätigkeiten des einzelnen Geistes: der Dualismus
verlangte eine yon allen physiologischen Bestandtheilen freie Psychologie. Um
so charakteristischer ist es für die Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen
Geistes im 17. Jahrhundert, dass es zu dieser durch die Theorie verlangten
Psychologie nur in beschränktestem Masse gekommen ist. Und selbst die An-
sätze dazu sind von dem Bestreben beherrscht, das methodische Princip der
Mechanik, welches in der Theorie der äusseren Erfahrung seine Triumphe
feierte, auch auf das Verständniss der inneren anzuwenden.
Ebenso nämlich wie die Naturforschung von Galilei bis Newton darauf aus-
ging, die einfache Grundform der körperlichen Bewegung ausfindig zu machen,
auf welche alle comphcirten Gebilde der äusseren Erfahrung sich zurückführen
liessen, ebenso wollte auch Descartes die Grundformen der Seelenbewegung fest-
stellen, aus denen sich die Mannigfaltigkeit der inneren Erfahrungen erklärte.
Auf dem theoretischen Gebiete schien das durch die Feststellung der unmittelbar
einleuchtenden Wahrheiten (der eingeborenen Ideen), erreicht, auf dem prak-
tischen Felde erwuchs daraus die neue Aufgabe einer Statik und Mechanik
der Gemüthsbewegungen. In diesem Sinne lieferten Descartes und Spinoza
ihre Naturgeschichte der Affecte und Leidenschaften^), letzterer, indem
er den Gedanken des ersteren diejenigen von Hobbes beimischte. So leitet
Descartes aus den sechs Grundformen der Verwunderung (admiratio), der
Liebe und des Hasses, des Verlangens (desir), der Lust und der Unlust (laetitia —
tristitia) das ganze Heer der „particularen" Leidenschaften als Arten und Unter-
arten ab; so entwickelt Spinoza aus Begierde, Lust und Unlust (appetitus,
Descartes, auch hierin mehr metaphysisch verfahrend, der Materie die Bewegung anfänglich
von Gott ertheilt worden seinHiess.
1) Ein Erbstück aus der physiologischen Psychologie der Griechen, insbesondere der-
jenigen der Peripatetiker. — 2) Descartes, Les passions de lamc^ Spinoza, Eth. HI u, Tract,
brev, n, 5 ff. Vgl. unten Nr. 7,
326 ^' Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
laetitia, tristitia) das System der Gemüthsbewegungen durch den Nachweis der
Vorstellungsprocesse, mit denen sich dieselben von ihrem ursprünglichen Gegen-
stande, der Selbsterhaltung des Individuums, auf andere „Ideen" übertragen.
Eine eigenthümliche Nebenstellung nehmen in dieser Hinsicht die beiden
englischen Denker ein. B a c o n und H o b b e s liegt eine mechanistische Auffassung
des Geistigen um so näher, je enger sie dasselbe in den Kreis des Physischen
hineinzuziehen bestrebt sind. Beiden gilt nämlich das empirische Seelenleben^
also auch die Sphäre des Bewusstseins, welche bei Descartes gar nichts mit der
Körperwelt zu thun haben sollte, noch als etwas wesentHch dazu Gehöriges:
dagegen wird der gesammten Wahmehmungswelt mehr etwas Geistliches als etwas
Geistiges gegenübergestellt. Vorstellungen und Willensthätigkeiten, wie sie
durch Erfahrung bekannt sind, sollen im Grunde genommen auch Thätigkeiten
des Leibes sein : und wenn ausser diesen noch von einer unsterblichen Seele
(spiraculum), von einer geistigen Welt und von dem göttUchen Geiste die Rede
ist, so soll das der Theologie anheimfallen. Die naturwissenschaftliche Theorie
aber ist danach nicht viel anders denn als anthropologischer Materia-
lismus zu bezeichnen; denn sie soll den ganzen Ablauf der empirischen Seelen-
thätigkeiten als einen mechanischen Process im Zusammenhange mit den leib-
lichen Functionen begreifen. Diese Aufgabe stellte wiederum Bacon; Hobbes
versuchte sie zu lösen und wurde damit zum Vater der sog. Associations-
Psychologie. Mit demselben ausgesprochenen Sensualismus wie Cam-
panella, an dessen Ausführungen die seinigen namenthch in Betreff des Vor-
stellungsmechanismus vielfach erinnern ; sucht er zu zeigen, dass Sinnes-
empfindungen die einzigen Elemente des Bewusstseins abgeben und dass
durch ihre Verknüpfung und Umbildung auch das Gedächtniss und das Denken
zu Stande kommen. Analog werden dann auf dem praktischen Gebiete der Selbst-
erhaltungstrieb und die bei den Eindrücken entstehenden Gefühle von Lust und
Unlust als die Elemente gekennzeichnet , aus denen alle übrigen Gefühle und
Willensthätigkeiten entstehen. So entwarf auch Hobbes eine „Naturgeschichte**
der Affecte und Leidenschaften, und diese ist nicht ohne Einfluss auf diejenige
Spinoza's gewesen, bei dem die Affectentheorie auch überall nach dem anderen
Attribut hinschielt.
Mit unerbittlicher Consequenz aber folgte aus diesen methodischen Vor-
aussetzungen für Hobbes und für Spinoza die Leugnung der Willens-
freiheit im Sinne des Indeterminismus. Beide haben — und Spinoza that es
in der denkbar schroffsten Form — die strenge Nothwendigkeit aufzuzeigen ge-
sucht, welche auch im Ablauf des Motivationsprocesses obwaltet: sie sind Typen
des Determinismus. Für Spinoza giebt es daher eine Freiheit im psycho-
logischen Sinne nicht. Freiheit kann nur einerseits metaphysisch das absolute,
durch nichts als durch sich selbst bestimmte Sein der Gottheit, andrerseits etlüsch
das Ideal der Ueberwindung der Leidenschaften durch die Vernunft bedeuten.
7. Hierin zeigte sich nun schon, dass den Thatsachen der Psychologie
gegenüber jene absolute Trennung der Körperwelt und der Geisterwelt, welche
die Metaphysik verlangte, nicht aufrechtzuerhalten war. Ganz dasselbe aber er-
fuhr Descartes selbst. Aus dem Wesen des Geistes Selbst liessen sich zwar die
klaren und deutlichen Vorstellungen und die daraus erwachsenden Formen des
vernünftigen Willens erklären, nicht aber die dunklen und vei'worrenen Vor-
§ 31. Substanz und Causalitftt. (Deeoartes, Spinoza.) 327
Stellungen und die damit zusammenhängenden Affecte und Leidenschaften.
Diese stellen sich vielmehrals eine Störung^) des Geist es (perturbationes
animi) dar, und da diese Störung, welche den Anlass zum Missbrauch der Frei-
heit giebt (vgl. oben § 30, 5) , nicht von Gott herrühren kann, so muss ihr Ur-
sprung schliesslich doch in einer Einwirkung des Körpers gesucht werden. In
den Gemüthsstörungen liegt deshalb für Descartes eine unzweifelhafte Thatsache
vor, welche sich aus den metaphysischen Grundbestimmungen des Systems nicht
erklären lässt. Hier sieht sich daher der Philosoph genöthigt, einexceptionelles
Verhältniss anzuerkennen, und er legt sich das so zurecht, wie es durch die
Anthropologie der Victoriner (vgl. S. 240 f.) vorgebildet war. Das Wesen
(natura) des Menschen, lehrt er, besteht in der innigen Vereinigung zweier
heterogener Substanzen, eines Geistes und eines Körpers, und diese
wunderbare (d. h. metaphysisch unbegreifliche) Vereinigung hat Gott so gewollt,
dass in diesem einzigen Falle die bewusste und die räumliche Substanz auf ein-
ander einwirken. DieThiere bleiben für Descartes Körper: ihre „Empfindungen"
sind nur Nervenbewegungen, aus denen nach dem Keflexmechanismus Erregungen
des motorischen Systems entstehen. Im menschlichen Körper aber ist zugleich
die geistige Substanz gegenwäi*tig, und in Folge dieses Zusammenseins erregt
der Sturm der Lebensgeister (esprits animaux) in der Zirbeldrüse auch bei der
geistigen Substanz eine Störung, welche sich in dieser als unklare und undeut-
liche Vorstellung, d. h. als sinnliche Wahrnehmung, als Aflfect oder als Leiden-
schaft darstellt ^).
Bei den Schülern war der Systemtrieb grösser als bei dem Meister. Sie fanden
in diesem influxus physicus zwischen Geist und Leib den wunden Punkt der
cartesianischen Philosophie, und sie bemühten sich die Ausnahme zu beseitigen,
welche der Philosoph in den anthropologischen Thatsachen hatte statuiren müssen.
Das aber ging nicht an, ohne dass die Auffassung der Oausalität eine neue und
in gewissem Sinne rückläufige Veränderung erfuhr, indem das metaphysische
Moment über das mechanische wiederum das Uebergewicht gewann. Die
immanenten Causalprocesse der räumlichen und der bewussten Welt galten als
selbstverständlich: aber dertransscendente Causalprocess aus einer dieser Welten
in die andere bildete ein Problem. Man fand keine Schwierigkeit sich vorzu-
stellen, dass eine Bewegung sich in eine andere verwandle oder dass eine
Function des Bewusstseins, z. B. ein Gedanke, in eine andere übergehe : aber es
schien unbegreiflich, wie aus Bewegung Empfindung oder aus Wille Bewegung
werden soll. Physische und logische CausaHtät schienen keine Schwierigkeit
1) Dies ist das nicht nur ethische, sondern auch theoretische Interesse, welches Descartes
veranlasste, psychologisch so verschiedene Zustände wie AfTecte und Leidenschaften unter dem-
selben Gesichtspunkte und in Einer Linie zu behandeln. Vgl. zum Folgenden Passions de Tarne
I, und Med. 5 u. 6. — 2) Hieraufbaut dann Descartes seine Ethik. In solchen Störungen verhält
der Geist sich leidend, und seine Aufgabe ist es, in der klaren und deutlichen Erkenntniss sich
davon zu befreien. Spinoza hat diese intellectualistische Moral in äusserst grossartiger und
ergreifender Weise ausgeführt (Eth. IV u. V). Zwar gewann er von seiner Metaphysik aus nur
künstlich (Eth. lU, def. 2) den Gegensatz eines activen und passiven Verhaltens des endlicheu
Geistes: aber er führte den Gedanken, dass die Ucberwiudung der Leidenschaften aus ihrer
Erkenntniss, aus der Einsicht in den nothwendigcn göttlichen Zusammenhang aller Dinge
folge, mit packender Consequenz durch, er lehrte, dass das menschliche Wesen sicfi in der
Seligkeit der activen Affecte, welche nur in der Bcthätigung des reinen Erkennt^nisstriebes
bestehen (Eth. V, 15 ff.), zu vollenden habe, und er stellte di^nrit ein I^el)^q8i4e84 ^^f^ welches
die Höhe der griechischen O-etupia erreicht. -^
328 ^* Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
zu bieten^ desto grössere die psychophysische Causalität. Bei der
letzteren wurde man sich bewusst; dass zwischen Ursache und Wirkung nicht das
Yerhältniss der Gleichheit oder Identität besteht, durch welches die mecha-
nische und die logische Abhängigkeit verständlich erschienen. Daher musste
hier nach dem Princip gefragt werden, durch welches die beiden nicht an sich
zusammengehörigen Momente des CausalTerhältnisses, Ursache und Wu'kung, mit
einander verknüpft sind ^). Wo dies Princip zu suchen sei, konnte für die Schüler
Descartes' nicht zweifelhaft sein. Gott, der die Vereinigung der beiden Sub-
stanzen in der Natur des Menschen geschaffen, hat sie auch so eingerichtet, dass
auf die Functionen der einen Substanz die entsprechenden der anderen folgen.
Deshalb aber sind diese Functionen in ihrem causalen Verhältnisse zu einander
nicht eigentUch und ihrer eigenen Natur nach wirkende Ursachen, sonderen nur
die Gelegenheiten, bei welchen die durch göttliche Veranstaltung be-
stimmten Folgen in der anderen Substanz eintreten, — nicht causae efficientes,
sondern causae occasionales. Die wahre „Ursache" für den causalen Zu-
sammenhang von Reizen und Empfindungen und von Absichten und GUeder-
bewegungen ist Gott.
Solche Ueberlegungen breiten sich in der ganzen Entwicklung der carte-
sianischen Schule aus: Clauberg macht sie für die Theorie der Wahrnehmungen,
Cordemoy für diejenige der zweckmässigen Bewegung geltend; zu voller Aus-
führung gelangen sie in Geulincx' Ethik. Doch ist in dieser nicht jeder Zweifel
darüber ausgeschlossen, ob dabei die UrsächUchkeit Gottes als eine jeweilige
einzelne Intervention oder ob sie als allgemeine und dauernde Einrichtung be-
trachtet wird. An einigen Stellen ist freilich das Erstere der Fall % aber der
Gesammtgeist der Lehre involvirt zweifellos das Letztere. Am klarsten spricht
es GeuUncx in dem Uhrengleichniss") aus: wie zwei Uhren, die von demselben
Künstler gleich gearbeitet sind, in stetig correspondirendem Gang bleiben
„absque ulla causalitate, qua alterum hoc in altero causat, sed propter meram
dependentiam, qua utrumque ab eadem arte et simili industria constitutum est",
so folgen nach der einmal von Gott bestimmten Weltordnung diecorrespondirenden
Functionen des Geistes und des Körpers auf einander*).
8. Diese anthropologische Begründung des Occasionalismus fügt
sich aber von Anfang an einem allgemeineren metaphysischen Gedankengange
ein. Schon in dem cartesianischen System lagen die Prämissen für die Folgerung,
dass bei allem Geschehen in den endlichen Substanzen das wirkende Princip
nicht von diesen selbst, sondern von der Gottheit stamme. Das Denken der
Geister geschieht durch die eingeborenen Ideen, die er ihnen gegeben hat; der
Körperwelt hat er ein Quantum von Bewegung mitgetheilt, welches nur in
1) Dass man damit thatsächlich auf die G-rundschwierigkeit aller Causalverhältnisse
stiess, wurde erst später, durch Hume, klar: vgl. § 84. — 2) Z. B. bei dem Gleichniss mit dem
Kind in der Wiege, Eth. 123. Es scheint übrigens, dass die erste Auflage der Ethik (1665) in
der That mehr den deus ex machina einführte, während die in der zweiten Auflage (1675)
hinzugekommenen Anmerkungen die tiefere Auffassung durchgängig darbieten. — 3) Eth.
p. 124, not. 19. — 4) Wenn deshalb Leibniz, als er später dasselbe, in jener Zeit häufig ge-
brauchte Gleichniss Air seine „prästabilirte Harmonie*' in Anspruch nahm (!^clairc. 2 u. 3),
die cartesianische Auffassung durch eine unmittelbare Abhängigkeit der beiden Uhren von
einander, die occasionalistische aber durch eine stetig erneuerte Regulirung von Seiten des
Uhrmachers charakten'sirte, so traf das höchstens für einige Stellen in der ersten Auflage der
Geulincx'schen Ethik zu. —
§ 31. Substanz und Causalitat. (Geulinox, Malebranche.) 329
seiner Vertheilung auf die einzelnen Korpuskeln wechselt, bei dem einzelnen
Körper aber sozusagen nur zeitweilig geborgt ist: so wenig wie die Körper neue
Bewegung^ so wenig können die Geister neue Ideen erzeugen: die einzige Ursache
ist Gott.
Die alleinige Causalitat Gottes hervorzuheben, hatten jedoch dieCar-
tesianer um so mehr Anlass, als ihre Lehre auf heftigen Widerspruch bei der
Orthodoxie beider Confessionen stiess und in die theologischen Streitigkeiten der
Zeit hineingezogen wurde. Dabei hatten Freund und Feind die Verwandtschaft
des Cartesianismus mit der Lehre Augustinus ^) schnell erkannt, und während
deshalb die Jansenisten und die Yäter des Oratoriums, die in dem augustinisch-
scotistischen Gedankenkreise lebten, der neuen Philosophie freundlich waren, so
befehdeten sie die orthodoxen Peripatetiker und hauptsächlich die Jesuiten, desto
heftiger. So wurde in dem Streit um den Cartesianismus der alte Gegensatz
von Augustinismus und Thomismus ausgetragen. Die Folge war die, dass
die Cartesianer diejenigen Momente, worin ihre Lehre der augustinischen ver-
wandt war, möglichst in den Vordergrund schoben. So versuchte Louis dela
Forge *) die volle Identität des Cartesianismus mit der Lehre des Kirchenvaters
zu beweisen, und hob dabei ganz besonders hervor, dass nach beiden Denkern
der alleinige Grund alles Geschehens in den Körpern wie in den Geistern Gott
sei. Gerade dies bezeichnete dann später Malebranche ^) als das sichere Merk-
mal einer christlichen Philosophie, während der gefahrlichste Irrthum der heidni-
schen Philosophie in der Annahme der metaphysischen Selbständigkeit und
eigenen Wirkungsfahigkeit endUcher Dinge bestehe.
Ebenso büssen auch bei G eulin ex alle endlichen Dinge das causale Moment
der Substantialität ein. Er geht dabei von dem Princip aus ^), dass man nur das selbst
thun kann, wovon man weiss, wie es gemacht wird. Daraus folgt anthropologisch,
dass der Geist nicht die Ursache der leiblichen Bewegungen sein kann — Niemand
weiss, wie er es anfangt, auch nur den Arm zu heben — , weiter aber kosmologisch,
dass die Körper, die überhaupt keine Ideen haben, auch überhaupt nicht wirken
können, endlich erkenntnisstheoretisch, dass die Ursache der Wahrnehmungen
nicht im endlichen Geiste — denn er weiss nicht wie er dazu kommt — noch in
den Körpern, also allein in Gott zu suchen ist. Dieser erzeugt damit in uns eine
Vorstellungswelt, die in ihrer Qualitätenfiille viel reicher und schöner ist als
die wirkliche Körperwelt selbst *).
Das erkenntnisstheoretische Motiv findet endUch bei Malebranche®)
eine noch tiefere Fassung. Der cartesianische Dualismus macht eine directe Er-
kenntniss des Körpers durch den Geist überhaupt unmöglich : sie verbietet sich
nicht nur, weil zwischen beiden kein influxus physicus möglich ist, sondern auch
1) Verwandtschaft und Gegensatz betreffen auch noch andere Punkte. Descartes und
die Oratorianer (Gibieuf, Malebranche) sind gegen den Thomismus in der augustinisch-scoti-
stischen Lehre von der schrankenlosen Freiheit der Gottheit einig; sie behaupten wieder, das
Gute sei gut, weil Gott es so gewollt habe, nicht per se (vgl. S. 262 f.) u. A. — 2) Trait. de
Tespr. hum., pref. — 8) Recherche, VI, 2, 3. — 4) Eth. p. 113; Met. p. 26. — 5) Der Rest
von Selbstthäti^keit endlicher Wesen, der somit bei Geulincx übrig bleibt, besteht in der
immanenten Geistesthätigkeit des Menschen: vgl. Eth. 121 f. Die „Autologie'' oder Inspectio
Bui ist daher nicht nur der erkenntnisstheoretische Ausgangspunkt des Systems, sondern auch
dessen ethischer Schlusspunkt. Der Mensch hat in der Aussenwelt nichts zu schaffen, übi
nihil vales, ibi nihil velis. Die höchste Tugend ist Bescheidung, Ergebenheit in Gottes Willen
— Demutk — 6) Rech. III, 2.
330 ^* Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
weil bei der totalen Heterogeneität beider Substanzen nicht abzusehen ist, wie in
der einen auch nur eine Idee der anderen denkbar sei. Auch in dieser Hinsicht
ist die Vermittlung nur durch die Gottheit möglich, und Malebranche nimmt
seine Zuflucht zu der neuplatonischen Ideenwelt in Gott. Der Mensch erkennt
nicht die Körper, sondern ihre Ideen in Gott. Diese intelligible Körperwelt
in Gott ist einerseits das Urbild der von Gott geschaffenen wirklichen Körper-
welt, andrerseits dasjenige der von Gott uns mitgetheilten Ideen von derselben.
Unsere Erkenntniss gleicht den wirklichen Körpern so, wie zwei Grössen, die
einer dritten gleich sind, auch unter einander gleich sind. So verstand es Male-
branche, dass die Philosophie lehre, alle Dingo in Gott zu schauen.
9. In ganz anderer Weise hat Spinoza die occasionaUstischen Probleme
gelöst. Die Erklärung irgend eines Modus des einen Attributs durch einen
Modus des anderen war durch seine Begriffsbestimmung des Attributs (s. oben
Nr. 5) ausgeschlossen, von der es ^) wie von der Substanz galt: in se est et per
se concipitur. Von einer Abhängigkeit des Räumlichen vom Bewusstsein oder
umgekehrt konnte hiemach nicht die Rede sein; ihr Schein, der in den anthro-
pologischen Thatsachen vorlag, bedurfte also einer anderen Erklärung, und dass
diese mit Hilfe des Gottesbegriffs zu suchen war, verstand sich von selbst. Wenn
aber deshalb die Lehre, dass Gott die alleinige Ursache alles Geschehens sei, sich
auch bei Spinoza findet, so ist doch seine Uebereinstimmung mit den Occasio-
nahsten nur im Motiv und im Worte, aber nicht im Sinne der Lehre zu finden.
Denn nach Geulincx und Malebranche ist Gott der Schöpfer, nach Spinoza ist
er das allgemeine Wesen der Dinge: nach jenen erzeugt Gott die Welt durch
seinen Willen, nach diesem folgt nothwendig aus dem Wesen Gottes die
Welt. Das ursächliche Verhältniss also wird trotz der Gleichheit des Worts
causa sachlich hier ganz anders gedacht als dort. Bei Spinoza heisst es nicht :
Gott erzeugt die Welt, sondern: er ist die Welt.
Seine Auffassung auch von der realen Dependenz, der Causalität, drückt
Spinoza stets durch das Wort „folgen" (sequi, consequi) und durch den
Zusatz aus „wie aus der Definition des Dreiecks die Gleichheit seiner Winkel
mit zwei Rechten folgt". Deshalb wird die Abhängigkeit der Welt von Gott als
mathematische Folge gedacht. Diese Auffassung des Causalverhältnisses ^)
hat somit das empirische Merkmal des „Erzeugens", welches gerade bei den
Occasionalisten eine so wichtige RoUe spielte, total abgestreift und setzt an
die Stelle der anschaulichen Vorstellung vom lebendigen Wirken die logisch-
mathematische Beziehung von Grund und Folge. Der Spinozismus
ist eine consequente Identification des Verhältnisses von Ursache und Wirkung
mit demjenigen von Grund und Folge. Deshalb ist die Causalität der Gottheit
nicht zeitlich, sondern ewig, d. h. zeitlos, und die wahre Erkenntniss eine Be-
trachtung der Dinge sub quadam aetemitatis specie. Diese Auffassung des De-
pendenzverhältnisses ergab sich von selbst aus dem Begriffe der Gottheit als des
allgemeinen Wesens : aus diesem folgen zeitlos alle seine Modificationen, wie
aus dem Wesen des Raumes alle Lehrsätze der Geometrie. Die geometrische
Methode kennt keine andere Causalität als die des „ewigen Folgens" : dem Ra-
tionalismus gilt nur die dem Denken selbst eigene Form der Dependenz , das
1) Eth. I prop. 10. -— 2) Vgl. Schopbnhaüke, Ueber dio einfache Wurzel des Sataes
vom zureichende» Grunde, cap. Ö.
§ 31. Substanz und Cauealität. (Spinoza.) 331
logische Hervorgehen der Folge aus dem Grunde; als selbstverständlich und des-
halb auch als das Schema des Geschehens ') : auch die reale Dependenz soll weder
mechanisch noch teleologisch; sondern nur logisch-mathematisch begriffen werden.
Wie nun aber in der Geometrie zwar Alles aus dem Wesen des Raumes
folgt; aber jedes besondere Yerhältniss durch andere besondere Bestimmungen
determinirt ist, so besteht auch in der spinozistischen Metaphysik das noth-
wendige Hervorgehen der Dinge aus Gott dariu; dass jedes einzelne Endliche
durch andere Endliche determinirt ist. Die Summe der endlichen Dinge und die
Modi jedes Attributs bilden eine anfangs- und endlose Kette strenger Deter-
mination. In allen waltet die Nothwendigkeit des göttlichen Wesens: aber
kein Modus steht der Gottheit näher oder ferner als der andere. Hierin macht
sich der Gedanke des Nicolaus Cusanus von der Incommensurabilität des End-
lichen mit dem ünendhchen geltend. Keine emanatistische Stufenfolge fuhrt
von Gott zur Welt herab: alles Endliche ist wieder durch Endliches bestimmt,
aber in allen ist Gott der alleinige Grund ihres Wesens.
Ist dies der Fall, so muss die Einheit des Wesens auch in dem Verhältniss
der Attribute zu Tage treten; mögen diese qualitativ und causal noch so getrennt
gehalten werden. Es ist doch dasselbe göttliche WeseU; welches hier in der
Form der Räumlichkeit und dort in der Form des Bewusstseins existirt. So
sind denn nothwendig beide Attribute so aufeinander bezogen; dass jedem Modus
des einen ein bestimmter Modus des anderen entspricht. Diese Correspondenz
oder dieser Parallelismus der Attribute löst das Räthsel des Zusammenhangs
der beiden Welten: Ideen sind nur durch Ideen, und Bewegungen sind nur durch
Bewegungen bestimmt; aber es ist der gleiche Weltinhalt des göttlichen WesenS;
welcher den Zusammenhang der einen ebenso wie denjenigen der anderen aus-
macht; im Attribut des Bewusstseins ist dasselbe enthalten wie im Attribut
der Räumlichkeit. Dies Verhältniss wird von Spinoza nach den scholastischen
Begriffen des esse in intellectu und des esse in re dargestellt. Was im Attribut
des Bewusstseins als Gegenstand (objective), als Vorstellungsinhalt existirt; das-
selbe existirt im Attribut der Räumlichkeit als etwas unabhängig vom Vor-
stellen WirkHches (formaliter)^).
Spinoza's Auffassung ist also diese: jedes endliche Ding als ein Modus des
göttlichen Wesens, z. B. der Mensch, existirt gleichmässig in beiden Attributen,
als Geist und als Körper: und jede seiner einzelnen Functionen ist ebenso
gleichmässig beiden Attributen angehörig; als Idee und als Bewegung. Als
Idee ist sie durch den Zusammenhang der IdeeU; als Bewegung durch denjenigen
der Bewegungen bestimmt: aber in beiden enthlQt sie vermöge der Correspondenz
der Attribute dasselbe. Der menschliche Geist ist die Idee des mensch*
liehen Körpers, im Ganzen wie im Einzelnen').
1) Die nächste Aehnlichkeit hat daher Spinoza's Pantheismus mit dem scholastisch-
mystischen Realismus von Scotus Erigena (vgl. S. 228 f.), nur dass bei diesem noch mehr das
logische Verhältniss des Allgemeinen zum Besonderen das einzige Schema bildete: daraus
ergab sich bei ihm der emanatistische Charakter, der bei Spinoza fehlt. — 2) Aber keine
dieser beiden Existenzweisen ist ursprünglicher als die andere oder vorbildlich fiir die andere ;
beide drücken gleichmässig das Wesen Gottes aus (cxprimere). Daher ist eine idealistische
Ausdeutung Spinoza's ebenso unrichtig wie eine materialistische, — obwohl beide sich aus ihm
entwickeln konnten. — B) Die Schwierigkeiten, welche hierbei aus dem Selbstbcwusstsein
und welche daneben aus dem Postulat der unzähligen Attribute entsprangen, hat Spinoza nicht
gelöst: vgl. die Correspondenz mit TscHUttOUVSiSNi Op. U, 219f.
332 rV* Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
10« Ihren Abschluss fand diese vielspältige Gedankenbewegung in dem
metaphysischen System von Leibniz, demjenigen^ welches in der ganzen
Geschichte der Philosophie von keinem an Allseitigkeit der Motiye und an
ausgleichender Combinationskraft erreicht wird. Es verdankt diese Bedeutung
nicht nur der ausgebreiteten Gelehrsamkeit und dem harmonisirend abwägenden
Geiste seines Urhebers^ sondern hauptsächlich dem Umstände^ dass dieser mit
ebenso tiefem und feinem Verständniss in den Ideengängen der antiken und der
mittelalterlichen Philosophie wie in den Begriffsbildungen der modernen Natur-
forschung heimisch war^). Nur der Erfinder der Differentialrechnung; welcher
für Flaton und Aristoteles ebensoviel Verständniss hatte wie für Descartes und
Spinoza^ welcher Thomas und Duns Scotus ebenso kannte und vnirdigte^ wie
Bacon und Hobbes, — nur er konnte der Schöpfer der „prästabilirten Harmonie'^
werden.
Die Versöhnung der mechanischen und der teleologischen
Weltanschauung; und damit die Vereinbarung des w|i8senschaftlichen
und des religiösen Interesses seiner Zeit ist das Leitmotiv des Leibniz'schen
Denkens. Er wünschte die mechanische Naturerklärung; deren begriffliche
Ausgestaltung er selbst wesentlich forderte; in ganzer Ausdehnung durchgeführt
zu seheU; und er sann dabei auf solche gedanklichen Mittel; durch deren Hilfe
trotzdem der zweckvoll lebendige Charakter des Weltalls begreiflich bliebe.
Es musste deshalb; wozu sich Andeutungen schon bei Descartes fanden; der
Versuch gemacht werden; ob nicht der ganze mechanische Ablauf der Welt-
begebenheiten doch zuletzt auf wirkende Ursachen zurückzufuhren sei; deren
zweckvolles Wesen auch der Gesammtheit ihrer Wirkung eine inhaltvolle Be-
deutung gewähre. Leibniz' ganze philosophische Entwicklung läuft darauf hinaus,
den Korpuskeln „Entelechien^ unterzuschieben und dem indifferenten Gott
der geometrischen Methode die Rechte der platonischen altta wiederzugewinnen.
Das letzte Ziel seiner Philosophie ist; den Mechanismus des Geschehens als das
Mittel und die Erscheinungsform zu verstehen, wodurch der lebendige
Inhalt der Welt sich verwirklicht. Deshalb konnte er die „Ursache" nicht mehr
nur als „Sein"; konnte er Gott nicht mehr bloss als ens perfectissimum, konnte er die
„Substanz" nicht mehr nur durch ein unveränderliches Seinsattribut charakterisirt,
konnte er ihre Zustände nicht mehr bloss als ModificationeU; Determinationen
oder Specificationen solcher Grundeigenschaft bestimmt denken: sondern das
Geschehen wurde ihm wieder zum Wirken, die Substanzen nahmen die Bedeu-
tung der Kräfte^) an, und auch der philosophische Gottesbegriff hatte zum
wesentlichen Merkmal die schöpferische Kraft. Das aber war Leibniz' Grund-
gedanke; dass sich diese schöpferische Kraft in der mechanischen Ordnung der
Bewegungen bethätige.
Diesen d y nami s eben Standpunkt gewann Leibniz zunächst in der Theorie
der Bewegung und zwar in einer Weise; welche von selbst zur Uebertragung auf
die Metaphysik nöthigte ®). Das mechanische Problem der Stetigkeit und die
von Galilei begonnene Auflösung der Bewegung in die unendlich kleinen Impulse-
weiche für die in der Naturforschung massgebenden Untersuchungen von Huyg,
hens und Newton den Ausgangspunkt bildeten, führten Leibniz auf das Princip
1) Vgl. Syst. nouv. 10. — 2) La substance est un etre capable d*action. Princ. de la
jiat. et do la gräce 1. Vgl, Syst, nouv. 2 f. „Force primitive". — 8) Syst. nouv. 8.
§ 81. Substanz und Causalltät. (Leibniz.) 333
des InfinitesiinalcalcülS; auf seinen Begriff der „lebendigen Kraft^^ insbesondere
aber auf die Einsicht^ dass das Wesen des Körpers, worin der Grund der Bewegung
zu suchen sei, nicht in der Ausdehnung und auch nicht in der Masse (Undurchdring-
lichkeit), sondern in der Fähigkeit zu wirken, in der Kraft bestehe. Ist aber die
Substanz Kraft, so ist sie überräumlich und immateriell. Deshalb sieht
sich Leibniz genöthigt, auch die körperliche Substanz als immaterielle Kraft zu
denken. Der Körper ist seinem Wesen nach Kraft ; seine Baumgestalt, seine
Baumerfullung und seine Bewegung sind erst Wirkungen dieser Kraft. Die Sub-
stanz des Körpers ist metaphysisch'). Im Zusammenhange mit Leibniz' Er-
kenntnisslehre lautet dies so, dass die rationale, klare und deutUche Erkenntniss
den Körper als Kraft, die sinnliche, dunkle und verworrene dagegen ihn als
räumliches Gebilde auffasst. Daher ist der Raum für Leibniz weder mit dem
Körper identisch (wie bei Descartes) noch die Voraussetzung desselben (wie bei
Newton), sondern ein Kraftproduct der Substanzen, ein phaenomenon bene
fundatum, eine Ordnung ihrer Coexistenz, — keine absolute Wirküchkeit, sondern
ein ens mentale ^). Und dasselbe gilt mutatis mutandis von der Zeit. Daraus
folgt dann aber weiter, dass die auf diese räumliche Erscheinungsweise der
Körper bezüglichen Gesetze der Mechanik nicht rational, keine „geometrischen",
sondern thatsächUche und zufallige Wahrheiten sind. Sie könnten anders gedacht
werden. Ihr Grund ist nicht logische Nothwendigkeit, sondern — Zweckmässig-
keit. Sie sind lois de convenance; und sie wurzeln in der choix de la
sagesse ^). Gott hat sie gewählt, weil in der durch sie bestimmten Form der
Weltzweck am besten erfüllt wurde. Sind die Körper Maschinen, so sind sie
es in dem Sinne, dass dies zweckmässig construirte Gebilde sind^).
11. So wird bei Leibniz wieder, aber in reiferer Form als beim Neuplato-
nismus, das Leben zum Erklärungsprincip für die Natur; seine Lehre istVita-
lismus. Aber Leben ist Mannigfaltigkeit und dabei doch wieder Einheit. Die
mechanische Theorie führte Leibniz ebenso auf den Begriff unendlich vieler
Einzelkräfte, metaphysischer Punkte*), wie auf die Idee ihres continuirlichen Zu-
sammenhanges. Der demokritischen Atomtheorie, der nominalistischen Meta-
physik (Nizolius) hatte er ursprünglich nahe gestanden; die occasionaUstische Be-
wegung und vor allem das System Spinoza's machten ihm den Gedanken der
All-Einheit vertraut: und die Lösung fand er wie Nicolaus Cusanus und Giordano
Bruno in dem Princip der Identität des Theils mit dem Ganzen. Jede
Kraft ist die Weltkraft, aber in eigener Weise; jede Substanz ist die Welt-
substanz, aber in besonderer Form. Darum bestimmt Leibniz den Begriff der
Substanz auch geradezu dahin, sie sei Einheit in der Vielheit®). Das
bedeutet, dass jede Substanz in jedem Zustande die Fülle der übrigen „vorstellt",
und zum Wesen der „Vorstellung" gehört immer die Vereinheitlichung einer
Mannigfaltigkeit ^).
1) Damit war die Coordination der beiden Attribate extensio und cogitatio wieder auf-
gehoben : die Welt des Bewusstseins ist die wahrhaft wirkliche, die Welt der Bäumlichkeit ist
Erscheinung. VöUiff platonisch stellt Leibniz (Nouv. Ess. IV, 3) die intelliffible "Welt der
Substanzen den Erscheinungen der Sinne oder der materiellen Welt gegenüber, vgl. unten § 33 f.
— 2) Vgl. hauptsächlich die Correspondenz mit des Bosses. — 8) Princ. 11. — 4) Ibid. 3. —
5) Syst. nouv. 11. — 6) Monad. 13—16. — 7) Sehr glücklich kommt hierbei Leibniz (vgl.
a. a. 0.) die Zweideutigkeit von Representation (die übrigens auch das deutsche „vorstellen**
trifft) zu Statten, wonach das Wort einerseits „vertreten", andrerseits die Function des Be-
334 IV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
Mit diesen Gedanken verbinden sich nun bei Leibniz die der metaphy-
sischen Bewegung seit Descartes geläufigen Postulate der Isolirung der Sub-
stanzen gegen einander und der in dem gemeinsamen Weltgrunde entspringenden
Correspondenz ihrer Functionen. Beide Denkmotive sind in der Monadologie
am vollkommensten zum Austrag gekommen. Leibniz nennt die Kraftsubstanz
Monade^ — ein Ausdruck, der ihm auf verschiedenen Wegen der Tradition in
der Renaissance zufliessen mochte. Jede Monade ist den anderen gegenüber ein
vollkommen selbständiges Wesen, welches Einflüsse weder erfahren noch ausüben
kann. Die Monaden „haben keine Fenster", und diese Fensterlosigkeit ist
gewissermassen der Ausdruck ihrer „metaphysischen Undurchdringlichkeit"*).
Dieser Abgeschlossenheit nach aussen giebt aber Leibniz zuerst den positiven
Ausdruck, dass er die Monade für ein rein inneres Princip erklärt*): die
Substanz ist daher eine Kraft von immanenter Wirksamkeit: die Monade
ist nicht physischer, sondern seelischer Natur. Ihre Zustände sind Vor-
stellungen^ und das Princip ihrer Thätigkeit ist das Begehren (appetition), die
„Tendenz" von einer Vorstellung zur anderen überzugehen').
Jede Monade ist jedoch andrerseits ein „Spiegel der Welt", sie enthält
das ganze Universum als Vorstellung in sich ; darin besteht die Lebenseinheit
aller Dinge. Jede aber ist auch einlndividuum, von allen anderen unterschieden.
Denn es giebt nicht zwei gleiche Substanzen in der Welt"*). Wenn sich nun die
Monaden nicht durch den Vorstellungsinhalt unterscheiden, der vielmehr bei
allen derselbe'^) ist, so kann ihre Verschiedenheit nur in der Vorstellungsart zu
suchen sein, und Leibniz erklärt: der Unterschied der Monaden besteht nur in
dem verschiedenen Grade von Klarheit und Deutlichkeit, mit der sie
das Universum „repräsentiren". So wird Descartes' erkenntnisstheoretisches
Kriterium zum metaphysischen Prädicat, und zwar dadurch, dass Leibniz, ähnlich
wie Duns Scotus (vgl. S. 261), den Gegensatz des Distincten und des Confusen
als einen solchen der Vorstellungskraft oder der Intensität aufiksst. Daher gilt
die Monade als activ, sofern sie klar und deutlich, als passiv, sofern sie dunkel
und verworren vorstellt®): daher ist auch ihr Trieb (app6tition) auf den Uebergang
von den dunklen zu den klaren Vorstellungen gerichtet, und die „Aufklärung"
ihres eigenen Inhalts ihr Lebensziel. Auf jene Inten tisät der Vorstellungen aber
wendet Leibniz das mechanische Princip der unendlich kleinen Impulse an: er
nennt diese unendlich kleinen Bestandtheile des Vorstellungslebens der Monaden
petites perceptions^) und bedarf dieser Hypothese zur Erklärung dafür, dasa
nach seiner Lehre die Monade offenbar sehr viel mehr Vorstellungen hat, als sie
wusstseins bedeutet. Dass jede Substanz die übrigen „repräsentirt'^, heisst also einerseits, dass
Alles in Allem enthalten ist (Leibniz citirt das antike oujxirvo'.a icavta wie das omnia ubique
der Renaissance), andrerseits, dass jede Substanz alle übrigen „percipirt". Der tiefere Sinn
und die Rechtfertigung dieser Zweideutigkeit liegt aber darin, dass wir von der Vereinheit-
lichung eines Mannigfaltigen uns überhaupt keine andere klare und deutliche Vorstellung
machen können, als nach der Art der Verknüpfung, welche wir in der Function des Bewusst-
Beins (Synthesis nach Kant) in uns selbst erleben.
1) Monad. 7. Vgl. Syst. nouv. 14, 17. — 2) Monad. 11.-8) Ibid. 15—19. — 4) Leib-
niz sprach dies als das principium identitatis indiscernibilium aus (Mon. 9). — 5) Dabei übersah
freilich Leibniz, dass es in diesem Systeme des gegenseitigen Vorstellens der Substanzen zu
keinem realen Inhalt kommt. Die Monade a stellt er vor die Monaden b, c, d . . . . x. Aber was
ist die Monade b? Es ist wiederum die Vorstellung der Monaden a, c, d . . . . x. Dasselbe
gilt bei c u. s. f. bis ins Unendliche. — 6) Monad. 49. — 7) Ibid. 21.
§ 31. Substanz und Causalitat. (Leibniz.) 336
sich deren bewusst ist (vgl. unten § 33). Nach heutigem Ausdruck würden die
petites perceptions unbewusste Vorstellungen sein.
Solcher Verschiedenheiten giebt es aber unendlich viele^ und die Monaden
bilden nach dem Gesetz der Continuität — natura non facit saltum — eine un-
unterbrochene Stufenreihe, ein grosses Entwicklungssystem, welches von
den ^einfachen^ Monaden zu den Seelen und den Geistern aufsteigt'). Die nie-
dersten Monaden, welche nur dunkel und verworren, d. h. unbewusst vorstellen,
sich also nur leidend verhalten, bilden die Materie: die höchste Monade,
welche das Universum mit vollkommener Klarheit und Deutlichkeit vorstellt —
eben deshalb nur Eine — und somit reine Activität ist, heisst die Central-
monade — Gott. Indem aber jede dieser Monaden sich selbst auslebt, stimmen
sie vermöge der Gleichheit ihres Inhalts, in jedem Momente alle völlig mit ein-
ander überein ^), und dadurch entsteht der Schein der Wirkung einer Substanz
auf die andere. Dies Verhältniss ist die harmonie preetablie des substances
— eine Lehre, worin das von Geulincx und Spinoza flir die Beziehung der beiden
Attribute eingeführte Princip derCorrespondenz auf das Verhältniss der
Gesammtheit aller Substanzen ausgedehnt erscheint. Hier wie dort aber bedingt
dasselbe in seiner Ausführung die lückenlose Determination in der Thätigkeit
aller Substanzen, die strenge Nothwendigkeit alles Geschehens und den Aus-
schluss allen Zufalls und aller Freiheit im Sinne der Ursachlosigkeit. Auch Leibniz
rettet den Begriff der Freiheit für die endlichen Substanzen nur in der sittlichen
Bedeutung einer Herrschaft der Vernunft über die Sinne und die Leidenschaften').
Die prästabilirtc Harmonie, diese Seins- und Lebensverwandtschaft der
Substanzen, bedarf aber eines einheitlichen Erklärungsgrundes, und dieser
kann nur in der Centralmonade gesucht werden. Gott, der die endlichen Sub-
stanzen schuf, hat einer jeden seinen eigenen Inhalt in besonderer Abstufung der
Intensität des Vorstellens mitgegeben und damit sämmtliche Monaden so ein-
gerichtet, dass sie durchweg mit einander übereinstimmen. Und in dieser ihrer
noth wendigen Lebenscntfaltung, mit der ganzen mechanischen Determination ihrer
Vorstellungsabfolge verwirklichen sie den Zweck des schöpferischen Allgeistes.
Dies Verhältniss des Mechanismus zur Teleologie fiigt sich endhch auch den
erkenntnisstheoretischen Principien von Leibniz ein. Die Gottheit und die anderen
Monaden verhalten sich wie bei Descartes die unendlichen und die endlichen Sub-
stanzen. Für die rationalistische Auffassung aber ist nur das Unendliche ein
Denknothwendiges, das Endliche dagegen etwas „Zufälliges^ in dem Sinne, dass
es auch anders gedacht werden könnte, dass das Gegentheil keinen Widerspruch
enthielte (vgl. oben § 30, 7). So nimmt der Gegensatz der ewigen und der noth-
wendigen Wahrheiten metaphysische Bedeutung an: nur Gottes Sein ist eine
ewige Wahrheit; er existirt nach dem Satz vom Widerspruch mit logischer
oder absoluter Nothwendigkeit. Die endlichen Dinge aber sindzufällig, sie
existiren nur nach dem Princip des zureichenden Grundes vermöge ihrer Deter-
mination durch Anderes; die Welt und alles, was zu ihr gehört, hat nur bedingte,
hypothetische Nothwendigkeit. Diese Oontingenz der Welt führt Leib-
1) Princ. 4. Dabei wird die „Seele" als Centralmonade eines Organismus aufgefasst,
indem sie am deutlichsten die diesen constituirenden Monaden und danach erst mit genngerer
Deutlichkeit das übrige Universum vorstelle: Monad. 61 ff. — 2) Syst. nouv. 14. — 8) Eo magis
est libertas quo magis agitur ex ratione eta: Leibn. de libert. (Op. E. 669).
336 rV. Philosophie der Benaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
uiz mit Duns Scotus ') auf den Willen Gottes zurück. Die Welt könnte anders
sein; dass sie so ist, wie sie ist, verdankt sie der Auswahl, welche Gott zwischen
den vielen Möglichkeiten getroffen hat^).
So laufen in Leibniz alle Fäden der alten und der neuen Metaphysik zu-
sammen. Mit den in der Schule der Mechanik gebildeten Begriffen gestaltete er
die Ahnungen der Philosophie der Renaissance zu einem systematischen Ge-
dankenbau um, in welchem die Ideen des Griechenthums ihre Heimstätte mitten
zwischen den Erkenntnissen der modernen Forschung fanden,
8 32. Das Naturrecht
Auch die Rechtsphilosophie der Renaissance ist einerseits von den An-
regungen des Humanismus und andrerseits von den Bedürfnissen des modernen
Lebens abhängig. Die ersteren zeigen sich nicht nur in den Anlehnungen an die
antike Litteratur, sondern auch in der Wiedergeburt der antiken Staatsauffassung
und in der Anknüpfung an deren Tradition: die letzteren treten als theoretische
Verallgemeinerung deqenigen Interessen auf, mit welchen sich während dieser
Zeit die welthchen Staaten zu selbstherrlichen Lebensformen gestalteten.
1, Alle diese Motive zeigen sich zuerst beiMacchiavelli. In seiner Be-
wunderung des Römerthums spricht unmittelbar das italienische National-
gefühl, und aus dem Studium der alten Geschichte gewann er die Theorie des
modernen Staates wenigstens nach ihrer negativen Seite hin. Er forderte die
völlige Unabhängigkeit des Staats von der Kirche und führte Dante's ghibelli-
nische Staatslehre bis an die letzte Consequenz. Als das dauernde Hinderniss
eines italienischen Nationalstaates bekämpft er die weltliche Herrschaft desPapst-
thums, und so vollzieht sich bei ihm wie einst bei Occam und Marsilius von Padua
(vgl. S. 259) fUr das praktische Gebiet die allen Anfangen des modernen Denkens
gemeinsame Trennung des Geistlichen und des Weltlichen. Die Folge davon
aber war wie bei jenen NominaHsten, dass der Staat nicht teleologisch, sondern
rein naturalistisch als ein Product der Bedürfnisse und der Interessen auf-
gefasst wurde. Daraus erklärt sich die Rücksichtslosigkeit, mit der Macchiavelli
die Theorie von der Erwerbung und Erhaltung der fürstlichen Macht ausführte
und die Politik lediglich unter dem Gesichtspunkte des Interessenkampfes be-
handelte.
Das Verhältniss von Staat und Kirche erregte aber im 16. und 17 Jahr-
hundert gerade dadurch besonderes Interesse, dass es in den Kämpfen und Ver-
schiebungen der confessionellen Gegensätze eine immer wichtige, oft die ent-
scheidende Rolle spielte. Dabei kam es zu einer interessanten Vertauschung der
Auffassungen. Die protestantische Weltansicht, welche dem ersten Princip nach
die mittelalterliche Werthscheidung des Geistlichen und des Weltlichen änderte
und die weltlichen Lebenssphären „entprofanisirte", sah auch im Staat eine gött-
liche Ordnung, und die r ef o rm at oris che R e chtsph il o s op hi e unter Führung
Melanchthon's beschränkte das Recht des Staates mehr durch dasjenige der
unsichtbaren Kirche als durch die Ansprüche der sichtbaren: ja, der protestan-
1) Die Beziehungen Leibniz' zu dem grÖsstcn der Scholastiker sind nicht nur hierin,
sondern auch in vielen anderen Punkten zu erkennen; doch haben sie leider bisher noch nicht
die verdiente Beachtung oder Behandlung gefunden. — 2) Vgl. jedoch hierzu unten § 35.
§ 32. Naturrecht. (Morus, Bodinus, Grotius.) 337
tischen Staatskirche bot jene göttliche Mission der Obrigkeit einen werthvollen
Kückhalt. Viel weniger konnte sich dem modernen Staate die katholische
Kirche verpflichtet fühlen, und obwohl sie damit vom Thomismus abging, so
liess sie sich doch solche Theorien wie die von Bellarmin und Mariana gefallen,
in denen der Staat als menschliches Machwerk oder als ein Vertrag aufgefasst
wurde. Denn damit verlor er die höhere Autorität und gewissermassen seine
metaphysische Wurzel; er erschien aufhebbar: der menschliche Wille , der ihn
geschaffen, konnte ihn auch wieder lösen, und selbst sein Oberhaupt büsste die
absolute Unverletzlichkeit ein. Galt den Protestanten der Staat als unmittelbare
göttliche Ordnung, so bedurfte er für die Katholiken als menschliche Einrichtung
der Sanction der Kirche und sollte nicht mehr gelten, wo diese fehlte, sollte sie
aber nur dann erhalten, wenn er sich in den Dienst der Kirche stellte. So lehrte
Campanella, die spanische Welthen-schaft (monarchia) habe die Aufgabe, die
Schätze der fremden Welttheile der Kirche für die Bekämpfung der Ketzer zur
Verfugung zu stellen.
2* Auf die Dauer aber wichen diese Gegensätze der Rechtsphilosophie
dem confessionellen Indifferentismus, der auch in der theoretischen
Wissenschaft zur Herrschaft gelangt war, und indem der Staat wesentlich als
eine Ordnung der irdischen Dinge betrachtet wurde , fiel das Verhältniss des
Menschen zu Gott aus seinem Wirkungskreise heraus. Die Philosophie verlangte
für den Staatsbürger überhaupt das Recht, welches sie für sich selber in Anspruch
nahm, das Recht individuell freier Stellungnahme zu den religiösen Mächten der
Zeit, und sie wurde damit zur Verfechterin der Toleranz. Der Staat habe sich
um die religiöse Meinung der Einzelnen nicht zu kümmern, das Recht des Bürgers
sei von seiner Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Confession unabhängig,
— diese Forderung war das noth wendige Ergebniss der leidenschaftlich hin und her
wogenden Confessionsstreitigkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts. Darin kamen
ungläubige Gleichgültigkeit und positive üeberzeugung, die sich gegen anders-
gläubige Staatsmacht zu wehren hatte, überein.
In diesem Sinne schrieb schon Macchiavelli gegen die Alleinherrschaft der
römischen Kirche: vollständig ist das Princip der Toleranz zuerst von Thomas
Morus proklamirt worden. Die Bewohner der glückseligen Insel gehörenden
verschiedensten Confessionen an, die alle friedlich neben einander leben, ohne
dass der Verschiedenheit der religiösen Ansichten irgend eine politische Bedeu-
tung beigemessen würde. Sie haben sich sogar über einen gemeinsamen Cultus
geeinigt, den jede Partei in ihrem Sinne deutet und durch besondere Cultus-
formen ergänzt. Ebenso hat Jean Bo din in seinem Heptaplomeres hochgebildete,
typisch charakterisirte Vertreter nicht nur der christlichen Confessionen , son-
dern auch des Judenthums, des Mohammedanismus und des Heidenthums eine
allen gleich genügende Form der Verehrung Gottes finden lassen. In mehr ab-
stracter Weise endlich hat Hugo Grotius in den scharfen Unterscheidungen,
mit denen er die Principien der philosophischen Rechtswissenschaft vortrug, gött-
liches und menschliches Recht vollkommen gesondert, jenes auf die Offenbarung
und dieses auf die Vernunft gegründet, dabei aber auch eine ebenso scharfe und
durchgängige Trennung der Lebenssphären ihrer Anwendung verlangt.
Das classische Grundbuch aber für die Toleranzbewegung ist Spinoza's
theologisch-p oli tischer Tractat geworden, welcher den so viel behandelten
Windelband, Geschichte der Philosophie. 22
338 rV. Philosophie der Rcnaiesance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
Gegenstand an der Wurzel fasste. Unter Benutzung mancher Gedanken und
Beispiele aus der älteren, vom Averroismus beeinflussten jüdischen Litteratur
führte dies Werk den Nachweis, dass die Religion und insbesondere die rehgiösen
Urkunden weder die Aufgabe noch die Absicht haben, theoretische Wahrheiten
zu lehren, und dass das Wesen der Religion nicht in der Anerkennung einzelner
Dogmen, sondern in der Gesinnung und in dem dadurch bestimmten Wollen
und Handeln bestehe. Daraus aber folge unweigerhch, dass der Staat noch
weniger Grund oder^ Recht habe, sich um die Zustimmung seiner Bürger zu
besonderen dogmatischen Lehren zu kümmern, dass er vielmehr kraft seiner
realen Macht jeden Versuch zum Gewissenszwange , der von irgend einer der
kirchlich organisirten Formen des religiösen Lebens ausgehe, in seine Schranken
zurückzuweisen habe. Die mystisch tiefe Religiosität Spinoza's entfremdet ihn
der dogmatischen Herrschaft der Kirchen und dem Glauben an den Wortlaut
ihrer historischen Urkunden. Er macht das Princip geltend, dass die religiösen
Bücher ihrem theoretischen Inhalt nach ebenso wie alle anderen Erscheinungen
der Litteratur historisch erklärt, d.h. aus dem intellectueUen Zustande ihrer Ver-
fasser begriffen werden müssen, und dass diese historische Kritik jenen
theoretischen Vorstellungsweisen die bindende und normative Bedeutung für
eine spätere Zeit nimmt.
3« Zu den politischen und kirchenpolitischen Literessen gesellten sich die
so cialen. Keiner hat ihnen beredteren Ausdruck gegeben als Thomas Morus.
Das erste Buch der Utopia kommt mit einer ergreifenden Schilderung des Elendes
der Massen zu dem Schluss , dass die Gesellschaft besser thäte statt der drako-
nischen Gerechtigkeit, mit der sie die Verletzung ihrer Gesetze straft, die Quellen
des Verbrechens zu verstopfen; der Verfasser führt aus, dass an dem Unrecht
des Einzelnen der grössere Theil der Schuld den verkehrten Einrichtungen des
Ganzen zufalle. Diese aber bestehen in der durch den Gebrauch des Geldes
herbeigeführten Ungleichheit des Besitzes, welche den Anlass zu allen Ver-
irrungen der Leidenschaft, des Neides und des Hasses giebt. Das Idealbild,
welches Moore im Gegensatze dazu von dem vollkommenen Zustande der Gesell-
schaft auf der Insel Utopia entwirft, ist in seinen Grundzügen dem platonischen
Idealstaate nachgebildet. Diese humanistische Erneuerung aber unterscheidet
sich von ihrem Urbilde in einer für den modernen Socialismus charakteristischen
Weise durch die Aufhebung der Standesunterschiede, welche dem an-
tiken Denker durch seine Reflexion auf die thatsächlich gegebene Verschieden-
heit in dem intellectueUen und moralischen Bestände der Individuen nothwendig
erschienen waren. In einer für die folgende Entwicklung vorbildHchen Abstrac-
tion geht Morus von dem Gedanken der rechtlichen Gleichheit aller Staats-
bürger aus, und die Formen der Lebensgemeinschaft, welche Piaton von den
herrschenden Klassen als Verzicht auf die natürlichen Triebe nach individueller
Interessensphäre verlangt hatte, verwandelte Morus in eine Gleichheit des An-
spruchs aller Bürger. Bei Piaton sollten die Bevorzugten, um sich ganz dem
allgemeinen Wohl zu widmen, auf allen Eigenbesitz verzichten: bei Morus wird
die Aufhebung des Eigenthums als sicherstes Mittel zur Abschaffung der Ver-
brechen verlangt und durch die Gleichheit des Anspruchs aller an den Gesammt-
besitz begründet. Dabei aber hält der englische Kanzler noch so weit an dem
idealen Vorbilde des antiken Philosophen fest, als er diese ganze Gleichtheilung
§ 32. Naturrecht. (Baoon, Campanella.) 339
der materiellen Interessen als die unerlässliche Grundlage dafür behandelt, dass
allen Staatsbürgern gleichmässig der Genuss der idealen Güter der Gesellschaft,
der Wissenschaft und der Kunst, ermöghcht werden soll. Ein sechsstündiger
Normalarbeitstag aller Mitglieder der Gesellschaft, meinte er, werde genügen,
um alle äusseren Bedürfhisse der Gesammtheit zu befriedigen: die übrige Zeit
solle jedem frei zu edlerer Beschäftigung bleiben. Mit diesen Bestimmungen er-
wächst bei Morus aus dem platonischen Entwurf das Programm fiir alle höheren
Formen des modernen Socialismus.
Aber der Geist der Renaissance war von noch viel weltlicheren Interessen
beseelt. Durch den Zauber der Entdeckungen gereizt, vom Glanz der Erfindungen
geblendet, stellte er sich die Aufgabe, den gesammten äusseren, auf die natür-
lichen Lebensbedingungen gerichteten Zustand der menschlichen Gemeinschaft
durch seine neuen Einsichten umgestalten zu können, und er sah vor sich ein
Ideal der Behaglichkeit des Menschenlebens, welches sich aus einer voll-
kommenen und systematischen Ausnutzung der durch die Wissenschaft ermög-
lichten Kenntniss und Beherrschung der Natur entwickeln werde. Alle socialen
Schäden werden dadurch geheilt werden, dass die menschhche Gesellschaft durch
die wissenschaftliche Steigerung der äusseren üultur über alle Sorgen und alle
Noth, die sie jetzt bedrängen, hinausgehoben wird. Einige Erfindungen wie
Compass , Buchdruckerkunst und Schiesspulver, sagt Bacon , haben genügt , um
dem Menschenleben neue Bewegung, grössere Dimensionen, mächtigere Entfal-
tung zu geben: welche Umgestaltungen stehen uns bevor, wenn das Erfinden
erst eine zweckvoll geübte Kunst sein wird ! So wii'd das sociale Problem auf
eineVerbesserung des materiellen Zustandes derGesellschaft hinüber-
geleitet.
In Bacon's Nova Atlantis^) wird ein glückliches Inselvölkchen vor-
geführt, das in sorgfaltig bewahrter Verborgenheit durch geschickte Massregeln
von den Culturfortschritten aller anderen Völker Kenntniss erhält und dabei
selbst durch systematischen Betrieb des Forschens, Entdeckens und Erfindens
die Beherrschung der Natur für die praktischen Interessen des Menschenlebens
auf das Höchste steigert. Da werden in phantastischer Ahnung allerlei mögliche
und unmögliche Erfindungen erzählt^), und die ganze Thätigkeit des „salomoni-
schen Hauses" ist auf die Verbesserung des materiellen Wohlbefindens der Gesell-
schaft gerichtet, während die Schilderung der staatlichen Verhältnisse nur ober-
flächlich und unbedeutend ist.
Dagegen kommt es in Campanella's Sonnenstaat, in welchem die
Nachwirkungen der „Utopia" von Morus sehr stark bemerkbar sind, zu einem
vollständigen, sogar pedantisch bis in alle kleinen Verhältnisse geordneten Ent-
wurf des socialistischen Zukunftsstaates, der nach keiner Richtung
vor der äussersten Vergewaltigung der Freiheit individueller Lebensbewegung
1) Der Titel dieser Utopie und manches Andere darin ist eine Reminiscenz an Platon^s
Fragment des Kritias (113 f.) — 2) Da fehlen zu Mikroskop und Teleskop nicht Mikrophon
und Telephon ; da giebt's riesige Sprengstoffe, Flugmaschinen, allerlei Werke mit Lufl- und
Wasserkraft und sogar „einige Arten" des perpetuum mobile ! Besonderen Werth aber legt
der Verf. darauf, wie durch bessere Pflanzen- und Thierzucht, durch ungeahnte chemische
Entdeckungen, durch Bäder und Luftkuren die Krankheiten vertrieben und das Leben ver-
längert werden sollen: auch Experimente an Thieren werden im Interesse der Medicin ein-
geführt.
22*
340 IV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
zurückschreckt. Von dorn mathematisch abgezirkelten Plan der Reichsstadt bis
zur Stundeneintheilung des täglichen Arbeitens und Geniessens, bis zur Bestimmung
des Berufs, bis zur Paarung, bis zur astrologisch vorbestimmten Stunde der Be-
gattung geschieht hier alles aus staatKcher Anordnung zum Wohle des Ganzen,
und ein vielgegliedertes, sorgfaltig (unter Beimischung metaphysischer Motive *)
ausgeklügeltes System der Bureaukratie baut sich auf der Abstufung des Wissens
auf. Je mehr einer weiss, um so mehr Macht soll er im Staate haben, um durch
seine Kenntniss den Naturverlauf zu regeln und zu verbessern. Die Gesichts-
punkte dieser Verbesserung aber richten sich auch bei Campanella wesentlich
auf die äussere Cultur. Bei ihm sollen sogar vier Stunden Tagesarbeit im Durch-
schnitt genügen, um das Wohlleben der Gesellschaft zu sichern, und an dieses
auch wieder Alle gleichen Anspruch haben.
4, Bei aller Abenteuerlichkeit und Wunderlichkeit ^) kommt aber doch in
Campanella's Sonnenstaat mehr noch als in Moore's Utopie der Gedanke zur
Geltung, dass der Staat ein Kunstwerk der menschhchen Einsicht zur Hebung
der socialen Schäden sein solle. Beide Männer wollen so wenig wie Piaton ein
blosses Phantasiegebilde aufstellen, sie glauben an die Möglichkeit, ^die beste
Staatsverfassung" durch vernünftige Reflexion auf eine naturgemässe Ordnung
der socialen Verhältnisse zu verwirklichen. Sie stiessen damit freilich auf manchen
Widerstand. Schon Cardanus bekämpfte die Utopien im Princip und empfahl
statt ihrer der Wissenschaft die Aufgabe, die Nothwendigkeit zu begreifen, mit
welcher die wirkHchen historischen Staaten in ihrer besonderen Bestimmtheit
sich aus dem Charakter, den Lebensverhältnissen und den Erlebnissen der Völker
entwickeln; er will sie als Naturproducte wie Organismen betrachtet und auf
ihre Zustände die medicinischen Kategorien von Gesundheit und Krankheit
angewendet wissen. In grösserem Style und firei von der pythagoreischen Astro-
logie, in der sich der Mathematiker Cardanus erging, dafür aber mit stark con-
structiver Phantasie hat der praktische Staatsmann Bodin die Mannigfaltigkeit
der historischen Wirklichkeit im Staatsleben zu begreifen gesucht.
Allein der Zug der Zeit ging mehr darauf, ein für alle Zeiten und Verhält-
nisse gleichmässig in der Natur begründetes und durch Vernunft aUein zu er-
kennendes Recht zu suchen: wollte doch ein Mann wie Albericus Gentilis
durch kindlich- plumpe Analogien privatrechtUche Principien auf physicalische
Gesetze zurückführen. Festeren und fruchtbareren Boden gewann man, wenn statt
der allgemeinen „Natur" die menschliche Natur genommen wurde. Das ge-
schah von Hugo Grotius. Wie Thomas von Aquino fand er imGeselligkeits-
bedürfniss das Grundprincip des natürlichen Rechts, und in der logischen
Deduction die Methode seiner Entwicklung. Was die Vernunft als mit der ge-
selligen Natur des Menschen übereinstimmend und daraus folgend erkennt, daiin
besteht das durch keine geschichthche Wandlung abzuändernde ins naturale*).
Der Gedanke eines solchen absoluten Rechts, welches nur durch seine Begrün-
dung in der Vernunft unabhängig von staatlicher Macht und vielmehr als deren
1) Dem obersten Herrscher — Sol oder Metaphysicus — , der das ganze Wissen in
sich verkörpern muss, unterstehen zunächst drei Fürsten, deren Wirkungskreise den drei
-„Primalitäten" des Seins, Macht, Weisheit und Liebe (vgl. § 29, 3) entsprechen, u. s. w. —
2) Abenteuerlich ist besonders der starke Zusatz astrologisch-magischen Aberglaubens, wunder-
lich die mönchisch-rohe Behandlung sexueller Verhältnisse. — S) De iur. bell, et pac. 1, 1, 10.
§82. Naturrecht. (Hobbes.) 341
letzter Grund bestehe, war Grotius durch die Analogie des Völkerrechts nahe
gelegt, welchem seine Untersuchung zunächst galt. Andrerseits aber wurde ver-
möge dieses sachlichen Princips das Privatrecht massgebende Voraussetzung auch
für das Staatsrecht. Befriedigung individueller Interessen, Schutz des Lebens
und Eigenthums erschien als wesentUcher Zwecldnhalt der Rechtsordnung. In
formeller und methodischer Hinsicht dagegen war dies philosophische Rechts-
System durchaus constructiv; es sollte nur die logischen Consequenzen des Princips
der Geselligkeit ziehen. In gleicher Weise galt auch für Hobbes das corpus
politicum als eine aus dem Begriffe ihres Zwecks durch reine Verstandesthätigkeit
abzuleitende Maschine und die philosophische Rechtslehre als eine vollkommene
demonstrirbare Wissenschaft. Damit aber erschien dies Feld in hervorragendem
Masse zur Anwendung der geometrischen Methode geeignet, und Pufendorf
iührte den ganzen Apparat derselben ein, indem er, Grotius und Hobbes com-
binirend, das ganze System synthetisch aus dem Gedanken entwickelte, dass der
Selbsterhaltungstrieb des Individuums sich vernünftiger und erfolgreicher Weise
nur in der Befriedigung des Geselligkeitsbedürfnisses erfüllen könne. In dieser
Form hat das Naturrecht als Ideal einer ^geometrischen^ Wissenschaft bis weit
in das 18. Jahrhundert hinein (Thomasius, Wolflf, ja bis Fichte und Schelling) be-
standen und den allgemeinen Niedergang des cartesianischen Princips überdauert.
5. Sachhch aber war damit der letzte Grund des öffentlichen Lebens und
des gesellschafthchen Zusammenhanges in die Interessen der Individuen
verlegt: die Mechanik des Staats fand in der Triebbestimmtheit des Einzel-
menschen jenes selbstverständliche und einfache Moment ^), woraus nach Galilei-
schem Princip die zusammengesetzten Gebilde des Rechtslebens erklärt werden
konnten. Damit ging auch die Staatslehre auf die epikureische ^) Theorie des
gesellschaftlichen Atomismus (vgl. S. 137) zurück, und das synthetische Princip^
wodurch das Zustandekommen des Staats begriffen werden sollte^ war der Ver-
trag. Von Occam und Marsilius bis zu Rousseau^ Kant und Fichte hat diese
Vertragstheorie das philosophische Staatsrecht beherrscht. Grotius und Hobbes
haben ihr die sorgfaltigste Ausfiihrung gewidmet. An den Staatsvertrag; durch
welchen die Individuen sich zu einer Interessengemeinschaft vereinigen, schliesst
sich der Herrschafts- oder ünterwerfungsvertrag, vermöge dessen die Einzelnen
ihr Recht und ihre Macht auf die Obrigkeit übertragen. Das erwies sich als ein
allgemeiner Rahmen, in den die verschiedensten politischen Ansichten passten.
Während Grotius und ebenso Spinoza die Interessen der Bürger am besten durch
eine aristokratisch -repubUkanische Verfassung gewährleistet fanden , konnte
Hobbes von derselben Voraussetzung her seine Theorie des rein weltlichen
Absolutismus deduciren, wonach die Staatsgewalt in Einer Persönlichkeit, der
allgemeine Wille in dem Einzelwillen des Herrschers unverbrüchlich vereinigt
sein sollte.
Auf das Engste verbunden erscheint mit der Vertragstheorie die Ausbildung
des Begriffs der Souveränetät. Die Quelle aller Herrschergewalt ist danach
der Volkswille, aus dem der Staats- und Unterwerfungsvertrag hervorgegangen
ist : der eigentliche Träger der Souveränetät ist das Volk. Indessen wird nun
1) Der Terminus „conatus'* trifft In diesem Sinne bei Hobbes und Spinoza ftir beide
Gebiete, das physische wie das psychische, zu. — 2) Wie auf dem theoretischen Gebiet, so
erringt i^ucb auf dem praktischen das demokritisch-epikureische Princip einen späten Sieg.
342 IV. Philosophie der RenaissaDce. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
jener Veitrag und die damit vollzogene Macht- und Rechtübertragung von den
Einen als unwiderruflich, von den Anderen als widerruflich angesehen. So behauptet
Bodin trotz der Lehre von der Volkssouveränetät die Unbeschränktheit und be-
dingungslose Geltung der königlichen Gewalt, die Unverletzlichkeit des Herr-
schers und die Unberechtigtheit jeden Widerstandes gegen ihn : noch vollständiger
aber erscheint bei Hobbes die Souveränetät des Volkes in derjenigen des Mon-
archen aufgesogen, dessen Wille hier ganz im Sinne des L'etat c'est moi als
alleinige Rechtsquelle im positiven Staatsleben gilt. Im Gegensatz dazu^ und
der Voraussetzung nach entschieden consequenter, behaupteten die „monarcho-
machischen Theorien", deren Hauptvertreter nebenBuchanan (1506— 1582)und
Languet (1518 — 1581) der Niedersachse Althus ist, dass der Herrschafts-
vertrag hinfalUg werde, sobald die Obrigkeit nicht mehr recht, d. h. nicht mehr
im Interesse und nach dem Willen des Volkes regiert. Wird der Vertrag von
der einen Seite gebrochen, so ist er auch für die andere nicht mehr verbindlich :
in dieser Lage fällt die Souveränetät wieder an ihren ursprünglichen Träger
zurück. Hat der Mensch mit Absicht und Ueberlegung den Staat gemacht, so
hebt er ihn wieder auf, wenn sich zeigt, dass die Absicht verfehlt wird. So be-
reitet schon die Renaissance die Theorie der Revolution vor^).
Ihre besondere Färbung aber erhalten alle diese Theorien durch die kir-
chenpolitischen Rücksichten, wonach die unumschränkte Gewalt des Herr-
schers je nach seinem Verhältniss zu den Confessionen entweder als gefahrlich
oder als forderlich empfunden wurde. Den radicalsten Standpunkt der Real-
politik nahm vermöge seines religiösen Indifferentismus Hobbes ein: Religion
ist Privatmeinung, und staatliche Geltung hat nur diejenige, zu welcher sich der
Souverän bekennt. Keine andere Rehgion oder Confession kann im öffentlichen
Leben geduldet werden. Hobbes gab die philosophische Theorie für das histo-
rische Cuius regio iUius religio. Und Spinoza schloss sich ihm an. Er trat
für Gedankenfreiheit und gegen allen Gewissenszwang auf, aber ihm war die
Rehgion nur Erkenntniss und Gesinnung; für das öffentliche Erscheinen der
ReUgiosität in Kirche und Gottesdienst sollte im Interesse der Ordnung und
des Friedens nur die Bestimmung der Obrigkeit gelten. In positiverem Sinne
erklärte sich die protestantische Rechtsphilosophie für die kirchen-
politische Souveränetät des Königthums von. Gottes Gnaden, während auch
in ihr, z. B. bei Althus, einer andersgläubigen Obrigkeit gegenüber die Sou-
veränetät des Volkes vertheidigt wurde. Dasselbe Motiv entschied da, wo die
Jesuiten die Absetzbarkeit der Obrigkeit und die Entschuldbarkeit des Fürsten-
mordes behaupteten (vgl. oben).
6. Die Begründung der Vertragstheorie beruhte bei Hobbes auf all-
gemeineren Motiven. Wenn das gesellschafthche und staatliche Leben aus der
„menschlichen Natur" begriffen werden sollte, so fand der englische Philosoph
deren alles bestimmenden Grundzug in dem Selbsterhaltungstriebe oder
dem Egoismus, dem einfachen, selbstverständHchen Erklärungsprincip für das
ganze Willensleben, Dabei liessen die materialistische Metaphysik und die
1) Mit specieller AnwenduDg auf die englischen Zustande des 17. Jahrhunderts und
das Recht der damaligen „Revolution'' sind diese Frincipien von dem Dichter John Milton
(Defensio pro populo Anglicano 1651) und von Algemon Sidney (Discourses of govenunent
1683) vertreten worden.
§ 32. Naturrecht. (Hobbes, Spinoza.) 343
sensualistische Psychologie (vgl. § 31) diesen Selbsterhaltungstrieb seinem ur-
sprünglichen Wesen nach nur auf die Erhaltung und Förderung der sinnlichen Exi-
stenz des Individuums gerichtet erscheinen. Alle anderen Gegenstände des Willens
konnten nur als Mittel zur Herbeiführung jenes obersten Gesammtzwecks gelten.
Diesem Princip gemäss gab es auch für den Menschen als Naturwesen keine
andere Norm der Beurtheilung als diejenige der Förderung oder Hemmung^ des
Nutzens oder Schadens: die Unterscheidung des Guten und des Bösen, des
Gerechten und des Ungerechten ist nicht auf dem individuellen^ sondern nur
auf dem socialen Standpunkte möglich, wo statt des einzelnen das gemeinsame
Interesse den Massstab bildet. So wurde der Egoismus zum Princip der
gesammten praktischen Philosophie; denn wenn der Selbsterhaltungstrieb
des Individuums durch das Gebot des Staats beschränkt und corrigirt werden
sollte^ so galt dieser Staat selbst als die künstlichste und vollkommenste aller der
Vorrichtungen, welche der Egoismus getroffen hat, um seine Befriedigung zu
erreichen und zu sichern. Der Naturzustand, in welchem ursprünglich der
Egoismus eines Jeden gegen den jedes Andern steht, ist der Kampf Aller
gegen Alle: ihm zu entrinnen, ist der Staat als ein Vertrag zu gegenseitiger
Gewährleistung der Selbsterhaltung gegründet worden. Das Geselligkeits-
bedürfniss ist nicht ursprünglich : es ergiebt sich nur mit Noth wendigkeit als das
leistungsfähigste und sicherste Mittel zur Befriedigung des Egoismus.
Diese Lehre nahm Spinoza an, gab ihr aber durch Einfügung in seine
Metaphysik eine idealere Bedeutung. „Suum esse conservare" ist auch für ihn
Quintessenz imd Grundmotiv alles Wollens. Da aber jeder endliche Modus gleich-
massig beiden Attributen angehört, so richtet sich sein Selbsterhaltungstrieb
ebenso auf seine bewusste Thätigkeit, d. h. sein Wissen, wie auf seine Be-
hauptung in der körperlichen Welt, d. h. seine Macht. Dies auf die baconische
Identität von Wissen und Macht gedeutete Individualstreben bildet dann für
Spinoza nach dem Princip, dass das Recht eines Jeden so weit reiche wie seine
Macht, den Erklärungsgrund für das empirische Staatsleben, wobei er sich der
Hauptsache nach in den Bahnen von Hobbes bewegt und nur in Betreff der
Ansicht über die zweckentsprechendste Verfassungsform, wie oben bemerkt, von
ihm abweicht. Dieselbe Begriffsverschlingung aber bietet sich Spinoza auch als
Ausgangspunkt für seine mystisch-religiöse Tugendlehre dar. Denn da das wahre
„esse^ jedes endlichen Dinges die Gottheit ist, so ist die einzig vollkommene
Befriedigung des Selbsterhaltungstriebes in der „Liebe zu Gott" zu finden. Dass
Malebranche, der über den „atheistischen Juden'^ so heftig sprach, „mit ein
bischen anderen Worten" dasselbe lehrte, ist schon oben (§ 31, 4) erwähnt
worden.
7. Lebhaften Widerspruch fand Hobbes' Theorie des Egoismus — das
selfish System, wie man später meist sagte — bei seinen Landsleuten *). Die
Zurückfuhrung ausnahmslos aller Willensthätigkeiten auf den Selbsterhaltungs-
trieb erregte zugleich sittliche Empörung und den theoretischen Widerspruch
psychologischer Erfahrung. Den Kiampf gegen Hobbes nahm zunächst die neu -
platonische Schule von Cambridge auf, deren litterarische Hauptvertreter
1) Vgl. J. Talloch, Rational theology and Christian phUosophy in England in the
1 7 th Century. (London 1872J.
344 rV. Philosophie der Renaissance. 2. Naturwissenschaftliche Periode.
Ralph Cudworth und Henry More sind. In diesem Kampfe aber ent-
wickelte sich nach antikem Vorbilde der Gegensatz von (pöotc und ^ou;. Für
Hobbes entsprangen Recht und Sittlichkeit gesellschaftlicher Satzung; für
seine Gegner waren sie ursprüngliche und unmittelbar gewisse Forderungen der
Natur. Beide Theile hielten der theologisch- dogmatischen Begründung der
praktischen Philosophie die lex naturaUs entgegen: aber fiir Hobbes war das
Naturgesetz die demonstrirbare Consequenz des wohlverstandenen Egoismus;
für die „Platoniker" war es eine unmittelbare, dem menschlichen Geiste ein-
geborene Gewissheit.
In demselben Sinne ging Cumberland gegen Hobbes vor. Er wollte
die Socialität des Menschen für ebenso ursprünglich angesehen haben wie seinen
Egoismus: die „wohlwollenden", altruistischen Neigungen, deren Thatächlich-
keit nicht zu bezweifeln ist, sind unmittelbar selbständige Gegenstände der Selbst-
wahrnehmung •, das „GeselUgkeitsbedürfniss" ist nicht erst das raffinirte Product
kluger Selbstsucht, sondern — wie es Hugo Grotius aufgefasst hatte — ein pri-
märes, constitutives Merkmal der menschlichen Natur. Wenn der Egoismus auf
das Eigenwohl abzielt, so sind die altruistischen Motive auf das Gesammtwohl
gerichtet, ohne welches das Eigenwohl nicht möglich ist. Diese Verknüpfung,
welche bei Hobbes an die kluge Einsicht des Menschen gebunden erschien, gilt
für Cumberland als eine Bestimmung Gottes, dessen Befehl daher als das autori-
tative Princip für die Befolgung der in den wohlwollenden Neigungen sich aus-
sprechenden Anforderungen betrachtet wird.
Der natürlichen Vernunftmoral, welche so einerseits gegen die
Orthodoxie andrerseits gegen den Sensualismus verfochten wurde, tritt die na-
türliche Vernunftreligion an die Seite, weche von Herbert von Cher-
bu ry gegen dieselben beiden Fronten aufgestellt worden war. Auch die Religion
soll weder auf historische OfiFenbarung noch auf menschliche Satzung begründet
werden: sie gehört zum eingeborenen Besitz des menschlichen Geistes. Der con-
sensus gentium beweist — so argumentirt Herbert in altstoischer Weise — ,
dass der Glaube an die Gottheit ein nothwendiger Bestandtheil der menschlichen
Vorstellungswelt, eine Forderung der Vernunft ist: aber als wahrer Inhalt
der Rehgion, den Dogmen der Rehgionen gegenüber, kann deshalb auch nur das
Bestand haben, was jenen Forderungen der Vernunft entspricht.
So spielen sich in der durch Hobbes angeregten, sehr lebhaften Discussion
der enghschen Litteratm* die Fragen der praktischen Philosopliie allmälilich auf
das psychologische Gebiet hinüber. Was ist im menschlichen Geiste — so
lautet das Problem — der Ursprung von Recht, Moral und Religion? Damit
aber leiten sich die Bewegungen der Aufklärungsphilosophie ein.
345
V. Theil.
Die Philosophie der Anfklärung.
Ausser der Litteratur auf S. 275 sind zu vergleichen:
Lkslib Stephen, History of English thought in the 18 th Century. London 1876.
J. Mackintgsh, On the progress of ethical philosophy during the 1 7th and 18*h centuries ;
Edinburg 1872.
Ph. Damiron, Memoires pour servir k Thistoire de la philosophie au 18 i^™« siöcle.
3 Bde. Paris 1868— 64.
E. Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. München 1873.
Dazu n. Hettner, Litteraturgeschichte des 18. Jahrh. 3 Thle.
Der natürliche Rhythmus des intellectuellen Geschehens brachte es mit
sich, dass in der modernen wie in der griechischen Philosophie auf eine erste
kosmologisch- metaphysische Periode ein Zeitraum wesentlich anthropologischen
Charakters folgte, und dass damit wiederum das neu erwachte rein theoretische
Streben der Philosophie einer praktischen Auffassung derselben als Weltw^is-
heit weichen musste. In der That finden sich alle Züge der griechischen
Sophistik mit gereifter Gedankenfülle, mit ausgebreiteter Mannigfaltigkeit, mit
vertieftem Inhalt, aber deshalb auch mit verschärfter Energie der Gegensätze in
der Philosophie der Aufklärung wieder, deren zeitUche Ausdehnung un-
gefähr mit dem 18. Jahrhundert zusammenfallt. An die Stelle Athen's tritt
die ganze Breite der geistigen Bewegung in den europäischen Culturvölkern, und
die wissenschaftliche Tradition zählt nun ebensoviel Jahrtausende , wie damals
Jahrhunderte : aber die gesammte Richtung und die Gegenstände, die Gesichts-
punkte und die Ergebnisse des Philosophirens zeigen in diesen beiden zeithch so
weit geschiedenen und ihrem Culturhintergrunde nach so sehr verschiedenen
Perioden eine lehrreiche Aehnlichkeit und Verwandtschaft. Es waltet in beiden
dieselbe Einkehr in das Subject, dieselbe zweifelvoll überdrüssige Abwendung
von metaphysischer Grübelei, dieselbe Voriiebe für eine empirisch -genetische
Betrachtung des menschlichen Seelenlebens, dieselbe Forschung nach der Mög-
Hchkeit und den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntniss und dieselbe Leiden-
schaftlichkeit in der Discussion der Probleme des gesellschafthchen Lebens: nicht
minder charakteristisch endUch ist für beide Zeitalter das Eindringen der Philo-
sophie in die breiten Kreise der allgemeinen Bildung und die Verschmelzung der
wissenschaftlichen mit der litterarischen Bewegung.
Für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts aber war die Grundlage in den
allgemeinen Zügen einer weltlichen Lebensansicht gegeben, wie sie während
der Renaissance durch die frischen Bewegungen in Kunst, Religion, Staat und
Naturforschung herausgearbeitet worden waren. Hatten diese im 17. Jahrhundert
zunächst ihre metaphysische Formulirung gefunden, so kam nun wieder die Frage
in den Vordergrund, wie in dem Rahmen der neuen Weltanschauung der Mensel^
346 V. Philosophie der Aufklärung.
sein eigenes Wesen und seine eigene Stellung aufzufassen habe : und vor dem
Werthe, den man auf diese Frage legte, trat das Interesse an der Verschieden-
heit der metaphysischen Begriffe, worin jene Weltanschauung niedergelegt
worden war, immer entschiedener zurück. Man begnügte sich mit den allgemeinen
Umrissen derselben, um desto eingehender sich mit den Fragen des Menschen-
lebens zu beschäftigen, und alle die Lehren der Aufklärung, welche so heftig
gegen die Speculation polemisiren, arbeiten im Grunde genommen von Anfang an
mit einer Metaphysik des „gesunden Menschenverstandes", der zuletzt
seine Stimme so laut erhob, und der doch schliesslich nur dasjenige als selbst-
verständliche Wahrheit voraussetzte , was ihm aus dem Ertrag der Arbeit der
vorhergehenden Jahrhunderte zugefallen war.
Die Anfange der Aufklärungsphilosophie sind in England zu suchen, wo
bei den geordneten Zuständen, welche dem Abschluss der Revolutionsperiode
folgten, ein mächtiger Aufschwung des htterarischen Lebens auch die Philosophie
für die Interessen der allgemeinen Bildung in Anspruch nahm. Von England
verpflanzte sich diese Litteratur nach Frankreich: hier aber wirkte der Gegen-
satz der Ideale, welche sie mit sich brachte, zu der socialen und politischen Wirk-
lichkeit derartig, dass nicht nur der Vortrag der Gedanken von vornherein er-
regter, heftiger war, sondern auch die Gedanken selbst sich schärfer zuspitzten
und ihre negative Energie gegen das in Staat und Kirche Bestehende kräf-
tiger hervorkehrten. Von hier aus zunächst, dann aber auch von directer Ein-
wirkung aus England*) übernahm Deutschland die aufklärerischen Ideen, für
die es in mehr theoretischer Weise schon selbständig vorbereitet war: und hier
fanden diese ihre letzte Vertiefung und eine Reinigung und Veredlung durch ihr
Aufgehen in die deutsche Dichtung, mit welcher sich die Renaissance
des classischen Humanismus vollendete.
Der Führer der englischen Aufklärung ist John Locke dadurch ge-
worden, dass er eine populäre Form empirisch-psychologischer Darstellung fiir
die allgemeinen Umrisse der cartesianischen WeltauflFassung fand. Während dann
derenjmetaphysische Tendenz in Berkeley noch einen idealistischen Nachspröss-
ling hervorbrachte, breitete sich die anthropologisch-genetische Betrachtungs-
weise schnell und siegreich über alle Probleme der Phüosophie aus. Dabei blieb
der Gegensatz zwischen der sensualistischen Associationspsychologie
und den nativistischen Theorien verschiedenen Ursprungs für die Entwick-
lung massgebend. Er beherrschte die lebhafte Bewegung der Moralphilo-
sophie und die damit zusammenhängende Ausbildung des Deismus und der
Naturreligion: und er fand seine schärfste Ausprägung auf dem erkenntniss-
theoretischen Gebiete, wo der consequenteste und tiefste der englischen Denker,
David Hume, den Empirismus zum Positivismus entwickelte und dadurch
den Widerspruch der schottischen Schule hervorrief.
Als der Pionier der französischen Aufklärung erscheint Pierre Bayle,
dessen Dictionnaire die Anschauungen der gebildeten Welt völlig in die Richtung
der religiösen Skepsis lenkte ; und nach dieser Seite hauptsächlich wurde dann
auch die englische Litteratur in Paris aufgenommen. Voltaire ist der grosse
1) Vgl. G. Zart, Der Einfluss der englischen Phüosophen auf die deutsche Phüos, des
lajahrh. (Berlin 1881).
^
V. Philosophie der Auf klaning. 347
Schriftsteller, welcher nicht nur dieser Wendung den beredtesten Ausdruck ge-
geben, sondern auch die positiven Momente der Aufklärung in der nachdi-ück-
lichsten Weise vertreten hat. Aber die Entwicklung drängte mit viel grösserer
Wucht auf die negative Seite. In dem gemeinsamen Denken der En cyclo -
pädisten vollzog sich Schritt für Schritt der Umschwung vom Empirismus zum
Sensuahsmus, vom Naturalismus zum Materialismus, vom Deismus zum Atheis-
mus, von der enthusiastischen zur egoistischen Moral. Solcher Aufklärung
des Verstandes, deren gesammte Linien in dem Positivismus Condillac's
zusammenliefen, trat in Rousseau eine Gefühlsphilosophie von elemen-
tarer Gewalt gegenüber, um zur intellectuellen Gestaltung der Revolution
zu führen.
Deutschland war für die aufklärerische Bewegung schon durch dieLeib-
niz'sche Philosophie und den grossen Kathedererfolg, welchen Wolflf mit ihrer
Umbildung erzielte, gewonnen: aber hier überwog bei dem Mangel eines einheit-
lichen öfifentUchen Interesses die Tendenz der individuellen Bildung. Für
deren Zwecke wurden die Ideen des ^philosopliischen Jahrhunderts'' auf psycho-
logischem und erkenntnisstheoretischem, wie auf moralischem, politischem und
religiösem Gebiete mit grosser Mannigfaltigkeit, aber ohne principielle Neu-
schöpfung verarbeitet, bis der trockenen Verständigkeit, womit sich eine über-
hebungsvolle Popularphilosophie besonders an der Berliner Akademie *)
breit machte, frisches Leben und höhere Gesichtspunkte durch die poetische
Bewegung und die grossen Persönlichkeiten ihrer Träger, Lessing und
Herder, zugeführt wurden. Dieser Umstand bewahrte die deutsche Philosophie des
18. Jahrhunderts davor, sich in theoretisch-skeptische Selbstzersetzung wie die
englische, oder in praktisch-politische Zersplitterung wie die französische zu
verlieren: durch die Berührung mit einer grossen , von Ideengehalt strotzenden
Litteratur bereitete sich hier eine neue grosse Epoche der Philosophie vor.
John Locke, 1632 zu Wrington bei Bristol geboren, in Oxford gebüdct, durch seinen
Lebenslauf in das wechselvolle Geschick des Staatsmannes Lord Shaftesbury verflochten, kam
mit Wilhelm von Oranien aus holläudischem Exil 1688 in seine Heimath zurück, bekleidete
unter der neuen Regierung, die er auch publicistisch mehrfach vertrat, mehrere höhere Staats-
ämter und starb in ländlicher Müsse 1704. Sein philosophisches Werk führt den Titel Essay
conceming human understanding (1690); daneben sind Some thoughts on education (1693),
The reasonableness of Christianity (1695) und unter den posthumen Abhandlungen The con-
duct of understanding zu nennen. Vgl. Fox Boürne, The life of J. L. (London 1876). Th.
FowLEB, J. L. (London 1880).
George Berkeley war in Killerin (Irland) 1685 geboren, betheiligte sich als Geistlicher
eine Zeitlang an Missions- und Colonisationsversuchen in America, wurde 1734 Bischof von
Cloyne und starb 1753. Vorbereitet durch die Theorie of vision (1709J, erschien 1710 sein
Treatise on the principles of human knowledge, welchem Hauptwerke später die Three dia-
logues between Hylas and Philonous und Alciphron or the minute philosopher folgten. Aus-
gabe der Werke von Fräser, 4 Bde., London 1871; derselbe hat auch eine gute Gesammt-
darstellung (Edinburg u. London 1881) gegeben. Vgl. Collyns Simon, Universal immaterialism
(London 1862).
Die Associationspsychologie fand ihre Hauptvertreter in Feter Brown (als
Bischof von Cork 1735 gestorben; The procedure, extent and limits of human understanding
1719), David Hartley (1704— -1757; De motus sensus et idearum generatione, 1746; Obser-
vations on man, his frame, his duty and bis expectations, 1749), Edward Search, pseudon.
für Abraham Tucker (1705—1774, Light of nature, 7 Bde., London 1768-77); Joseph
Priestley (1733—1804; Hartley's Theorie of human mind on the principles of association
of ideas, 1775; Disquisitions relating to matter and spirit, 1777); John Mome Tooke (1736 —
1) Vgl. Ch. Babtholh£:ss, Histoire philosophique de Taoademie de Prusse. Faris 1851.
348 V. Philosophie der Aufklärung.
1812; 'Riesa ittsposvta or the diversions of parley, 1798; vgl. Stephen, Memoires of J. M. T.,
London 1813) ; Erasmus D arwin (1731 — 1802, Zoonomia or the laws of organic life, 1794 ff.) ;
ßchliesslich Thomas Brown (1778 — 1820; Inquiry into the relation of cause and effect, 1804;
posthum die in Edinburcr gehaltenen Lectures on the philosophy of human mind.). — Vgl. Br.
ScHOENLANK, Hartley u. rriestley als Be^nder des Associationismus (Halle 1882); L. Perri,
Sulla dottrina psicbologica delV associazione, sag^o storico e critico (Rom 1878).
Yon den in der älteren Weise platonisirenden Gegnern dieser Richtung ist namentlich
Richard Price (1723 — 91) durch seinen Streit mit Priestley bekannt geworden:
Priestley, The Doctrine of philosophical necessity, 1777 ; Price, Letters on materialism
and philosophical necessity, 1778; Priestley, Free discussions of the doctrines of materia-
lism, 1778.
Unter den englischen Moralphilosophen nimmt die bedeutendste Stellung
S haft es bury (Anthony Ashley, Cooper, 1671 — 1713) ein, dessen Abhandlungen unter dem
Titel Characteristics of men, manners, opinions and times (1711) gesammelt sind. V^l. G. v.
GizYCKi, Die Philosophie Sh.'s (Leipzig u. Heidelberg 1876). — Nach ihm scheiden sich ver-
schiedene Gruppen: die intellectualistische repräsentiren Samuel Olarke (1675 — 1729;
A demonstration of the being and attributs of God, 1705; Philosophical inquiry, concerning
human liberty, 1715; vgl. seine Oorrespondenz mitLeibniz) und William WoUaston (1659—
1724; The religion of nature delineated, 1722); — die Gefühlsmoral dagegen Francis Hut che-
son (1694 — 1747; Inquiry into the ori^nal of our ideas of beauty and virtue, 1725; A System
of moral philosophy, 1756; vgl. Th. Fowler, Shaftesbury and Hutcheson, London 1882);
Henrv Home, pseud. für Lord Kaimes (1696 — 1782; Essays on the principles of morality
and natural religion, 1751; Elements of criticism 1762); Edmund Burke (1730—1797; Philo-
sophical inquiry into the origin of our ideas of sublime and beautifal, 1756) ; Adam Ferguson
(1724 — 1816; Institutions of moral philosophy, 1769), und in gewissem Sinne auch Adam
Smith (1723 — 1790, Theory of moral sentiment, 1759); das Autoritätaprincip vertreten Jos.
Butler (1692—1752; Sermons upon human nature, 1726) und William Paley (1743—1805,
Principles of moral and political philosophy, 1785); die Ethik der Associationspsychologie
wurde hauptsächlich durch Jeremy Bentham ausgebildet (1748 — 1832; Introduction to the
principles of moral and legislation, 1789; Trait^ de l^gislation civile et penale, zusammen-
gestellt von E. DüMONT, 1801; Deontology, hrsg. von J. Bowring, 1834; Werke in 11 Bänden,
Edinburg 1843). — In eigenthümlicher Sonderstellung erscheint Beruh, de Mandeville
(1670 — 1733; The fable of the bees or private vices made public benefits, 1706, später mit er-
läuternden Dialogen 1728; Inquiry into the origin of moral virtue, 1732; Free thoughts on
religion, church, govemment, 1720).
Mit dieser moralphilosophischen Litteratur fällt zum grossen Theil diejenige des Deis-
mus zusammen; in letzterer Richtung aber treten ausserdem hervor: John Toland (1670 —
1722; Christianity not mysterious, 1696; Letters to Serena, 1704; Adeisidaemon 1709; Pan-
theisticon 1710); Anthony CoUins (1676— 1729; A discourse of free thinking, 1713) Matthews
Tindal (1656—1733; Christianity as old as thfe creation, 1730); Thomas Chubb (1679—
1747; A discourse concerning reason with regard to religion, 1730); Thomas Morgan (1743
gestorben; The moral philosopher, 3 Tbl., London 1737 ff.); endlich Lord Bolingbroke
(1672—1751; Werke von MoUet in 5 B. 1753 f. herausgegeben; vgl. Fr. v. Raumer, AbhandL
der Berl. Akad. 1840). — Vgl. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus (Stuttgart und
Tübingen 1841).
Englands grösster Philosoph ist David Hume, 1711 in Edinburg geboren und dort ge-
bildet. Nachdem er sich eine Zeit lang als Kaufmann versucht hatte, lebte er mehrere Jahre
in Frankreich seinen Studien und verfasste den genialen Treatise on human nature (gedr.
1739 f.). Der Misserfolg dieses Buchs veranlasste ihn, dasselbe als zweiten Band seiner erfolg-
reicheren Essays moral political and litterary in einer Umarbeitung unter dem Titel Inquiry
concerning human understanding (1748) herauszugeben und einen Inquiry concerning prin-
ciples of moral (1751), sowie The natural history of religion (1755) anzuschliessen. Als
Bibliothekar der Juristenfakultät in Edinburg fand er Anlass, seine „Geschichte Englands" zu
schreiben. Nach einem ruhmreichen Aufenthalt in Paris, wo er u. A. mit Rousseau in Ver-
bindung kam, war er einige Zeit lang Unterstaatssekretär im auswärtigen Amt, zog sich aber
dann nach Edinburg zurück, wo er 1776 starb. Posthum erschienen die Dialogues concerning
natural religion und kleinere Abhandlungen. Ausgabe der Werke von Green und Gross in
4 Bdn. (London 1875). Seine Autobiographie gab sein Freund Adam Sboth (1777) heraus.
Vgl. J. H. Burton, Life and corrcspondence of D. H. (Edinburg 1846—50); E. Feüerlbin in
der Zeitschr. „Der Gedanke" (Berlin 1863 f.); E. PpLEroERBR, Empirismus und Skepsis in D.
H.'s Philosophie (Berlin 1874); Th. Huxley, D. H. (London 1879); Fr. Jodl, Leben u. Philo-
sophie D. H.'s (Halle 1872); A. Meinong, Hume-Studien (Wien 1877 u. 82); G. v. Geycki,
Die Ethik D. H.'8 (Breslau 1878). —
Die schottische Schule wurde begründet von Thomas Reid (1710 — 1796, Professor
in Glasgow; Inquiry into the human mind oi) the principles of conm^on 8e^se, 17^; Essais of
V. Philosophie der Aufklärung. 349
the powers of the human mind, 1785 u. 88; Gesammtausgabe von W. Hamilton, Edinburg
1827) und hatte neben James Oswald (gest. 1793, Appeal to common sense in behalf of reli^
gion, 1766) und James Beattie (gest. 1805, Essay on the nature and immutability of truth,
1770) ihren akademischen und litterarischen Hauptvertreter in Dugald Stewart (1753 —
1828 Professor in Edinburg; Elements of the philosophy of human mind, 3 Thle., 1792—1827
u. A.; Ausgabe der Werke von W. Hamilton, 10 Bde., Edinburg 1864 fif.). —
Pierre Bayle, Der Typus skeptischer Polyhistorie, 1647 zu Carlat geboren, fährte ein
durch zweimaligen Confessionswechsel beunruhigtes Dasein, war schliesslich in Sedan und
Rotterdam Professor und starb 1706. Seine einfiussreiche Lebensarbeit ist in dem Dictionnaire
historique et critique (1695 u. 97) niedergele^. Vgl. L. Feüebbaoh, P. B. nach seinen für die
Geschichte der Philosophie und Menschheit mteressantesten Momenten, Ansbach 1833.
Von Voltaire (Pran^ois Arouet le jeune, 1694 — 1778; die Hauptetappen des Schriffc-
stellerlebens sind die Flucht nach London, der Aufenthalt bei der Marquise du Chätelet in
Cirey, der Besuch bei Friedrich dem Grossen in Potsdam, die Altersruhe auf dem Landsitz
Femey bei Genf) kommen hier hauptsächlich in Betracht : Lettres sur les Anglais (1784),
Metaphysique de Newton (1740), Elements de la philosophie de Newton mis ä la portee de
tout le monde (1741), Examen important de Mylord Bolingbroke (1736), Candide ou sur
Toptimisme (1757), Dictionnaire philosophique (1764), Le philosophe ignorant (1767), Reponse
au Systeme de la nature (1777), das Gedicht Les syst^mes etc. Vgl. E. Bersot, La philosophie
de V. (Paris 1848), D. F. Strauss, V. (Leipzig 1870), J. Morlby, V. (London 1872).
Skeptischer schon in metaphysischer Hinsicht erscheinen Naturforscher und Mathema-
tiker, wie Maupertuis (1698 — 1759; an der Berliner Akademie thätig; Essai de philosophie
morale, 1750; Essai de cosmologie, 1751; Streitschriften zwischen ihm und dem WolfHaner
S. König gesammelt Leipzig 1758) oder d'Alembert (Melanges de litterature, d^histoire et
de Philosophie, 1752), naturalistischer verfahren andere wie Buffon (1708 — 1788, Histoire
naturelle generale et particuliöre, 1749 ff.) und Jean Battiste Robinet (1735 — 1820, De la
nature, 1761, Considerations philosophiques de la gradation naturelle des formes d'etre
1767).
Der Sensualismus erscheint in Verbindung mit dem Materialismus bei Julien Offrai
de Lamettrie (1709 — 1751; Histoire naturelle de T&me, 1745; L'homme machine, 1748;
L'art de jouir, 1751; Oeuvres Berlin 1751 ; über ihn A. Lange, Gesch. des Mater. I, 826 ff.;
N6r6e Quäpat, Paris 1873), als lediglich psychologische Theorie bei Charles Bonnet (1720 —
1793, Essai de psychologie, 1755 ; Essai analytique sur les facultas de Täme, 1759; Considerations
sur les Corps organis^s, 1762; Contemplation de la nature, 1764; Paling^nesies philosophiques,
1769"), mit positivistischer Zuspitzung bei Etienne Bonnot de Condillao (1715 — 1780; Essai
sur lorigine de la connaissance humaine, 1746; Traite des systemes, 1749; Trait^ des sensa-
tions, 1754; Logique, 1780; Langue des calculs in der Gesammtausgabe, Paris 1798; vgl. F.
R^THOR^, C. ou Tempirisme et le rationalisme, Paris 1864). Die letzten Vertreter dieser
Theorien sind einerseits Pierre Jean George Cabanis (1757 — 1808; Les rapports du physique
et du moral de Thomme, 1802; Oeuvres, Paris 1821 — 25), andrerseits Antoine Louis Claude
Destutt de Tracy (1754—1836; Elements d'id^ologie in 4 Thl. 1801—15, zusammen 1826).
— Vgl. Fr. Picavbt, Les idöologues (Paris 1891). —
Die litterarische Concentration der aufklärerischen Bewegung in Frankreich bildet die
Encyclopädie. (Encyclop^die ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des m^tiers,
28 Bde., 1752—1772, Supplement und Register 7 Bde. bis 1780). Neben d'Alembert, der die
Einleitung schrieb, war ihr Herausgeber und das geistige Haupt des Kreises, aus dem sie her-
vorging, Denis Diderot (1713 — 1784; Pensees philosophiques, 1746; Pensees sur l'interpre-
tation de la nature, 1754; aus den posthumen Veröffentlichungen sind die Promenade d'un
Sceptique, der Entretieu d'Alembert et de Diderot und der Reve d^Alembert hervorzuheben ;
auch ist der Essai de peinture zu erwähnen; Oeuvres completes, Paris 1875, 20 Bde.; vgl. K.
Rosenkranz, D., sein Leben und seine Werke, Leipzig 1866; J. Morlet, D. and the Encyclo-
paedists , London 1878). Weitere Mitarbeiter an der Encyclopädie waren (ausser den bald
ausscheidenden Voltaire und Rousseau) Turgot (Art. Existence), Daubenton, Jaucourt,
Duclos, Grimm, Holbach etc. — Aus dem gleichen Kreise (»Les philosophes") ging später
das Systeme de la nature hervor (pseudonym Mirabaud, 1770), der Hauptsache nach auf
Dietrich von Holbach zurückzuführen (1723 — 1789, ein Piälzer; Le bon sens ou id^es natu-
relles oppos^es aux idees sumaturelles, 1772; Elements de la morale universelle, 1776 u. s. w.).
Daneben wirkten Grimm (1723 — 1807, Correspondance litt^raire, 1812), der Mathematiker
Lagrange, der Abb^ Galiani, Naigeon u. A. mit; das Schlusskapitel „Abregt du code de la
nature'' stammt vielleicht aus Diderot's Feder; eine sehr populäre Darstellung schrieb Helve-
tius „Vrai sens du systöme de la nature** (1771). Derselbe (Claude Adrien Helvetius, 1715—
1771) gab der sensualistisch-associationspsychologischen Moral in seinem viel gelesenen Buch
De 1 esprit (1758) den schärfsten Ausdruck ; vgl. auch sein posthumes Werk De Thomme, de
868 facult^ et de son education (1772).
350 V» Philosophie der Aufklärung.
Die Theorie des englischen Constitutioaalismus bürgerte in Frankreich Montesquieu
ein (1689 — 1755; Lettres persanes, 1721; De Tesprit des lois, 1748). Die socialen Probleme
behandelten einerseits die sog. Physiokraten, wie Quesnay (Tableau eoonomique, 1758)
Turgot (Reflexions sur la Formation et la distribution des richesses, 1774; Gegner Galiani,
Dialogues sur le commerce des bles) U.A., andrerseits die Communis ten, wie Morel ly
(Code de la nature, 1755) und Mably, der Bruder Condillac*s (De la legislation ou principes
des lois, 1776).
Die merkwürdigste Figur der französischen Aufklärung ist Jean Jacques Rousseau
(1712 in Genf geboren, nach einem abenteuerlichen, zuletzt durch Trübsinn und Verfolgungs-
wahn gestörten Leben 1778 in Ermenonville gestorben). Seine Hauptschriften — ausser den
autobiographischen Confessions — sind: Discours sur les sciences et les arts (1750) Discours
sur Torigine et les fondemens de Tinegalite parmi les hommes (1773), La nou volle Heloise
(1761), Emile ou sur Teducation (1762), Du contrat social (1762). Vgl. F. Brockbrhoff, R.,
sein Leben und seine Werke (Leipzig 1863 u 74); E. Feuerlein in „Der Gedanke** (Berlin
1866); L. MoREAU, J. J. R. et le siecle philosophique (Paris 1870); J. Morlet, J. J. R. (London
1873) ; R. Fester, R. und die deutsche Geschichtsphilosophie (Stuttgart 1890).
Die philosophische Theorie der Revolution entwickeLo hauptsächlich Charles
Fran^ois de St-Lambert (1716 — 1803; Principes des moeurs chez toutes les nations ou
catechisme universel, 1798), Const. Fr. Chasseboeuf Comte de Volnay (1757 — 1820; Les
ruines, 1791; La loi naturelle ou principes physiques de la morale, deduits de Torganisation
de Thomme et de Tunivers ou catechisme du citoyen frangais, 1793), Marie Jean Ant. Nie. de
Condorcet (1743 — 1794; Esquisse dVn tableau historique du progrös de Tesprit humain,
1795), Dominique Garat (1749 — 1833; vgl. Conte rendu des seances des ecoles normales,
n, 1 — 40). Vgl. L. Fbrraz, La philosophie de la r^volution (Paris 1890).
Gottfried Wilhelm Leib niz, der vielseitige Begründer der deutschen Philosophie,
war 1646 in Leipzig geboren, studirte dort und in Jena, promovirte in Altorf, wurde dann
durch die Bekanntschaft mitBoyneburg in die Dienste der churmainzischen Diplomatie gezogen,
worin er, eigene politische und wissenschaftliche Pläne verfolgend, eine Gesandtschaftsreise
nach Paris und Ix>ndon (mit gelegentlichem Besuch bei Spinoza im Haag) mitmachte, und
trat dann als Bibliothekar und Holhistoriograph in den Dienst des Hannoverischen und des
Braunschweigischen Hofes. In allen diesen Stellungen war er publicistisch und diplomatisch
im deutsch-nationalen Sinne und im Literesse des confessionellen Friedens thätig. Später
lebte er am Hofe der ersten preussischen Königin, Sophie Charlotte, einer hannoverischen
Prinzessin, in Charlottenburg und Berlin, wo unter ihm die Akademie gegründet wurde;
nachher auf einer Archiv-Reise längere Zeit in Wien. Hier, wie für Petersburg, gab er die
später verwirklichten Anregungen zur Gründung der Akademien. Er starb 1716 in Hannover.
Die Vielgeschäftigkeit und Zersplittertheit seines Lebens zeigt sich auch darin, dass seine
wissenschaftlichen Ansichten meist nur in fragmentarischen Aufeätzen und in einer unglaublich
ausgebreiteten Correspondenz niedergelegt sind. Die beste Ausgabe seiner philosophischen
Schriften ist die neueste von C. J. Gerhardt, 7 Bde. (Berlin 1875 — 1890). Die metaphysischen
Abhandlungen sind oben (S.301) au%efiihrt: für seine Wirkung auf die Aufklärungsphilosophie
kommen neben der Correspondenz mit Bayle und Clarke hauptsächlich in Betracht: Essais
de Theodic^e sur la bonte de Dieu, la liberte de Thomme et Torigine du mal (Amsterdam 1710)
und die erst 1765 von Raspe veröifentlichten Nouveaux essais sur Tentendement humain.
Vgl. G. E. GüHRAüBR, G.W. Frhr. v. L. (Breslau 1842); E. Pflkidkrer, L. als Patriot, Staats-
mann und Bildnngsträger (Leipzig 1870). Art. L. in Ersch und Gruber's Encyclopädie von
W. Winoelband. — L. Feuerbagh, Darstellung, Entwicklung und Kritik der L/schen Philo*
Sophie (Ansbach 1844); E. Nourisson, La philosophie de L. (Paris 1860); L. Grote, L. und
seine Zeit (Hannover 1869); 0. Caspari, L.' Philosophie (Leipzig 1870); J. Th. Merz, L.
(London 1884).
Zu den einflussreichsten Aufklärern in Deutschland gehörte L.* Zeit- und Landsgenosse
Christian Thomasius (1655 — 1728; Einleitung zur Vemuuftlehre, Ausfuhrung der Vernunft*
lehre, beide 1691; Einleitung zur Sittenlehre 1692, Ausführung der Sittenlehre 1696; Fun-
damenta iuris naturae et gentium ex sensu communi deducta, 1705; vgl. A. Luden, Chr. Th.,
Berlin 1805).
Den IVIittelpunkt des wissens(;haftlichen Lebens bildeten in Deutschland während des
18. Jahrhunderts die Lehre und die Schule von Christian Wolf f. Er war 1679 in Breslau ge*
boren, studirte in Jena, war in Leipzig Privatdocent und lehrte in Halle, bis er auf Betreiben
orthodoxer Gegner 1723 verjagt wurde: er war dann Professor in Marburg; 1740 rief ihn
Friedrich der Grosse in der ehrenvollsten Weise nach Halle zurück, wo er darauf bis an seinen
Tod 1754 gewirkt hat. Er behandelte den ganzen Umfang der Philosophie in lateinischen und
in deutschen Lehrbüchern: die letzteren fuhren alle den Titel „Vernünftige Gedanken** und
handeln von den Kräften des menschlichen Verstandes 1712; von Gk)tt, der Welt und der
ÜeelG des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 1719; von der Menschen Thun und Lassen,
V. Philosophie der Aufklärung. 351
1720; vom gesellschaftlichen Leben der Menschen, 1721; von den Wirkungen der Natur,
1723; von den Absichten der natürlichen Dinge, 1724; von den Theilen der Menschen, Thiere
und Pflanzen, 1725. Dazu Philosophia rationalis sive Logica, 1718; Philosophia prima sive
Ontologia, 1728; Cosmologia, 1731; Psychologia empirica, 1732; rationalis, 1734; Theologia
naturalis, 1736; Philosophia practica universalis, 1738; Jus naturae, 17403*.; Jus gentium,
1749; Philosophia moralis, posthum 175Ö. — Vgl. K. G. Ludovici, Ausfuhrlicher Entwurf einer
vollständigen Historie der WolflTschen Philosophie (Leipzig 1736 ff.); auch W. L. G. v. Eber-
STEIN, Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bei den Deutscheu von Leibniz an
(HaUe 1799).
Unter den Wolffianern sind etwa zu nennen: G. B. Bilfinger (1693 — 1750, Dilucida-
tiones philosophicae de deo, animahumana, mundo etc., 1725); M. Kuntzen (gestorben 1751,
Systema causarum efficientium, 1746, vgl. B. Erdmann, M. Kn. und seine Zeit, Leipzig 1876),
J. Chr. Gottsched (1700—1766, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, 1784); Alex.
Baumgarten (1714—1762; Metaphysica, 1739; Aesthetica, 1750—58).
Als Vertreter der geometrischen Methode erscheinen M. G. Hansch (1683 — 1752;
Ars inveniendi, 1727) und G. Ploucquet (1716 — 1790; vgl. A. P. Book, Sammlung von
Schriften, welche den logischen Calcül des Herrn P. betreffen, Frkfrt. u. Lpzg. 1766); als
Gegner derselben Pierre Crousaz (1663 — 1748, Logjik 1712 u. 24; Lehre vom Schönen, 1712),
Andreas Rüdiger (1671 — 1731 ; De sensu veri et falsi, 1709; Philosophia synthetica, 1707) und
Chr. A. Crusius (1712 — 1775; Entwurf der nothwendigen Vernunftwalu'heiten, 1745; Weg
zur Gewissheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntniss, 1747). Eine eclectische
Zwischenstellung nehmen ein J.Fr. Budde (1667 — 1729; Institutiones philosophiae eclecticae,
1705) und die Geschichtsschreiber der Philosophie J. J. Brucker und D. Tiedemann,
femer Joh. Lossius (Die physischen Ursachen des Wahren, 1775) und A. Platner (1744 —
1818; Philosophische Aphorismen, 1776 u. 82).
Von selbständigerer Bedeutung sind J. H. Lambert (1728 in Mülhausen geboren,
1777 in Berlin gestorben; Eosmologische Briefe, 1761; Neues Organen, 1764; Architektonik,
177i) und Nie. Tetens (1736 — 1805; Philosophische Versuche über die menschliche Natur
und ihre Entwicklung, 1776 f.; vgl. Fr. Harms, üeber die Psychologie des N. T., Berlin 1887).
Beide standen im litterarischen Zusamenhange mit Kant (vgl. VI. Th. 1. Kap.)» dessen vor-
kritische Schriften ebenfalls noch in diesen Rahmen gehören; es sind hauptsächlich : Allgemeine
Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755; Principiorum primorum cognitionis meta-
physicae nova dilucidatio, 1755; Monadologia physica, 1756; Die falsche Spitzfindigkeit der
vier syllogistischen Figuren, 1762; Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes, 1763; Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit
einzufuhren, 1763; Ueber die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und
Moral, 1 764; Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1764 ; Traume eines
Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, 1 766 ; De mundi sensibilis atque intelli-
gibilis forma et principiis, 1770. Vgl. R. Zimmermann, Lambert der Vorgänger Kant's, 1879.
Der Deismus fand in Deutschland au zahlreichen Wolffianern eine lebhafte und lehr-
hafte, wenn auch principiell nicht neue Vertretung, für welche die Bibelübersetzung von
Lorenz Schmidt charakteristisch ist. Den Gesichtspunkt historischer Kritik der biblischen
Schriften machte ßalomon Sem 1er (1725 — 1791) geltend. Die schärfsten Consequenzen der
deistischen Kritik zog Samuel Reimarus (1699—1768; Abhandlungen von den vornehmsten
Wahrheiten der natürlichen Religion, 1754; Betrachtung über die Triebe der Thiere, 1760;
besonders die Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 1767, woraus Lessing die
„Wolfenbüttler Fragmente *", in neuerer Zeit Dav. Fr. Stbaüss, Leipzig 1862, einen Auszug
herausgab). Ein spinozistischer Freidenker war Joh. Chr. Edelmann (1698 — 1767). Vgl. K.
MöNCKBBEBa, Reimarus xmd Edelmann (Hamburg 1867).
Die von Spener (1635 — 1705) begonnene und von Aug. Herrn. Francke (1663 —
1727) mit organisatorischer Energie fortgeführte, dem Mysticismus verwandte Richtung des
sog. Pietismus hat während dieser Zeit auf die Philosophie nur indirect Einfluss gehabt;
noch ferner stehen ihr die mehr vereinzelten mystischen Sektirer wie Gottfried Arnold (1666
— 1714) und Conrad Dippel (1673—1734).
Die empirische Psychologie ist im 18. Jahrhundert bei den Deutschen durch zahl-
reiche Namen, umfangreiche Sammlungen, Lehrbücher und Sonderuntersuchungen vertreten.
Da sind Casimir von Creuz (1724 — 1770), Joh. Gottl. Krüger (Versuch einer experimentalen
Seelenlehre, 1756), J. J. Hentsch (Versuch über die Folge der Veränderungen der Seele,
1756), J. Fr. Weiss (De natura animi et potissimum cordis humani, 1761), Fr. v. Irwing (Er-
fahrungen und Untersuchungen über den Menschen, 1777 ff.) u. A.; einen Sammelplatz von
Beiträgen zu dieser beHebten Wissenschaft bildete das von Moritz (1785 — 1793) heraus-
gegebene „Magazin zur Erfahrungsseelenlehre**. W^eitere Litteratur bei K. Foetlage, System
er Psychologie I, 42 f.
Eine empirisch-psychologische Kunstlehre findet sich ausser bei Baumgarten^s Schüler
G. Fr. Meier (1718— 1777j namentlich bei Joh. Georg Sulzer (1720—1779; Theorie der an-
352 V. Philosophie der Aufklärung.
genehmen Empfindungen, 1762; Vermischte Schriften, 1773 ff.; Allgemeine Theorie der
schönen Künste, 1771 — 74, ein ästhetisches Lexicon).
Von den Popularphilosophen seien erwähnt: Moses Mendelssohn ^1729 — 1786;
Briefe über die Empfindungen, 1755; Ueber die Evidenz in den metaphysiscnen Wissen-
schaften, 1764; Phaedon, 1767; Morgenstunden, 1785; Werke hrsg. von Brasch, Leipzig 1889),
der Buchhändler Fr. Nicolai (1733 — 1811), welcher hinter einander die Bibliothek der
schönen Wissenschaften, die Briefe die neueste deutsche Litteratur betreffend, die Allgemeine
deutsche Bibliothek und die Neue allgemeine deutsche Bibliothek herausgab ; femer J. Aug.
Eberhard (1738— 1809), Joh. Beruh. Basedow (1723— 1790), Thomas Abb t (1738—1766),
Joh. Jac. Engel (1741—1802, Herausgeber des „Philosoph für die Welt**), .T. G H. Feder
(1740—1821), Chr. Meiners (1747—1810), Chr. öarve (1742—1798).
Eine persönlich hochinteressante Stellung nimmt Friedrich der Grosse, der
„Philosoph von Sanssouci'' ein, über den zu vgl. Ed. Zeller, Fr. d. Gr. als Philosoph
(Beriin 1886).
Von Lessing's Schriften kommen für die Geschichte der Philosophie hauptsächlicli
in Betracht die Hamburger Dramaturgie, die „Erziehung des Menschengeschlechts**, die
Wolfenbüttler Fragmente und die theologischen Streitschriften. Vgl. RoB. Zimmermann,
Leibniz und Lessing (Studien und Kritiken, I, 126 ff.), E. Zibnoiebl, Der Jacobi-mendel-
sohn'sche Streit über Lessing's Spinozismus (München 1861). C. Heblbr, Lessing-Studien
(Bern 1862). W. Dilthey (Preuss. Jahrb. 1869).
Unter Her der 's Schriften gehören in diese Zeit: Ueber den Ursprung der Sprache,
1772; Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1774; Vom Erkennen und Em-
pfinden der menschlichen Seele, 1778: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
1784 ff.; Gott, Gespräche über Spinoza s System, 1787; Briefe zur Beförderung der Humanität,
1793 ff. (Ueber seine spätere philosophische Schriftstellerthätijjkeit vgl. unten vi. Thl., 2 cap.).
Vgl. R. Hatm, H. nach seinem Leben und seinen Werken (Berlm 1877 — 85). E. Melzer, H. als
GeschichtsphilosophjfNeisse 1872). M. Kronenbbrg, H.'s Philosophie (Heidelberg 1889).
Vgl. auch J. Witte, Die Philosophie unserer Dichterheroen (Bonn 1880).
1. Eapitel Die theoretisclieii fragen.
„The proper study of mankind is man". Dies Wort Pope*s gilt für die ge-
sammte Aufklärungsphilosophie nicht nur in dem praktischen Sinne, dass sie den
Zweck aller wissenschaftlichen Untersuchung zuletzt immer in der „Glückselig-
keit" des Menschen findet, sondern auch in theoretischer Hinsicht insofern, als
sie — ihrem Gesammtzuge nach — alle Erkenntniss auf die Beobachtung der
thatsächlichen Vorgänge des Seelenlebens gründen will. Seitdem Locke *) das
Princip aufgestellt hatte, vor allen metaphysischen Ueberlegungen und Streitig-
keiten müsse entschieden werden, wie weit überhaupt die menschliche Einsicht
reiche, und das sei wiederum nur möglich durch die genaue Darlegung der Quellen,
aus denen sie fliesse, und des Entwicklungsganges , durch welchen sie zu Stande
komme, — seitdem war die Erkenntnisstheorie in die erste Linie des
philosophischen Literesses gerückt, zugleich aber für diese als massgebende und
entscheidende Instanz die empirische Psychologie anerkannt. Die Trag-
weite der menschlichen Vorstellungen soll danach beurtheilt werden, wie sie ent-
stehen. So wird die Erfahrungsseelenlehre mit all den stillschweigenden Voraus-
setzungen, die in ihr üblich sind, zur Grundlage der gesammten philosophischen
Weltansicht, zur Lieblingswissenschaft des Zeitalters und zugleich zur Vermitt-
lung der Wissenschaft mit der allgemeinen Litteratur. Wie in dieser, zumal bei
den Engländern und Deutschen die Seelenmalerei und die Selbstbespiegelimg vor-
walteten, so sollte auch die Philosophie nur das Bild des Menschen und seiner
Bewusstseinsthätigkeiten zeichnen. Es gründeten sich Gesellschaften zur „Beob-
1) Einleitung zum Essay. Vgl, M. Drobisch, Locke, der Vorläufer Kant's (Zeitschr. f.
exacte Philosophie 1861).
1. Theoretische Fragen. 353
achtung des Menschen", in weitschichtigen „Magazinen" wurden allerlei dilet-
tantische Berichte über merkwürdige Erlebnisse aufgespeichert, und die Regie-
rung der französischen Republik ersetzte in ihrem officiellen ünterrichtssystem ^)
die „Philosophie" durch den tönenden Titel der „Analyse de Tentendement
humain".
Wenn somit unter den theoretischen Fragen der Auf klärungsphilosophie
diejenige nach dem Ursprung, der Entwicklung und der Erkenntnisskraft der
menschlichen Vorstellungen obenan stand, so wurde dieselbe von vornherein
unter der Voraussetzung der populären Metaphysik, des naivenRealismus
gestellt. Da ist „drausseu" eine Welt von Dingen, von Körpern oder wer weiss
sonst was, — und hier ist ein Geist, der sie erkennen soll : wie kommen in diesen
Geist Vorstellungen hinein, die jene Welt in ihm reproduciren? Dies altgriechische
Schema des Erkenntnissproblems beherrscht die theoretische Philosophie des
18. Jahrhunderts vollständig und gelangt in ihr ebenso zu vollkommenster For-
mulirung wie zu entscheidender Zersetzung. Gerade in dieser Hinsicht nimmt
die cartesiani sehe Metaphysik mit ihrem Dualismus von bewussten
und körperlichen Substanzen eine beherrschende Stellung für das ganze
Aufklärungszeitalter ein, und die populär- empirische Ausdrucksweise, in der sie
von Locke vorgetragen wurde, machte diesen zum Führer der neuen Bewegung.
Die methodischen und metaphysischen Ueberlegungen, welche in Descartes' be-
deutenden Schülern zu grosser und charaktervoller Entfaltung gekommen waren,
wurden nun in die Sprache der empirischen Psychologie übersetzt und so fiir das
gemeine Bewusstsein zurechtgelegt.
In diesem Zusammenhange aber kam der in der gesammten neueren Philo-
sophie angelegte und besonders in England (Hobbes) gepflegte Terminismus
zu siegreichem Durchbruch : die qualitative Sonderung des Bewusstseinsinhaltes
und der Bewusstseinsformen von der „Aussenwelt", auf die sie sich doch allein
beziehen sollten, wurde Schritt für Schritt weiter und tiefer und schliesslich bis
zu der äussersten Consequenz inHume's Positivismus geführt. Der wissen-
schaftlichen Auflösung, welche damit die Metaphysik erfuhr, entsprach dann
wieder eine populär-praktische und anspruchsvoll bescheidene Abwendung von
aller feineren Begrifisarbeit oder ein um so ausdrücklicheres Bekenntniss zu den
Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes.
Was dabei von metaphysischem Interesse in der Aufklärungslitteratur
lebendig blieb, heftete sich an das religiöse Bewusstsein und an diejenigen Be-
strebungen, welche aus dem Streit der Confessionen zu einer allgemeinen und
rationalen Ueberzeugung zu gelangen hofften. In dem Deismus, der aus dem
engUschen Frei denke rthum sich über Europa verbreitete, concentriren sich
die positiven Welt- und Lebensansichten der Aufklärungszeit, und wenn diese
Ueberzeugungen anfangs sich aus dem Zusammenhange der naturwissenschaft-
lichen Metaphysik des vorigen Jahrhunderts entwickelten und in Folge dessen den
Problemen der Teleologie ein besonders lebhaftes Interesse zuwandten, so
verschoben sie sich mit der Zeit immer mehr aus dem metaphysischen auf das
moralische, aus dem theoretischen auf das praktische Gebiet.
1) Vgl. die höchst amüsanten S^ances des ^coles normales ans dem Jahre I. —
Windelband, Geschichte der Pliilosophie. 23
354 ^^' Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
g 33. Die eingeborenen Ideen.
In Betreff der Frage nach dem Ursprünge der Vorstellungen fand die
Aufklärungsphilosophie bereits den scharf ausgeprägten Gegensatz des Sensu-
alismus und des Rationalismus vor.
1. Ersteren hatte Hobbes auf dem theoretischen Gebiete ebenso wie auf dem
praktischen vertreten, indem er den Menschen, soweit er Gegenstand wissen-
schaftlicher Erkenntniss sei, für ein durchaus sinnliches, an die Empfindungen und
Triebe des Leibes gebundenes Wesen hielt: alle Vorstellungen sollten nach ihm in
der Sinnesthätigkeit ihren Ursprung haben, und der Associationsmechanismus sollte
das Entstehen aJler übrigen seelischen Gebilde aus diesen Anfangen erklären. Durch
solche Lehren fanden nicht nur die orthodoxen Gegner von Hobbes die über-
sinnliche "Würde des Menschen in Frage gestellt, sondern dasselbe Motiv be-
stimmte auch die Neuplatoniker zu lebhafter Gegnerschaft. Besonders hatte sich
in dieser Hinsicht Cudworth hervorgethan: bei seiner Bekämpfung des Atheis-
mus ^) hatte er nicht zum wenigsten Hobbes im Auge, und gegenüber der "Lehre,
dass alle menschlichen Vorstellungen aus der Einwirkung der Aussenwelt
stammen, beruft er sich namenthch auf die mathematischen Begriffe, denen die
körperlichen Erscheinungen nie völUg entsprechen, sondern höchstens ähnlich
sind 2). Beim Gottesbegriff dagegen nimmt er das Argument des consensus
gentium mit breitester Ausfiihrung *) in Anspruch, um zu zeigen, dass derselbe
eingeboren sei. In gleicher Weise hatte schon Herbert von Oherbury mit der
stoisch-ciceronianischen Lehre von den communes notitiae alle Hauptlehren der
natürlichen Religion und Moral begründet.
In etwas anderem Sinne war die Lehre von den eingeborenen Ideen bei
Descartes *) und seinen Schülern aufgefasst worden. Hier war es weniger auf die
psychologische Frage nach dem Ursprünge der Vorstellungen abgesehen, obwohl
auch diese an einer entscheidenden Stelle der Meditationen (3) djüiin beantwortet
war, dass das Eingeborensein der Gottesidee wie ein Zeichen, das der Schöpfer
seinem Geschöpf eingeprägt, aufzufassen sei; im Ganzen aber hatte der grosse
Metaphysiker mehr darauf Gewicht gelegt, dass das Kriterium des Eingeboren-
seins in der unmittelbaren Evidenz bestehe. Er hatte daher schliesslich (fast
mit Abstreifung der anfänghchen psychologischen Bedeutung) die Bezeichnung
der ideae innatae auf alles ausgedehnt, was lumine naturali clare et distincte
percipitur. Die sofortige Zustimmung war übrigens auch von Herbert von Oher-
bury als Merkmal der eingeborenen Ideen aufgeführt worden ^).
2. Locke's polemische Stellung zu der Behauptung der eingeborenen Ideen
ist zwar von erkenntnisstheoretischer Absicht, aber saclilich nur durch die
psychogenetische Auffassung bestimmt. Er fragt zunächst nur, ob die Seele
bei ihrer Geburt fertige Erkenntnisse mit auf die Welt bringt, und diese Frage
findet er verneinenswerth^). In Folge dessen richtet sich die Entwicklung der
These „No innate principles in the mind" im ersten Buch des Locke'schen Essay
1) Im Systema intellectuale, besonders am Schluss V, 5, 28 ff. — 2) Ibid. V, 1, 108 ff.
(p. 905 ff. Mosh.) — 3) Das ganze Kap. TV ist dieser Aufgabe gewidmet. -— ' 4) Vgl. E. Grimm,
Descartes' Lehre von den angeborenen Ideen, Jena 1873. — 5) De veritate (1656) p. 76. —
6) Worin ihm übrigens Descartes durchaus beistimmte, der auch meinte, es sei nicht
anzunehmen, dass der Geist des Kindes im Mutterleibe Metaphysik treibe: Op, (C.) VIII, 269.
§ 33. Eingeborene Ideen. (Locke.) 356
weniger gegen Descartes als gegen die englischen Neuplatoniker *) : sie bestreitet
in erster Linie den consensus gentium durch Berufung auf die Erfahrung der
Einderstube und der Völkerkunde, sie findet, dass weder theoretische noch
praktische Grundsätze allgemein bekannt oder anerkannt seien und nimmt von
diesem Nachweise (mit ausdrücklicher Wendung gegen Herbert) auch nicht die
Vorstellung von Gott aus, welche vielmehr nicht nur sehr verschieden bei den
verschiedenen Menschen sei, sondern manchen sogar ganz fehle. Auch lässt
Locke nicht die von Henry More ^ angedeutete Ausrede gelten, dass die einge-
borenen Ideen in der Seele nicht aktuell, sondern implicite enthalten sein könnten:
das könne nur bedeuten, die Seele sei fähig, sie zu bilden und zu bilhgen, —
ein Merkmal, das dann schliesslich für alle Vorstellungen gelte. Die sofortige
Zustimmung endlich, welche das Eingeborene charakterisiren sollte, treffe gerade
bei den allgemeinsten, abstracten Wahrheiten nicht zu, und wo sie sich finde,
beruhe sie auf der schon früher aufgefassten Bedeutung der Wörter und ihrer
Verbindung ').
So wird die Seele wieder alles ursprüngUchen Besitzthums entkleidet : sie
gleicht bei der Geburt (vgl. S. 159) einem unbeschriebenen Blatt, — white paper
voit^of all characters *). Um dies positiv zu beweisen, macht sich Locke dann
anheischig, zu zeigen, dass alle unsere „Ideen" *) aus der Erfahrung stammen.
Hierbei unterscheidet er die einfachen und die zusammengesetzten Ideen in der
Voraussetzung, dass die letzteren aus den ersteren entstehen : für die einfachen
Ideen aber giebt er zwei verschiedene Quellen anrsensationundreflection
die äussere und die innere Wahrnehmung. Unter Sensation versteht
er die durch die leiblichen Sinne vermittelten Vorstellungen von der Körperwelt,
unt^r Reflexion dagegen das Wissen von den dadurch hervorgerufenen Thätig-
keiten der Seele selbst. Psychogenetisch also verhalten sich diese beiden Arten
der Wahrnehmung so, dass die Sensation Anlass und Voraussetzung für die
Reflexion ist, — sachlich so, dass aller Inhalt der Vorstellungen aus der Sen-
sation stammt, die Reflexion dagegen das Bewusstsein der an diesem Inhalt voll-
zogenen Functionen enthält.
3. Zu diesen Functionen gehörten aber auch alle diejenigen, durch welche
die Verknüpfung der Bewusstseinselemente zu den zusammengesetzten Vor-
stellungen erfolgt, d. h. alle Vorgänge des Denkens. Und hierbei Hess nun
Locke das Verhältniss der intellectuellen Thätigkeiten zu ihren ursprünglich-
sinnlichen Inhalten in einer populären Unbestimmtheit, welche den Anlass zu den
verschiedensten Umbildungen seiner Lehre in der nächsten Zeit gegeben hat.
Einerseits nämlich erscheinen jene Thätigkeiten als die „Vermögen" (faculties)
der Seele, welche sich dieser ihrer eigenen Functionsweisen in der Reflexion
bewusst wird (wie denn z. B. die Vorstellungsfahigkeit selbst®) als die ur-
sprünglichste Thatsache der Reflexion behandelt wird, für die jeder Einzelne an
seine eigene Erfahrung zu verweisen sei); andrerseits wird die Seele auch in
diesen beziehenden Thätigkeiten, wie der Erinnerung, der Unterscheidung, der
1) Vgl. (aach zum Folgenden) G. Gsm, Die Abhängigkeit Locke's von Descartes (Strass-
burg 1887). — 2) H. Mork, Antidot, adv. ath. I, 3 u. 7, u. Locke I, 2, 22. Vgl Gbil, a. a. O.
p. 49. — 31 Locke I, 2, 23 f. — 4) Ibid. n, 1, 2. — 6) Der Terminus „Idee" hat schon in der
späteren Scholastik seinen platonischen Sinn verloren und die allgemeinere Bedeutung von
„Vorstellung" überhaupt angenommen. — 6) Essay II, 9, If.
23*
356 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
Vergleichung, der Verbindung etc. durchweg als passiv und an den Inhalt der
Sensation gebunden betrachtet. Daher haben sich aus der Locke'schen Lehre
die verschiedensten Ansichten entwickeln können je nach dem verschiedenen
Grade von Selbstthätigkeit^ den man der Seele in der Verbindung der
Vorstellungen zuschrieb.
Von besonderem Interesse war dabei vermöge der aus dem Mittelalter
stanmienden Probleme der Erkenntnisstheorie und Metaphysik die Entwicklung
der abstractenVorstellungen aus den Daten der Sensation. Wie die
Mehrzahl der englischen Philosophen bekannte sich Locke zum N omin alismuS;
der in den allgemeinen Begriflfen nur innerliche, intellectuelle Gebilde sehen wollte.
Bei der Erklärung derselben aber nahm Locke in grosser Ausdehnung die Mit-
wirkung der „Zeichen" und insbesondere Sprache in Anspruch. Sie ermög-
lichen durch ihre mehr oder minder willkürliche Anknüpfung an einzelne Vor-
stellungstheile die Heraushebung derselben aus den ursprüngUchen Complexionen
und damit die weiteren Functionen, durch welche derartig isolirte und fixirte
Bewusstseinsinhalte in logische Beziehungen zu einander gesetzt werden '). Daher
fiel für Locke, wie einst für die Epikureer und dann für die Terministen, die Logik
mit der Zeichenlehre, der Semeiotik, zusammen^). Damit war ganz im Sinne
Occam's trotz der sensualistischen Grundlage, welche für allen Vorstellungsinhalt
gelten sollte, Raum für eine demonstrative Wissenschaft der Begriffe und fiir
alle abstracten Operationen des erkennenden Geistes gewonnen. Alle diese
Bestimmungen waren in philosophischem Betracht nicht neu, und auch ihre Dar-
stellung ist bei Locke ohne Originalität und gedankliche Eigenkraft: aber sie ist
schlicht und einfach, von anmuthiger Durchsichtigkeit undLeichtverständUchkeit,
sie verschmäht alle Schulform und gelehrte Terminologie, sie gleitet geschickt
über alle tieferen Probleme hinweg und hat damit ihren Urheber zu einem der
gelesensten und einflussreichsten Schriftsteller in der Geschichte der Philoso-
phie gemacht.
4, So sehr Locke (schon wegen seines metaphysischen Anschlusses an
Descartes, worüber unten § 34, 1) die Selbständigkeit der inneren Erfahrung
neben der äusseren betont hatte, so war doch die Abhängigkeit, in welche er
genetisch und inhaltlich die Reflexion von der Sensation setzte, so stark, dass
sie sich in der Entwicklung seiner Lehre als das entscheidende Moment erwies.
Diese Umwandlung zum voUen Sensualismus ging auf verschiedenen Wegen
vor sich.
In der erkenntnisstheoretisch-metaphysischen Ausbildung des Nominalis-
mus führte sie bei Locke's englischen Nachfolgern zudenäusserstenConsequenzen.
Berkeley^) erklärte nicht nur die Lehre von der Realität abstracter Begriffe für
den seltsamsten aller Irrthümer der Metaphysik, sondern leugnete auch — den
extremsten Nominalisten des Mittelalters ähnlich — die Existenz abstracter
1) Die Entwicklung dieser logischen Beziehungen zwischen den durch Wortzeichen
festgelegten Yorstellungsinhalten erscheint bei Locke unter dem Namen des lumen naturale.
Descartes hatte darunter sowohl die intuitive als auch die demonstrative Erkenntniss verstanden,
und diese gesammte natürliche Erkenntnissthätigkeit der Offenbarung gegenübergestellt; Locke,
der das Intuitive mit tenninistischer Reserve behandelt (vgl. § 34, 1) beschränkt die Bedeutung
des light of nature auf die logischen Operationen und das Bevrusstsein der in denselben der
Natur des Denkvermögens nach geltenden Grundsätze. — 2) Essay FV, 21, 4. — 8) Treat,
on the princ. 5 ff. —
§ 83. Eingeborene Ideen. (Berkeley, Hume.) 357
Ideen im Geiste selbst. Der Schein derselben entstehe eben durch die Wort-
bezeichnungy in Wahrheit aber werde auch bei einer solchen stets nur die sinn-
liche Vorstellung oder die Gruppe sinnlicher Vorstellungen gedacht, welche an-
fanglich zu jener Bezeichnung Anlass gegeben hat. Jeder Versuch, das Abstracte
allein zu denken, scheitert an der Sinnesvorstellung, welche als der alleinige In-
halt der geistigen Thätigkeit immer bestehen bleibt. Denn auch die erinnerten
Vorstellungen und die Theilvorstellungen, die sich daraus ablösen lassen, haben
keinen anderen Inhalt als die ursprünglichen Sinneseindrücke, weil eine Idee nie
etwas anderes abbilden kann als eine andere Idee. Abstracte Begriffe sind also
eine Schulfiction; in der wirklichen Denkthätigkeit bestehen nur sinnliche Einzel-
vorsteUungen , und von diesen können einige wegen der Gleichheit der Sprach-
bezeichnung auch andere ihnen ähnliche vertreten.
David Hume machte sich diese Lehre in voUem Umfange zu eigen und
schob auf Grund derselben der Locke'schen Unterscheidung äusserer und innerer
Wahrnehmung mit veränderter Terminologie einen anderen Gegensatz, den des
Urbildlichen und des Abbildlichen, unter. Ein Bewusstseinsinhalt ist entweder
ursjprünglich oder die Copie eines ursprünglichen, ent weder einEindruck (imp res -
sion) oder eine Idee. Alle Ideen also sind Abbilder von Impressionen , und
es giebt keine Idee, die anders zu Stande gekommen wäre, als durch Copie eines
Eindrucks, oder die einen anderen Inhalt hätte, als den, welchen sie dem Ein-
druck entnommen hat. Deshalb erschien es als die Aufgabe der Philosophie,
auch für die scheinbar abstractesten Begriffe das Original in einer Impression
aufisusuchen und danach den Erkenntnisswerth der ersteren zu beurtheilen. Frei-
lich verstand dann Hume unter den Impressionen keineswegs nur die Elemente
der äusseren , sondern auch diejenigen der inneren Erfahrung. Es waren also
(nach Lockens Ausdrucksweise) die simple ideas aus Sensation und reflexion,
welche er für Impressionen erklärte, und der weite Blick eines grossen Denkers
behütete ihn vor dem Fall in beschränkten SensuaUsmus.
6. Eine andersartige und doch zu verwandtem Ziel führende Umbildung
vollzog siqh an der Hand der physiologischen Psychologie. Locke hatte
nur die Sensation von der leiblichen Sinnesthätigkeit abhängig gedacht, ihre Ver-
arbeitung aber in den der Reflexion unterliegenden Functionen als eine Leistung
der Seele betrachtet; und wenn er auch der Frage nach der immateriellen
Substanz auswich, so hatte er doch die im engeren Sinne inteUectucllen Thätig-
keiten durchaus als etwas Unkörperliches und vom Leibe Unabhängiges be-
handelt. Dass das anders wurde, dass man den physischen Organismus als
den Träger nicht nur der einfachen Ideen, sondern auch der Verknüpfung
von solchen zu betrachten anfing, war bei der unentschiedenen Vieldeutigkeit
der Locke'schen Lehren leicht möglich, wurde aber noch mehr durch einseitige
Consequenzen aus cartesianischen und spinozistischen Theorien hervor-
gerufen.
Descartes nämlich hatte das gesammte Seelenleben des Thieres als mecha-
nischen Process im Nervensystem behandelt, das menschliche dagegen der
immateriellen Substanz, der res cogitans, zugeschrieben. Je mehr man jetzt im
Gefolge der Locke'schen Untersuchung die durchweg sinnliche Bestimmtheit des
menschlichen Vorstellens erkannt zu haben meinte, um so näher lag die Frage,
ob es sich au^echt erh^-ltep lasse, dp^s dieselben Vorgänge, welche beim Thier
358 V. Philosophie der Aufklärung, 1. Theoretische Fragen. /
/'
y
als Nervenprocess begreiflich erschienen, beim Menschen auf die Activität einer
immateriellen Seelensubstanz zurückgefiihi-t werden sollten. — Von einer anderen
Seite her wirkte in derselben Richtung Spinoza's Parallelismus der Attribute
(vgl. oben § 31, 9). Nach diesem sollte jedem Vorgange des Seelenlebens ein
Vorgang des leiblichen Lebens en tspre chen, ohne dass (dem Sinne des Philo-
sophen selbst nach) einer des anderen Ursache oder einer das Ursprüngliche, der
andere das Abgeleitete bedeutete. Dies war nun zunächst von den Gregnern so-
gleich als Materialismus und dahin aufgefasst worden, als meine Spinoza, der
Grundprocess sei der leibhche und der seelische solle nur seine Begleiterschei-
nung bilden. Aber auch bei den Anhängern, zumal bei Aerzten und Natur-
forschern, wie dem einflussreichen Boerhave in Leyden, schob sich an der Hand
der Erfahrungen der experimentellen Physiologie, die sich nach Descartes' An-
regung viel mit Reflexbewegungen beschäftigte, bald eine stark zum Materialismus
neigende Vorstellungsweise unter.
Es ist interessant, dass die Consequenzen dieser Gedankenverbindungen
litterarisch zuerst in Deutschland hervorgetreten sind. Hier lehrte schon 1697
ein Arzt Namens Pancratius Wolff in seinen Cogitationes medico-legales, dass
die Gedanken mechanische Thätigkeiten des menschHchen Leibes, insbesondere
des Gehirns seien, und im Jahre 1713 erschien der anonyme „Briefwechsel
vom Wesen der Seele" *), worin, gedeckt durch fromme Widerlegungen, die
Lehren von Bacon, Descartes und Hobbes zu einem anthropologischen Materia-
lismus fortgeführt werden : zwischen dem Seelenleben des Thiers und dem des
Menschen wird nur ein gradueller Unterscliied anerkannt, Vorstellungen und
Willensthätigkeiten werden ausnahmslos als Functionen der erregten Gehim-
fasem betrachtet und Uebung und Erziehung als die Mittel angegeben, durch
welche die höhere Stellung des Menschen eiTeicht und erhalten werde.
Vorsichtiger ging man in England zu wege. In der Weise wie Locke das
Baconische Programm ausgeführt hatte, studirte man zunächst den inneren
Mechanismus der Seelenthätigkeiten und die Entwicklung der höheren aus den
elementaren Zuständen nach rein psychologischer Gesetzmässigkeit: so geschah
es von Peter Brown auf erkenntnisstheoretischem, von anderen auf dem Gebiete
der Willensthätigkeiten. In derselben Weise verfuhr auch David Hartley, der
für die zwischen den Elementen auftretenden Verknüpfungen und Beziehungen
den (schon vorher gebrauchten) Ausdruck Association^) üblich gemacht hat.
Er wollte diese von ihm mit aller Sorgfalt des Naturforschers analysirten Ver-
hältnisse lediglich als seelische Vorgänge auffassen und hielt an ihrer völligen
Unvergleichlichkeit mit den materiellen Vorgängen, auch mit den feinsten Formen
der körperlichen Bewegung fest. Aber auch er war Arzt, und der Zusammen-
hang des Seelenlebens mit dem Ablauf der Zustände des Leibes war ihm so
deutlich, dass er die stetige Correspondenz beider und das Aufeinander-
bezogensein der psychischen Functionen und der Nervenerregungen, die man
damals als „Vibrationen" bezeichnete*), zum Hauptgegenstande seiner Asso-
ciationspsychologie machte. Dabei hielt er die qualitative Difi'erenz zwischen
1) Ueber den Alb. Lange, Gesch. des Materialismus I (2. Aufl.) 319 S. berichtet. —
2) In der späteren, namentlich der schottischen Litteratur und insbesondere bei Thomas
Brown ist der Ausdruck Association vielfach durch Suggestion ersetzt. — 8) Erasmus
Darwin führte statt dessen den Ausdruck „Bewegungen des Sensoriums'* ein, -^
§ 33. Eingeborene Ideen. (Hartley, Priestley, Lamettrie, Voltaire.) 369
beiden parallelen Erscheinungsreihen fest^ und die metaphysische Frage nach
der ihnen zu Grunde liegenden Substanz liess er unentschieden: aber in Bezug
auf die Causalität gerieth er unvermerkt in den Materialismus^ indem er den
Mechanismus der Nervenzustände schliesshch doch als das primäre Geschehen
und denjenigen der Seelenthätigkeiten nur als dessen Begleiterscheinung auffasste.
Einfachen Nervenerregungen entsprechen einfache Empfindungen oder Be-
gierden, zusammengesetzten zusammengesetzte. Freilich verwickelte ihn diese
wissenschaftliche Theorie in schwere Widersprüche mit seiner fromm gläubigen
Ueberzeugung, und die „Observations" zeigen, wie ernst und objectiv erfolglos er
zwischen beiden gerungen hat. Ganz dasselbe gilt von Priestley, der sogar dem
Materialismus die weitere Concession machte, dass er die Heterogenität des
seelischen und des leiblichen Vorganges fallen liess und die Psychologie voll-
ständig durch Nervenphysiologie ersetzen wollte, deshalb auch den von den
Schotten vertheidigten Standpunkt der inneren Erfahrung ganz preisgab, damit
aber doch die warm vertretene Ueberzeugung eines teleologischen Deismus ver-
einigen wollte.
In der schroffsten Weise ist der anthropologische Materialismus von dem
Franzosen Lamettrie ausgebildet worden. Durch ärztliche Beobachtungen an
sich und Anderen von der völligen Abhängigkeit der Seele vom Leibe überzeugt,
hat er — den Anregungen Boerhave's folgend — den Mechanismus des Lebens
bei Thieren und Menschen studirt, und Descartes' Auffassung der ersteren
scheint ihm auch fär die letzteren vöUig zutreffend. Der nur graduelle Unter-
schied zwischen beiden erlaubt auch für die menschlichen Seelenthätigkeiten keine
andere Erklärung als die, dass sie mechanische Functionen des Gehirns sind.
Deshalb aber ist es ein Uebergriff der Metaphysik, dem „Geiste" eine eigene Sub-
stantilität neben der Materie zuzuschreiben. Der Begriff der Materie als des an
sich todten Körpers, der des Geistes als bewegenden Princips bedürfe, ist eine
willkürUche und falsche Abstraction: die Erfahrung zeigt, dass die Materie sich
bewegt und lebt. Das hat, sagt Lamettrie, gerade Descartes' Mechanik bewiesen,
und deshalb ist ihre unabweisbare Consequenz der Materialismus. Und dass alles
seelische Leben' nur eine der Functionen des Leibes ist, ergiebt sich daraus, dass
sich darin kein einziger Inhalt findet, der nicht aus der Erregung irgend eines
Sinnes herstammte. Dächte man sich — so schreibt Lamettrie ^) zur Begründung
seines aus Locke entwickelten Sensualismus — , wie es schon der Kirchenvater
Arnobius vorschlug, den Menschen von seiner Geburt an von allem Zusammen-
hange mit seines Gleichen ausgeschlossen und auf die Erfahrung weniger Sinne
beschränkt, so würde man in ihm keine anderen Vorstellungsinhalte als die ihm
durch eben diese Sinne zugefiihrten finden.
6. Principiell weniger belangreich, aber litterarisch um so ausgebreiteter
waren die übrigen Umbildungen, welche Locke's Lehre in Frankreich erfuhr.
Schon Voltaire, der sie durch seine Lettres sur les Anglaisbei seinen Landsleuten
heimisch machte, gab ihr ein durchaus sensualistisches Gepräge und zeigte sich
sogar — obschon mit skeptischer Reserve — nicht abgeneigt, dem Schöpfer die
Macht zuzutrauen, dass er das Ich, welches Körper ist, auch mit der Fähigkeit
ausstattete, zu denken. Dieser skeptische Sensualismus ist zum Grundton der
J) Am SchluBS der Histoire naturelle de Väme. Vgl. übrigens oben S. 176 Anm. 3.
360 V' Philosophie der Aufklärung, l. Theoretische Fragen.
französischen Aufklärung geworden*). Zu ilim bekannte sich Condillac, der
Anfangs nur Lockens Lehre dargestellt und anderen Systemen gegenüber ver-
theidigt hatte, in seinem einflussreichen Traite des sensations. Was auch die
Seele sein mag, der Inhalt ihrer Bewusstseinsthätigkeiten stammt allein aus der
Sinneswahrnehmung. Condillac entwickelt die associationspsychologische Theorie an
der Fiction der Bildsäule, welche, nur mit Empfindungsfähigkeit ausgerüstet, hinter
einander die Erregungen der verschiedenen Sinne zugeführt erhält und dadurch
allmähUch ein menschenähnliches intellectuelles Leben entfaltet. Dabei ist die
Grund Vorstellung die, dass das blosse Beieinandersein verschiedener Empfindungen
in demselben Bewusstsein von selbst die Empfindung des Verhältnisses
und der Beziehung derselben mit sich bringt. Nach diesem Princip wird ge-
schildert, wie sich aus der Wahrnehmung die ganze Mannigfaltigkeit der seelischen
Thätigkeiten entfalte: in der theoretischen Reihe erwachsen vermöge der
Verschiedenheiten hinsichtlich der Intensität und der Wiederholung der Em-
pfindungen nacheinander Aufmerksamkeit, recognoscirende Erinnerung, Unter-
scheidung, Vergleichung, Urtheil, Schluss, Einbildung und Erwartung des
Zukünftigen, endlich mit Hilfe der Zeichen, besonders der sprachlichen, die Ab-
straction und die Fassung allgemeiner Sätze. Aber die Wahrnehmung hat neben
der Empfindung auch noch das Gefühlsmoment der Lust und Unlust, und aus
diesem entwickelt sich an der Hand der Vorstellungsbewegung Begierde, Liebe
und Hass, Hoffnung, Furcht^) und durch alle solche Wandlungen des praktischen
Bewusstseins hindurch schliesslich der moraUsche Wille. So wachsen Erkenntniss
und Sittlichkeit auf dem Boden der Sinnlichkeit.
Dieser systematische Aufbau hatte einen grossen Erfolg. Der Systemtrieb,
welcher auf dem metaphysischen Gebiete zurückgedrängt war (vgl. § 34, 7) warf
sich zum Ersatz mit desto grösserer Energie auf diese „Analyse des mensch-
lichen Geistes", und wie schon Condillac selbst manche feine Beobachtungen
in die Darstellung des Entwicklungsprocesses verwoben hatte, so fand eine ganze
Schaar von Anhängern Gelegenheit, durch kleine Aenderungen und Ver-
schiebungen der Phasen, durch Neuerungen in der Nomenklatur und durch mehr
oder minder gehaltreiche Ausführungen sich an der Vervollständigung dieses
Gebäudes zu betheiligen. Die Regierung der Revolution erkannte nur dies
Studium der empirischen Entwicklung der InteUigenz als Philosophie an, und
Destutt de Tracy gab demselben später den Namen „Ideologie" ^). So kam
es, dass man in Frankreich am Anfang unseres Jahrhunderts die Philosophen
meist Ideologen nannte.
7. Hinsichtlich des Seelenwesens , in welchem sich diese Umbildungen des
Empfindens (sentir) abspielen sollten, blieb ein grosser Theil der Ideologen bei
Condillac's positivistischer Zurückhaltung; andere gingen von Voltaire's proble-
1) Derselbe macht sich auch in den Anfängen der ästhetischen Kritik in Gestalt des
Princips geltend, dass das Wesen ajlcr Kunst in der „Nachahmung; der schönen Natur** be-
stünde. Der Typus dieser Auffassung ist E. Batteux (1713 — 1 780) mit seiner Schrift Les beaux
arts reduits k un meme principe (1746). — 2) In der Entwicklung der praktischen Reihe des
Bewusstseins machte sich bei Condülac und seinen Schülern, wie zum Theil auch bei den eng-
lischen Associationspsychologen der Einfluss von Descartes' und Spinoza's Theorie der Affecte
und Leidenschaften geltend. — 3) Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Namengebung bei
de Tracy ein Seitenstück zu Ficbte's „Wissenschaftslehre" (vgl. unten Thl. V[, Kap. 2)
sein soUte,
§ 38. Eingeborene Ideen. (Ideologie.) 361
matischem zu Lamettrie's assertorischem Materialismus mit, — erst in der Weise
Hartley's mit Betonung der durchgängigen Abhängigkeit der Ideenverbindungen
von Nervenbewegungen, dann mit ausdrücklicher Behauptung der Materialität
der Seelenthätigkeiten. Am deutlichsten ist diese Entwicklung bei Diderot
zu sehen. Von Shaftesbury und Locke ging er aus, aber die sensualistische
Litteratur wurde in dem Herausgeber der Encyclopädie von Schritt zu Schritt
mächtiger; er verfolgte *) die Hypothesen des Hylozoismus (vgl. unten § 34, 9) und
schliesslich betheiligte er sich an der Abfassung des Systeme de la nature.
Das letztere stellte in dem Rahmen seiner Metaphysik auch die menschlichen
Seelenthätigkeiten als die feinen unsichtbaren Bewegungen der Nerven dar und
behandelte ihren genetischen Process gerade so wie Lamettrie. Unter den späteren
Ideologen ragt in dieser Hinsicht durch Neuheit des physiologischen Gesichts-
punktes Cabanis hervor; er trägt den Fortschritten der Naturwissenschaft in-
sofern Rechnung, als er die Zustände der Nerven, auf welche die Seelenzustände
(le moral) des Menschen zurückgeführt werden müssen, nicht mehr bloss in
mechanischen Bewegungen, sondern in chemischen Veränderungen sucht.
Das Vorstellen ist das Sekret des Gehirns ebenso wie andere Organe andere
Sekrete liefern.
Im Gegensatz dazu hielt eine andere Richtung der Ideologie an dem Locke'-
schen Princip fest, dass zwar aller Inhalt des Vorstellens aus den Sinnen stamme,
dass aber in den auf die Verknüpfung gerichteten Functionen die Eigenart des
Seelenwesens sich bethätige. Der Führer dieser Richtung ist Bonn et. Auch
er macht sich die von Lamettrie mit Verweis auf Arnobius empfohlene Be-
trachtung ähnlich wie Condillac zu eigen, aber er ist ein viel zu klar geschulter
Naturforscher, um zu verkennen, dass die Empfindung sich niemals in Bewegungs-
elemente auflösen lässt, dass ihr Verhältniss zu den physischen Zuständen syn-
thetisch, aber nicht analytisch ist. Daher sieht er in dem Mechanismus des
Nervensystems nur die causa occasionalis für die selbstthätige Reaction der
Seele, deren Substantialität ihm durch die Einheit des Bewusstseins be-
wiesen erscheint. Er verbindet mit dieser Ansicht allerlei phantastische Hypo-
thesen^). Religiöse Vorstellungen sprechen beiihm in der Annahme derimmateriellen
Seelensubstanz mit •, aber der Sensualismus lässt eine Thätigkeit dieser Substanz
nur in Verbindung mit einem Leibe zu ; deshalb hilft sich Bonnet zur Erklärung
der Unsterblichkeit und der ununterbrochenen Thätigkeit der Seele durch die
Hypothese eines ätherischen Leibes, der mit der Seele wesentUch verbunden sei
und sich je nach ihrem Aufenthalte einen gröberen materiellen Aussenorganis-
mus gestalte.
Diese Vereinigung des Sensualismus mit der Behauptung selbständiger
Substantialität und Reactionsfahigkeit der Seele ist auf Bonnet^s Landsmann
Rousseau übergegangen, der damit die psychologischen Theorien der Encyclo-
pädisten bekämpfte. Er fand, dass diese Eigenheit der Seele, die Einheitlichkeit
ihrer Function sich im G ef ühl (sentiment) bethätige und spielte diese ursprüng-
liche Natürlichkeit ihres Wesens gegen den kalten und gleichgiltigen Mecha-
nismus der Ideen aus, welcher sie zur unbedingten Abhängigkeit von der Aussen-
1) Die entscheidende Uebergangsschrift ist der „Traum d'Alembert's". — 2) In den
Paliugeuesies philusophiques.
362 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen,
weit erniedrige. Das Gefühl der Individualität empörte sich bei ihm gegen
eine Lehre, nach der sich im Bewusstsein des Menschen nur eine zufallig zu-
sammenkommende Masse fremder Inhalte wie auf einem indifferenten Schauplatze
abspielen, vereinigen und wieder trennen sollte. Er wollte zum Ausdruck bringen,
dass das geistige Leben nicht nur in uns geschieht, sondern dass wir selbst dabei
sind als die thätig bestimmenden Persönlichkeiten. Diese üeberzeugung dictirte
Rousseau's Gegensatz gegen die verstandesmässige Aufklärung, welche in dem
Sensualismus Condillac's und der Encyclopädisten das Innenleben des Menschen
nur als ein mechanisches Product der von aussen erregten Empfindungselemente
betrachten wollte: dem psychologischen Atomismus hält Rousseau äas Princip der
Monadologie entgegen.
In derselben Weise, und den Argumenten nach wohl nicht ohne Einfluss
von Rousseau hat St. Martin seine Stimme gegen den herrschenden Condil-
lacismus erhoben : er trat sogar aus seiner mystischen Vereinsiedelung heraus,
um in den Sitzungen der Ecoles normales ^) gegen die Oberflächlichkeit des Sen-
sualismus zu protestiren. Die Ideologen, sagt er, reden so viel von der
menschlichen Natur: aber statt sie zu beobachten, mühen sie sich, sie „zu-
sammenzusetzen" (composer).
8, Die psychologischen Gegner des Sensualismus in allen seinen Formen
sinddie schottischen Philosophen. Der gemeinsame Boden, aufdem sich dieser
Contrast entwickelte, ist der Psychologismus. Denn auch Reid und seine Schüler
suchen die Aufgabe der Philosophie in der Untersuchung des Menschen und
seiner geistigen Fähigkeiten; ja sie haben den methodischen Gesichtspimkt, dass
alle Philosophie empirische Psychologie sein müsse, noch viel energischer und
einseitiger bestimmt, als die verschiedenen Schulen ihrer Gegner. Aber ihre An-
sicht von der menschlichen Seelenthätigkeit und deren Entwicklung ist diametral
von derjenigen der Sensualisten verschieden. Diese halten das Einfache, jene
das Zusammengesetzte, diese die Einzelvorstellungen, jene die Urtheile, diese
das Sinnliche, jene das Innerliche, diese das Einzelne, jene das Allgemeine für
den ursprünglichen Inhalt der Seelenthätigkeit. Reid erkennt an, dass Berke-
ley's Idealismus und Hume's Skepticismus ebenso correcte Folgerungen aus dem
Locke'schen Princip seien wie Hartley's Materialismus: aber gerade die Absiir-
dität dieser Consequenzen widerlege jenes Princip.
Im Gegensatz dazu will nun Reid die baconische Methode der Induction
auf die Thatsachen der inneren "Wahrnehmung anwenden, um durch deren Ana-
lyse zu den ursprünglichen Wahrheiten zu gelangen, welche mit dem Wesen
der menschlichen Seele von vornherein gegeben sind und sich in der Entwicklung
ihrer Thätigkeiten als die bestimmenden Grundsätze geltend machen, und so
soll mit Ablehnung jeder Hilfe der Physiologie die psychologische Grundwissen-
schaft als eine Ai-t Naturforschung der inneren Beobachtung ausgebildet werden.
Bei der Lösung dieser Aufgabe hat Reid selbst und nach ihm besonders Dugald
Stewart eine bedeutende Umsicht in der Auffassung innerer Vorgänge und
eine grosse Feinheit in der Analyse ihres wesentlichen Inhalts entwickelt: eine
Fülle werthvoller Beobachtungen über die genetischen Processe des Seelenlebens
steckt in ihren weitschichtigen Untersuchungen. Und doch fehlt es diesen an
1) Seances des ec. norm, ni, 61 ff.
§ 33. Eingeborene Ideen. (Wolff, Lambert.) 363
ideeller Fruchtbarkeit ebenso wie an energisch zusammenfassender Beweiskraft.
Denn sie vermischen überall den Nachweis dessen, was in den seelischen Func-
tionen als allgemeingiltiger Inhalt aufgefunden werden kann, mit der Voraus-
setzung, dass dies auch genetisch das Ursprüngliche und Bestimmende sei: und
da diese Philosophie kein anderes Princip als das der psychologischen Thatsäch-
lichkeit hat, so gilt ihr kritiklos alles, was sich in dieser Weise als wirklicher
Inhalt der Seelenthätigkeit nachweisen lässt, alsselbstverständlicheWahr-
heit. Die Gesammtheit dieser Grundsätze wird als common sense, als ge-
sunder Menschenverstand bezeichnet und soll als solcher die oberste Richtschnur
für alle philosophische Erkenntniss bilden.
9« In der deutschen Auf klärungsphilosophie mischen sich alle diese Rich-
tungen mit den Nachwirkxmgen des cartesianischen und Leibniz'schen Ratio-
nalismus. Die methodische Doppelrichtung des letzteren hatte durch Christian
Wolff eine feste, systematische Gestalt angenommen. Alle Gegenstände sollten
nach ihm sowohl unter dem Gesichtspunkt der ewigen Wahrheiten als auch unter
dem der zufalligen Wahrheiten betrachtet werden; für jedes Gebiet der Wirklich-
keit gab es eine Erkenntniss durch Begriffe und eine andere durch Thatsachen,
eine apriorische Wissenschaft aus dem Verstände und eine aposteriorische Wissen-
schaft aus der Wahrnehmung. Dabei soUten beide im Resultat derartig zusammen-
kommen, dass z. B. die empirische Psychologie die Thatsächlichkeit aller der-
jenigen Thätigkeiten erweisen musste, welche in der rationalen Psychologie aus
dem metaphysischen Begriff der Seele und deren daraus sich ergebenden „Ver-
mögen" abgeleitet wurden. Andrerseits wurde dabei nach Leibniz'ens Vorgange
der Werthimterschied beider Erkenntnissweisen insofern festgehalten, als nur
das Verstandeswissen als klare und deutliche Einsicht, die empirische (oder
wie man damals sagte historische) Kenntniss dagegen als eine mehr oder minder
dunkle und verworrene Vorstellung der Sachen galt.
Psychologisch vertheilten sich die beiden Erkenntnissarten nach cartesia-
nischem Muster auf die ideae innatae und die ideae adventitiae. Doch legte
Wolff selbst, der metaphysischen Richtung seines Denkens gemäss, auf das gene-
tische Moment wenig Gewicht. Um so mehr war das bei seinen Anhängern und
seinen Gegnern der Fall, die schon unter demEinfluss der französischen und der
englischen Theorien standen. Dabei war der Gang der Entwicklung im Allgemeinen
der, dass die Bedeutung, welche Leibniz und Wolff dem Empirismus eingeräumt
hatten, durch das Eindringen der Locke'schen Principien immer mehr erweitert
wurde. Die psychologische. Methode überwucherte Schritt für Schritt die meta-
physisch-ontologische, und innerhalb der psychologischen Methode wurden dem
Sensualismus derartig wachsende Concessionen gemacht , dass schliesslich nicht
nur ernste Männer der Wissenschaft wie Rüdiger und Lossius, sondern nament-
lich auch ein grosser Theil der Popularphilosophen vollständig die Lehre vertraten,
alle menschlichen Vorstellungen stammten aus der Sinneswahrnehmung. Das
bunte Durcheinander der Abstufungen , in denen sich dieser Process vollzog,
hat nur litterarhistorisches Interesse*), weil dabei keine neuen Argumente zu
Tage traten.
Nur Einer unter diesen Männern brachte den psychologisch-erkenntniss-
1) Vgl. W. WiNDELBAND, Gesch. d. neueren Phüosophie I, § 53— 55.
304 V. Philosophie der Aufklärung. L Theoretische Fragen.
theoretischen Dualismus, der in der deutschen Philosophie der Aufklärung
herrschte, auf eine originelle und fruchtbare Wendung. Heinrich Lambert, der
völlig auf der Höhe der Naturforschung seiner Zeit stand, war dem Yerständniss
der mathematiscli-logischen Methode ebenso gewachsen wie der Einsicht in den
Werth der Erfahrung: und indem er die psychologische Bedeutung dieser beiden
Elemente des Wissens gegen einander abzugrenzen versuchte, disponirte er in
der Phänomenologie seines „Neuen Organen" die für die Erkenntniss der Wirk-
lichkeit erforderliche Mischung apriorischer und aposteriorischer Bestandtheile
in einer Weise, welche zur Unterscheidung von Form und Inhalt des Vor-
stellens führte. Die inhaltlichen Elemente des Denkens, lehrte er, können nur
durch die Wahrnehmung gegeben werden: aber ihre Verbindungsweise, die Form
der Beziehung, welche zwischen ihnen gedacht wird, ist nicht von aussen gegeben,
sondern eine eigene Thätigkeit der Seele. Diese Unterscheidung konnte aus Locke's
vieldeutiger Darstellung herausgelesen werden *): aber Niemand hatte sie so scharf
und präcis unter diesem Gesichtspunkte aufgefasst wie Lambert. Und dabei war
dieser Gesichtspunkt von grosser Tragweite für die genetische Betrachtung der
menschlichen Vorstellungswelt. Aus ihm folgte, dass weder aus der blossen Form
der Inhalt noch aus dem Inhalt die Form der Erkenntniss abgeleitet werden konnte.
Das erste widerlegte den logischen Rationalismus, mit dem Wolff aus den all-
gemeinsten Sätzen der Logik und zuletzt aus dem einen Satze des Widerspruchs
die ganze Ontologie und Metaphysik herausspinnen wollte, das andere entzog
dem Sensualismus den Boden, der mit den Inhalten der Wahrnehmung auch die
Erkenntniss ihrer Verhältnisse unmittelbar gegeben meinte. Hieraus erwuchs
nun für die „Verbesserung der Metaphysik" die Aufgabe, diese Beziehungsformen
aus dem Gesammtbestande der Erfahrung rein herauszulösen und ihr Verhält-
niss zu dem Inhalte klarzulegen. Dafür aber suchte Lambert vergebens nach einem
einheitlichen Principe), und seine „Architektonik" begnügte sich schliesslich
mit einer äusserlichen Zusammenraffung derselben.
10. Während alle diese Ansichten über den Ursprung der menschlichen
Vorstellungen sich auf dem litterarischen Markte tummelten, war das versöhnende
Wort über das Problem der eingeborenen Ideen längst gesprochen, harrte aberin
einem Manuskripte auf der Hannoverischen Bibliothek der mächtigen Wirkung,
welche seine Veröffientlichung haben sollte. Leibniz hatte in seinen „Nouveaux
essais" die Locke'sche Ideologie Schritt für Schritt mit einem kritischen Commen-
tar versehen und darin die tiefsten Gedanken seiner Philosophie und die feinsten
Folgerungen seiner Monadologie niedergelegt.
Unter den Argumenten, mit denen Locke das Eingeborensein der Ideen
bestritt, war auch dasjenige gewesen, womit er behauptete, es könne nichts in
der Seele sein, wovon dieselbe nichts wisse. Dies Princip war von ihm*) auch
nach der Seite hin ausgesprochen worden, dass die Seele nicht immer denke.
Damit war die cartesianische Definition der Seele als einer res cogitans in Frage
gestellt: denn das wesentliche Merkmal einer Substanz dai'f derselben in keinem
Momente abgesprochen werden. In diesem Sinne war die Frage zwischen den
1) Vgl. den Nachweis bei G. Hartenstbin, Locke's Lehre von der menschlichen Er-
kenntniss in Vergleichung mit Leibniz' Kritik derselben (Leipzig 1861, Abhandl. d. sÄchs. Ges.
d. Wissensch.). — 2) Man sieht dies am besten in seiner interessanten Corrcspondenz mit Kant
(gedr. bei den Werken des letzteren), -r-r ^) Essay II, 1, 10 f.
§ 33. Eingeborene Ideen. (Leibniz.) 365
Schtilen mehrfach verhandelt worden. ' Leibniz aber war durch seine Monadologie
in eine eigenthümliche Zwischenstellung gewiesen. Da ihm die Seele, wie jede
Monade; eine „Torstellencle^ Kraft war; so musste sie in jedem Momente Vor-
stellungen (perceptions) haben: da aber alle Monaden, auch diejenigen ; welche
die Materie constituireU; Seelen sind^ so können diese Vorstellungen unmöghch
alle klar und deutlich sein. Die Lösung des Problems hegt also wieder in dem
Begriffe der unbewussten Vorstellungen oder petites perceptions
(vgl. oben § 31). Die Seele hat (wie jede Monade) immer Vorstellungen, aber
nicht immer bewusste, nicht inmier klare und deutUche Vorstellungen: allein ihr
Leben besteht in der Entwicklung der unbewussten zu bewussten, der dunklen
und verworrenen zu klaren und deutlichen Vorstellungen.
Li dieser Hinsicht fuhi*te nun Leibniz einen äusserst bedeutsamen Begriff
in die Psychologie und Erkenntnisstheorie ein. Er unterschied zwischen den
Zuständen; in welchen die Seele Vorstellungen nur hat; und solchen; in denen
sie sich derselben bewusst ist*). Die ersteren bezeichnete er als perceptiou;
die letzteren als apperception'). Er verstand also unter Apperception den
Vorgang; durch welchen unbewusste , dunkle und verworrene Vorstellungen in
das klare und deuthche Bewusstsein erhoben; damit aber von der Seele als ihre
eignen erkannt und vom Selbstbewusstsein angeeignet werden. Der
genetische Process des Seelenlebens besteht in der Verwandlungunbewusster
in bewusste Vorstellungen, in der Au&ahme der Perceptionen in die Klar-
heit und Deutlichkeit des Selbstbewusstseins. Im Lichte der Monadologie nahm
Leibniz' methodologische Ansicht von den empirischen oder zufalligen Wahr-
heiten (vgl. § 30, 7) eine eigenthümhche Färbung an. Die Fensterlosigkeit der
Monaden verbietet, die Wahrnehmung metaphysisch als Wirkung der Dinge
auf die Seele aufzufassen'): die Sinnesvorstellungen müssen vielmehr als Thätig-
keiten gedacht werden, welche die Seele vermöge der prästabilirten Harmonie
in dunkler und verworrener Weise (als petites perceptions) entwickelt, und die
Umbildung; die an ihnen stattfindet; kann nur als Verdeutlichung und Aufklärung;
als Aufnahme in das Selbstbewusstsein; als Apperception betrachtet werden.
Sinnlichkeit und Verstand; deren Unterschied bei Leibniz mit den
verschiedenen Oraden der Klarheit und Deutlichkeit zusammenfiel; haben daher
nach ihm denselben Inhalt; nur dass in der ersteren dunkel und verworren vor-
gestellt ist, was der andere klar und deutlich besitzt. In die Seele kommt Nichts
von aussen hinein, sondern was sie bewusst vorstellt; ist schon vorher unbewusst
in ihr enthalten gewesen: und andrerseits kann die Seele nichts in ihren bewussten
Vorstellungen hervorbringen, was nicht von vornherein in ihr gewesen ist. Daher
muss Leibniz dahin entscheiden; dass in gewissem Sinne, nämlich unbewusst; alle
Vorstellungen eingeboren sind; und dass in anderem Sinne, nämlich bewusst, der
menschhchen Seele keine Vorstellung eingeboren ist. Er bezeichnet dies in den
Principien der Monadologie vorgezeichnete Verhältniss mit dem Namen des vir-
tuellen Eingeborenseins der Ideen.
Die Nouveaux essais fuhren diesen Gedanken, der als der leitende Gesichts-
punkt gleich im Anfang behandelt wird; besonders hinsichtlich der allgemeinen
1) Diese deutschen Ausdrücke nach Kant, Anthropologie § 5. — 2) Frinc. de la nat. et
de la fiTace, 4, wo die Verwandtschaft mit der Locke^schen „Reflection" stark hervortritt; Nouv.
Ess. n, 9, 4. - 3) N. E. IV, 4, 5. —
f
3ß6 V. Philosophie der AufkläruDg. 1. Theoretische Fragen.
oder ewigen Wahrheiten aus. Das war ja die brennende Frage: hier behaup-
teten die Einen (die Neuplatoniker und zum Theil die Cartesianer), sie seien
„aktuell", als „fertige" Wahrheiten eingeboren; die anderen (Hobbes und zum
Theil Locke) wollten sie aus der Zusammenwirkung von Empfindungselementen
erklären. Leibniz aber fuhrt auS; dass solche Sätze bereits in der Wahr-
nehmung, als petites perceptions, nämlich als die unwillkürlichen For-
men des beziehenden Denkens enthalten sind, dass sie aber nach dieser
unbewussten Anwendung appercipirt, d. h. zu klarer und deutlicher Vorstellung
erhoben und so an der Hand der Erfahrung erkannt werden. Schon in der sinn-
lichen Vorstellung steckt unklar und verworren die Thätigkeitsform der Seele,
welche nachher als allgemeiner Grundsatz, als ewige Wahrheit zur Klarheit und
Deutlichkeit der Verstandesauffassung gebracht wird. Wenn daher Locke sich
den scholastischen Satz angeeignet hatte Nihil est intellectu quod non fuerit in
sensu, so fügt Leibniz hinzu nisi intellectus ipse^).
11. Als die Nouveaux essais 1765 gedruckt wurden, erregten sie grosses
Aufsehen : Lessing war daran, sie zu übersetzen. Dass das Leben der Seele weit
über alles klar und deutlich Bewusste hinaus in dunkel geahnten Tiefen wurzle,
war für die Litteratur, die eben aus aufklärerischer Verstandestrockenheit und
schaler Begelrechtigkeit zu genialer Entfaltung aufrang, eine Einsicht von höch-
stem Werthe, und um so werthvoUer, wenn sie von demselben Denker herrührte,
den Deutschland als den Vater und den Heros seiner Aufklärung verehrte. In
dieser Richtung hat Leibniz auch namentlich auf Herder gewirkt : man sieht
das nicht nur in seinen ästhetischen Anschauungen ^), sondern mehr noch in der
Preisschrift vom Erkennen und EmpiSnden der menschlichen Seele.
Unter dem Vorwiegen des methodologischen Gesichtspunktes hatte die
Leibniz- Wolff'sche Schule den Gegensatz zwischen rationaler und empirischer Er-
kenritniss so weit als möglich ausgespannt und Verstand und Sinnlichkeit als zwei
verschiedene „Vermögen" behandelt. Das Verhältniss dieser beiden getrennten
Kräfte zu einander und den Antheil einer jeden von beiden am menschlichen
Wissen hatte die Berliner Akademie untersucht sehen wollen : Herder spielte
den wahren Leibniz, wie er sich in den Nouveaux essais entwickelt hatte, gegen
das herrschende Schulsystem aus, wenn er in seiner Abhandlung die lebendige
Einheit des menschlichen Seelenlebens hervorhob und zeigte, dass Sinnlichkeit
und Verstand nicht zwei verschiedene Quellen des Wissens, sondern nur die ver-
schiedenen Stufen einer und derselben Lebensthätigkeit seien, womit die Monade
das Weltall in sich begreift. Als innere Kräfte sind der Seele alle die Vor-
stellungen eingeboren, mit denen sie in ihrer Entwicklung Schritt für Schritt sich
vom Bewusstsein ihrer nächsten Umgebung zu der Erkenntniss der Weltharmonie
erhebt. Diese tiefere Einheit von Sinnlichkeit und Verstand nannte Herder das
Gefühl: und darin fand er auch bei seiner Forschung nach dem „Ursprung
der Sprache" die einheitliche, alle Sinne umfassende Function, vermöge deren
der psychophysische Mechanismus des „Tönens" und „Hörens" zum Aus-
druck des Gedankens erhoben wird.
12. Bedeutsamer noch war eine andere Wirkung des Leibniz'schen Werkes.
Es war kein Geringerer als Kant, der die Lehre der Nouveaux essais zu einem
1) Nouv. Es8. II, 1,2. — 2) Vgl. hauptsächlich das vierte „Kritische Wäldchen". —
§ 34. Erkenntniss der Aussenwelt. (Kant, Tetens.) 367
System der Erkenntnisstheorie auszubauen unternahm (vgl. § 34, 9). Der Königs-
berger Philosoph wurde durch jenes Werk zu einer der wichtigsten Wendungen
seiner Entwicklung angeregt und vollzog dieselben in seiner Inauguraldisser-
tation^). Er war, aus der Wolffschen Schidmetaphysik herausgewachsen, lange
mit der Prüfung der empiristischen Theorien beschäftigt gewesen und hatte sich
doch nicht bei ihnen befriedigen können^), ging vielmehr noch immer auf eine
Neubegründung der Metaphysik aus und folgte Lambert's Versuchen, damit bei
der Unterscheidung von Form und Inhalt der Erkenntniss anzusetzen. Nun zeigte
gerade Leibniz von den „ewigen Wahrheiten", dass sie als unwillkürliche Be-
ziehungsformen schon in der sinnlichen Erfahrung selbst stecken , um durch die
Beflexion des Verstandes zu klarem und deutlichem Bewusstsein herausgehoben
zu werden. Dies Princip des virtuellen Eingeborenseins ist der Nerv der kan-
tischen Inauguraldissertation: die metaphysischen Wahrheiten liegen in der Seele
als Gesetze ihrer Thätigkeit *), um bei Gelegenheit der Erfahrung in Function
zu treten und dann zum Gegenstand und Inhalt der Verstandeserkenntniss zu
werden.
Kant wendet nun diesen Gesichtspunkt in neuer und fruchtbarer Weise
auf die sinnliche Erkenntniss an. Er stellte diese aus methodischen Gründen
der Verstandeserkenntniss viel schärfer noch als die Wolffianer gegenüber: für
ihn aber war deshalb die Frage, ob sich in der Sinnen weit etwa eben solche ur-
sprüngliche Formbeziehungen finden, wie sie Leibniz in der Verstandeswelt
nachgewiesen und Kant selbst sie anerkannt hatte (vgl. in der Schrift De mundi
sensibilis et intelligibilis forma et principiis § 8 und den ganzen vierten Ab-
schnitt): und so entdeckte er die „reinen Formen der SinnUchkeit" — Raum
und Zeit. Sie sind in dem gewöhnlichen Sinne nicht eingeboren, sondern er-
worben, aber nicht aus den Daten der Sinnlichkeit abstrahirt, sondern ab ipsa
mentis actione secundum perpetuas leges sensa sua coordinante:
und wie die Verstandesformen, so werden sie durch Aufmerksamkeit auf die
Thätigkeit des Geistes bei Gelegenheit der Erfahrung erkannt, welches das Ge-
schäft der Mathematik ist.
Eine andere Pormulirung gab dem Princip des virtuellen Angeborenseins
Tetens. Er schrieb seine Versuche über die menschliche Natur und ihre Ent-
wicklung bereits auch unter dem Eindruck der kantischen Inauguraldissertation.
Auch er erklärt, die „Actus des Denkens" seien die ersten, ursprünglichen „ Ver-
hältnissgedanken" : wir erfahren sie dadurch , dass wir sie anwenden, wenn wir
denken; und damit erweisen sie sich als die Naturgesetze des Denkens.
Die allgemeinen Sätze, welche aller philosophischen Erkenntniss zu Grunde Hegen,
sind danach „subjectivische Nothwendigkeiten", in denen das Wesen der denken-
den Seele selbst zum Bewusstsein kommt.
% 34. Die Erkenntniss der Aussenwelt.
Den Hintergrund aller dieser Theorien bildet ihr erkenntnisstheoretischer
Zweck. Dieser aber nimmt unter der Voraussetzung des naiven BeaUsmus, der
1) Die Abhängigkeit dieser Schrift von den Nouv. Ess. ist nachgewiesen von "W.
WniDKiiBAND, Vierteljahrschr. f. wissensch. Philos. I, 1876 p. 234 ff. — 2) Das beweist am
besten die der Metaphysik scheinbar am fernsten stehende Schrift, die „Träume eines Geister-
sehers". Vgl. übrigens Tbl. "VT, Kap. 1. — 3) De mundi sens. et int. f. et pr. § 6: dantur per
ipsam naturam intellectus. Vgl. § 8, dazu das Corollarium der 3. Section.
368 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
sich an die cartesianische Metaphysik anknüpfte, von vornherein eine etwas
engere Fassung an. Das Princip des cogito ergo sum liess die Selbsterkenntniss
des geistigen Wesens als die ursprüngliche Gewissheit, als das Selbstverständliche
und unmittelbar Zweifellose erscheinen ; je andersartiger aber neben der Welt
des Bewusstseins diejenige des Raums und der Körper aufgefasst wurde, um so
grössere Schwierigkeiten ergaben sich hinsichtlich der Erkennbarkeit der letz-
teren. Das lehrte schon die metaphysische Entwicklung unmittelbar nach Des-
cartes (vgl. § 31), und dasselbe wiederholte sich nun in den mannigfaltigsten
Formen bei der Uebersetzung derselben Gedanken in die Sprache der empirischen
Psychologie und des Sensualismus.
So ist in der Erkenntnisstheorie der modernen Philosophie von Anfang an
ein Uebergewicht der inneren Erfahrung angelegt, vermöge deren das
Wissen von der Aussenwelt problematisch wird. Darin macht sich in
der ganzen Ausdehnung des neueren Denkens eine Nachwirkung des Terminis-
mus, mit dem das Mittelalter geendet hatte, als bestimmende AuiFassung gel-
tend: die Heterogenität von Aussenwelt und Innenwelt giebt dem Geiste ein
stolzes Gefühl substantieller Eigenheit den Dingen gegenüber, zugleich aber eine
gewisse Unsicherheit und Zweifelhaftigkeit bei seiner Orientirung in dieser ihm
fremden Welt. Auf diese Weise erweist sich gerade die Grundproblemstellung
der Aufklärungsphilosophie als ein Nachklang jener Vertiefung des Geistes in
sich selbst, jener Verselbständigung des Bewusstseins gegenüber der Aussen-
welt, worin die antike Philosophie ausgelaufen war. Darin wurzelte die Macht
des augustinischen Geistes über die moderne Philosophie.
1. Das Uebergewicht der inneren Erfahrung macht sich auch bei Locke
sehr stark geltend, obgleich er in psychologischer Hinsicht Sensation und
Reflexion principiell gleichstellte und in der genetischen Theorie sogar die
letztere von der ersteren abhängig machte. Allein bei der erkenntnisstheore-
tischen Werthung kehrt sich dies Verhältniss sogleich im Sinne der cartesianischen
Bestimmungen um. Der Dualismus der endlichen Substanzen, welchen der grosse
französische Metaphysiker aufgestellt hatte, wird nämlich bei Locke in der Stille
mit dem Dualismus der Erfahrungsquellen eingeführt : die Sensation ist zur Er-
kenntniss der körperlichen Aussenwelt, die Reflexion zur Erkenntniss der Thätig-
keiten des Geistes selbst bestimmt : und dabei findet sich denn von selbst, dass
die letztere ihrer Aufgabe sehr viel mehr gewachsen ist, als die erstere. Unser
Wissen von unseren eigenen Zuständen ist ein intuitives und das gewisseste von
allem, und mit unseren Zuständen sind wir dabei auch unserer eigenen Existenz
vollkommen und zweifellos sicher. Mit fast wörtlicher Anlehnung an Descartes
trägt Locke diese Lehre von der Selbstgewissheit vor ^) : dagegen verhält er sich
hinsichtUch der Erkenntniss der Körperwelt sehr viel zurückhaltender. Eine
solche ist nur durch Empfindung mögUch und ermangelt, wenn sie auch noch den
Namen knowledge verdient, doch der völligen Sicherheit und Adäquatheit.
Zunächst ist nur das Vorhandensein der Idee im Geiste intuitiv gewiss; dass ihr
ein Ding entspricht, ist nicht intuitiv sicher, und die Demonstration kann höch-
stens lehren, dass ein Ding da ist, aber nichts über dies Ding aussagen.
Freihch ist Locke in dieser Hinsicht durchaus nicht mit sich selber in
1) Essay IV, 9, 3.
1
§ 34. Erkenntniss der Aussenwelt. (Locke.) 369
UebereinstimmuDg. Bei der Theorie der Ideen der Sensation übernimmt er die
Lehre von der Intellectualität der Sinnesqualitäten ganz in der von Descartes
ausgearbeiteten Form (vgl. oben§ 31, 2), bezeichnet sie glücklich durch die Unter-
scheidung primärer und secundärer Eigenschaften, fügt dann noch als tertiäre
Eigenschaften solche Kräfte hinzu, welche die Beziehung auf andere Körper aus-
drücken, erklärt die primären Eigenschaften für diejenigen, welche den Körpern
an sich real zukommen und rechnet dazu sogar ausser den von Descartes ange-
nommenen noch die Undurchdringlichkeit. Sachlich ist das der Lehre von
Hobbes gegenüber ein entschiedener Rückfall in die demokritisch-epikureische
Vorstellungsweise, was sich auch darin zeigt, dass Locke nach der Theorie der
Bilderchen die Reize auf die Berührung der Nerven durch kleinste von den
Gegenständen ausströmende Stoflftheilchen zurückführt^). Im Ganzen werden
hier also die cartesianischen Grundlagen der mathematischen Naturkenntniss
wiederholt und sogar in wichtiger Hinsicht erweitert.
Ganz anders aber lautet Locke's Entscheidung bei der Analyse des Sub-
stanzbegriffs. Von der intuitiven und der durch Sensation gegebenen Erkennt-
niss unterscheidet er, ähnlich wie Occam, die demonstrative: sie bezieht sich nicht
auf das Verhältniss von Ideen zur Aussenwelt, sondern auf das Verhaltniss der
Ideen unter einander. Sie steht an Erkenntnisswerth der intuitiven nach, während
sie der sensitiven darin überlegen ist^). Das demonstrative Denken wird
dann ganz terministisch, etwa wie bei Hobbes als ein Rechnen mit Begriffs-
zeichen aufgefasst: die Nothwendigkeit der Demonstration gilt nur innerhalb der
Vorstellungswelt, sie betrifft unter Anderem die allgemeinen oder abstracten Be-
griffe, denen in natura rerum keine eigene Wirklichkeit entspricht. Sind einmal
die Ideen vorhanden, so lassen sich, ganz abgesehen von aller Beziehung auf die
Sachen, Urtheile über die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse bilden, und
damit allein hat es das demonstrative Wissen zu thun. Solche „complexen" Vor-
stellungen sind Ge dankendinge, die, nachdem sie durch Definition festgestellt
sind, jede durch ihren Inhalt bestimmte Verbindung unter einander im Denken
eingehen können, ohne dass dadurch eine Beziehung auf die Aussenwelt ge-
wonnen wäre. Unter diesen Verbindungsweisen zeichnet sich nun aber diejenige,
welche durch den Substanzbegriff ausgedrückt wird (die Kategorie der
Inhärenz), in besonderer Weise aus. Alle übrigen Inhalte und Verhältnisse
nämUch können nur so gedacht werden, dass sie an irgend einer Substanz haften.
Diesem Verhältnisse kommt also doch Realität zu, die Idee der Substanz ist
nach Locke's Ausdruck ectypisch, — aber nur so, dass wir für die in den ein-
zelnen Ideen gegebenen Modi ein reales Substrat anzunehmen genöthigt sind,
ohne dabei doch etwas darüber aussagen zu können, was dieses Substrat selbst
sei. Substanz ist der selbst unbekannte Träger bekannter Eigenschaften, deren
Zusammengehörigkeit wir anzunehmen Veranlassung haben.
Diese Ansicht von der Unerkennbarkeit der Substanzen hindert nun
freilich Locke nicht, an anderer Stelle ') doch wieder ganz cartesianisch eine
Eintheilung aller Substanzen in „cogitative und nichtcogitative" vorzunehmen:
andrerseits aber wendet er sie auf seine Behandlung des cogito ergo sum an. Dies
1) Ibid. II, 8, 7 ff". Vgl. hierzu auch B. Küttknauer, Zur Vorgeschichte des Idealismus
und Kriticismus (Freiburg 1882) und Geil, a. a. 0. p. 66 ff. — 2) Ess. IV, 2. — 8) Ibid. II, 23,
29; IV, 10, 9. —
Windelband, Oeschichte der Philosophie. 24
370 V. Philosophie der Aufklärung^. 1. Theoretische Fragen.
Princip überträgt er aus dem metaphysischen ganz in das empirisch-psycho-
logische Gebiet. Die Selbstgewissheit ist ihm diejenige des inneren Sinnes
(internal sense); die Intuition bezieht sich dabei nur auf unsere Zustände und
Thätigkeiten^ aber nicht auf unser Wesen; sie zeigt uns zwar unmittelbar und
zweifellos, dass wir sind, aber nicht, was wir sind. Die Frage nach der Substanz
der Seele (und denigemäss auch diejenige nach ihrem Verhältniss zum Körper)
ist ebenso unbeantwortbai', wie die nach dem „Was" irgend einer Substanz
überhaupt.
Gleichwohl hält es Locke für möglich, von dem Dasein Gottes eine
demonstrative Gewissheit zu gewinnen. Er adoptirt zu diesem Zwecke
den ersten der cartesianischen Beweise (vgl. oben § 30, 5) in etwas modificirter
Form, und fügt noch den üblichen kosmologischen Beweis hinzu. Es muss ein
unendliches, ewiges und vollkommenes Wesen gedacht werden, eine letzte
Ursache der endlichen Substanzen, als deren eine der Mensch sich selbst
intuitiv erkennt.
So mannigfach und widerspruchsvoll sind die Denkmotive, welche sich in
Locke's Erkenntnisslehre kreuzen. Die scheinbar so leichte und durchsichtige
Darstellung, zu der er den Cartesianismus verwässert hat, gleitet über die Strudel
hinweg, welche aus der dunklen Tiefe ihrer historischen Voraussetzungen auf-
steigen. Wie aber die vieldeutige Unbestinmitheit seiner Psychologie sich in die
Gegensätze der folgenden Entwicklungen aus einander legte, so bot auch diese
erkenntnisstheoretische Metaphysik die Ansatzpunkte für die mannigfaltigsten
Umbildungen dar.
2. Gleich die erste derselben zeigt der Locke'schen Unentschiedenheit
gegenüber eine kühne Energie der Einseitigkeit. Berkeley brachte dasUeber-
gewiclit der inneren Erfahrung zur vollen Herrschaft, indem er an der Hand
seines extremen Nominahsmus, mit Rückgriff auf die Lehren von Hobbes, der
schwankenden Stellung, welche Locke in der Frage nach der Erkenntniss der
Körper eingenommen hatte, ein Ende machte. Er zerstörte den Begriff
der körperlichen Substanz. Von dem Ideencomplex, den uns die Wahr-
nehmung als einen Körper darbietet, sollte nach der Unterscheidung primärer
und secundärer QuaUtäten ein Theil ausgeschieden und ein anderer als allein
real zurückbehalten werden : aber diese Unterscheidung, so hatte bereits Hobbes
gelehrt (vgl. § 31, 2), ist schon sachlich unrichtig. Auch die „mathematischen"
Eigenschaften der Körper sind ebenso Ideen in uns wie die Sinnesqualitäten,
und Berkeley hatte gerade dies mit analogen Argumenten in seiner „Theorie des
Sehens*^ nachgewiesen. Er bestreitet die Berechtigung der cartesianischen (bezw.
demokritischen) Unterscheidung. Sind aber danach alle Eigenschaften des
Körpers ausnaJhimslos Ideen in uns, so hat Locke als den realen Träger der-
selben noch eine unerkennbare „Substanz" übrig behalten: ähnlich reden Andere
von der Materie als dem Substrat der „erscheinenden" Eigenschaften,
Allein in allen diesen Fällen, sagt Berkeley, wird uns zugemuthet, ein Ab-
stractum ftir das allein Wirkliche zu halten. Abstracte Begriffe aber existiren
nicht, — sie existiren nicht einmal im Geiste, geschweige denn in natura rerum.
Locke hat ganz Recht gehabt, dass diese „Substanz" Niemand erkennen könne:
es kann sie sogar Keiner denken ; sie ist eine Schulfiction. Für das naive Bewusst-
sein, für den „gesunden Menschenverstand", dessen Sache Berkeley gegen die
§34. Erkenntniss der Anssenwelt. (Berkeley.) ' 371
Künstelei der Philosophen zu führen meint, ist der Körper eben genau das, was
wahrgenommen wird, nicht mehr und nicht weniger; nur die Philosophen suchen
dahinter noch etwas Anderes, Geheimnissvolles, Abstractes, das sie selbst nicht
sagen können. Für den unbeirrt en Sinn ist der Körper das, was man sieht, tastet,
schmeckt, riecht und hört: sein Esse fallt mit seinem Percipi zusammen.
Der Körper ist also nichts Anderes als ein Complex von Ideen. Zieht
man von einer Kirsche alle die Eigenschaften ab, welche durch irgend einen Sinn
percipirt werden können, was bleibt übrig? Nichts. Der Idealismus, der im
Körper nichts weiter sieht, als ein Bündel von VorsteUungen, ist die Ansicht des
gemeinen Mannes; er soll auch diejenige der Philosophen sein. Den Körpern
kommt keine andere Wirklichkeit zu als diejenige des Vorgestelltwerdens.
Es ist falsch zu meinen, es stecke in ihnen noch eine Substanz, die in ihren
Eigenschaften „erscheine". Sie sind nichts als die Summe dieser Eigenschaften.
Auf die naheliegende Frage, worin denn, wenn alle Körper nur vorgestellt
sind, der Unterschied zwischen dem „wirklichen" und dem eingebildeten oder ge-
träumten Körper besteht, antwortet Berkeley mit einer spiritualistischen
Metaphysik. Die Ideen, welche das Sein der Aussen weit ausmachen, sind
Thätigkeiten der Geister. Von den beiden cartesianischen Welten besteht sub-
stantiell nur die eine; nur die res cogitantes sind wirkliche Substanzen, die
res extensae sind ihre Vorstellungen. Allein den endlichen Geistern sind die
Ideen gegeben, und der Ursprung aller Vorstellungen ist nur in dem unend-
lichen Geiste, in Gott, zu suchen. Die Realität der Körper besteht also darin,
dass ihre Ideen von Gott den endlichen Geistern mitgetheilt werden, und die
Reihenfolge, in der Gott dies zu thun pflegt, nennen wir die Naturgesetze:
daher findet Bischof Berkeley keine metaphysische Schwierigkeit darin, dass
Gott unter Umständen zu besonderem Zweck von der gewohnten Reihenfolge
abgeht, wo dann der Mensch von Wundem redet. Unwirklich dagegen ist der-
jenige Körper, der nach dem Mechanismus der Erinnerung oder Einbildung nur
in dem einzelnen Geiste vorgestellt wird, ohne ihm zugleich von Gott mitgetheilt
zu sein. Da endlich so die wirkliche Körperwelt in ein von Gott gewolltes System
von Ideen sich verwandelt, so bereitet auch die Zweckmässigkeit, welche ihre
Einrichtung und die Zeitfolge ihrer Veränderungen aufweisen, kein Problem mehr.
Der Parallelismus zwischen dieser Folgerung aus Locke und derjenigen,
welche Malebranche aus Descartes gezogen hatte, ist unverkennbar; und auch
darin sind Malebranche und Berkeley einig, dass Gott allein die in der Welt
thätige Kraft, dass kein Einzelding wirksam sei (vgl. § 31, 8). Es ist höchst
interessant, wie der extreme Realismus des Franzosen und der extreme Nomi-
nalismus des Engländers auf dieselbe Ansicht hinauslaufen. Die Begründungen
können nicht verschiedener sein: das Resultat ist dasselbe. Denn was beide
Männer noch trennte , liess sich leicht forträumen. Dies bewies ein Zeit- und
Landsgenosse Berkeley's, Arthur Collier (1680 — 1732) in seiner interessanten
Schrift Clavis universaHs *). Malebranche ^ hatte zwar als Cartesianer die Reahtät
1) Der Nebentitel des Buchs lautet: A. new inquiry after truth being a demonstration
of the non-existence or impossibility of an external world (London 1713). Es ist zusammen
mit Berkeley 's Treatise in der deutseben „Sammlung der vornehmsten Schriften, die die
Wirklichkeit ihres eigenen Körpers (! !) und der ganzen Körperwelt leugnen** von Eschenbach
(Rostock 1756) herausgegeben. — 2) Dessen Lehre war in England namentlich durch John
Norris (Essai d'une th^orie du monde ideal, Lond. 1704) bekannt geworden.
24*
372 V. Philosophie der Aufklärung. 1, Theoretische Frageu.
der Körperwelt nicht direct beanstandet, aber ihre Erkenntniss durch den
Menschen nur so begreifen zu können gemeint, dass die Ideen der Körper in
Gott das gemeinsame Original seien, nach dem Gott einerseits die wirklichen
Körper, andrerseits die Ideen davon in den endlichen Geistern erzeuge.
Collier zeigte nun, dass in dieser Lehre die Realität der Körperwelt eine vöUig
überflüssige Rolle spiele : da doch keine wirkliche Beziehung zwischen ihr und
der menschlichen Vorstellung angenonmien werde, so bleibe der Erkenntniss-
werth der menschlichen Ideen ganz derselbe, wenn man nur eine ideale Körper-
welt in Gott statuire und diese als den realen Gegenstand der menschlichen Er-
kenntniss betrachte.
Der Idealismus, welcher in dieser Weise auf mehreren Wegen aus dem
Cogito ergo sum hervorging, erzeugte noch eine paradoxe Nebenerscheinung,
welche namenlos und unbestimmt gelegentlich in der Litteratur des 18. Jahr-
hunderts erwähnt wird. Die einzig sichere intuitive Erkenntniss hat jeder einzelne
Geist nur von sich selbst und seinen Zuständen : auch von anderen Geistern weiss
er nur etwas durch Ideen, welche sich zunächst auf Körper beziehen und nach
Analogie auf Geister gedeutet werden. Ist aber die gesammte Körperwelt
nur Vorstellung im Geiste, so ist schliesslich jeder Einzelne nur seiner eigenen
Existenz gewiss: die Realität alles üebrigen, die gesammten anderen Geister
nicht ausgeschlossen, ist problematisch und kann nicht demonstrirt werden. Man
bezeichnete diese Lehre damals als Egoismus; jetzt pflegt man sie Solipsis-
mus zu nennen. Es ist eine metaphysische Spielerei, die man dem Geschmack
des Einzelnen überlassen muss : denn der Solipsist \viderlegt sich ja schon, indem
er seine Lehre Anderen zu beweisen anfangt.
So war es im Gefolge der Meditationen, worin Descartes das Selbst-
bewusstsein als den rettenden Felsen im Meere des Zweifels erkannte, schliesslich
zu dem Resultat gekommen, welches Kant später als einen Skandal der Philo-
sophie bezeichnete: dass man nämlich einen Beweis fiir die Realität der Aussen-
welt forderte und keinen zureichenden zu finden vermochte. Erklärten doch
französische MateriaUsten, Berkeley 's Lehre sei zwar Wahnsinn, aber un-
widerleglich.
3. Die Umbildung der Locke'schen Lehre durch Berkeley fuhrt in directer
Linie zu Hume's Erkenntnisstheorie weiter. An die nominalistische Leugnung
der abstracten Begriffie knüpfte der tiefsinnige Schotte seine Unterscheidung aller
intellectueUen Functionen in Impressionen und Ideen, welche Copien von Im-
pressionen sind: damit aber deckt sich sogleich der Unterschied intuitiver
und demonstrativer Erkenntniss. Jede derselben hat ihre eigene Art von Ge-
wissheit. Die intuitive Erkenntniss besteht einfach in der Behauptung der
thatsächlichen Impressionen. Welche Eindrücke ich habe, kann ich mit absoluter
Sicherheit aussagen: darin kann ich mich nicht irren, sofern ich mich in den
Grenzen halte, nur einfach festzustellen, dass ich eine WahrnehmungsvorsteUung
von diesem oder jenem einfachen oder zusammengesetzten Inhalt habe, ohne
darüber irgend welche deutenden Begriffe hinzuzufügen.
Zu diesen Impressionen, denen unmittelbar intuitive Gewissheit zukommt,
rechnet nun Hume hauptsächhch auch das räumliche und zeitliche Verhältniss
der Empfindungsinhalte, die Feststellung der Coexistenz oder Succession der
elementaren Impressionen. Die räumliche Ordnung, in der sich die Wahr-
§34. Erkezmtniss der Aussenwelt. (Hume.) 373
Dehmungsinhalte darstellen, ist unmittelbar mit ihnen selbst zweifellos gegeben,
und ebenso besitzen wir eine sichere Impression davon, ob die verschiedenen
Inhalte gleichzeitig oder nach einander wahrgenommen sind. Die räumUche und
zeitliche Contiguität ist also mit den Impressionen intuitiv gegeben, und von
diesen Thatsachen (faits) besteht im menschlichen Geiste eine vollkommen
sichere und in keiner Weise anzuzweifelnde Erkenntniss. Nur darf bei der
Charakteristik der Hume'schen Lehre nicht vergessen werden, dass diese absolut
gewisse ThatsächUchkeit der Impressionen lediglich diejenige ihres Vorhandenseins
als Vorstellungen ist. In dieser Bedeutung und Beschränkung umfasst die intuitive
Erkenntniss nicht nur die Thatsachen der inneren, sondern auch diejenigen der
äusseren Erfahrung, — aber um den Preis, dass' die letzteren eigenthch auch nur
eine Art der ersteren sind, ein Wissen nämlich von Vorstellungszuständen.
Die räumUche und zeithche Contiguität ist aber nur die elementarste Form
der Vorstellungsassociation, daneben zählt Hume noch zwei andere Gesetze der
letzteren auf: die Aehnhchkeit (bezw. den Contrast) und die Causalität. Was
die erstere Beziehungsform anlangt, so haben wir von der Gleichheit oder Un-
gleichheit und ihren verschiedenen Graden hinsichtlich der Sensationen eine
klare und deutliche Impression : sie besteht in dem Wissen von dem Masse der
AehnHchkeit unseres eigenen (sensitiven) Thuns und gehört also zu den Im-
pressionen des inneren Sinnes, welche Locke reflection genannt hat. Darauf
gründet sich in Folge dessen eine demonstrative Erkenntniss von vollkommener
Gewissheit : sie betriflft die Formen der Grössenvergleichung, welche wir an den
gegebenen Vorstellungsinhalten vollziehen, und ist nichts als eine Analyse der
Gesetzmässigkeit, mit der dies geschieht. Diese demonstrative Wissenschaft ist
die Mathematik: sie entwickelt die Gesetze der Gleichsetzung in Bezug auf
Zahlen und Baumverhältnisse, und Hume ist geneigt, der Arithmetik noch einen
höheren erkenntnisstheoretischen Werth zuzuerkennen, als der Geometrie *).
4. Allein die Mathematik ist auch die einzige demonstrative
Wissenschaft; und zwar eben deshalb, weil sie sich auf nichts anderes bezieht
als auf die möglichen Verhältnisse zwischen Vorstellungsinhalten und weil sie
gar nichts über eine Beziehung derselben auf eine reale Welt behauptet. In dieser
Weise herrscht bei Hume vollständig das terministische Princip von Hobbes
(vgl. oben § 30, 3), nur dass der erstere mit der Beschränkung dieser Theorie
auf die reine Mathematik noch consequenter verfahrt. Denn Hume erklärt, dass
keine Behauptung über die Aussenwelt demonstrirbar sei. All unser Wissen
beschränkt sich auf die Constatirung der Impressionen und auf die Verhältnisse
dieser Vorstellungen unter einander.
Daher erscheint es fiir Hume als ein unberechtigter Uebergrifif des Denkens,
wenn die Gleichheit der Vorstellungen auf eine metaphysische Identität gedeutet
wird: dies aber geschieht bei jeder Anwendung des Begriffs der Substanz.
Woher dieser Begriff? Er wird nicht wahrgenommen, er findet sich als Inhalt
weder in den einzelnen Empfindungen noch in deren Verhältnissen: die Substanz
ist der unbekannte, unaussagbare Träger der bekannten Vorstellungsinhalte.
Woher diese Idee, für welche im ganzen Umkreise der Sensationen keine Im-
pression als das nothwendige Original aufzufinden ist? Ihr Ursprung ist in der
1) Treat. I, 2, 1. I, 3, 1.
374 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
Reflexion zu suchen : sie ist das Abbild einer mehrfach wiederholten Vorstellungs-
verknüpfung. Durch das wiederholte Zusammensein der Impressionen, durch
die Gewohnheit des gleichen Vorstellens entsteht vermöge des Gesetzes der
Ideenassociation die Nothwendigkeit der Vorstellung ihrer Coexistenz, und
das Gefühl dieser associativen Nothwendigkeit des Vorstellens wird als reale
Zusammengehörigkeit der Erapfindungselemente, d. h. als Substanz gedacht.
Die Denkform der Inhärenz wird damit psychologisch erklärt und zugleich
erkenntnisstheoretisch verworfen: es entspricht ihr nichts weiter als das Gefühl
einer Gleichheit der Vorstellungsverbiudung, und da wir von der Existenz
niemals etwas anderes als durch unmittelbare Sinneswahrnehmung wissen können,
so ist die Realität des Substanzbegriflfs unbegründbar. Es ist klar, dass Hume
sich damit, soweit es die körperiichen Dinge anlangt, die Lehre Berkeley's zu eigen
macht. Aber dieser hat die Arbeit am Substanzbegriffe nur halb gethan. Er hat
gefunden, dass die Körper nur Empfindungscomplexe sind, dass ihr Sein mit dem
Percipirtwerden identisch ist, dass es keinen Sinn hat, deren Zusammengehörig-
keit als eine unbekannte Substanz zu hypostasiren : aber er hat die seelischen
Substanzen, die Geister, die res cogitantes stehen lassen ; er hat sie für die Träger
angesehen, denen alle diese Vorstellungsthätigkeiten inhäriren sollten. Hume's
Argument trifft auch diese. Was Berkeley von der Kirsche gezeigt hat, gilt auch
von „Ich". Auch die innere Wahrnehmung (so gestaltete es sich thatsächlich
schon bei Locke, vgl. oben Nr. 1) zeigt nur Thätigkeiten, Zustände, Eigen-
schaften. Nehmt diese fort, und auch von Descartes' res cogitans bleibt Nichts
übrig : nur die „Gewohnheit*^ constanter Vorstellungsverbindung liegt dem Begriff
des Geistes zu Grunde; auch das Ich ist nur ein Bündel von Vorstellungen').
5. Die gleiche Betrachtung gilt mutatis mutandis auch für die Causalität,
diejenige Form , unter welcher die Nothwendigkeit der Verknüpfung von Vor-
stellungsinhalten gewöhnlich gedacht zu werden pflegt: aber auch diese ist weder
intuitiv noch demonstrativ gewiss. Das Verhältniss von Ursache und Wirkung
wird nicht wahrgenommen : Gegenstand der sinnhchen Erfahrung ist vielmehr nur
das Zeitverhältniss, wonach das Eine regelmässig auf das Andere folgt. Wenn
nun das Denken dies Folgen in ein Erfolgen, wenn es das post hoc in ein propter
hoc umdeutet ^, so ist dies auch in dem Inhalte der causal auf einander bezogenen
Ideen nicht begründet. Aus einer „Ursache" ist nicht logisch ihre „Wirkung"
abzuleiten, in der Vorstellung einer Wirkung steckt nicht diejenige ihrer Ursache.
Analytisch ist das Causalverhältniss nicht zu verstehen ®). Die Erklärung des-
1) Treat. I, 4. Die bedenklichen Folgerangen, welche sich hieraus für die religiöse
Metaphysik ergaben, hat Hume wohl veranlasst, diese einschneidendste seiner Untersuchungen
bei der Umarbeitung in den Essais fallen zu lassen. — 2) In dieser Hinsicht hatte Hume einen
Vorgänger in seinem Landsmann Joseph Ölanvil (1636 — 1680), der in seiner Scepsis scienti-
fica (1665) die mechanistische Naturphilosophie vom Standpunkt des orthodoxen Skepticismus
aus bekämpfte. — 8) Derselbe Gedanke lag schon der occasionalistischen Metaphysik zu Grunde;
vgl. § 31, 7: denn sie nahm zu der Vermittlung durch den Willen Gottes wesentlich ihre
Zuflucht wegen der logischen Unbegreiflichkeit des Causalverhältnisses. Dasselbe hat
in einer wesentlich mit Hume übereinkommenden Weise auch Kant in seinem „Versuch den
Begrifl' der negativen Grössen in die AVeltweisheit einzuführen" (vgl. die allg. Anm. am Schluss)
erkannt. In sehr interessanter Weise hat endlich Thomas Brown (On cause and efFect),
der auch dem Occasionalismus nicht abgeneigt ist (vgl. a. a. 0. p. 108 ff.), das Verlangen nach
einem „Erklären" oder „Verstehen" der thatsächliohen Zeitfolge zugleich psychologisch dedu-
cirt und erkenntnisstheoretisch abgelehnt (ibid. 184ff.): die Wahrnehmung zeigt Ursachen
und Wirkungen im Groben; dabei besteht dann die Erklärung des Vorganges in seiner Zer-
§84. Erkenntnigs der Aussenwelt. (Hume.) 375
selben ist nach Hume wieder durch die Ideenassociation zu gewinnen. Durch
die Wiederholung derselben Succession von Vorstellungen und die Gewohnheit,
sie auf einander folgen zu finden, entsteht eine innere Nöthigung, nach der einen
die andere vorzustellen und zu erwarten : und das Gefühl dieser inneren Nöthigung,
womit eine Idee die andere hervorruft, wird als eine reale Nöthigung aufgefasst,
als ob der Gegenstand der einen Vorstellung denjenigen der anderen in natura
rerum zum Wirklichsein nöthige. Die Impression ist das Nothwendigkeitsver-
hältniss zwischen den Vorstellungsthätigkeiten, und in der Idee der Causalität
wird daraus ein Nothwendigkeitsverhältniss der Vorstellungsinhalte.
Auf diese Weise zersetzt Hume's Erkenntnisstheorie die beiden Grund-
begrifife, um welche sich die metaphysische Bewegung des 17. Jahrhunderts ge-
dreht hatte. Substanz und CausaUtät sind Ideenbeziehungen, die weder durch
Erfahrung noch durch logisches Denken begründbar sind : sie beruhen auf der
Unterschiebung von Impressionen der Keflexion unter solche der Sensation.
Damit aber ist der üblichen Metaphysik der Boden unter den Füssen fortgezogen:
an die Stelle derselben tritt nur noch die Erkenntnisstheorie, Die Metaphysik der
Dinge weicht einer Metaphysik des Wissens.
6. Die Zeitgenossen haben dies Resultat der Hume'schen Untersuchungen
— insbesondere aus Bücksicht auf die Folgerungen in Betreff der reUgiösen
Metaphysik, vgl. § 36, 6 — als Skepticismus bezeichnet: doch ist es wesentlich
von denjenigen Lehren verschieden, welchen dieser Name historisch zukommt.
Die Feststellung von Thatsachen durch sinnliche Erfahrung gilt Hume als intui-
tive, die mathematischen Verhältnisse gelten als demonstrative Gewissheit : bei
allem aber, was durch Begriffe über eine von den Vorstellungen verschiedene
Realität ausgesagt werden soll, ruft Hume: „In's Feuer damit!" Es giebt keine
Erkenntniss dessen, was die Dinge sind und wie sie wirken : wir können nur sagen,
was wir empfinden, welche räumliche und zeitliche Anordnung und welche Aehn-
lichkeits Verhältnisse wir zwischen denselben erfahren. Diese Lehre ist der absolut
consequente und ehrliche Empirismus: sie verlangt, dass, wenn die einzige
Quelle des Wissens in der Wahrnehmung fliesst, in diese auch nichts weiter
hineingemengt wird, als sie wirklich enthält. Damit ist jede Theorie, jede Er-
forschung der Ursache, jede Lehre vom „wahren Sein" hinter den „Erscheinungen"
ausgeschlossen *). Wenn man, wie die Terminologie sich in unserem Jahrhundert
ausgebildet hat, diesen Standpunkt als Positivismus bezeichnet, so hat derselbe
durch Hume seine systematische Begründung gefunden.
Englands tiefster Denker hat aber dieser radicalen Erkenntnisstheorie eine
charakteristische Ergänzung gegeben. Den Ideenassociationen, welche den Be-
griffen der Substanz und der Causahtät zu Grunde liegen, wohnt zwar weder
intuitive noch demonstrative Gewissheit bei, statt dessen aber eine gefühls-
mässige Ueberzeugungskraft, ein natürUcher Glaube (belief), der,
legung in einzelne einfache und elementare Causalverhältnisse. Dadurch entstehe die Illusion,
als müssten auch diese noch wieder analytisch begreiflich gemacht werden können.
1) Darum ist Berkeley nur von Hume aus richtig zu verstehen: sein „Idealismus'' ist
halber Positivismus. Er legt besonderes Gewicht darauf, dass hinter den Ideen der Körper
nicht noch etwas Abstractes, An-sich-Seiendes gesucht werden soll. Dehnt man dies Princip
auf die Geister aus, so hat man die Hume 'sehe Lehre: denn mit der spiritualis tischen Meta-
physik fällt auch die von Gott gewollte Ordnung der Erscheinungen, worauf Berkeley die
Causalität reducirt hatte.
376 V. Philosophie der Aufklärung. 1, Theoretische Fragen.
von allen theoretischen Ueberlegungen unbeirrt, sich im praktischen Verhalten
des Menschen siegreich geltend macht und der auch für die erreichbaren Zwecke
des Lebens und die darauf bezüglichen Kenntnisse völlig ausreicht. Darauf
beruht die Erfahrung des tägUchen Lebens. Diese zu beanstanden ist Hume
nicht in den Sinn gekommen: er will nur verhüten, dass sie sich als Erfahrungs-
wissenschaft aufspiele, wozu sie nicht ausreicht. Mit dem ganzen Ernst philo-
sophischer Vertiefung verbindet er den ofifenen Blick für die Bedürfnisse des
praktischen Lebens.
7. Für die Aufnahme dieses Positivismus war die Stimmung in England
weniger günstig als in P r a n k r e i c h. Hier lag der Verzicht auf eine „Metaphysik
der Dinge" schon in der skeptischen Grundrichtung, welche auch aus der
cartesianischen Philosophie so vielfach wieder hervorgebrochen war: und die
Herrschaft dieser Stinmiung war besonders durch Bayle befördert worden,
dessen Kritik sich zwar principiell hauptsächlich gegen die rationale Begründung
der religiösen Wahrheiten richtete, damit aber doch zugleich alle über das
Sinnliche hinausgreifende Erkenntniss, also jede Metaphysik traf. Dazu kam,
ebenfalls durch Bayle und zugleich durch den Einfluss der Engländer gefordert,
in der französischen Litteratur ein freierer, weltmännischer Zug, der die Fesseln
des Schidsystems abstreifen wollte und statt abstracter Begriffe die unmittelbare
Wirklichkeit des Lebens verlangte. So wurde in Frankreich, mehr als in seiner
Heimath Bacon's Lehre mit ihrer Einschränkung der Wissenschaft auf physi-
calische und anthropologische Erfahrung wirksam. Das „Point de Systeme" be-
gegnet uns hier auf Schritt und Tritt, von den „Causes premiöres" will Niemand
mehr etwas wissen , und diesen Baconismus mit seiner ganzen encyclopädischen
und programmatischen Ausbreitung legte d'Alembert als die philosophische
Grundlage der En cyclo pädie fest*).
Aus Gründen des Geschmacks wurde mit dem „Point de Systeme" auch
das Wolff 'sehe System in Deutschland von Männern wie Crousaz und Maupertuis
bekämpft, und in der That bot der Pedantismus dieser Lehrbücherphilosophie
dazu mancherlei Angriffspunkte. Ihr gegenüber war denn auch die deutsche
Popularphilosophie auf ihre Systemlosigkeit stolz: auch sie wollte sich, wie
es Mendelssohn ausführte, aller Grübeleien über das Unerfahrbare enthalten
und sich dafür desto mehr mit dem für den Menschen Brauchbaren beschäftigen.
Einen feinen Anklang dieser Stimmung findet man endhch in Kant's „Träumen
eines Geistersehers", wo er die Baumeister mancherlei künstlicher Gedanken-
welten mit scharfer Ironie geisselt und über das metaphysische Bestreben mit
einem Galgenhumor, der seine eigene Neigung am empfindlichsten trifft, die
Schale reicMichen Spottes ausgiesst. Unter den deutschen Dichtern ist in diesem
Sinne Wieland der witzige Anti-Metaphysiker.
8. Eine sehr eigenthümliche Wendung hat endlich der Positivismus in der
späteren Lehre von Condillac genommen. In ihm laufen damit die Linien der
französischen und der enghschen Aufklärung zusammen, und er findet eine
positivistische Synthese von SensuaUsmus und Rationalismus, welche als der voll-
kommenste Ausdruck des modernen Terminismus angesehen werden darf. Seine
„Logik" ^ und seine posthume „Langue des calculs" entwickeln diese Lehre.
1) Im Disoours prelimiuaire. — 2) £i» Lehrbuch für „pobusche Professoren",
§ 84. Erkenntniss der Aussen weit. (Condillac.) 377
Sie baut sich im Wesentlichen auf einer Theorie der „Zeichen" (signes) auf^).
Die menschlichen Vorstellungen sind sämmtlich Sensationen oder Umbildungen
von solchen, wozu es keiner besonderen Kräfte der Seele bedarf^). Alle Er-
kenntniss nun besteht im Bewusstsein der Verhältnisse der Ideen, und das
Grundverhältniss ist dasjenige der Gleichheit. Das Denken hat es nur damit zu
thun, die Gleichheitsbeziehungen zwischen den Ideen herauszustellen ®). Dies ge-
schieht dadurch, dass die Ideencomplexe in ihre Bestandtheile zerlegt und dann
wieder zusammengesetzt werden: decomposition des phenom^nes und
composition des idees. Die dazu erforderliche IsoUrung der Bestandtheile
ist aber nur mit Bülfe der Zeichen, beziehungsweise der Sprache möglich. Jede
Sprache ist eine Methode zur Analyse oer Erscheinungen, und jede solche
Methode ist eine „Sprache". Die verschiedenen Arten der Zeichen geben ver-
schiedene „Dialekte" der menschlichen Sprache: als solche unterscheidet
Condillac fünf, die Finger (Gebärden), die Lautsprache, die Ziffern, die Buch-
staben und die Zeichen der Infinitesimalrechnung. Die Logik, als die allgemeine
Grammatik aller dieser „Sprachen", bestimmt also auch die Mathematik, und
zwar die höhere ebenso wie die elementare, als Specialfalle.
Alle Wissenschaft enthält damit nur Transformationen: es kommt immer
darauf an herauszubekommen, dass das Unbekannte, was man sucht, eigent-
lich ein schon Bekanntes ist, d. h. die Gleichung aufzufinden, welche das
X einer Composition von Ideen gleich setzt: eben zu diesem Zwecke müssen
die Wahrnehmungsgebilde vorher decomponirt werden. Es ist deutlich, dass dies
nur eine neue, verallgemeinernde Ausdrucksweise für Galilei's Lehre von der
resolutiven und compositiven Methode ist : aber sie erhebt sich hier auf rein
sensualistischer Grundlage, sie verleugnet das constructive Element, welches
Hobbes so scharf betont hatte, und sie macht aas dem Denken ein Brcchnen mit
nur gegebenen Grössen. Dabei lehnt sie jeden Gedanken einer Beziehung dieser
Daten auf die metaphysische Realität ab, und in der wissenschaftlichen Erkennt-
niss sieht sie nur einen Aufbau von Gleichungen unter Vorstellungsinhalten
nach dem Princip Le meme est le meme. Die menschliche Ideenwelt wird voll-
ständig in sich isolirt, und Wahrheit besteht nur in den innerhalb derselben
durch die „Zeichen" ausdrückbaren Gleichungen.
9. So indifferent diese Ideologie in metaphysischer Hinsicht sein wollte,
so involvirte doch ihre sensualistische Grundlage eine materialistische Metaphysik.
Mochte auch über die den Sensationen entsprechende Wirklichkeit nichts aus-
gesagt werden sollen, so blieb im Hintergrunde doch immer die populäre Vor-
stellung bestehen, dass Sinnesempfindungen eben von Körpern hervorgerufen
werden. Deshalb brauchte nur die vorsichtige ßestriction, welche diesen posi-
tivistischen Consequenzen des Sensualismus eigen war, verabsäumt werden, um
den anthropologischen Materiahsmus, der sich in den psychologischen Theorien
entwickelt hatte, in einen metaphysischen und dogmatischen zu verwandeln. So
1) Nach Bekanntwerden der Langue des calculs stellten das Pariser Institut und die
Berliner Akademie fast gleichzeitig die Theorie der Zeichen als Preisaufgaben, welche an beiden
Stellen eine grosse Anzahl von Bearbeitungen meist sehr untergeordneten Werthes erfuhren. —
2) Dies führt Condillac, übrigens schon im Trait^ des sensations, gegen Locke, seine Schule
gegen die Schotten aus. — 3) In diesen Bestimmungen stecken Anregungen von Hobbea
ebenso wie von Hume. —
378 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
sp räch Laniettrie mit koketter Rücksichtslosigkeit aus, was viele Andere sich selbst
nicht einzugestehen, geschweige denn zu verkündigen oder zu vertreten wagten.
Auf den Materialismus trieben aber, unabhängig von der Ideologie, auch
andere Gedankengänge der Naturforschung zu. Lamettrie hatte sehr richtig
gesehen, dass das Piincip der mechanischen Natur-Erklärung schliessUch nichts
neben der durch ihre eigenen Kräfte bewegten Materie dulden werde : schon lange
vorher, ehe Laplace die bekannte Antwort gab, er bedürfe der „Hypothese der
Gottheit" nicht, war die französische Naturphilosophie auf diesem Standpunkte
angelangt. Dass die Welt der Gravitation in sich lebe, war auch Newton's
Meinung; aber er glaubte, den Anstoss ihrer Bewegungen in einer Wirkung
Gottes suchen zu müssen. Einen Schritt weiter ging Kant, als er in seiner
„Naturgeschichte des Himmels" ausrief: Gebt mir Materie und ich will Euch eine
Welt bauen. Er machte sich anheischig, das ganze Universum der Fixsterne nach
Analogie des Planetensystems zu erklären *), und führte die Entstehung der ein-
zelnen Weltkörper aus einem feurig-flüssigen Urzustände lediglich auf die gegen-
sätzliche Wirkung der beiden Grundkräfte der Materie, Attraction und Repulsion
zurück. Allein Kant war überzeugt, dass die Erklärung, welche für die Sonnen-
systeme ausreicht, am Grashalm und an der Raupe scheitere: der Organismus
erschien ihm als ein Wunder in der Welt der Mechanik.
Die französische Naturphilosophie suchte auch diesen Gegensatz zu über-
winden und das Problem der Organisation aus der Welt zu schaffen. Unter den
zahllosen Atomcomplexen, lehrte sie, sind auch solche, welche die Fähigkeit der
Erhaltung und Fortpflanzung besitzen. Buffon, der diesen vielfach geäusserten
Gedanken mit voller Energie ausgesprochen und durchgeführt hat, gab solchen
Atomcomplexen den Namen der organischen Moleküle, und unter Voraus-
setzung dieses Begriffs Uess sich alles organische Leben im Princip als eine
nach mechanischen Gesetzen in der Berührung mit der Aussenwelt entwickelte
Thätigkeit solcher Moleküle betrachten^. Das hatte schon Spinoza gethan, an
dessen Naturlehre Buffon vielfach erinnert: auch der letztere redet von Gott
und der „Natur" als Synonymen. Dieser Naturalismus fand somit in der
Mechanik das gemeinsame Princip für alles körperliche Geschehen. Wenn nun
aber die Ideologie auch die Ideen und deren Umbildung als Functionen der Or-
ganismen betrachten lehrte, wenn es nicht mehr für unmöghch, sondern immer
mehr für wahrscheinlich galt, dass das Ding, welches denkt, dasselbe sei, welches
ausgedehnt ist und sich bewegt, wenn Hartley undPriestley in England, Lamettrie
in Frankreich zeigten^ dass die Bewusstseinsveränderung eine Function des
Nervensystems sei, so war man dicht daran zu lehren, dass die Ideen mit allen
ihren Transformationen nur einen Specialfall der mechanischen Thätigkeit der
Älaterie, nur eine besondere Art ihrer Bewegungsformen bildeten. Hatte
Voltaire gemeint, Bewegung und Empfindung könnten wohl Attribute derselben
1) Den Anlass zu dieser genialen astrophysischen Hypothese, der auch Lambert in
seinen „Kosmolofrischen Briefen** sehr nahe war, und die spater in ähnlicher Weise von
Laplace ausgeführt wurde, hat vielleicht eine Bemerkung von Buffon gegeben. Vgl. O. Lieb-
mann, Zur Analysis der Wirklichkeit, 2. Aufl. S. 376. — 2) In der Weiterentwicklung dieses
Buffon'schen Princips hat dann später Lamarck (Philosophie zoologique, Paris 1809) die
Umwandlung der Organismen aus den niederen in die höheren Formen wesentlich durch den
mechanischen Einfluss der Aussenwelt, durch Anpassung an die Umgebung zu erklären
versucht.
§ 84. Erkenntniss der Aussenwelt. (Materialismus.) 379
unbekanntea Substanz sein, so schlug dieser HylozoismuS; sobald man die
Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen in eine Gleichartigkeit umdeutete,
inentschiedenenMaterialismus mn, und es sind oft nur leise und feine Nuancen
des Ausdrucks, wodurch sich das eine in das andere verwandelt. Diesen üeber-
gang bieten die Schriften von Robin et dar. Er giebt der Naturphilosophie
einen metaphysischen Flug. Mit Anlehnung an das Entwicklungssystem der
Leibniz'schen Monadologie betrachtet er die Stufenleiter der Dinge als eine un-
endliche Mannigfaltigkeit von Daseinsformen, in denen die beiden Factor^n der
Körperlichkeit und der psychischen Function in allen möglichen verschiedenen Ver-
hältnissen gemischt seien, so dass, je mehr sich das Wesen des Einzeldinges in
der einen Richtung entfalte , um so geringer seine Bethätigung in der anderen
sei. Das gilt aber nach Robinet auch in der Lebensbewegung der Einzelwesen:
die Kraft, welche sie geistig verbrauchen sollen, geht physisch verloren und um-
gekehrt. Im Ganzen betrachtet erscheint dann aber das seelische Leben als eine
besondere Form, welche die materielle Grundthätigkeit der Dinge anzunehmen
vermag, um sich später wieder in die ursprünghche Gestalt zurückzuübersetzen.
So betrachtet Robinet Vorstellungen und Willensthätigkeiten als mechanische
Transformationen der Nerventhätigkeit, welche sich dann wieder in solche zu
verwandeln vermögen. Seelisch geschieht dabei nichts, was nicht in der physischen
Form angelegt war, und der Leib erfahrt somit in den psychischen Lnpulsen nur
die Rückwirkungen seiner eigenen Bewegung.
Unverhüllt als rein dogmatische Metaphysik tritt zum Schluss der Materia-
lismus imSyst^medelanature auf. Er führt sich mit dem epikureischen Motive
ein, den Menschen von der Furcht vor dem Uebersinnlichen befreien zu woUen:
es soll gezeigt werden, dass dies nur die unsichtbare Thätigkeitsform des Sinn-
lichen sei. Niemand habe je etwas anderes Uebersinnliches ausdenken können, als
ein abgeblasstes Nachbild des Materiellen. Wer von Idee und Wille, von Seele und
Gott rede, denke Nerventhätigkeit, Leib und Welt noch einmal in abstracter
Form. Im übrigen bietet diese „Bibel des Materialismus" in schwerfallig lehr-
hafter und systematisch langweiliger Darstellung keine neuen Lehren oder Ar-
gumente : doch ist eine gewisse Wucht der Gesammtauffassung, ein grosser Zug
in der Führung der Linien der Weltanschauung, ein herber Ernst des Vortrags
nicht zu verkennen. Das ist nicht mehr ein pikantes Spiel der Gedanken, son-
dern ein schwerer Waffengang gegen jeden Glauben an die immaterielle Welt.
10. Trotz des psychogenetischen Gegensatzes war doch das Erkenntniss-
problem bei den Vertretern der „eingeborenen Ideen" demjenigen der Sensualisten
nicht allzu unähnlich. Die dualistische Voraussetzung beider machte es den
letzteren schwer, die Conformität zu begreifen, welche die von den Körpern in
den Seelen hervorgerufenen Vorstellungen mit den ersteren beanspruchen: aber
schwieriger fast schien es noch zu verstehen, dass der Geist durch die Entwick-
lung der in seiner Natur begründeten Denkformen eine von ihm unabhängige
Welt erkennen sollte. Und doch ist gerade dies eine in dem menschlichen Nach-
denken so tief eingewurzelte Annahme, dass sie nicht nur dem naiven Bewusst-
sein, sondern auch der philosophischen Ueberlegung meist als selbstverständlich
gilt. Es war die Mission des in der neueren Philosophie nachwirkenden Terminis-
mus, diese dogmatische Grundüberzeugung zu erschüttern und die Frage nach
dem Grunde jener Conformität zwischen Denknothwendigkeit und Realität her-
380 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
vorzutreiben. Schon Descartes hatte es für nothwendig gefunden, die Erkennt-
nis8kraft des lumen naturale durch die veracitas dei zu stützen und damit den Weg
gewiesen, welchen die metaphysische Lösung des Problems allein einschlagen
konnte.
Wo freilich jener philosophische Trieb fehlte, der sein dao(idCeiy gerade
auf das scheinbar Selbstverständliche richtet, da wog auch jetzt jene Schwierig-
keit gering. Das war trotz aller Kraft der logischen Klarheit und systematischen
Sorgfalt bei Wolff, trotz aller Feinheit der psychologischen Analyse bei den
Schotten der Fall. Der erstere geht daran^ aus den allgemeinsten formalen
Gesetzen der Logik, aus dem Satze des Widerspruchs und dem des zureichenden
Grundes (wobei sogar der zweite noch auf den ersten zurückgeführt werden soll)
eine weitschichtige Ontologie und eine Metaphysik mit ihren auf Gott, Welt und
Seele bezüglichen Theilen more geometrico abzuleiten , und er steht so sehr im
Bann dieses logischen Schematismus , dass ihm die Frage gar nicht zu kommen
scheint; ob sein ganzes Unternehmen; eine Lehre von allem MögUcheU; sofern
es möglich ist; aus logischen Sätzen herauszuspinnen, in der Sache selbst berech-
tigt sei. Dies Problem verdeckte sich für ihn um so mehr, als er jede rationale
Wissenschaft durch eine empirische bestätigte, — eine Uebereinstimmung, die
freilich nur möglich war, weil die apriorische Construction der metaphysischen
Disciplinen unvermerkt von Schritt zu Schritt Anleihen bei der Erfahrung machte.
Trotzdem hatte dies mit reicher Schülerschaft gesegnete System den grossen
didaktischen Werth, Strenge des Denkens, Harheit der Begriffe und Gründlich-
keit des Beweisverfahrens als oberste Kegeln für die Wissenschaft aufzustellen
und einzubürgern, und gegen die Pedanterie, die sich damit unvermeidlich ein-
schlich; gaben andere geistige Mächte ein ausreichendes Gegengewicht ab.
Die schottische Philosophie begnügte sich mit dem Aufsuchen der Grund-
sätze des gesunden Menschenverstandes. Jede Empfindung ist das Zeichen —
so terministisch denkt auch Reid — für die Anwesenheit eines Objects; das
Denken garantirt die ReaUtät des Subjects ; was wirklich wird, muss eine Ursache
haben etc. Solche Sätze sind absolut gewiss; sie zu leugnen oder auch nur zu
bezweifeln ist absurd. Insbesondere aber gehört dazu der SatZ; dasS; was der
Verstand klar und deutlich erkennt; auch nothwendig so ist. Darin ist das all-
gemeine Princip einer philosophischen Auffassung formulirt, welche man (nach
Kant's Vorgange) Dogmatismus nennt, das bedingungslose Vertrauen in die
Uebereinstimmung des Denkens mit der Realität. Dabei zeigen jene Proben der
einzelnen Sätze, wie eclectisch dieser Common-sense seine Grundwahrheiten
aus den verschiedenen Systemen der Philosophie zusammensuchte. Darin war
ihm dann der „gesunde Menschenverstand" der deutschen Popularphilosophen
durchaus ähnhch. Mendelssohn war wie Reid der Ansicht, dass alle extremen
Gegensätze in der Philosophie Irrthümer seien, zwischen denen die "Vy^brheit in
der Mitte liege : jeder radicalen Ansicht Hegt ein berechtigter Keim zu Grunde;
der nur künstlich zu einseitiger und krankhafter Entwicklung getrieben ist. Ein
gesundes Denken (auf dies Prädicat legt namentlich Nicolai Gewicht) wird all
den verschiedenen Motiven gerecht und findet so als seine Philosophie — die
Meinung des Durchschnittsmenschen.
11. Li Leibniz' Geiste war das Problem durch die Hypothese der prä-
stabilirten Harmonie gelöst. Die Monade erkennt die Welt, weil sie die Welt ist:
§ 34. Erkenntniss der Aussenwelt. (Leibniz, Baumgarten.) 381
ihr Vorstellungsinhalt ist von vornherein das Universum , und das Gesetz ihrer
Thätigkeit ist das Weltgesetz. Sie hat ihrer „Fensterlosigkeit" wegen eine Er-
fahrung im eigentlichen Sinne überhaupt nicht: trotzdem ist die Möglichkeit der
Welterkenntniss in ihrem Begriffe so wesentlich angelegt, dass als solche
geradezu alle ihre Zustände gelten müssen. Zwischen Verstand und Sinnhchkeit
war danach ein Unterschied weder hinsichtlich der Gegenstände noch hinsichtUch
der Art der Beziehung des Bewusstseins auf dieselben: nur sollte die Sinnlich-
keit die undeutliche Erscheimmgsform, der Verstand das wahre Wesen der
Dinge erkennen. In wissenschaftUcher Hinsicht wurde deshalb die sinnUche Er-
kenntniss theils als die unvollkommnere Vorstufe theils als das undeutliche Gegen-
bild der Verstandeseinsicht behandelt: die „historischen'^ Wissenschaften galten
entweder als Vorbereitungen oder als niedere Seitenstücke zu den philosophischen.
Aus diesem Verhältniss hat sich nun eine eigenthümhche Consequenz er-
geben. Auch der sinnlichen Vorstellungsweise wohnt eine gewisse eigenartige
Vollkommenheit bei, welche, von der Klarheit und Deutlichkeit des Verstandes-
wissens unterschieden, die Erscheinungsform ihres Gegenstandes ohne Bewusst-
sein der Gründe auffasst: und in diese Vollkommenheit der sinnhchen Erkennt-
niss hatte Leibniz^) das Gefühl des Schönen gesetzt. Als nun einer von
Wolff's Schülern, Alexander Baumgarten, bei dem der architektonische Trieb
des Systematiskens besonders stark entwickelt war, der Logik als der Wissen-
schaft vom vollkommenen Verstandesbrauch eine entsprechende Wissenschaft
von der Vollkommenheit der Empfindung, eine Aesthetik an die Seite stellen
wollte, da gestaltete sich diese DiscipUn zu einer Lehre vom Schönen*). So
erwuchs die Aesthetik'') als philosophischer Wissenszweig nicht aus Interesse an
ihrem Gegenstande, sondern mit entschiedener Geringschätzung desselben,
und als eine „nachgeborene Schwester" der Logik behandelte sie ihn auch mit
sehr geringem Verständniss für seine Eigenart und mit verstandeskühler Pedan-
terie; auch vermochte dieser Rationalist, dem nach Leibniz die wirkliche Welt
als die beste und darum auch als die schönste unter den mögUchen galt, i^
die Theorie der Kunst kein anderes Princip als das sensuaUstische der Natur-
nachahmung aufzustellen und entwickelte dasselbe wesentlich in eine langweiUge
Poetik. Allein trotzdem bleibt es Baumgarten's grosses Verdienst, das Schöne
zum ersten Male wieder systematisch aus den allgemeinsten Begriffen der Philo-
sophie behandelt und damit eine Disciplin begründet zu haben, der in der
Weiterentwicklung besonders der deutschen Philosophie eine so wichtige Rolle
bestimmt war.
12. Die Leibniz-Wolff'sche Auffassung von dem Verhältniss der Sinnhch-
keit und des Verstandes, insbesondere aber die für die rationale Erkenntniss
eingeführte geometrische Methode stiess aber in der deutschen Philosophie
des 18. Jahrhunderts auf eine zahlreiche Gegnerschaft, welche nicht nur von den
Anregungen des englischen und französischen SensuaUsmus imd Empirismus,
sondern von selbständigen Untersuchungen über das methodische und erkennt-
1) Vgl. bes. Princ. d. 1. nat. et d. 1. gr. 17. — 2) Vgl. Hermann Lotze, Geschichte der
Aesthetik in Deutschland (München 1868). — 3) Der Name ^Aesthetik" ist dann später von
Kant nach anfanglichem Sträuben für die Bezeichnung der philosophischen Lehre vom
Schönen und von der Kunst adoptirt worden, von ihm auf Schiller und durch dessen Schriften
in die allgemeine Sprache übergegangen.
382 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
nisstheoretische Verhältniss der Mathematik und der Philosophie
ausging.
In letzterer Hinsicht haben Rüdiger und, von ihm angeregt, Crusius
am erfolgreichsten gegen die Wolffsche Lehre gekämpft. Jener stellte der
WolfFschen Definition der Philosophie als der Wissenschaft des Möglichen die
Bestimmung entgegen, ihre Aufgabe sei, das Wirkliche zu erkennen. Die Mathe-
matik und deshalb auch eine ihrer Methode nachgebildete Philosophie habe es
nur mit dem Möglichen, mit der widerspruchslosen Uebereinstimmung der Vor-
stellungen unter einander zu thun: eine wahre Philosophie bedürfe der realen
Beziehung ihrer Begriffe auf das Wirkliche, und eine solche sei nur durch die
Wahrnehmung zu gewinnen. Crusius machte sich diese Gesichtspunkte zu eigen,
und obwohl er weniger sensualistisch als sein Vorgänger dachte, so kritisirte er
doch von da aus in ganz ähnlicher Weise das Bestreben der geometrischen
Methode, nur mit Hufe der logischen Formen die Wirklichkeit erkennen zu
wollen. Er verwarf den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes, da aus
Begriffen allein niemals auf die Existenz geschlossen werden, die Existenz (wie
es Kant ausdrückte) nicht herausgeklaubt werden könne. In der gleichen Rich-
tung lag es auch, dass Crusius bei der Behandlung des Satzes vom Grunde auf
die genaue Unterscheidung zwischen dem realen Verhältniss von Ursachen und
Wirkungen und der logischen Beziehung von Grund und Folge drang. Er be-
nutzte seinerseits diese Verschiedenheit von Real- und Idealgründen zur Be-
streitung des Leibniz-Wolff sehen Determinismus, und namentlich dazu, um der
thomistischen Auffassung, welche die Rationalisten von dem Verhältniss des gött-
lichen Willens und des göttlichen Verstandes hatten, die scotistische von der
unbeschränkten WiUkür des Schöpfers entgegenzustellen. Die in allen diesen
Folgerungen liegende Abwendung von der Naturreligion stimmte auch die
strengere protestantische Orthodoxie günstig fiir die Crusius'sche Lehre.
Am einschneidendsten und folgereichsten ist in dieser Hinsicht die metho-
dische Grundverschiedenheit von Philosophie und Mathematik durch Kant unter-
sucht worden, dessen Schriften schon früh auf Crusius Rücksicht nehmen. In seiner
Preisschrift jedoch „über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürUchen Theo-
logie und Moral** bringt er eine entscheidende Auseinandersetzung. Die beiden
Wissenschaften verhalten sich in jedem Betracht als Gegensätze. Die Philosophie
ist eine analytische Wissenschaft der Begriffe, die Mathematik eine synthetische
Wissenschaft der Grössen: jene empfängt ihre Begriffe, diese construirt
ihre Grössen: jene sucht Definitionen, diese geht von Definitionen aus: jene
bedarf der Erfahrung, diese nicht: jene beruht auf der Thätigkeit des Verstan-
des, diese auf derjenigen der Sinnlichkeit. Die Philosophie muss deshalb, um
das Wirkliche zu erkennen, zetetisch verfahren: sie darf die constructive Me-
thode der Mathematik nicht nachahmen wollen.
Mit dieser fundamentalen Einsicht in den sinnlichen Charakter der Er-
kenntnissgrundlagen der Mathematik sprengte Kant das System der geometrischen
Methode. Denn danach können SinnUchkeit und Verstand nicht mehr als der
niedere und der höhere Grad von Klarheit und Deutlichkeit des Erkennens
unterschieden werden. Die Mathematik beweist, dass sinnliche Erkenntniss sehr
klar und deutlich, und manches System der Metaphysik beweist, dass Verstandes-
erkenntniss recht dunkel und verworren sein kann. «Fene Unterscheidung muss
§ 35. Natürliche Religion. (Leibniz, Locke.) 383
deshalb mit einer anderen vertauscht werden, und Kant versucht es, indem er
die Sinnlichkeit als das Vermögen der Receptivität, den Verstand als dasjenige
der Spontaneität bestimmt. Erthutdies in seiner Inauguraldissertation
und baut darauf, in Anlehnung an das psychologische Princip des virtuellen An-
geborenseins (vgl. § 33, 12) ein neues System der Erkenntnisstheorie*).
Dessen Grundzüge sind folgende: die Formen der Sinnlichkeit sind
Kaum und Zeit, diejenigen des Verstandes die allgemeinsten Begriffe. Aus der
Reflexion auf die einen entspringt die Mathematik, auf die anderen die Metaphysik,
beides apriorische Wissenschaften von unbedingter Gewissheit. Aber die Formen
der (receptiven) Sinnlichkeit geben nur die nothwendige Erkenntniss der Er-
scheinung der Dinge im menschlichen Geiste (mundus sensibihs phaenomenon),
die Formen des Verstandes dagegen das adäquate Wissen vom wahren Wesen
der Dinge (mundus intelligibilis noumenon). Dass die letzteren dies vermögen
beruht darauf, dass der Verstand wie die Dinge selbst ihren Ursprung im gött-
lichen Geiste haben, dass wir also durch ihn die Dinge gewissermassen ,,in
Gott sehen« «).
§ 35. Die natürliche Religion.
Im Allgemeinen waren die erkenntnisstheoretischen Motive , welche das
18. Jahrhundert beherrschten, der Metaphysik nicht günstig: wenn sie trotzdem
ihre skeptische und positivistische Tendenz nur an wenigen Stellen zum vollen
Ausdruck brachten, so lag dies an dem religiösen Interesse, welches von der
Philosophie eine Entscheidung überfeine Probleme erwartete. Schon im 17. Jahr-
hundert war auf die religiösen Unruhen und Kriege, unter denen Deutschland,
Frankreich und England geUtten hatten, und auf das damit zusammenhängende dog-
matische Gezänk ein Ueberdruss an den ünterscheidungslehren der Confessionen
gefolgt: das Jämmerliche Streitjahrhundert'', wie es Herder genannt hat, sehnte
sich nach Frieden. InEngland breitete sich die Stimmung der Latitudinarier
aus, und auf dem Continent wurden die Unionsbestrebungen trotz mehr-
fachen Scheiterns immer wieder von Neuem aufgenommen. Bossuet und Spinola
auf der einen, L eibniz auf der anderen Seite arbeiteten lange in dieser Richtung:
letzterer entwarf ein Systema theologicum, welches die allen drei Confessionen
gemeinsamen Grundlehren des Christenthums enthalten sollte, und als die Ver-
handlungen mit den Katholiken aussichtslos wurden, versuchte er wenigstens
seine Beziehungen zum Hannoverischen und Berliner Hofe zur Herbeiführung
einer Eioigung zwischen Lutheranern und Reforrairten zu benutzen — auch das
freihch ohne unmittelbaren Erfolg.
Auf der anderen Seite fasste Ijocke in seinen drei „Briefen über die Tole-
ranz" die Gedanken der Toleranzbewegung zu der Theorie der „freien
Ejrche im freien Staat", zu der Forderung zusammen, dass der moderne, aller
kirchlichen Bevormundung enthobene Staat jede religiöse Ueberzeugung als per-
sönliche Meinung und jede religiöse Genossenschaft als eine freie Association
1) Das System der Inauguraldissertation ist nur eine Etappe in Eant's Entwicklung;
er gab es sogleich wieder auf: daher gehört es in seine vorkritische Zeit und in diese Periode.
— 2) Diese mit der Berufung auf Malebranche vorgetragene Lehre (Sectio IV) ist somit genau
das System der „praformirten Harmonie" zwischen Erkenntniss und Realität, welches Kant
später (Brief an M. Herz vom 21. Febr. 1772) so energisch verwarf.
384 V. Philosophie der Auf klärung. 1. Theoretische Fragen.
SO weit zu dulden und zu schützen habe, als sie nicht die staatliche Ordnung zu
stören drohen.
Je mehr aber die Union an dem Widerstände der Theologen scheiterte,
um so mehr Nahrung erwuchs dem mystischen Sektenwesen, dessen über-
confessionelle Tendenzen mit jenen Bestrebungen im Einklang waren und das
sich im 18. Jahrhundert mit einer Fülle von interessanten Erscheinungen aus-
breitete. Dem kirchlichen Leben am nächsten und deshalb am erfolgreichsten
hielt sich der von Spener und Francke begründete Pietismus, welcher gleich-
wohl eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen den dogmatischen Glauben erkennen lässt,
dafür aber desto mehr Gewicht auf die Steigerung der persönlichen Frömmig-
keit und auf die Lauterkeit und rehgiöse Färbung des Lebenswandels legt,
1. Ln Zusammenhange mit allen diesen Bewegungen steht die Richtung der
Aufklärungsphilosophie auf eine Begründung des allgemeinen, „wahren"
Christenthums durch die Philosophie. In diesem Sinne wird das wahre
Christenthum mit der Vernunftreligion oder der Naturreligion iden-
tificirt und soll es aus den verschiedenen Formen des positiven, historischen
Christenthums herausgelöst werden. Dabei wird anfangs auch solchem all-
gemeinen Christenthum noch der Charakter einer geoffenbarten Religion gelassen,
dafür aber die volle üebereinstimmung dieser Offenbarung mit der Vernunft be-
hauptet. Diese Stellung nahmen Locke und Leibniz, sowie des letzteren Schüler
Wolff ein. Bei ihnen wird das Verhältniss der natürlichen und der geoffenbarten
Religion ganz nach dem Muster von Albert und Thomas (vgl. S. 263 f.) auf-
gefasst : die Offenbarung ist übervernünftig, aber mit der Vernunft im Einklang;
sie ist die nothwendige Ergänzung zur natürlichen Erkenntniss. Offenbart wird,
was die Vernunft nicht von sich aus finden, nach der Offenbarung aber als mit
sich übereinstimmend verstehen kann.
Von dieser Vorstellung her hatten dieSocinianer schon einen Schritt
weiter gethan. Die Nothwendigkeit der Offenbarung erkannten auch sie sehr
lebhaft an: aber sie betonten andrerseits, dass nichts offenbart sein könne, was
sich nicht der Vemunfterkenntniss zugänglich erweise. Daher sei in den religiösen
Urkunden nur das als offenbarte Wahrheit anzusehen, was rational ist : d. h. die
Vernunft entscheidet, was als Offenbarung gelten soll. Von diesem Standpunkt
schieden die Socinianer die Trinität und die Gottmenschheit Christi aus dem
Inhalt der Offenbarung aus und verlegten überhaupt die Offenbarung aus dem
Gebiete theoretischer Wahrheiten auf ein ganz anderes Feld. Sie verstehen die
Religion unter dem Merkmal der Gesetzlichkeit, und das macht ihre eigen-
thümUche Stellung aus. Was Gott dem Menschen offenbart, ist nicht eine Meta-
physik, sondern ein Gesetz. So that er es in Moses, und so hat er in Christus
ein neues Gesetz gegeben. Ist aber die Religion objectiv Gesetzgebung, so ist
sie subjectiv Gesetzerfiillung, — nicht Annahme theoretischer Lehren, auch
nicht bloss moralische Gesinnung, sondern Unterwerfung unter das von Gott
offenbarte Gesetz und Einhaltung aller seiner Vorschriften. Dies allein hat Gott
zur Bedingung der ewigen Seligkeit gemacht — eine juridische Auffassung der
Religion, welche mit dem Rückgriff auf die schrankenlose Autorität göttlicher
Machtbestimmungen stark scotistische Elemente zu enthalten scheint.
2. Wenn aber das Kriterium der Offenbarung schliesslich doch nur in ihrer
Rationalität Hegen soll, so ist die volle Consequenz dieser Ansicht die, dass die
§35. NatorHche Religion. (Shafbesbury.) 385
historische 0£Fenbarung als überflüssig bei Seite geschoben und als einzige
Religion die natürliche übrig behalten wird. Dies geschah von Seiten der eng-
lischen Deisten, und insofern ist Toland ihr Führer, als er zuerst das Christen-
thum, d. h. die allgemeine Yernunftreligion aller Mysterien zu entkleiden und
es seinem Erkenntnissinhalt nach auf die Wahrheiten des „natürlichen Lichtes^,
d. h. auf eine philosophische Weltanschauung zu reduciren unternahm. Der
Inhalt aber, welchen die Aufklärungsphilosophie dieser ihrer Naturreligion zu
geben suchte, hatte zwei Quellen : die theoretische und die praktische Yernunfk.
In ersterer Hinsicht enthält der Deismus eine auf die Naturphilosophie gegrün-
dete Metaphysik, in der zweiten Richtung involvirt er eine moralphilosophische
Weltanschauung. Auf diese Weise steht die NaturreUgion der Aufklärung
ebenso in der Bewegung der theoretischen wie der praktischen Probleme : diese
ihre beiden Elemente standen in genauem Zusanunenhange, fanden aber je eine
besondere Entwicklung, so dass sie auch aus einander gehen und sich gegen
einander isoliren konnten. Das Yerhältniss beider Bestandtheile zu einander
war ftlr die Geschichte der Naturreligion ebenso bestimmend, wie ihre gemein-
same Beziehung zu den positiven Religionen.
Die volle Vereinigung beider Elemente findet sich bei dem bedeutendsten
Denker dieser Richtung, bei Shaftesbury. Den Mittelpunkt seiner Lehre
wie seines eigenen Wesens bildet das, was er selbst den Enthusiasmus genannt
hat: die Begeisterung für alles Wahre, Gute und Schöne, die Erhebung der Seele
über sich selbst hinaus zu allgemeineren Werthen, das Ausleben der ganzen
Eigenkraft des Individuums durch die Hingabe an etwas Höheres. Nichts anderes
ist auch die Religion : ein gesteigertes Leben der Persönlichkeit, ein Sich-eins-
wissen mit den grossen Zusammenhängen der Wirklichkeit. Diese edle Leiden-
schaft aber wächst wie jede aus der Bewunderung und Erschütterung zur Liebe
heran. Die Quelle der Religion ist daher, objectiv wie subjectiv, die Harmonie
und Schönheit, die Vollkommenheit des Weltalls : ihr unabweisbarer Eindruck
erweckt die Begeisterung. Warmen Herzens schildert Shaftesbury die Ordnung
der Dinge, die Zweckmässigkeit ihres Zusammenspiels, die Schönheit ihrer Ge-
staltung, die Harmonie ihres Lebens, und er zeigt, dass es nichts an sich Böses,
nichts durchaus Verfehltes giebt. Was in dem einen Systeme von Einzelwesen
als ein üebel .erscheint, erweist sich an einem anderen oder in einem höheren
Zusammenhange doch wieder als ein Gutes, als ein nothwendiges Glied im zweck-
vollen Bau des Ganzen. Alle Un Vollkommenheit des Einzelnen verschwindet in
der Vollkommenheit des Universums, jeder Missklang löst sich in der Harmonie
der Welt.
Dieser universalistische Optimismus, dessen Theodicee ihrer begriff-
lichen Struktur nach völlig neuplatonischen Charakters ist, kennt deshalb nur
einen Beweis für das Dasein Gottes, den physiko -theologischen. Die Natur
trägt überall die Züge des Künstlers an sich, der mit höchster Intelligenz und
Feinfuhligkeit die Liebenswürdigkeit seines eigenen Wesens in dem Reiz der
Erscheinungen entfaltet hat. Schönheit ist der Grundbegriff dieser Weltanschau-
ung. Die Bewunderung des Universums ist wesentlich ästhetisch, und der Ge-
schmack des gebildeten Menschen ist für Shaftesbury die Grundlage des religiösen
wie des moralischen Gefühls. Deshalb ist auch seine Teleologie die geschmack-
volle der künstlerischen Auffassung: ähnlich wie Giordano Bnmo sucht er die
Windelband, Geschichte der Philosophie. 25
386 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
Zweckmässigkeit des Universums in der harmonischen Schönheit jedes seiner
einzelnen Gebilde. Alles Kleinliche, Utilistische des teleologischen Denkens ist
hier abgestreift, und ein hinreissender Schwung poetischer Weltverklärung geht
durch Shaftesbury's Schriften : deshalb haben sie so mächtig auf die deutschen
Dichter, auf Herder*), auf Schiller *) gewirkt.
3. Auf dieser Höhe stehen nun freilich wenige der Aufklärungsphilosophen:
Voltaire und Diderot^) liessen sich anfangs zu so begeisterter Weltbetrachtung
roitreissen, auch Maupertuis und Robinet hatten etwas von dem universalistischen
Zuge ; in Deutschland zeigt Reimarus in seinen Betrachtungen über die Kunst-
triebe der Thiere wenigstens eine Empfänglichkeit für die künstlerisch feine
Detailarbeit der Natur und ftir den Selbstzweck, welchen sie in ihren organischen
Gebilden realisirt. Die grosse Masse aber der philosophischen Schriftsteller des
18. Jahrhunderts ist von dem anthropologischen Interesse und von den prakti-
schen Zielen der Weltweisheit so beherrscht, dass sie vielmehr dem Nutzen
nachforschen, welchen die Einrichtung des Weltganzen und die Thätigkeiten
seiner Theile für die Bedürfnisse des Menschen abwerfen: und wenn dabei
die höher Gestimmten hauptsächlich die moralische Förderung und Vervoll-
kommnung im Auge haben, so verschmähen doch auch sie nicht die Gesichts-
punkte des Nutzens und der alltäglichen „Glückseligkeit^.
So wird die ästhetische Teleologie durch die stoische Nützlichkeitslehre
abgelöst, und die technische Analogie, mit welcher Männer wie Leibniz, Newton,
Clarke die Unterordnung des Mechanismus unter die Teleologie gedacht hatten^
konnte dieser Auffassung nur günstig sein. Denn die Zweckmässigkeit der Ma-
schinen besteht gerade darin^ dass sie einen Nutzen abwerfen, dass ihre Leistung
noch etwas anderes ist als ihr eigenes Getriebe. Und dieser Analogie gingen
auch die Aufklärer, welche oft die Uebereinstimmung ihrer Philosophie mit der
Naturwissenschaft herausstrichen, gerne nach: sie benutzten diese Betrachtung
gegen den Wunderbegriff der positiven Religion ; auch Reimarus meinte, nur
Stümper brauchten ihren Maschinen nachzuhelfen, einer vollkommenen Intelligenz
sei es unwürdig, in diese Lage zu kommen. Wenn aber nach dem Zweck der
Weltmaschine gefragt wurde, so war die Antwort der Aufklärer: die Glück-
seligkeit des Menschen, höchstens etwa noch diejenige der geschaffenen
Wesen überhaupt. Am geschmacklosesten ist diese NützUchkeitskrämerei in der
deutschen Aufklärung ausgeführt worden: schon Wolff's empirische Teleologie
(Von den Endabsichten der natürUchen Dinge) reizt die Lachmuskeln durch die
kleinbürgerlichen Gesichtspunkte, welche sie der schöpferischen Intelligenz unter-
schiebt, und die Popularphilosophen überboten sich in der breiten und wohl-
gefaUigen Ausmalung, wie nett und behagUch doch dies Weltall für den homo
sapiens ausgestattet sei und wie wohl sich's drin leben lasse, wenn man sich brav
auiiuhrt.
Edler dachte schon damals Kant, als er in der „Naturgeschichte des
Himmels^ sich die Leibniz-Newton'sche Auffassung zu eigen machte, aber jenes
Gerede vom Nutzen der Welt für den Menschen hinter sich liess und den Blick
auf die Vollkommenheit richtete, welche sich in der unendUchen Mannigfaltigkeit
1) Hbroeb, Vom Erkennen und Empfinden. — 2) Schiller, Philosophische Briefe
(Julius). — 8) Hauptsächlich in den Pensöes philosophiques —
§ 35. Natürliche Religion. (Leibniz.) 387
der Weltkörper und in der Harmonie ihrer systematischen Verfassung darstellt:
und bei ihm erscheint neben der Glückseligkeit der Geschöpfe immer deren sitt-
liche Vervollkommnung und Erhebung. Aber auch er erachtet den physiko-
theologischen^) Beweis für das Dasein Gottes als den menschlich ein-
drucksvollsten^ wenn er ihm auch ebensowenig strikte Beweiskraft zutraut wie
dem kosmologischen und dem ontologischen. Die Fopularphilosophie dagegen
hatte gerade in diesem Beweise ihr Lieblingsstück, und er bildet ein durch-
gängiges Merkmal der Naturreligion.
4. Die Voraussetzung dieses Gedankenganges war die Ueberzeugung; dass
die Welt wirklich so vollkommen und zweckmässig sei, um jenen Beweis zu
tragen. Diese Ueberzeugung brachten gläubige Gemüther mit; und die Litteratur
des 18. Jahrhunderts beweist, dass sie in weiten Kreisen als gültige Prämisse
des Beweises unbeanstandet angenommen wurde: skeptische Geister verlangten
auch dafür den Nachweis und riefen so die Probleme der Theodicee wach.
In den meisten Fällen griff dabei die Aufklärungsphilosophie auf dieselben (an-
tiken) Argumente zurück, welche Shaftesbury in's Feld führte: auch wurde der
skeptisch-orthodoxe Hinweis auf die Beschränktheit der menschlichen Erkennt-
niss und die Dunkelheit der Wege der Vorsehung nicht verschmäht.
Eine neue Wendung erhielt die Theodicee durch Leibniz. Dieser war
durch Bayle's einschneidende Kritik auf die Nothwendigkeit geführt worden,
dem System der Monadologie durch den Nachweis der Vollkommenheit des Uni-
versums die Rechenprobe hinzuzufügen. Er versuchte es, indem er die höchsten
Begriffe seiner Metaphysik dafür in Bewegung setzte, um zu zeigen, dass die
Thatsächlichkeit der üebel in der Welt keine Instanz gegen ihren Ursprung aus
allgütiger und allmächtiger Schöpferthätigkeit bilde. Das physische Uebel ist
in der sittlichen Weltordnung, führt er aus, eine nothwendige Folge des morali-
schen Uebels: es ist die natürliche Strafe der Sünde. Das moralische Uebel aber
hat seinen Grund in der Endlichkeit und Beschränktheit der Geschöpfe: diese
ist das metaphysische Uebel. Als endliches Ding hat die Monade dunkle
und verworrene, sinnliche Vorstellungen, und aus ihnen folgen nothwendig die
dunklen und verworrenen Sinnentriebe, welche die Motive der Sünde sind. So
reducirt sich das Problem der Theodicee auf die Frage: weshalb hat Gott das
metaphysische Uebel geschaffen oder zugelassen?
Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach. Endhchkeit gehört zum
Begriff des Geschöpfes, Beschränktheit ist das Wesen aller Creatur. Es ist eine
logische Nothwendigkeit, dass eine Welt nur aus endlichen, sich gegenseitig be-
schränkenden und durch ihren Schöpfer selbst determinirten Wesen bestehen
kann. Endliche Wesen aber sind unvollkommen. Eine Welt, die aus lauter
vollkommenen Wesen bestünde, ist eine contradictio in adiecto. Und da es eine
ebenso „ewige**, d. h. begriffliche Wahrheit ist, dass aus dem metaphysischen
Uebel das moralische imd weiterhin das physische, dass aus der Endlichkeit die
Sünde und aus der Sünde das Leid folgt, so ist es eine logische Nothwendigkeit,
dass eine Welt ohne Uebel undenkbar ist. Mochte daher die Güte Gottes noch
so sehr das Vermeiden des Uebels verlangen, — die göttliche Weisheit, die
1) Diese Bezeichnung weist in das 17. Jahrhundert zurück und scheint ans den neu-
platonischen Kreisen in England zu stammen: Samuel Parker gab 1669 Tentamina physico-
theologica de deo, William Derham 1713 eine Physico-theology heraus.
25 •
388 ^> Philosophie de]r Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
„Region des v6rites 6terneDes" macht eine übellose Welt zur Unmöglichkeit,
Die metaphysischen Wahrheiten sind unabhängig vom göttlichen Willen: der
letztere ist bei seiner schöpferischen Thätigkeit an sie gebunden.
Andrerseits "aber bürgt die Güte, welche zum Begriff Gottes ebenso gehört
wie seine Weisheit, dafür, dass der üebel so wenig wie möglich sind. Die Welt
ist zufällig, d. h. sie könnte auch anders gedacht werden. Es giebt eine unend-
liche Zahl von mögUchen Welten, — keine davon ganz ohne Uebel, aber eine
mit zahlreicheren und schwereren Uebeln behaftet als die andere. Wenn nun
Gott unter allen diesen möglichen Welten, welche seine Weisheit vor ihm aus-
breitete, diese wirkliche Welt geschaffen hat, so kann ihn dabei nur die Wahl
des Besten geleitet haben: er hat diejenige verwirklicht, welche die wenigsten
und die geringsten Uebel enthält. Die Contingenz der Welt besteht darin, dass sie
nicht mit metaphysischer Nothwendigkeit, sondern durch eine Auswahl unter vielen
Möglichkeiten existirt: und da diese Auswahl von dem allgütigen Willen Gottes
herrührt, so ist es undenkbar, dass die Welt eine andere als die beste wäre. Die
Theodicee kann nicht darauf gehen, das Uebel in der Welt zu leugnen; denn es
gehört zu ihrem Begriff: aber sie kann beweisen, dass diese Welt so wenig Uebel
enthält, als es nach metaphysischem Gesetz irgend möglich war. Gottes Güte
hätte gern eine übellose Welt hervorgebracht, aber seine Weisheit erlaubte ihm
nur die beste unter den möglichen Welten.
Daher stammt der übhche Ausdruck Optimismus. Ob diese Rechenprobe
der physiko-theologischen Weltbetrachtung stimmt, bleibe dahingestellt. Das
18. Jahrhundert fasste die Sache so auf, als habe Leibniz wesentlich beweisen
wollen, dass die Welt die denkbar vollkommenste sei: dass er dies nur unter der
Voraussetzung der metaphysischen Nothwendigkeit des Uebels that, ist charak-
teristischer Weise in der litteratur jener Zeit, die eben selbst durch und durch
„optimistisch^ dachte, kaum beachtet worden. In historischer Beziehung aber
ist Hi dieser Theodicee das Merkwürdigste die eigenthümliche Mischung tho-
mistischer und scotistischer Metaphysik. Die Welt ist so wie sie ist nur deshalb,
weil Gott sie so gewollt hat; er hätte kraft seiner Allmacht auch eine andere
wählen können: aber in der Wahl der vorUegenden Möglichkeiten ist der göttliche
Wille an den göttlichen Verstand als die „ewigen Wahrheiten" gebunden. Ueber
aller Wirklichkeit schwebt das Fatum der Logik.
5. In den bisher entwickelten Formen glaubten die Lehrer der natürhchen
Religion auf dem physiko-theologischen Wege zum Begriffe der Gottheit als der
schöpferischen Intelligenz zu gelangen, und fiir diese Phase der Entwicklung
pflegt der Name Deismus angewendet zu werden. Die Auffassung Gottes als
Persönlichkeit, welche dabei als letzter Rest aus der positiven Religion übrig
geblieben ist, bot auch für die moralische Seite der Naturreligion den Anhalt
und fand andrerseits daran ihren Rückhalt. Wo aber nur das theoretische Ele-
ment verfolgt wurde, da sah sich die Naturreligion in den Entwicklungsgang der
naturalistischen Metaphysik verflochten und fand darin schliesslich ihren Untergang.
Schon Toland gab der Naturbewunderung, die für ihn den wesentlichen Inhalt
des religiösen Gefühls ausmachte, eine durchaus pantheistische Wendung,
und mit dem Hylozoismus, der sich bei den französischen Naturforschern
ausbildete (vgl. § 34, 9), hörte die Transscendenz Gottes ebenso wie die Persön-
lichkeit auf: und als dann die Alleinherrschaft der mechanischen Naturerklärung
§ 86. Natürliche Religion. (Voltaire, Diderot, Bayle.) 389
verkündet wurde, als auch die organische Welt im Princip als Product des allge-
meinen Naturmechanismus erkannt war^ da verlor der physiko-theologische Be-
weis seine Macht über die Geister. Dazu kam^ dass die Prämissen desselben
in Frage gestellt wurden. Das ganz Buropa erschütternde Ereigniss des Erd-
bebens in Lissabon (1755) brachte bei Vielen die Vorstellung von der Voll-
kommenheit und Zweckmässigkeit der Welteinrichtung in's Schwanken: die
Grleichgiltigkeit; mit der die Natur das Menschenleben und all seinen Zweck-
und Werthinhalt zerstört, schien weit eher für eine blinde Nothwendigkeit alles
Geschehens als für eine teleologische Anlage des Weltprocesses zu sprechen.
Voltaire, in dem sich dieser Umschwung der Auffassung auch vollzog, begann
im Candide die „beste der möglichen Welten" zu verspotten, und das natur-
philosophische Element der Naturreligion war in sich zerfallen.
Das Systeme de la nature mit seinem Atheismus und Materialismus
zog die letzte Consequenz daraus. Alle Zweckmässigkeit, alle Ordnung iu der
Natur ist nur ein Phänomen im menschlichen Geiste: die Natur selbst kennt nur
die Nothwendigkeit der Atombewegung und in ihr giebt es keine W-erth-
bestimmungen, welche von Zwecken oder Normen abhängig sind. Die Gesetz-
mässigkeit der Natur ist in denjenigen Dingen, welche uns zwecklos oder unzweck-
mässig, regellos oder anomal erscheinen, mit derselben Folgerichtigkeit wirksam,
wie in den Dingen, die wir hinsichtlich ihrer üebereinstimmung mit unseren Ab-
sichten oder Gewohnheiten beurtheilen und als zweckvoll bilUgen. Der Weise
soU diese Indifferenz der Natur sich zu eigen machen: er soll die Relativität
aller Zweckauffassungen durchschauen ; es giebt keine reale Norm oder Ordnung.
Dies Princip wendete Diderot auf die Aesthetik an. Die Consequenz der
Natur ist danach das Einzige, was die Kunst darstellen, was sie auffassen und
wiedergeben soll: die Schönheit gehört zu denjenigen Werthungen, welchen keine
objective Geltung zukommt. Der Materialismus kennt nur eine ideallose
Kunst, nur die gleichgfltige Copie irgend eines beliebigen Wirklichen.
6. Während so die naturphilosophischen Grundlagen des Deismus sich
von innen heraus zersetzten, gerieth auch seine erkenntnisstheoretische Basis in's
Schwanken : denn alle Angriffe auf die Möglichkeit einer Metaphysik trafen auch
diejenige einer Naturrehgion, welche ja doch inhaltlich nur einen Best religiöser
Metaphysik darstellte. In dieser Hinsicht war der Baconismus der gefährlichste
Feind der deistischen Lehre: er liess die Religion nur als Offenbarung gelten
und bestritt die Möglichkeit, ihre Lehren mit der Vernunft zu erkennen oder
auch nur in Einklang zu bringen. Niemand hat diesen Standpunkt energischer
vertreten als Pierre Bayle. Er arbeitete systematisch daran, die Widerver-
nünftigkeit aller dogmatischen Lehren aufisuzeigen, er legte mit eindringendem
Scharfsinn ihre Widersprüche bloss, er suchte zu beweisen, dass sie für die natür-
liche Vernunft absurd wären: aber er deckte auch die Blossen des Deismus auf,
er leugnete die Beweiskraft der philosophischen Argumente für das Dasein
Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, und er setzte namentlich bei den Pro-
blemen der Theodicee ein, um die Unzulänglichkeit des „natürlichen Lichts^ zu
erweisen : selbst im Streit mit Leibniz war er nicht der unterUegende Theil.
Religion ist deshalb für ihn nur als positive Offenbarung, im Widerspruch mit
der philosophischen Erkenntniss möglich. Er vertritt in aller Schärfe die zwei-
fache Wahrheit. Mochte er darum vielleicht auch selbst für seine Person das
390 V. Philosophie der Aufklärung. 1. Theoretische Fragen.
Verdienst des widervernünftigen Glaubens haben; — seine Schriften und ins-
besondere die Artikel des vielgelesenen Dictionnaire waren den theoretischen
Lebren der positiven Religion nicht weniger gefahrlich als denen des Deismus.
Aus erkenntnisstheoretischen Gründen hat endlich auch Hume die Ver-
einigung aufgelöst, welche die übrigen englischen Empiristen und Nominalisten,
ja selbst die Materialisten wie Hartley und Priestley mit der natürlichen Religion
aufrechtzuerhalten suchten. Wenn es überhaupt keine Metaphysik der Dinge
giebt; so fallt auch die philosophische Keligion dahin. Zwar erkennt Hume (als
Cleanthes im Dialog) im Sinne seines praktischen Probabilismus an, dass die
Welt im Ganzen den unbestreitbaren Eindruck der Zweckmässigkeit und ver-
nünftigen Ordnung mache, und findet deshalb^ dass jener Glaube (belief), auf dem
alle Lebenserfahrung beruht; auch für die (physiko-theologische) Annahme einer
einheitlichen Schöpfung und Leitung des Ganzen zutrifft. Aber vom wissen-
schaftlichen Standpunkte aus kann er (als Philo) diesen Glauben nicht für
begründbar erachten. Insbesondere macht er nach den Principien der Wahrschein-
lichkeitsrechnung geltend; es erkläre sich auch unter Voraussetzung rein mechani-
nischer Lehren recht gut, dass unter den zahllosen Combinationen der Atome
schliesslich eine haltbare, zweckmässige; wohlgeordnete zu Stande gekommen
und befestigt sei. So bleibt es bei einer problematischen Entscheidung. Die
Naturroligion ist eine vernünftige Betrachtungsweise des praktischen Menschen;
aber sie soll keine wissenschaftliche Lehre sein wollen.
7. Je mehr aus diesen oder anderen Gründen das metaphysische Moment
des Deismus zurücktrat; um so mehr wurde das „wahre Christenthum", das der-
selbe sein wollte; auf eine moralische üeberzeugung beschränkt. Das
hatte schon Herbert von Cherbury, welcher der Naturphilosophie ferner stand;
nahe gelegt; und ganz bestimmt war es von Spinoza ausgesprochen worden. Danach
sollte das Wesen der Religion im sittlichen Handeln bestehen; das religiöse
Leben zu seinem wahren Inhalte die Besinnung auf die Pflicht und den Ernst
einer danach bestimmten Lebensführung haben. Das ergab für sich allein nur sehr
verschwommene und blasse Linien der Weltanschauung. Es bheb eine un-
bestinmite Vorstellung von einem allgütigen Gotte übrig; der den Menschen zur
GlückseUgkeit geschaffen habC; den wir durch tugendhaftes Leben verehren sollen;
und der in einem ewigen Leben die ausgleichende Gerechtigkeit üben wird, dass
solcher Tugend der Lohn zu Theil werde, der ihr hier mangelt. Niemand wird
den reineu; edlen Sinn verkennen, der in diesem moralisirenden Deismus
lebtC; oder den hohen Werth; welcher ihm historisch zukommt, weü er der Ein-
seitigkeit und dem Streit des confessionellen Eifei*s gegenüber die Ideale der
Duldung und der Menschenliebe, die Achtung des rein MenschhcheU; die Werth-
schätzung der sittlichen Gesinnung und die Bescheidung des persönlichen Meinens
in der Litteratur und im Leben der Gesellschaft zu Ehren gebracht hat. Aber
andrerseits ist es auch wahr, dass es nie eine magerere Form des religiösen
Lebens gegeben hat als diese : es fehlt ihr der Erdgeschmack der KeligioU; und
mit den Mysterien, welche die Aufklärung nicht duldete, ist ihr das Verständniss
für die Tiefen der Religiosität verloren gegangen. Nichts ist mehr darin von
dem Bangen um das Heil der SeelC; von dem Ringen nach Erlösung, von dem
inbrünstigen Gefühl der Errettung. Darum fehlte dem Deismus die religiöse
Lebenskraft, er war ein Kunstproduct der gebildeten Gesellschaft, und wenn die
§36. Natürliche Religion. (Freidenkerthum.) 391
deutschen Aufklärer Bücher schriehen, um den Landkindem die deistische
Moral zu predigen, so bewiesen sie nur^ wie wenig sie von der wirklichen
Religion verstanden.
Bei der grossen Menge der popularphilosophischen Vertreter dieses
Standpunktes bleibt mit allen möglichen Abstufungen eine üngewissheit darüber,
wieweit jene moralischen Beste der religiösen Weltanschauung noch einer theo-
retischen Begründung fähig sein und wieweit sie nur als Inhaltsbestimmungen
des ethischen Bewusstseins gelten sollen. Volle Klarheit herrscht darüber in
Voltaire's späterem Denken. Hier ist er von Bayle's Skepsis so weit ergriflFen,
dass er die metap^hysische Berechtigung nicht mehr anerkennt: jetzt gelten ihm
GottheitundUnsterblichkeitnur.nochalsPostulate des sittlichen Gefühls,
der Glaube daran als die Bedingung für das sittliche Handeln. Mit diesem
Glauben, meint er, würden die Motive für einen rechtschaffenen Lebenswandel
und damit die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung zusammenstürzen: si
Dieu n'existait pas, il faudrait Tinventer.
8. So verschieden diese einzelnen Ausbildungsformen der Naturreligion
sind, in Einem Punkte sind sie alle einig: in der abschätzigen Ejitik der positiven
Beligionen. Als wahr gilt in diesen nur das, worin sie alle unter einander und
mit der Naturreligion übereinstimmen: alles aber, was darüber hinaus in der
positiven Religion mit Berufimg auf eine besondere Offenbarung gelehrt wird,
weisen die Deisten a limine ab, und gerade in dieser Hinsicht nannten sie sich
selbst Freidenker. Die Ansprüche der Offenbarungslehre fanden daher be-
sonders lebhaften Widerspruch. Collins widerlegte den Weissagungsbeweis,
Woolston den Wunderbeweis, beide indem sie für die entsprechenden Berichte
der religiösen ürkimden eine möglichst natürliche Erklärung zu geben suchten.
Dieser Versuch, die Glaubwürdigkeit der biblischen Erzählungen nicht in Zweifel
zu ziehen, sie aber in oft sehr wunderlicher Weise durch rein natürliche Ur-
sachen mit Ausschluss alles Geheimnissvollen und Uebernatürlichen zu erklären,
ist in Deutschland hauptsächlich als die rationalistische Deutung bezeichnet
und geübt worden. Hier war es auch, wo Beimarus in seiner ^ Schutzschrift"
am schärfsten gegen die Möglichkeit der Offenbarung vorging, die er für über-
flüssig, für undenkbar und für unwahr erklärte. Andere richteten ihre Kritik
gegen die einzelnen Lehren der Dogmatik: Diderot bekämpfte die moralischen
Merkmale des christlichen Gottesbegriffs, und Voltaire übte seinen Witz in der
schonungslosen Verspottung der Dogmen und der Ceremonien aller Religionen
und Confessionen.
Auch bei ihm aber lag der ernste Gedanke zu Grunde, dass alle diese Zu-
thaten der positiven Religionen ebenso viele Verdunklungen und Verderbnisse der
wahren Religion seien, für die er sich wie die anderen Deisten zu streiten berufen
fühlte. Sie waren von der üeberzeugung erfüllt, dass die Naturreligion ein Erbtheil
aller Menschen, eine im Wesen des Menschen selbst angelegte üeberzeugung und
dass sie daher der ursprüngliche Zustand des religiösen Lebens gewesen sei.
Von hier aus erschienen alle positiven Religionen als Depravationen, welche im
Lauf der Geschichte eingetreten seien, und ein Fortschritt der Religions-
geschichte besteht deshalb immer nur in der Rückkehr zu der anfanglichen, reinen
und unverfälschten Rehgion. Daher ist nach T in dal das wahre Christenthum, das
mit dem Deismus zusammenfallen soll, so alt wie die Schöpfung: Jesus hat nicht
392 V. Philosophie der Aufklärang.
eine Offenbarung gebracht, er hat nur gegenüber der Verrottung der kntiken
Beligionen die wahre Gottesverehrung wiederhergestellt: aber die christlichen
Kirchen haben sein Werk wieder in Verderbniss gebracht, und das Preidenker-
thum will zu ihm zurückkehren. So unterschied auch Lessing zwischen der
ReUgion Christi und dem Christenthum.
Fragte man aber nun nach den Ursachen, welche diese Entstellung der
wahren Religion herbeigeführt hätten, so fehlte es den Aufklärern durchweg an
jedem historischen Yerständniss dafür: das, was sie für falsch hielten, schien
ihnen nur durch willkürliche Erfindung möglich. Sie waren von der Evidenz der
alleinigen Richtigkeit ihres Deismus so sehr überzeugt, dass ihnen andere Lehren
nur durch Lug und Trug erklärbar, dass ihnen die Verkünder derselben nur im
eigenen Literesse gehandelt zu haben schienen. So ist denn die allgemeine Lehre
der Deisten die, dass der historische Grund der positiven Religionen Erfindung
und Betrug sei. Selbst Shaftesbury wusste keine andere Erklärung dafür, dass
der Enthusiasmus, der die reine Religion ausmacht, bis zum Fanatismus des Aber-
glaubens habe entstellt werden können. Am schärfsten spricht auch in dieser
Hinsicht der Priesterhass der Aufklärer in der Schutzschrift von Reimarus.
9. Solche Unfähigkeit, dem historischen Wesen der positiven Religionen
gerecht zu werden, hing mit dem allgemeinen Mangel [an geschichtlichem Sinn
und Verständniss zusammen, welcher der gesammten Aufklärungsphilosophie
eigen war und seinen Grund darin hatte, dass das moderne Denken an der
Hand der Naturwissenschaft in der Aufsuchung des sei es zeitlos sei es inmier
Geltenden gross geworden war. Nur an wenigen Stellen wurde dieser Bann
durchbrochen.
Zuerst und mit klarstem Bewusstsein von David Hume. Hatte er ge-
funden, dass die Religion nicht auf demonstrative Vemunfterkenntniss begründet
werden kann, so zeigte er, dass von dieser Untersuchung: die Frage nach der Ent-
stehung der Religion im menschhchen Geiste völlig gesondert werden müsse.
Diese behandelte er lediglich nach psychologischen Principien als „Natur-
geschichte der Religion^. Er zeigt, wie in der primitiven Auffassung der
Natur und in den Gefühlen der Furcht und Hoffnung, der Erschütterung und
Beglückung, die sich daran knüpfen, in der Vergleichung des Naturlaufs mit den
Wechselfallen des Menschenlebens die Anlässe zur Bildung von Vorstellimgen
höherer "Wesen und zu ihrer beschwichtigenden oder schmeichelnden Verehrung
lag. Die natürliche Urform der Religion ist also der Polytheismus, der jene
höheren Mächte durchaus anthropomorphistisch denkt und behandelt. Allein
die mannigfachen Gestalten des Mythos verschmelzen nach den Gesetzen der
Ideenassociation, die Mythen gehen in einander über, und schliesslich verdichtet
sich die ganze religiöse Vorstellungsmasse zu dem Glauben an ein einheitliches
göttliches Wesen, dem die zweckvolle Ordnung des Universums zu danken ist, —
ein Glaube fireilich, der sich nicht rein zu erhalten vermag, sondern sich in
mancherlei Formen mit seinen ursprünglichen Voraussetzungen verknüpft. Die
Geschichte der Religion ist die allmähliche Umwandlung des Polytheismus in
Monotheismus, und ihr Resultat trifft mit jener teleologischen Weltbetrachtung
zusammen, welche Hume als die zwar nicht wissenschaftUch beweisbare, aber mit
dem natürlichen Ueberzeugungsgefühl verbundene Ansicht des verständigen
Menschen entwickelt hatte.
2. Praktische Fragen. 393
, Dieser psychologisch -calturhistorischen Auffassungs weise trat die philo-
logisch-litterargeschichtliche an die Seite, welche in der durch Salomon Semler
begründeten historischen Bibelkritik ihren Ausdruck fand. Sie begann den
von Spinoza^) formulirten Gedanken auszufuhren , dass die biblischen Bücher
ihrem theoretischen Inhalte ; ihrer Entstehung und Geschichte nach ebenso wie
andere Schriften behandelt, aus ihrer Zeit und der Eigenart ihrer Verfasser ver-
standen werden müssten : insbesondere machte Semler auf den Gesichtspunkt
aufmerksam, dass in den Büchern des Neuen Testaments die verschiedenen Par-
teien der ersten Christengemeinden zu Worte kommen. Mögen auch die Hypo-
theseU; zu denen er in dieser Hinsicht gelangte, von der späteren Wissenschaft
überholt worden sein, so wurde doch darin ein wissenschaftlicher Ausweg aus
dem Badicalismus gezeigt, in den sich die deistische Sichtung verrannt hatte,
und Sender erhob deshalb seine Stimme gegen die Wortführer der Aufklärung.
Von noch anderer Seite hat L e s s i n g in diese Fragen eingegriffen. Er war
gewiss nicht der Mann, seine üeberzeugung unter eine Satzung zu beugen; er
durchschaute und verwarf, wie nur irgend ein anderer, die Beschränktheit, welche
in dem historisch Ueberkommenen das einzig Wahre sehen will: aber er hütete sich
wohl, selbst den Richter zu spielen, der erst nach tausend, tausend Jahren über
die Echtheit der Ringe entscheiden soll. Allein es ist nicht nur dies, was ihn von
der grossen Masse der Aufklärer trennt: er ist selbst eine tiefe, religiöse Natur,
und wie Herder ^), so sieht auch er in der Religion ein lebendiges Verhältniss des
Menschen zu Gott und Gottes zum Menschen. Daher ist Religion nicht ohne
Offenbarung möglich, und die Geschichte der Religionen ist die Reihenfolge
der Offenbarungen Gottes, ist die Erziehung des Menschengeschlechts
durch Gott. Für die planvolle Aufeinanderfolge dieser Offenbarungen nimmt
Lessing das Verhältniss an, dass der tiefere Sinn einer jeden in der folgenden
klarer und deutlicher enthüllt wird. So lässt auch das Neue Testament, dies zweite
Elementarbuch, an dem der fortgeschrittenere Schüler jetzt „stampft und glüht'',
den Ausblick auf ein ewiges Evangelium ahnen. In der Ausführung^) dieses
origenistischen Gedankens deutet Lessing nur tastend unbestimmte Linien an,
welche in der Richtung einer mystisch -speculativen ümdeutung der Dogmen
liegen.
2« Kapitel Die praktisolieii fragen.
Wenn die Naturreligion des 18. Jahrhunderts den Halt, welchen ihr die
naturwissenschaftliche Metaphysik nicht dauernd gewähren konnte, bei der Moral
suchte, so war dies dadurch ermöglicht, dass inzwischen auch dieser Zweig der
philosophischen Untersuchungen seine völlige Unabhängigkeit von der positiven
Religion gewonnen hatte. Und in der That war diese Ablösung, welche schon
im Gefolge der religiös indifferenten Metaphysik des 17. Jahrhunderts begonnen
1) In welchem Masse Spinoza's Schriften den religiösen Aufklärern in Deutschland
bekannt waren, erhellt unter Anderm aus der interessanten Thatsache, dass Lorenz Schmidt,
der Leiter der Wertheimer Bibelübersetzung, der anonyme Herausgeber eines Buches ist,
worin nnter der Maske einer „WiderleguDg der Lehre Spinoza's durch den berühmten Philo-
sophen Christian Wolff" eine vorzügliche Uebersetzung von Spinoza's Ethik geboten und
schliesslich nur ein paar Paragraphen aus Wolff's Deutschen Schriften angehängt werden.
(Gedruckt Frankfurt u. Leipzig 1744). — 2) Vgl. Herdkr's Schrift über die „Aelteste Urkunde
des Menschengeschlechts". — 3) Erziehung des Menschengeschlechts, § 72 ff.
394 ^' Philosophie der Auf klärung. 2. Praktische Fragen.
hatte, verhältnissmässig schnell und einfach vollzogen worden: dabei aber machte
sich die Eigenthümlichkeit des neuen Zeitalters auch darin geltend, dass der
Schwerpunkt dieser Untersuchungen sehr bald auf das psychologische Gebiet
verlegt wurde, und hierin kam der Philosophie die litterarische Neigung des Zeit-
alters entgegen^ die auf eine vertiefte Beschäftigung des Menschen mit sich selbst,
auf ein Durchwühlen seiner Gefühle, ein Zergliedern seiner Motive, auf die
„sentimentale" Pflege persönlicher Beziehungen gerichtet war. Das in seinem
Innenleben schwelgende Individuum, die sich selbst geniessende Monade
ist die charakteristische Erscheinung der Aufklärungszeit. Der Individualismus
der Renaissance, welcher im 17. Jahrhundert durch die äusseren Mächte zurück-
gedrängt war, brach nun aus der steifen Grandezza ceremoniösen Formelwesens
mit verinnerlichter Gewalt wieder hervor: die Schranken sollten durchbrochen,
die Aeusserlichkeiten abgeworfen, das reine, natürliche Leben des Menschen
herausgekehrt werden.
Je wichtiger aber so der Einzelne sich selbst wurde und je vielseitiger er
die Fragen nach dem Inhalt seiner wahren Glückseligkeit erwog, um so mehr
wurden ihm Moralität, Gesellschaft und Staat zum Problem. Wie kommt — so
lautet die praktische Grundfrage der Aufklärungsphilosophie — das Individuum
zu einem Lebenszusammenhange, der über es selbst hinausgreift? Durch alle die
lebhaften Discussionen dieser Probleme geht als stiUschweigende Voraussetzung
die Ansicht hindurch, dass das Einzelwesen in seiner (wie immer aufgefassten)
natürlichen Bestimmtheit das Ursprüngliche, Gegebene, das ein£Eich Selbst-
verständliche sei und dass aus ihm erst alle jene übergreifenden Beziehungen
zu erklären seien. Insofern bildet, hier mehr nach Analogie des Atomismus dort
mehr nach derjenigen der Monadologie gedacht, die naturalistische Metaphysik
des 17. Jahrhunderts den Hintergrund für die Moral des achtzehnten.
Die stetig fortschreitende Verdeutlichung dieser Voraussetzungen hat es
mit sich gebracht, dass die Principien der Ethik in den Verhandlungen dieser
Zeit eine werthvoUe Klärung fanden. Denn indem das sittliche Leben als etwas
zu dem natürlichen Wesen des Individuums Hinzutretendes, erst zu Erklärendes
angesehen wurde, musste einerseits durch eine genaue Scheidung festgestellt
werden, was denn eigentlich dies zu Erklärende sei, und andrerseits die Unter-
suchung sich darauf richten, worauf sein Werth und seine Geltung beruhe: und
je mehr dabei die Sittlichkeit als ein dem natürlichen Wesen des Individuums
Fremdes erschien, um so mehr machte sich neben der Frage nach dem Grunde
der Geltung der sittlichen Gebote diejenige nach den Beweggründen geltend,
welche den Menschen zu ihrer Befolgung veranlassen. So treten, Anfangs noch
viel verschlungen und dann sich von Neuem verschlingend, drei Hauptfragen
heraus: was ist der Inhalt der Sittlichkeit? worauf beruht die Geltung der sitt-
lichen Gebote? was bringt den Menschen zum sittlichen Handeln? Die Prin-
cipien der Moral legen sich aus einander nach den drei Gesichtspunkten des
Kriteriums, der Sanction und des Motivs. Diese Auseinanderlegung aber
bestand darin, dass sich zeigte, die verschiedenen Antworten auf diese gesonderten
Fragen seien in der mannigfachsten Weise mit einander combinirbar: so ergiebt
sich jene Klärung und Sonderung gerade aus der bunten Mannigfaltigkeit und
dem schillernden Ineinanderspielen der moralphilosophischen Lehren des 18. Jahr-
liunderts. Als der allseitig anregende, vielfach beherrschende Geist steht hier
§ 36. Principien der Moral. (Locke.) 395
Sliaftesbury im Mittelpunkte der Bewegung: einen Abschluss dagegen findet
dieselbe gerade wegen des Auseinandergehens der FragesteUungen in diesem Zeit-
raum nicht (ygl. § 39).
Typisch für den individualistischen Grundzug dieser Ethik war die immer
neu gewendete Abwägung des Verhältnisses von Tugend und Glück-
seligkeit; ihr mehr oder minder scharf ausgesprochenes Endergebniss war^ dass
die Triebbefiriedigung des Individuums zum Werthmass der ethischen Functionen
erhoben wurde. Das auf diesem Princip aufgebaute System der praktischen
Philosophie ist der Utilitarismus, dessen vielspältige Ausbildung den Dreh-
punkt in den verschlungenen Kreisläufen dieser Ueberlegungen ausmacht.
Daraus aber ergab sich die in Bezug auf die politische und sociale Wirk-
lichkeit viel brennendere Frage nach dem Glückseligkeitswerthe des ge-
sellschaftlichen Zusammenhanges^ der öffentlichen Einrichtungen und
ihrer geschichtlichen Entwicklung. Das Bestehende und historisch Gewordene
verlor wiederum seine unmittelbare Geltung und seine unbefangene Würdigung:
es sollte sich vor dem kritischen Bewusstsein rechtfertigen und sein Existenz-
recht durch die Yortheile bewähren^ die es für die GlückseUgkeit der Individuen
abwarf. Von diesem Gesichtspunkte her entwickelte sich die Staats- und Gesell-
schaftsphilosophie des 18. Jahrhunderts^ von hier aus nahm sie ihre kritische
Stellung zu der historischen Wirklichkeit, und nach diesem Massstabe prüfte sie
schliesslich auch den Ertrag des geschichtlichen Fortschritts der menschlichen
Civilisation. Der Werth der Cultur selbst und das Verhältniss von Natur
und Geschichte wurden so zu einem Problem, das, am eindrucksvollsten von
Rousseau formulirt, in dem Gegensatz der von diesem angeregten Richtungen
and im Verein mit den erschütternden Ereignissen der Revolution die Anfange
der Geschichtsphilosophie bestimmte.
§ 86. Die Principien der Moral.
Fr. Schlbieruacheb, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), W. W.
in. Bd. 1.
H. SmowiCK, The methods of ethics, 3. Aufl. London 1884.
Die fruchtbarsten Anregungen zur Discussion der ethischen Probleme sind
in positiver wie in negativer Richtung von Hobbes ausgegangen. Das von ihm
aufgestellte „selfish System^ erstreckt seine Wirksamkeit durch das ganze
18. Jahrhundert: es wird in aUe seine Consequenzen durchgeführt, und es ist ein
stets mächtiger Stachel zum Hervortreiben der gegensätzUchen Ansichten, die
eben dadurch auch von ihm abhängig werden. In gewissem Sinne gilt dies schon
von Cumberland, der zwar dem psychologischen Relativismus gegenüber die Gel-
tung der sittlichen Gebote als ewiger Wahrheiten verfocht, dabei aber doch als
ihren wesenthchen und bestimmenden Zweckinhalt die allgemeine Wohlfahrt
betrachtet wissen wollte.
1. Die Stellung Locke's ist in diesen Fragen noch weniger ausgeprägt
als in den theoretischen. Allerdings nimmt bei seiner Bestreitung der „ein-
geborenen Ideen ^, wie es sich aus deren Frontbietung gegen den Piatonismus
der Cambridger Schule erklärt, die Behandlung der praktischen Principien fast
den breiteren Raum ein: aber die positiven Andeutungen, welche sich über
ethische Gegenstände in seinen Schriften verstreut finden (und mehr als An-
396 V. Philosophie der Aufklämng. 2. Praktische Fragen.
cleutungen sind es freilich nicht); gehen über den blossen Psychologismus be-
trächtlich hinaus. Locke sieht das moralische Urtheil als eine demonstrative
Erkenntniss an, weil es zu seinem Gegenstande ein Yerhältniss hat; nämlich die
Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer menschlichen Handlungs-
weise mit einem Gesetze '). Danach erscheint für die Ethik der imperative
Charakter als wesentlich. Das Bestehen solcher Normen setzt aber nicht nur
einen Gesetzgeber voraus, sondern auch dessen Macht, ihre Befolgung mit
Lohn, ihre Missachtung mit Strafe zu behaften: denn nur durch die Erwartung
dieser Folgen kann nach Locke's Meinung ein Gesetz auf den Willen wirken.
War der Philosoph sicher, mit solchen Sätzen von dem common-sense des
Durchschnittsmenschen nicht abzuweichen, so gilt das ebenso von den drei In-
stanzen, die er für die gesetzgeberische Autorität auffährt: öffentliche Meinung,
Staat und Gott. Bei der höchsten dieser Instanzen aber fand er wieder einen
Anknüpfungspunkt an die Beste der cartesianischen Metaphysik, die sein Empiris-
mus bewahrt hatte. Der Wille Gottes nämUch wird (nach Locke's Religions-
philosophie, vgl. § 35, 1) völlig identisch durch die Offenbarung und durch das
„natürUche Licht^ erkannt. Das Gesetz Gottes ist das Gesetz der Natur. Sein
Inhalt aber ist der, dass durch die von Gott bestimmte Naturordnung an
gewisse Handlungen schädUche, an andere nützliche Folgen geknüpft, und dass
deshalb jene verboten, diese geboten sind. So gewinnt das Moralgesetz eine
metaphysische Wurzel, ohne seinen utilistischen Inhalt einzubüssen.
2. Das Bedürfniss nach einem metaphysischen Grunde der Moral
machte sich auch in anderen Formen und zum Theil noch stärker geltend : war
es doch der gesammten cartesianischen Schule in der Weise geläujQg, dass der
rechte Wille als die nothwendige und unausbleibliche Folge der rechten Einsicht
betrachtet wurde. Hierin secundirte dem Cartesianismus die ganze Schaar der
ihm in der Naturphilosophie so feindüchen Platoniker, — schon Henry More *)
und Cudworth*), später besonders Richard Price*). Sie aUe gingen von dem
Gedanken aus, dass das Sittengesetz mit der innersten Natur der aus Gott ge-
flossenen Wirklichkeit gegeben und deshalb mit ewigen und unveränderlichen
Lettern in jedem vernünftigen Wesen geschrieben sei. Mit viel Begeisterung,
aber mit wenig neuen Argumenten verfechten sie die stoisch-platonische Lehre
in ihrer christlich-theistischen Umbildung.
Dabei nahm dieser Intellectualismus im Zusammenhange mit der
rationalistischen Metaphysik eine Richtung, welche sich von dem scotistischen,
durch Descartes und noch mehr durch Locke erneuerten Recurs auf den gött*
liehen Willen weit entfernte und statt dessen dai'auf ausging, den Inhalt des
Sittengesetzes ledigUch durch metaphysische Verhältnisse und demgemäss in
letzter Instanz nach logischen Kriterien zu bestimmen : und darin gerade trat
der Gegensatz gegen alle psychologistisch beeinflussten Theorien hervor, die in
irgend einer Form immer auf Lust- und Unlustgefuhle als den innersten Nerv
der ethischen Bestimmungen zurückkamen. Am deutlichsten ist dies beiClarke,
welcher das objective Princip der Moral in der Angemessenheit einer Handlung
zu den sie bestimmenden Verhältnissen finden wollte, für die Erkenntniss dieser
1) Vgl. Essay conc. h. u. II, 28, 4 ff'. — 2) Encheiridion elhicum (1667). — 8) Dessen
Treatise conceniing etemal and immutable morality wurde erst 1731 von Chandler heraus-
gegeben. — 4) Questions and difficulties in morals (London 17d8).
§ 36. Principien der Moral. (Clarke, Bayle.) 397
Angemessenheit eine der mathematischen analoge Evidenz in Anspruch nahm und
in cartesianischem Sinne davon überzeugt war^ dass aus solcher Einsicht sich
unausweichlich das Yerpflichtungsgefuhl entwickle, durch welches der Wille zu
der sachgemässen Handlung bestimmt werde. Ethische Minderwerthigkeit er-
schien danach wiederum ganz in antiker Weise (vgl. § 7, 6) als Ausfluss der
Unkenntniss oder der sach widrigen Meinung. Demselben Gedanken gab^ von
(Clarke angeregt, Wollaston die Wendung, dass, da jede Handlung ein (theo-
retisches) Urtheil über die zu Grunde liegenden Verhältnisse involvire, es an
der Bicbtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Urtheils sich entscheide, ob die Hand-
lung auch im ethischen Sinne recht oder unrecht sei.
3. Eine eigenthümliche Stellung nimmt in diesen Fragen Pierre Bayle ein:
er vertritt einen Rationalismus ohne jeden metaphysischen Hinter-
grund. Bei ihm war das Interesse, die Moral gegen alle Abhängigkeit von
dogmatischen Lehren sicher zu stellen, am stärksten und radicalsten wirksam.
Wenn er, metaphysische Erkenntniss überhaupt für unmögUch erklärend, die
rationale Begründung der Naturreligion ebenso bestritt wie diejenige des positiven
Dogmas, so gab er der „Vernunft", was er ihr auf theoretischem Gebiete ge-
nommen, dafür auf dem praktischen mit vollen Händen zurück. Unfähig, das
Wesen der Dinge zu erkennen, ist die menschliche Vernunft nach ihm vollauf
mit dem Bewusstsein ihrer Pflicht ausgerüstet: ohnmächtig nach aussen, ist sie
durchaus Herrin über sich selbst. Was ihr am Wissen fehlt, hat sie am Gewissen :
eine Erkenntniss ewiger und unwandelbarer Wahrheit.
Die sittliche Vernunft, meint daher Bayle, bleibt überall dieselbe, so ver-
schieden die Menschen, die Völker, die Zeiten in ihren theoretischen Einsichten
sein mögen. Er lehrt zum ersten Mal mit deutlichem Bewusstsein die völlige
Unabhängigkeit der praktischen Vernunft von der theoretischen:
aber er spitzt auch dies gern auf das theologische Gebiet zu. Offenbarung und
Glaube gelten ihm in katholischer Weise wesentlich als theoretische Erleuchtung:
eben darum erscheinen sie ihm für die Sittlichkeit als gleichgiltig. Er bewunderte
die ethische Tüchtigkeit des antiken Heidenthums, und er glaubte an die Mög-
lichkeit einer moralisch wohl geordneten Lebensgemeinschaft von Atheisten.
Wenn deshalb seine theoretische Skepsis der Kirche günstig scheinen mochte,
so musste diese in seiner Moralphilosophie den gefahrlichsten Gegner bekämpfen.
Wurden dabei die sittlichen Grundsätze auch von Bayle als „ewige Wahr-
heiten^ proklamirt, so geschah dies in dem ursprünglich cartesianischen Sinne,
wonach es sich nicht sowohl um die psychologische Frage des Eingeborenseins,
als vielmehr um den erkenntnisstheoretischen Gesichtspunkt der unmittelbaren,
logisch unvermittelten Evidenz handelte. In diesem Sinne galt selbstverständhch
das virtuelle Eingeborensein der sittlichen Wahrheiten auch bei Leib niz, und es
geschah in beider Geiste, wenn Voltaire, der, je skeptischer er sich zur Meta-
physik stellte (vgl. § 36, 5), um so mehr sich Bayle's Standpunkt näherte, von
den sittlichen Grundsätzen sagte, sie seien dem Menschen angeboren wie seine
Gliedmassen: beide müsse er erst durch die Erfahrung gebrauchen lernen.
4. Bayle mochte wohl die allgemeine Ansicht hinter sich haben, wenn er
den sittlichen Ueberzeugungen eine über allen Wechsel und alle Verschiedenheit
theoretischer Meinungen erhabenen Werth zuschrieb: aber er hatte damit viel-
leicht gerade deshalb Erfolg, weil er jene Ueberzeugungen als etwas Allbekanntes
398 V. Philosophie der AufkläruDg. 2. Praktische Fragen.
behandelte und sich nicht darauf einliess, ihren Inhalt in ein System oder auf
einen einheitlichen Ausdruck zu bringen. Wer aber dies yersuchte, der schien
schwer eines Princips entrathen zu können; das nicht entweder der Metaphysik
oder der Psychologie entnommen werden musste.
Eine derartige principielle Begriffsbestimmung der SittUchkeit wurde nun
in erster Linie durch die Metaphysik von Leibniz ermöglicht, von diesem jedoch
nur gelegentlich und andeutungsweise angebahnt und erst von Wolff in systema-
tischen, aber auch gröberen Formen ausgeführt. Die Monadologie betrachtet das
Universum als ein System von Lebewesen, deren rastlose Thätigkeit in der Ent-
faltung und Verwirklichung ihres ursprüngUchen Lihalts besteht. Bei dieser
aristotelischen Auffassung verwandelt sich der spinozistische Grundbegriff des
„suum esse conservare^ (vgl. § 32, 6) in eine zweckvolle Lebensbestimmung,
welche Leibniz und seine deutschen Schüler als Vollkommenheit be-
zeichneten*). Das „Gesetz der Natur", welches somit auch dieser Ontologie zu-
folge mit dem Sittengesetz zusammenfällt, ist das Streben aller Wesen nach
Vollkommenheit. Da nun jede Vervollkommnung als solche mit Lust, jeder
Rückschritt aber in der Lebensentfaltung mit Unlust verbunden ist, so ergiebt
sich daraus die (antike) Identität des sittlich Guten mit der Eudämonie.
Das Naturgesetz verlangt also vom Menschen alles dasjenige zu thun, was
seiner Vervollkommnung dient, und verbietet alles, was ihm Verlust an seiner
Vollkommenheit zu bringen droht. Aus diesem Gedanken entwickelt Wolff das
ganze System der Pflichten, wobei er namentlich das Princip der gegenseitigen
Förderung heranzieht : der Mensch bedarf zu seiner Vervollkommnung der anderen
Menschen und arbeitet an seiner eigenen Vollkommenheit, indem er diesen
zur Erfüllung ihrer Bestimmung hilft. Insbesondere aber ergab sich aus solchen
Prämissen, dass der Mensch wissen muss, was ihm wahrhaft zur Vervollkomm-
nung gereicht: denn nicht alles, was momentan als Lebensforderung gefühlt
wird, erweist sich wahrhaft und dauernd als ein Schritt zur Vollkommenheit.
Daher bedarf die Sittlichkeit durchaus der sittUchen Erkenntniss, der richtigen
Einsicht in das Wesen der Dinge und des Menschen. Unter diesem Gesichts-
punkte erscheint die Aufklärung des Verstandes als vornehmste sitt-
liche Aufgabe. Bei Leibniz folgt dies unmittelbar aus dem Begriff der
Monade^: sie ist um so voUkommeuer — und Vollkommenheit definirt Leibniz
echt scholastisch als grandeur de la r^alite positive — , je mehr sie ihre Activität
in klaren und deutlichen Vorstellungen bethätigt; das natürliche Gesetz ihrer
Entwicklung ist die Aufklärung ihres ursprünghch dunklen Vorstellungsinhalts
(vgl. § 31, 11). Wolff 's umständUche Deduction läuft vielmehr auf den empiri-
schen Nachweis der nützUchen Folgen des Wissens hinaus. Sie bleibt damit
ganz im Hahmen der hausbackenen Absicht, welche der deutsche Katheder-
philosoph seiner wissenschaftlichen Arbeit vorsetzte: die Philosophie durch Klar-
heit der Begriffe und Deutlichkeit der Beweise brauchbar und praktisch wirksam
zu machen.
5. Diese Tendenz hatte Wolff von seinem Lehrer Thomasius, dem Vater
der Aufklärer, übernommen, einem Manne, dem freilich die Vornehmheit des
Leibniz'schen Geistes abging, desto mehr aber das Verständniss ftir die Bedarf*
1) Leibniz, Mouad 41 ff. — 2) Vgl. ebenda 48 ff.
§ 36. Principien der Moral. (Thomasios, Wolff, Mendelssohn.) 399
nisse seiner Zeit^ die agitatorische Beweglichkeit und der Muth gemeinnützigen
Strebens gegeben waren. Geistige Itegungen der Renaissance, die im 17. Jahr-
hundert zurückgedämmt worden waren, lebten an dessen Schlüsse wieder auf.
Thomasius wollte die Philosophie aus dem Hörsaal in das Leben verpflanzen, sie
in den Dienst der allgemeinen Wohlfahrt stellen: und da er von der Natur-
wissenschaft wenig verstand, so wandte sich sein Interesse der Kritik der öffent-
lichen Einrichtungen zu. Im Leben der Gesammtheit wie in dem des Individuums
soll nur die Vernunft herrschen: so focht er ehrlich und siegreich gegen Aber-
glauben und Beschränktheit, gegen Tortur und Hexenprocesse. Die Aufklärung
im Sinne des Thomasius ist daher weit entfernt von der metaphysischen Würde,
die ihr Leibniz gab, sondern gewinnt ihren Werth für den Einzelnen wie für die
Gesammtheit erst durch den Nutzen, den sie abwirft und der nur von ihr erwartet
werden darf.
Vollkommenheit und Utilität sind somit die beiden Merkmale, welche
bei Wolff die Aufklärung zum ethischen Princip machen: jenes tritt bei der
allgemeinen metaphysischen Grundlage, dies in dem besonderen Ausbau des
Systems stärker hervor. Und in derselben Weise zieht sich diese Dualität der
Kriterien durch Wolff's Schule und die gesammte Popularphilosophie hin, —
nur dass, je flacher die Lehren werden, um so breiteren Baum die Utilität ein-
nimmt. Selbst Mendelssohn begründet die Abwendung von aller tieferen und
feineren Grübelei damit, dass die Philosophie nui* gerade soviel zu behandeln
habe, als zur Glückseligkeit des Menschen nöthig ist. Weil aber dieser auf-
klärerische Eudämonismus von vornherein keinen höheren Gesichtspunkt hatte,
als die Ausbildung und das Wohlergehen des Durchschnittsmenschen, so verfiel
er einer anderen Beschränktheit: dem nüchternsten Philisterthum und der spiess-
bürgerlichen Verständigkeit. Das mochte in einer gewissen zwar nicht hohen,
aber breiten Schicht der populären Litteratur am Platze und von segensreicher
Wirkung seb: wenn aber solcher Erfolg den Aufklärern zu Kopfe stieg, wenn
sie dieselben Massstäbe an die grossen Erscheinungen der Gesellschaft und der
Geschichte legten, wenn dieser Uebermuth des empirischen Verstandes nichts
gelten lassen woUte, als was er „klar und deutlich^ erkannt hatte, dann ver-
zerrten sich die edlen Züge der Aufklärung zu jener wohlgemeinten Verständniss-
losigkeit, als deren Typus Friedrich Nicolai mit all seiner rastlosen Gemein-
nützigkeit eine komische Figur geworden ist ^).
6. Die grosse Masse der deutschen Aufklärer ahnte nicht, wieweit sie mit
dieser trockenen Utilität abstracter Verstandesregeln von dem lebendigen Geiste
des grossen Leibniz abirrte: schon Wolff hatte ja auch metaphysisch die prästa-
bilirte Harmonie fallen lassen und damit bewiesen, dass ihm der feinste Sinn der
Monadologie verborgen geblieben war. Er und seine Nachfolger besassen daher
auch kein Verständniss dafür, dass Leibniz' Princip der Vollkommenheit in dem
Masse, wie seine Metaphysik die Eigenheit jedes Einzelwesens allen anderen
gegenüber zur Geltung brachte, auch für das sittliche Leben die Entfaltung
des individuellen Lebensinhaltes und die Ausgestaltung seiner dunkel
gefühlten Ursprünglichkeit zur Aufgabe machte. Diese Seite der Sache kam in
Deutscfadand erst zur Geltung, als in der Litteratur die Periode der GeniaUtät
1) Vgl. Fichte, Fr. Nicolai's Leben uud sonderbare Meinungen (1801), W. W. VIII, 1 IT.
400 V^* Philosophie der Aufklärang. 2. Praktische Fragren.
anbrach und das leidenschafUiche Gefühl eigenartiger Geister seine Theorie
suchte. Die Form aber, welche sie dann in Herder's Abhandlangen und ebenso
in Schiller's ^philosophischen Briefen^ fand, war weit stärker als durch Leibniz
von einer anderen Lehre bestimmt, die trotz der Verschiedenheit der begriff-
lichen Ausfuhrung in der ethischen Gesinnung die grösste Yer^'andtschaft mit
der des deutschen Metaphysikers besass.
Shaftesbury hatte der Idee der Vollkommenheit eine weniger systema-
tische, aber desto anschaulichere und eindrucksvollere Gestalt gegeben. Bei ihm
lag mit unmittelbar lebendiger Congenialität die antike Lebensauffassung zu
Grunde, wonach Sittlichkeit mit der ungestörten Entfaltung des wahren und
natürlichen Wesens des Menschen, deshalb aber auch mit seinem echten Glücke
zusammenfällt. Das Sittliche erscheint daher bei Shaftesbury als das wahrhaft
Menschliche, als die Lebensblüthe des Menschen, als die vollkommene Entwick-
lung seiner natürlichen Anlagen. Hierin bestimmt sich zunächst Shaftesbury'»
Stellung zu Cumberland und Hobbes: er kann nicht wie dieser den Egoismus als
den einzigen Grundzug des natürlichen Menschen betrachten, er erkennt viel-
mehr wie jener die altruistischen Neigungen für eine ursprüngliche, angeborene
Mitgift an; aber er kann auch nicht nur in den letzteren die Wurzel der Sittlich-
keit erblicken, sondern da ihm Moralität die Vollendung des ganzen Menschen
ist, so sucht er das Princip derselben in der gleichmässigen Ausbildung und in
dem harmonischen Lieinandergreifen beider Triebsysteme. Diese Moral verlangt
nicht die Unterdrückung des Eigenwohls zu Gunsten des fremden Glücks, eine
solche erscheint ihr nur auf den niederen Stufen der Entwicklung nöthig: der
voll ausgebildete Mensch lebt ebenso sich selbst wie dem Ganzen ^), und gerade
durch die Entfaltung seiner Eigenart stellt er sich als vollkommenes Glied in
den Zusammenhang des Universums. Darin am meisten spricht sich Shaftes-
bury's Optimismus aus, dass er glaubte, in dem reifen Menschen müsse der
Conflict zwischen den egoistischen und den altruistischen Motiven, der in den
niederen Schichten der Menschheit eine so grosse Rolle spielt, vollkommen aus-
geglichen sein.
Deshalb aber ist bei diesem Denker das sittliche Lebensideal ein durch-
aus persönliches. Moralität besteht ihm nicht in der Herrschaft allgefheiner
Maximen, nicht in der Unterordnung des Eigenwillens unter Normen, sondern
in dem reichen und vollen Ausleben einer ganzen Individualität. Es ist
die souveräne Persönlichkeit, welche ihr ethisches Recht geltend macht, und die
höchste Erscheinung im Bereiche des Sittlichen ist die Virtuosität, welche
keine der Kräfte und keine der Triebrichtungen in der Anlage des Individuums
verkümmern lässt, sondern in voUkcnnmener Lebensführung alle die mannigfachen
Beziehungen in Einklang bringt und damit ebenso das Glück des Einzelnen wie seine
kräftigste Wirkung für die Wohlfahrt des Ganzen herbeifuhrt. So prägt sich in
der monadologischen Weltanschauung von Neuem das griechische Ideal der Kalo-
kagathie aus (vgl. § 7, 5).
1) Pope verglich dies Verhältniss (Essay on man III, 814ff.) mit der Doppelbewegungr
der Planeten um die Sonne und um die eigene Axe. Durch denselben Dichter hat übrigens
Shaftesbury 's Lebensansicht auf Voltaire gewirkt, während Diderot (in seiner Bearbeituofr des
In<|uiry concerning virtuc and merit) direct an Shailesbury ankuüx)fte.
§ 86. Principien der Moral. (Shaftesbury, HutchesoD, Rousseau.) 401
7. Ist hiernach schon inhaltlich das Moralprindp bei Shaftesbury ästhe«
tisch gefärbt, so tritt dies folgerichtig noch mehr bei der Frage nach der Er-
kenntnissqiielle für die sittlichen Aufgaben hervor. Diese bestand für die
Metaphysiker ebenso wie fär die Sensualisten in der vernünftigen Erkenntniss
sei es der Natur der Dinge sei es des empirisch Nützlichen: in beiden Fällen
ergaben sich demonstrirbare, allgemeingiltige Grundsätze. Die Moral der Vir-
tuosität dagegen musste das individuelle Lebensideal den Tiefen des Einzelwesens
entnehmen: ihr gründete sich die Sittlichkeit auf das Gefühl. Die sittUchen Ur-
theile, durch welche der Mensch in sich selbst die Triebe billigt, welche ihm die
Natur zur Förderung des eigenen wie des fremden Wohls eingepflanzt hat, da-
gegen die „unnatürlichen^ Triebe missbilligt, welche jenen Zwecken entgegen
wirken, — diese Urtheile beruhen auf dem Vermögen des Menschen, seine eigenen
Functionen sich zum Gegenstande zu machen, d.h. auf der „Reflexion^ (Locke);
aber sie sind nicht bloss ein Wissen der eigenen Zustände, sondern Affekte
der Reflexion, und als solche bilden sie innerhalb des „inneren Sinnes^ den
moral sense.
Damit war die psychologische Wurzel des Ethischen aus dem Bereiche
verstandesmässiger Erkenntniss auf die Gefiihlsseite der Seele und in die unmittel-
bare Nähe des ästhetischen Verhaltens verpflanzt. Das Gute erschien als das
Schöne in der Welt des WoUens und Handelns: es besteht wie das Schöne in
einer harmonischen Einheit des Mannigfaltigen, in einer vollkommenen Ausbildung
des natürlich Angelegten; es befriedigt und beseUgt wie das Schöne, es ist wie
das Schöne der Gegenstand einer ursprüngUchen, im tiefsten Wesen des Menschen
angelegten Billigung. Diese Parallele hat von Shaftesbury an die Litteratur
des 18. Jahrhunderts beherrscht: der „Geschmack^ ist das ethische wie das
ästhetische Grundvermögen. Am deutlichsten ist das wohl von Hutcheson
ausgesprochen worden, aber mit einer Wendung, welche von Shaftesbury's Lidi-
vidualismus schon wieder einigermassen abführte. Denn er verstand unter dem
„moralischen Sinn" — in der rein psychologischen Bedeutung des „Eingeboren-
seins" — ein allen Menschen wesentlich gleiches, ursprüngliches Beuiiiheilungs-
vermögen fiir das sittlich zuBilligende. Das metaphysische Beiwerk der Platoniker
und Cartesianer wurde gern über Bord geworfen, dafür aber um so eiftiger —
namentlich im Gegensatz gegen das selfish System — daran festgehalten, dass
der Mensch ein natürliches Gefühl für das Gute wie für das Schöne
besitze, und die Analyse dieses Gefühls fiir die Aufgabe der Philosophie erklärt.
Die Uebertragung dieses Princips auf das theoretische Gebiet führte in der
schottischen Schule (vgl. §33, 8) dazu, auch das Wahre in Parallele zu dem
Guten und Schönen als den Gegenstand ursprüngUcher Billigung zu setzen und
so in dem common sense eine Art von „logischem Sinn^ anzunehmen. In weit aus*
gesprochenerer Weise aber wurde das Gefühl als Erkenntnissquelle von
Rousseau proklamirt, welcher im Gegensatz zu der verstandeskühlen Zerfaserung,
womit die rein theoretische Aufklärung das religiöse Leben behandelte, seinen
Deismus auf das unverdorbene, natürliche Gefühl des Menschen gründete ^). In
sehr unbestimmt eclectischer Weise wurde diese Gefühlsphilosophie von
dem holländischen Philosophen Franz Hemsterhuys (aus Groeningen, 1720—
1) Vgl. das Glaubensbekenutniss des savoyischen Vicars im Emile, IV, 201 if.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 26
402 V. Philosophie der Aufklärung. 2. Praktische Fragen.
1790), mit barocker Wunderlichkeit von dem geistreichen Schwärmer Hamann,
dem „Magus des Nordens '^ ^), ausgeführt.
8. Am meisten aber machte sich jene von Shaftesbury und Hutcheson an-
gebahnte Theorie der Gefühle in der Verschmelzung ethischer und
ästhetischer Untersuchungen geltend. Der eudämonistischen Moral war
es, je gemeinfasslicher sie behandelt wurde, um so genehmer, ihre Gebote als den
Gegenstand eines natürlichen Wohlgefallens in das Gewand der Anmuth hüllen
zu können und das Gute als etwas dem Schönen Verwandtes dem Geschmack
empfehlen zu dürfen. Auch die schottischeSchule stand dieser AufEassung
nicht fem, und Ferguson entwickelte in dieser Weise die Shaftesbury'schen
Ideen mit ausdrücklicher Beziehung auf den Leibniz'schen Grundbegriff der Voll-
kommenheit. Für die Aesthetik aber hatte diese Gedankenverschlingung die
Wirkung, dass in ihr die Ansätze zu einer metaphysischen Behandlung, welche
Shaftesbury aus dem Ganzen seiner plotinischen Weltauffassung an die Probleme
des Schönen herangebracht hatte, röllig durch die psychologische Methode über-
wuchert wurden. Nicht was schön ist, fragte man, sondern wie das Gefühl der
Schönheit zu Stande kommt: und bei der Lösung dieser Frage brachte man die Er-
klärung des ästhetischen Verhaltens in mehr oder minder engen Zusammenhang
mit ethischen Beziehungen. Dies zeigt sich auch bei solchen Aesthetikem, welche
der sensualistischen Psychologie näher standen, als etwa die Schotten. So fasst
Henry Home den Genuss des Schönen als einen Uebergang von der rein sinn-
heben Begierdestillung zu den moralischen und intellectuellen Freuden auf, und
meint, zu der für die höhere Bestimmung des Menschen erforderUchen Verfeine-
rung seiner sinnhchen Anlage seien die Künste ^erfunden^ worden: er sucht des-
halb das Gebiet des Schönen in den höheren Sinnen, Gehör und namentlich
Gesicht, und findet dabei als Grundlage einen allen Menschen gemeinsamen
Geschmack für Ordnung, Regelmässigkeit, Verknüpfung des Mannigfaltigen zur
Einheit. Wenn er dann weiter zwischen der „eigenen" Schönheit des unmittelbar
Sinnenfalligen und der Schönheit der „Relation" unterscheidet, so spitzen sich
diese „Verhältnisse" wesentlich auf das ethisch Gemeinnützige zu, in dessen
Dienst damit die Schönheit gestellt wird^). Selbst Edmund B ur ke ist in seinem
Bestreben, das ästhetische Verhalten nach associationspsy chologischcr
Methode aus elementaren Empfindungszuständen herzuleiten, von der Problem-
bildung der gleichzeitigen Moralphilosophie sehr stark abhängig. Sein Versuch,
das Verhältniss des Schönen zum Erhabenen zu bestimmen — eine
Aufgabe, an der auch Home, obwohl mit sehr geringem Erfolge, gearbeitet hatte ')
— geht von dem Gegensatz der selbstischen und geselligen Triebe aus. Erhaben
soll danach das sein, was in wohlthuendem Schauer uns mit Schrecken erfüllt,
während wir selbst so fem davon sind, dass wir der Ge£ahr unmittelbaren
Schmerzes uns entrückt fühlen: schön dagegen alles, was die Gefühle sei es der
1) Johann Geory^ Hamann (aus Königsberg, 1730 — 1788; Ges. Schriften von Gilde-
ICETSTEB hrsg., Gotha 1867 — 73) Terknüpft in seiner tiefsinnigen, aber sprunghaft unklaren
Ausdrucksweise diese Richtung mit einem der Orthodoxie nicht fem stehenden PietismuB. —
2) Näheres in dem Art. über Home (Eames) von W. WmoELBAND in Ersch u. Gruber^s Ency-
klopädie, II, 32, 213 f. — 8) Nach Home ist das Schöne erhaben, wenn es gross ist. Seinen
unklaren und schwankenden Bestimmungen scheint etwa der Gegensatz des Qualitativ- und
des Quantitativ-Gefalligen zu Grunde zu Hegen.
§ 36. Principien der Moral. (Sulzer, Mendelssohn, Tetens.) 403
geschlechtlichen sei es der allgemein menschlichen Liebe in wohlgefälliger Weise
heryorzumfen geeignet ist.
Aehnlich wie Home hat auch Sulz er die Empfindung des Schönen mitten
zwischen diejenige des sinnlich Angenehmen und die des Guten als eine üeber-
leitung von der einen zur anderen gesetzt. Die Möglichkeit dieser üeberleitung
fand er in dem intellectuellen Factor, der bei der Auffassung des Schönen mit-
wirke: sie erschien ihm — nach Leibniz, vgl. oben §34, 11 — als das Gefühl har-
monischer Einheit der sinnlich empfundenen Mannigfaltigkeit. Allein eben yermöge
dieser Voraussetzungen galt ihm das Schöne nur dann als werthvoU und als voll-
kommen, wenn es den moralischen Sinn zu fordern vermag: auch die Kunst värd
so in den Dienst der Auf klärungsmoral gezogen, und der in Deutschland so lange
gefeierte Aesthetiker erweist sich in der Auffassung von der Kunst und ihrer
Aufgabe als ein Banause des phiUströsen Moralisirens. Wie unendlich viel
geistreicher und freier sind da die „Beobachtungen^, welche Kant „über das
Gefühl des Schönen und Erhabenen^ zu der Zeit anstellte, als auch er vom psycho-
logischen Standpunkte aus den feinen Verzweigungen des ethischen und des
ästhetischen Lebens in den Individuen, den Geschlechtem, den Völkern mit
liebenswürdiger Weltkundigkeit nachging !
Zu einer folgenreichen Aenderung der psychologischen Systematik gaben
endlich diese Gedankenzusammenhänge in Deutschland Anlass. War man von
jeher gewohnt gewesen, die Seelenthätigkeiten nach aristotelischem Muster in
theoretische und praktische einzutheilen, so liessen sich die so in ihrer mannig-
fachen Bedeutsamkeit erkannten Gefühle weder in der Gruppe des Erkennens
noch in der des Wollens ohne ünzuträglichkeiten unterbringen: es schien viel-
mehr, dass beiden Functionsarten der Seele die Gefühle als eine eigenartige
Aeusserungsweise theils zu Grunde lägen theils folgten. Auch hier ging die An-
regung von der Leibniz'schen Monadologie aus. Zuerst scheint Sulz er in
seinen Berliner Vorträgen ^) darauf hingewiesen zu haben, dass die dunklen Ur-
zustände der Monade von den entwickelten Lebensformen des vollbewusst^i
Erkennens und Wollens zu sondern seien, und schon er fand deren Eigenthümlich-
keit in den damit gegebenen Lust- und Unlustzuständen. Aehnlich geschah es
von Leibniz'schen Voraussetzungen her bei Jacob Friedrich Weis s^). Diese
Zustände benannte Mendelssohn zuerst (1765) Empfindungen"), und später
bezeichnete derselbe die ihnen gemeinsam zu Grunde liegende Seelenkraft als das
Billignngsvermögen^). Den entscheidenden Einfluss aber auf die Termino-
logie haben Tetens und Kant ausgeübt. Ersterer schob für Empfindungen den
Ausdruck Fühlungen oder Gefühle ein ^), und Kant brauchte fast ausschUesslich
den letzteren. Er war es auch, der später die Dreitheilung der seelischen
Functionen in Vorstellen, Fühlen und Wollen zur systematischen Grund-
lage seiner Philosophie machte % und seitdem ist dieselbe, namentlich für die
Psychologie, massgebend geblieben.
1) 1751 f., gedruckt in den „Vermischten Schriften" {Berlin 1773). — 2) J. F. Weiss,
De natura auimi et potissimum cordis humani (Stuttgart 1761). — 8) Dabei bezieht sich auch
Mendelssohn mit seinen Briefen über die Empfindungen direct auf Shaftesbury — 4) Vgl.
Mendelssohn, Morgenstunden (1785), Kap. VII (W. I, 352). — 5) Vgl. Tetens, Versuche, a,
S. 625 ff. — 6) In der zwischen 1780 und 1790 geschriebenen, anfönglich zur Einleitung in
die „Kritik der ürtheilskraft** bestimmten Abhandlung, welche unter dem Titel „Ueber Philo-
sophie überhaupt in seine Schriften übergegangen ist. Vgl. Th. VI, Kap. 1.
26*
404 V. Philosophie der Aufklärung. 9. Praktische Fragen.
9. Allen diesen Entwicklungen gegenüber erhielt sich die von H o b b es aus-
gehende Gegenströmung; welche den Nutzen oder Schaden des Individuums fiir
den einzig möglichen Inhalt des menschlichen Wollens erklärte. Das Kriterium
der sittlichen Handlung wurde hiemach lediglich psychologisch in ihren Folgen
für den Nutzen der Nebenmenschen gesucht. Moralität giebtes nur inner-
halb des socialen Zusammenhanges. Der Einzelne für sich aUein kennt nur sein
eigen Wohl und Wehe: in der Gesellschaft aber werden seine Handlungen nach
dem Gesichtspunkte beurtheilt; ob sie den Anderen nützen oder schaden, und
dies allein gilt als der Standpunkt der sittUchen Beurtheilung. Diese Auffassung
des ethischen Kriteriums entsprach nicht nur der gemeinen Ansicht; sondern auch
demBedürfniss einer rein empirisch-psychologischen^ metaphysiklosenBegründung
der Ethik: ihr waren auch Cumberland und Locke in letzter Instanz beigetreten;
ihr schlössen sich nicht nur die theologischen MoraUsten wie Butler und Paley
an, sondern auch die Assooiationspsychologen Priestley und HarÜey. Dabei
bildete sich allmählich die classische Foimel dieser Richtung heraus. Eine Hand-
lung ist sittlich um so wohlgefälliger, je mehr Glücksehgkeit sie hervorbringt
und je grösser die Anzahl von Menschen ist, denen sie diese Glückseligkeit zu
Theil werden lässt: das ethische Ideal ist the greatest happiness of the
greatest number. Dies ist das Stichwort des Utilismus oder ütili-
tarismus (auch wohl Utilitarianismus) geworden.
Diese Formel aber legte den Gedanken nahe, die sittUchen Werthe für die
einzelnen Fälle und Verhältnisse quantitativzu bestimmen. Der Gedanke von
Hobbes und Locke, auf das utilistische Princip eine streng demonstrativ-ethische
Erkenntniss zu gründen, schien damit eine bestimmte, der naturwissenschaft-
lichen Denkart willkommene Gestalt gefunden zu haben. Dieser Verlockung
ging Bentham nach, und darin besteht das Eigenthümliche seiner mit warmem
Gemeinnützigkeitssinn vorgetragenen und später viel genannten Ausfuhrung des
utilistischenGedankiens. Sie läuft darauf hinaus, genau bestimmte Gesichtspunkte
zu finden, nach denen der Werth jeder Handlungsweise für das Wohl des Handeln-
den selbst und der Gesammtheit, welcher er angehört, theils an sich theils im
Verhältniss zu anderen Verfahrensarten ermittelt werden könne, und Bentham ent-
wirft in dieser Tabelle der Werthe und Un werthe mit weitschichtiger Betrachtung
der individuellen wie der socialen Verhältnisse und Bedürfnisse ein Schema der
Lust- und Unlust - Bilanz für die Berechnung der nützlichen und schädlichen
Foljgen menschUcher Thätigkeiten und Einrichtungen. Aehnlich wie bei Hume
(vgl. unten No. 12) fallt auch hier die Ausrechnung des sittlich Werth vollen dem
abmessenden Verstände zu : aber die Factoren, mit denen er dabei operirt, sind
lediglitih Lust- und Unlustgefiihle.
10. Die enge Verbindung, in welcher sich historisch seit Hobbes dieser
Utilismus mit dem selfish System, d. h. mit der Annahme einer wesentUch egoisti-
schen Bestinmitheit der menschlichen Natur befand, führte nothwendig dazu, die
Frage nach dem Ejiterium der Sittlichkeit und der Art seiner Erkenntniss von
derjenigen nach der Sanction der moralischen Gebote und den Motiven ihrer
Befolgung zu sondern. Für die metaphysischen Theorien lag die Sanction der
ethischen Gebote in den ewigen Wahrheiten des Naturgesetzes: und auch psycho-
logisch schien es für das Streben nach Vervollkommnung, für das Ausleben der
Persönlichkeit, für die Befolgung angeborener sittlicher Neigungen keines weiteren
§ 86. Principien der Moral. (Paley, Helv^tius.) 406
und besonderen Motivs zu bedürfen: die Moralität verstand sich unter solchen
Voraussetzungen von selbst. Wer aber pessimistischer vom Menschen dachte,
wer ihn für ein ursprünglich und seiner Natur nach nur durch die Rücksicht auf
eigenes Wohl und Wehe bestimmtes Wesen hielt; der musste fragen, mit welchem
Recht von einem solchen Wesen eine altruistische Handlungsweise verlangt werde,
imd wodurch es sich zur Befolgung dieser Anforderung bestimmen lasse. War
die Sittlichkeit nicht in der Natur des Menschen von selbst gelegen, so musste
angegeben werden, wie sie von aussen in ihn hineinkommt.
Hier leistete nun das schon von Hobbes und Locke herbeigezogene Princip
der Autorität seinen Dienst. Seine handgreiflichste Form war die theo-
logische: in feinerem Begriffsgefüge wurde sie von Butler, mit grober Ge-
meinfassUchkeit von Paley ausgeführt. Die ütilität ist für beide das Kriterium
der sittlichen Handlung, und das göttliche Gebot ist für beide der Rechts-
grund für die ethischen Anforderungen. Während aber Butler noch die Erkennt-
niss dieses götthchen Willens in dem natürlichen Gewissen sucht, wozu er (auch
mit dem Namen „Reflexion^) die Shaftesbury'schen Reflexionsaffekte umdeutet,
ist für Paley weit mehr die positive Offenbarung des göttlichen Willens mass-
gebend : und die Befolgung dieses Gebotes erscheint ihm deshalb nur dadurch
erklärhch, dass die autoritative Macht ihren Befehl mit Lohnverheissung und
Strafandrohung verbunden hat. Dies ist die schärfste, dem common-sense der
christUchen Welt vielleicht am meisten entsprechende Sonderung der ethischen
Principien: das Kriterium des Morahscben ist das Wohl des Nächsten, der
Erkenntnissgrund dafür das geoffenbarte Gesetz Gottes, der sanctionirende Real-
grund der Wille des Höchsten, und das sittliche Motiv im Menschen ist die
Hoffnung auf den Lohn und die Furcht vor der Strafe, welche Gott für Gehorsam
und Ungehorsam bestimmt hat.
11. Wurde somit bei Paley die Thatsächlichkeit des sitthchen Handelns
dadurch erklärt, dass der an sich egoistische Mensch auf dem Umwege einer
theologischen Motivation schliesslich durch ebenso egoistische Triebfedern der
Hofhung und Furcht zu der von Gott befohlenen altruistischen Handlungsweise
bestimmt wird, so setzte die sensualistische Psychologie an die Stelle
der theologischen Vermittlung die Autorität des Staats und die Nöthigungen
des geselligen Zusammenlebens. Ist der Wüle des Menschen in letzter Instanz
immer nur durch das eigene Wohl und Wehe bestimmbar, so ist sein altruistisches
Handeln nur dadurch begreiflich, dass er darin das unter den gegebenen Ver-
hältnissen verständigste, sicherste und einfachste Mittel zur Herbeiführung der
eigenen Glückseligkeit sieht. Während deshalb die theologischen ütiUtarier den
natürlichen Egoismus mit den Belohnungen des Himmels und den Strafen der
Hölle bändigen zu sollen meinten, schien den Empiristen für diesen Zweck die
durch den Staat und den gesellschaftUchen Zusammenhang gefugte Lebens-
ordnung zu genügen. Der Mensch findet sich in solchen Verhaltnissen, dass er
bei rechter Ueberlegung einsieht, er werde seinen Vortheil am besten durch
Unterordnung unter die bestehenden Sitten und Gesetze finden. Die Sanction
der ethischen Anforderungen liegt hiernach in der durch das Princip der Utihtät
dictirten Gesetzgebung des Staats und der öffentlichen Sitte, und das Motiv des
Gehorsams besteht darin, dass der Einzelne dabei seine Rechnung findet. So haben
Mandeville, Lamettrie und Helvetius das selfish System ausgebaut, wobei
406 ^' Philosophie der Aufklarang. 2. Praktische Fragen.
namentlich Lamettrie mit geschmacklos kokettem Oynismus „Hunger und Liebe''
in ihrer gemeinsten sinnlichen Bedeutung als die &rundtriebfedem alles Menschen-
lebens darzuthun suchte — eine elende, weil gekünstelte Imitation des antiken
Hedonismus.
Sittlichkeit erscheint danach nur als eudämonistische Klugheit^ als gesell-
schaftlich verfeinerter Egoismus, als das Raffinement des Lebenskundigen, der
eingesehen hat, dass er, um glücklich zu werden, keinen besseren Weg einschlagen
kann, als sittUch, wenn nicht zu sein, so doch zu thun. Diese Ansicht kommt .
als Lebensprincip der „grossen Welt^ jener Tage mehrfach in der Aufklärungs-
philosophie zu Wort: sei es als naiv-cynisches Bekenntniss eigener Gesinnung
wie in Lord Chesterfield's bekannten Briefen an seinen Sohn, — sei es in der
Form moralisirender Betrachtungen wie in Labruy^re's „Oharact^res^ (1680)
und in Larochefoucauld's „B^flexions^ (1690), wo schonungslos die Maske
von dem gesitteten Betragen der Menschen gerissen und als das überall allein
treibende Moment der nackte Egoismus enthüllt wird, — sei es endlich als
bittere Satire, wie bei Swift, wo zum Schluss die wahre Natur der Menschen-
bestie von Gulhver bei den Yahoos entdeckt wird.
Hand in Hand mit dieser trüben Auffassung von der natürlichen Gemein-
heit des Menschen geht durch das Aufklärungszeitalter die Ansicht, dass die
Erziehung desselben zu ethischem Handeln durch die Macht und die Autorität
mit Furcht und Ho£Enung an eben dies niedrige Triebsystem zu appelliren habe.
Das zeigt sich charakteristischer Weise selbst bei Solchen, welche für den reifen
und voll entwickelten Menschen eine reine, über allen Egoismus erhabene Moralitat
in Anspruch nahmen. So findet z. B. Shaftesbury für die Erziehung der grossen
Masse die positive ReUgion mit ihrer Moralpredigt des Lohndienstes und der
Strafenfurcht gerade gut genug. So meinte auch Preussens philosophischer
König, Friedrich der Grosse ^), der für sich selbst ein so strenges, reines,
aller selbstischen Nebenrücksichten baares Pflichtbewusstsein besass und für das
höchste sitthche Gut erklärte, doch hinsichthch der staathchen Erziehung der
Menschen, sie habe überall an deren nächste, wenn auch noch so niedrige Inter-
essen anzuknüpfen : denn er gab den Encydopädisten zu, dass der Mensch in
genere nie durch etwas Anderes, als durch seine persönlichen Literesseu zu
bestimmen sei. In dieser Hinsicht haben namentlich die französischen Aufklärer
die Motive zu analysiren gesucht, durch deren Erweckung der Staat die Bürger
für seine Gesammtinteressen zu gewinnen vermag. Montesquieu zeigte mit
feiner Psychologie, wie verschieden sich dies Yerhältniss bei den verschiedenen
Yerfassungsformen gestaltet. Lamettrie wies, wie schon Mandeville, auf das
Ehrgefühl als auf den kräftigsten Factor der gesellschaftlichen Gesinnung bei
civihsirten Völkern hin, und Helv6tius führte diesen Gedanken des Breiteren aus.
Wenn aber so die sensuaUstische Psychologie vom Staate allein die sitt-
liche Erziehung des Menschen erwartete, so musste der Grad, in welchem ihm
diese gelang, als Massstab für die Werthbeurtheilung der öffentlichen Einrich-
tungen gelten. Diese Consequenz hat Holbach im Systeme de la nature
gezogen, und der gewinnendste Zug dieses trockenen Buchs ist vielleicht die
Ehrlichkeit und die Energie, womit es zu zeigen bemüht ist, wie wenig die ver-
1) Vgl. besonders das bei E. Zsllkr, F. d. G. als Phüosoph, S. 67 ff., 106ff. Angefahrte,
dazu aber namentlich Friedrich's „Anümacchiavelli".
§36. Prinoipien der Moral. (Hmne, Smith.) 407
rotteten Zustände des damaligen öffentlichen Lebens geeignet waren, den Bürger
über die Niedrigkeit selbstsüchtiger Bestrebungen hinauszuheben.
12. Als der allseitigste Niederschlag dieser Bewegung und als die feinfbhligste
Abwägung der in ihr streitenden Denkmotive darf Hume's Moralphilosophie
gelten. Auch sie steht durchaus auf dem Boden der psychologistischen Methode:
durch eine genetische Untersuchung der Affekte^ der Glefühle und Willens-
entscheidungen soll das sittliche Leben des Menschen begriffen werden. Dabei
ist nun das Bedeutsamste in Hume's Lehre die Trennung des ütilismus vom
selfish System. Das Kriterium der sittlichen Billigung und Missbilligung bildet
auch für ihn die Wirkung, welche die zu beurtheilende Eigenschaft oder Hand-
lung an Lust- und UnlustgefUhlen herbeizuführen geeignet ist; und er fasst dies
wie die Alten und Shaftesbury im weitesten Sinne^ indem er als Oegenstände des
sittlichen Wohlgefallens nicht nur die ^ socialen Tugenden^, wie Gerechtigkeit,
Wohlwollen u. a.^ sondern auch die „natürlichen Tüchtigkeiten^ ') wie Klugheit,
Muth; Energie betrachtet. Aber wir empfinden diese Billigung dafür auch
dann, wenn sie für unser eigenes Wohl völlig gleichgiltig oder gar wenn sie dem-
selben schädlich sind; und dies kann unmöglich durch blosse associationspsycho-
logische Vermittlungen auf den Egoismus zurückgeführt werden. Ebenso ver-
bietet aber die Beziehung, welche diese Beurtheilungen zu den verwickelten
Verhältnissen der Erfahrung besitzen, die Annahme ihres Eingeborenseins. Sie
müssen vielmehr auf eine einfache Grundform zurückgeführt werden, und dies
ist die S y m p a t h i e '), d.h. zunächst die Fähigkeit des Menschen, fremdes Wohl
und Wehe wenigstens in abgeschwächter Form wie eigenes mitzufühlen. Solche
sympathischen Gefühle sind aber nicht nur die impulsiven Gründe der morali-
schen Urtheile, sondern auch die ursprünglichen Motive des moralischen Han-
delns: denn die Gefühle sind die Ursachen der Willensentscheidungen. Diese
ursprünglichen Impulse reichen jedoch allein für die Erklärung des ethischen
XJrtheilens und Handelns noch nicht aus. Für die verwickeiteren Verhältnisse
des Lebens bedarf es der Klärung, Ordnung und der vergleichenden Werthung
der Gefühlsmomente und dies ist die Sache der Vernunft. Aus ihrer üeber-
legung entspringen daher neben den natürUchen und ursprünglichen auch abgelei-
tete, „künstliche^ Werthungen, als deren Typus Hume — hierin offenbar noch
von Hobbes abhängig — die Gerechtigkeit und das ganze System rechtUcher
Normen behandelt. In letzter Instanz aber verdanken auch diese Bestimmungen
ihre Fähigkeit, die Beurtheilung und die Willensentscheidung zu beeinflussen,
nicht der vernünftigen üeberlegung als solcher, sondern den Gefühlen der Sym-
pathie, an welche sie appellirt.
So zerfasert sich die grobe Auffassung des „moral sense^ durch Hume's Unter-
suchung zu einem feinverzweigten System moralpsychologischer Begriffsdifferenzen,
als dessen Mittelpunkt das Princip der Sympathie erscheint. Ein weiterer Schritt
in der Ausfuhrung desselben geschah in dem ethischen Werke von Adam Smith.
Schon Hume hatte gegenüber der Aeusserlichkeit, womit der gewöhnliche Üti-
lismus das Kriterium des sittlichen ürtheüs in die Lust- und ünlustfolgen der
Handlung verlegte, energisch daraufhingewiesen, dass die ethische Billigung oder
1) Auch hier spielt die alte Doppelbedeutimg von virtus (virtue) = Tagend und =
Tüohtigkeit mit. — 2) Vgl. Treat. II, 1, 11 und 11, 2, 6.
408 ^- Philosophie der AufklÜnuig. 2. Praktische Fragen.
Missbilligong vielmehr die in der Handlung sich bethätigende Gesinnung, so-
fern sie auf jene Folgen gerichtet ist, betreffe. Smith fand daher das Wesen der
Sympathie niclit nur in der Fähigkeit, diese Folgen im Sinne der Betroffenen
mitzufühlen, sondern auch in dem Vermögen, sich in die Gesinnung desHandelnden
zu versetzen und auch seine Motive mitzufühlen. Und mit immer weiterer Aus-
spinnung des Gedankens der sympathischen Uebertragung wird dann die im
Gewissen sich darstellende Selbstbeurtheilung des Einzelnen als ein durch
Sympathiegefuhle vermittelter Reflex der Beurtheilung begriffen, welche er von
Anderen erfahrt und an Anderen ausübt.
In dem geselligen Zusammenleben, dessen psychologische Grundlage
die Sympathie ist, wurzeln somit nach Hume und Smith alle Erscheinungen des
ethischen Lebens , und der Begründer der Nationalökonomie sieht mit seinem
grossen philosophischen Freunde in dem Mechanismus der sympathischen GefQhls-
Übertragungen eine ähnliche Ausgleichung individueller Lebensinteressen, wie er
sie auf dem Gebiete des Austausches der äusseren Güter mit Rücksicht auf die
Knappheit der Lebensbedingungen in dem Mechanismus von Angebot und Nach-
frage bei dem Wettbetriebe der Arbeit gefunden zu haben glaubte ')• Aber mit
diesen Einsichten in die durchgängige Abhängigkeit des Individuums von einem
gesellschaftlichen Lebenszusammenhange, den es nicht erzeugt, sondern in dem es
sich vorfindet, weist die Aufklärungsphilosophie bereits über sich selbst hinaus.
§ 37. Das Chdturproblem.
Für die grossen Gebilde der menschlichen Lebensgemeinschaft und ihrer
geschichtlichen Bewegung war der Aufklärungsphilosophie theils durch ihre
Abhängigkeit von der naturwissenschaftlichen Metaphysik theils durch ihre eigene
psychologistische Richtung der Grundgedanke vorgezeichnet, darin Gesammt-
producte individueller Bethätigungen zu sehen, und daraus ergab sich die Neigung,
diejenigen Interessen, deren Befriedigung der Einzelne von derartigen allgemeineren
Zusammenhängen, wie sie einmal bestehen, erwarten kann, in genetischer Er-
klärung als die Motive und die zureichenden Ursachen für die Entstehung, zugleich
aber in kritischer Betrachtung als die Massstäbe der Beurtheilung dieser Gebilde
zu behandeln. Was als absichtsvoll von Menschen erzeugt galt, sollte auch zeigen,
ob es denn nun diese Absichten erfülle.
1. Diese Auffassung war zunächst durch Hobbes in die politische und
juristische Bahn gelenkt worden. Als das Kunstwerk der von ihrer Nothdurft
bedrängten, im Kampf mit einander um Leben und Gut bangenden Individuen
erschien der Staat: er sollte mit seinem ganzen Rechtssystem auf dem Vertrage
beruhen, den aus solchen Motiven die Bürger mit einander eingegangen sind.
Dieselbe epikureische Yertragstheorie, die schon im späteren Mittelalter wieder
auflebte, ging mit dem Nominalismus in die neuere Philosophie über und er-
streckte ihre Wirkung über das gesammte 18. Jahrhundert. Aber die künst-
liche Construction des Absolutismus, welche Hobbes darauf errichtet hatte,
wich im Gefolge der politischen Ereignisse immer mehr der Lehre von der
Volkssouveränetät. Sie lag wie der englischen Verfassung von 1688 so der
theoretischen Gestaltung zu Grunde, welche derselben Locke in der Lehre von
1) Inquiry into the nature and the causes of the wealth of natioDS (London 1776).
§ 87. Cnltarproblem. (Locke, Rousseau, Wolff, Thomasius.) 409
der Trennung und dem Gleichgewicht der drei Staatsgewalten, der legislativen,
executiven und föderativen j gab : sie beherrschte als ideale Forderung auch
Montesquieu's Schrift en^ der im Hinblick auf die verrottete Rechtsprechung
semer Zeit der richterlichen Gewalt volle Selbständigkeit gegeben wissen wollte,
während er executive und föderative (als Verwaltung nach innen und aussen) in
der Einen monarchischen Spitze vereinigt dachte : sie wurde endlich zum vollen
Demokratismus inBousseau's Contrat social durchgetührt, wonach das Princip
der Uebertragung und der Repräsentation so viel wie möglich eingeschränkt und
auch die Ausübung derSouveränetät der gesammten Volksmasse direct zuerkannt
werden sollte. Bei allen diesen Umbildungen der Hobbes'schen Doctrin liegt der
Einfluss der historisch-politischen Realitäten auf der Hand : aber der Gegensatz
zwischen Hobbes und Rousseau hat doch auch seinen theoretischen Hintergrund.
Gilt der Mensch als von Natur wesentlich egoistisch , so muss er durch die
übergreifende Staatsmacht zur Einhaltung des geselligen Vertrages gezwungen
werden : gilt er für ursprünglich gut und social föhlend, wie bei Rousseau^ so ist
von ihm zu erwarten, dass er sich an der Ausführung des Vertragslebens von
selbst immer im Interesse des Ganzen betheiligt.
Interessant ist es nun^ dass die Vertragstheorie im 18. Jahrhundert sich
auch denjenigen rechtsphilosophischen Lehren mittheilte, welche nicht bloss psy-
chologistische Ghrundlagen hatten. Auch das ^Naturrecht^ dieser Zeit geht
vom Rechte des Individuums aus und sucht erst daraus das Rechtsverhältniss der
Individuen abzuleiten. Doch zeigen sich bei der Ausfuhrung dieses Princips in
der deutschen Philosophie zwei verschiedene Richtungen, die zu höchst charakte-
ristisch verschiedenen Resultaten führten. Wenn Leibniz in antiker Weise die
Rechtsbegriffe aus den allgemeinsten Bestimmungen der praktischen Philosophie
abgeleitet hatte ^), so folgte ihm W o 1 f f auch darin, machte aber deshalb zum
Zwecke des Staatsvertrages die gegenseitige Förderung der Individuen zum Be-
hufe ihrerVervollkommnungy ihrer Aufklärung und ihrer Glückseligkeit: nach ihm
hat darum der Staat nicht bloss für die äussere Sicherheit, sondern auch für die
allgemeine Wohlfahrt in breitester Ausdehnung zu sorgen» Die Oonsequenz
davon ist die, dass Wolff dem Staat das Recht und die Pflicht zuspricht, die
grosse Masse der unaufgeklärten, von Irrthum und Leidenschaft beherrschten
Menschen gründlich zu bevormunden und bis tief in ihre Privatverhältnisse
emeherisch sich einzumischen: so hat Wolff die Theorie für jenen ^väterlichen^
Despotismus des wohlwollenden Polizeistaates geliefert, den die Deutschen seiner
Zeit mit sehr gemischten Gefühlen besassen.
Das genau entgegengesetzte Resultat knüpfte sich theoretisch an die Ab-
lösung der Rechtsphflosophie von der Moral, wie sie schon Thomasius mit
seiner scharfen Scheidung des justum und des honestum angebahnt hatte. In
dieser Richtung behauptete dessen Schüler Gundling (1671 — 1729), das Recht
sei lediglich als Ordnung der äusseren Beziehungen der Individuen
zu behandeln, es habe die Erhaltung des äusseren Friedens zum Zweck, seine
Bestimmungen seien deshalb nur äusserlich erzwingbar. Diese Beschränkung
der Thätigkeit des Staats auf den äusseren Rechtsschutz entsprach dem indivi-
dualistischen Sinne der Aufklärung offenbar am meisten. Wenn das Individuum
1) Vgl. seine Einleitung zum Codex iuris gentium diplomaticus (1693), Werke
(Erdm.) 118 ff.
410 V. Philosophie der Anfldfirang. 2. Praktische Fragen.
sich zum Staatsvertrage nur aus Noth und Bedürfniss bequemt hat^ so wird es
dem Staate so wenig wie möglich Concessionen zu machen geneigt sein und ihm
von seinen ursprünglichen „Rechten^ nur so viel opfern wollen, wie für den
Zweck, den er erfüllen soll, unbedingt erforderlich ist. So dachte nicht nur der
Spiessbürger, der zwar, wenn's irgendwo fehlt, gleich bereit ist, nach der Polizei
zu rufen, in der Stille aber die Rechtsordnung doch als einen Feind ansieht, den
man sich möglichst vom Halse halten muss; sondern so fühlte auch der geistig
hochentwickelte Aufklärer, der für sein reiches Innenleben nur das Interesse
hatte, unbehelligt sich den Genüssen der Kunst und der Wissenschaft widmen zu
können. In der That musste die ideallose Wirklichkeit der deutschen Klein-
staaterei die Gleichgiltigkeit gegen das öffentliche Leben erzeugen, welche so auch
theoretisch ihren Ausdruck fand. Den tie&ten Stand, welchen in dieser Hinsicht
die Werthschätzung des Staates gerade bei den Gebildeten erreicht hat, wird
durch Wilhelm von Humboldt's „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der
Wirksamkeit des Staates zu bestimmen^ ^) wohl am besten gekennzeichnet: hier
wird jedes höhere Interesse des Menschen sorgiältig aus dem staatlichen Macht-
bereich ausgeschlossen und die Aufgabe der öffentlichen Gewalt nur auf den
niederen Dienst beschränkt, Leben und Eigenthum des Bürgers zu schützen.
2. Blieb in dieser Hinsicht die deutsche Philosophie der politischen Wirk-
lichkeit gegenüber immerhin recht zahm, so kam andrerseits doch auch in ihr
die allgemeine Tendenz der Aufklärung zu Tage, das Leben der Gesellschaft wie
des Einzelnen nach den Grundsätzen der Weltweisheit einzurichten. Wenn es
dieser Zeit zum Ruhme gereicht, dass sie mit manchem historischen Gerumpel^
das sich im Haushalt der europäischen Völker angehäuft hatte, glücklich auf-
geräumt hat^ so gebührt daran den Thomasius und Wolff, den Mendelssohn und
Nicolai gewiss auch ihr Antheil (vgl. § 36, 6). Allein ungleich kräftiger und wirk-
samer ist diese Seit e d er Sache bei den fr a n z ö s i s c h e n Aufklärern hervorgetreten.
Es genügt hier schon an Voltaire zu erinnern, der als eine litterarische Macht
ersten Ranges unermüdUch und siegreich für Vernunft und Gerechtigkeit ein-
getreten ist. Aber den Kampf, welchen er gewissermassen vor den Schranken
der öffentlichen Meinung von ganz Europa führte, nahmen seine Landesgenossen
im Einzelnen durch die Kritik der Einrichtungen und die Vorschläge zu ihrer
Verbesserung auf: in breiter, vielfach leidenschaftlicher Discussion geht die philo-
sophische Ueberlegung daran, den Staat zu reformiren. Und hier kommt sogleich
neben der Stärke der Aufklärung ihre Schwäche zu Tage. Aus der allgemeinen,
ewigen Natur des Menschen oder der Dinge entnimmt sie, wie auch immer, die
Massstäbe ihrer Kritik des Bestehenden und ihrer Anforderung an dessen Ver-
änderung: damit verliert sie die Berechtigung und die Lebenskraft des historisch
Wirklichen aus den Augen, und sie glaubt, man brauche nur mit dem Bestehenden,
wo es sich als vernunftwidrig erweist, tabula rasa zu machen, um die Gesellschaft ex
integro nach den Principien der Philosophie aufbauen zu können. In diesem Sinne
hat die Auf klärungslitteratur, zumal in Frankreich, den wirklichenBruch mit der
Geschichte, — dieRe volutio n vorbereitet. Typisch war darin derVorgang des
Deismus, der, weil vor seiner „rationalen^ Ejitik keine der positiven Religionen
bestand, sie alle aufheben und an ihre Stelle die Naturreligion setzen wollte.
1) 1792 geschrieben, 1851 von E. Gausb herausgegeben.
§ 37. Ciiltnrproblem. (Volney, St. Lambert, Bentham, Godwin.) 411
So versuchte denn auch die französische Revolution den abstractenNatur-
staat der ^jFreiheit^ Gleichheit und Brüderlichkeit^ ^ die Verwirklichung der
„Menschenrechte^ nach Bousseau's Contrat social zu decretiren: und zahlreiche
Federn recht mittelmässiger Qualität beeilten sich, dieses Geschäft zu recht-
fertigen und zu glorificiren ^). Es ist meist ein flacher Epikureismus^ der auf der
Grundlage Condillac'schen Positinsmus das grosse Wort führt. So sucht Volney
mit dem Systeme de la nature die Quelle aller gesellschaftlichen Uebel in der
Unwissenheit und der Begehrlichkeit des Menschen, dessen Vervollkommnungs-
föhigkeit bisher durch die Religionen aufgehalten sei. Wenn mit diesen erst alle
„Illusionen'' verscheucht sein werden, dann wird die neu organisirte Gesellschaft
zur obersten Richtschnur haben, dass „Gut" nur ist, was „den" Menschen fordert,
und der Katechismus für den Bürger fasst sich in die Regel zusammen „ Conserve toi
— instruis toi — modere toi — vis pour tes semblables, afin qu'ils vivent pour toi !" *)
Noch materialistischer erscheint die Theorie der Revolution bei St. Lambert,
von dem die in der späteren Litteratur viel besprochene Definition stammt:
„L'homme est une masse organis^e et sensible; il regoit Tintelligence de ce qui
Tenvironne et de ses besoins"*). Mit oberflächlichster Geschichtsbetrachtung
feiert er in der Revolution den endlichen Sieg der Vernunft in der Geschichte,
und dabei deducirt dieser Epikureer, dass die demokratischen Anfänge dieses
grossen Ereignisses sich im Gäsarenthum vollenden werden! Das äusserste an
selbstgefälliger Ueberhebung hat in dieser Hinsicht der parlamentarische Dilet-
tantismus bei Gar at und Lancelin geleistet^).
Ausserordentlich günstig sticht gegen diese phrasenhaften Allgemeinheiten
und die Deklamationen über Volkswohl und Vernunftherrschaft die ernste Sach-
lichkeit ab, mit welcher Bentham das utilistische Princip für die Gesetzgebung
brauchbar zu machen suchte, indem er die quantitative Bestimmung der Lust-
und Unlustwerthe (vgl. § 36, 9) auf die Zweckerwägungen der einzelnen gesetzlichen
Massregeln unter sorgfaltiger Berücksichtigung der jedesmal vorliegenden Ver-
hältnisse anzuwenden lehrte ^). Gerade darin bethätigte er die Einsicht, dass es
sich in der staatlichen Bewegung nicht nur um politische Rechte, sondern vor
allem um sociale Interessen handelt: und nach eben dieser Richtung erstand
nicht ohne Einfluss Bentham's der Revolution ein begeisterter und erfolgreicher
Kämpe in Godwin*). Aber auch sonst kündigt sich in der Revolutionslitteratur
wie mit dumpfem, noch fem verhallendem Donner der sociale Sturm an. Immer
umfangreicher und immer selbständiger auf empirische Prindpien gegründet
wurden die Untersuchungen über nationalökonomische Probleme, welche in
1) Charakteristisch ist in dieser Litteratur die Vorliebe für die der kirchlichen Er-
ziehung abgesehene Form des Katechismus. — 2) Yolmbt, am Schluss des Gatechisme, Oeuvr.
I, 310. — 8) St. Lambert, Cat6ch. Indrod. Oeuvr. I, 53. Es bleibe zur Charakteristik dieser
Litteratur nicht unerwähnt, dass in St. Lambert^s Katechismus auf die Analyse de Thomme
als zweites Buch folgt eine Analyse de la — femme. — 4) Das achtunffswcrtheste Organ dieser
Richtung, welche in der Revolution den Triumph der Philosophie des 18. Jahrhunderts sah
und vertheidigte, ist die „Decade philosophique". Vgl. Picayet, Ideologues, 86 ff. — 5) Um
so bedauerlicher ist es, dass Bentham später in seiner Deontology eine Art vonVolkskatechismus
der utilitarischen Moral zu geben versucht hat, der an radikaler Einseitigkeit, an Gehässig-
keit und Verständnisslosigkeit gegen andere Moralsysteme den schlimmsten Erzeugnissen der
Revolutionszeit gleichkon^mt. — 6) William Godwin (1756—1836) veröffentlichte 1793
seinen Liquiry conceming political justice and its influence on general virtue and happiness.
Vgl. C. Eeoan Paül,W. G., his firiends and contemporains (London 1876) und Lesl. Stephen,
Engl, thought 11, 264ff.
412 V. Philosophie der Aufklärung. 2. Praktisohe Fragen.
Frankreich hauptsächlich durch die physiokratische Schule gefördert
wurden : während aber die Theorie vom Staate vor Allem die Sicherung des
Besitzes verlangte, erhob sich aus der Tiefe der Gesellschaft die Frage nach
dem Bechte des persönlichen Eigenthums, und während von den
Philosophen immer zwiespältiger das Problem erwogen wurde^ wie mit den Inter-
essen des Individuums diejenigen der Gesammtheit vereinbar seien (vgl. unten),
kam der Gedanke zum Durchbruch; daas in dem Streben nach individuellem
Besitz der Grund aller Uebel des Menschengeschlechts liege und dass erst mit
dem Verzicht auf diese Ursünde eine gesellschaftliche Moral und eine moralische
Gesellschaft beginne. Solche commun istischen Ideen warfen M ab ly und
Morellyindie Welt^ und ein Babeuf machte unter dem Directorium zu ihrer
Realisirung den ersten verfehlten Yerschwörungsversucb.
3. Die sociale Frage hatte aber von ihrem tiefsten Grunde her schon
früher ihre Wellen geworfen. Der Klassengegensatz von üppigem Beichthum und
elendester Armuth, welchem unter den Gründen der Revolution eine so grosse
Bedeutung zukam, mochte zwar zunächst fühlbarer und wirksamer sein: aber
seine ganze Schärfe erhält er erst vermöge des damit durch die ganze Entwicklung
des europäischen Lebens verketteten Gegensatzes von Bildung und Un-
bildung, und gerade dieser war in dem Aufklärungszeitalter am tiefsten und
schroffsten aufgeklafft. Je mehr es sich seiner „Cultur^ rühmte ^ um so deut-
licher wurde^ dass diese in der Hauptsache ein Privilegium der besitzenden Klasse
ist. Auch hierin ist mit typischer Offenheit der englische Deismus vorangegangen.
Die Yernunftreligion sollte für den gebildeten Mann ebenso reservirt sein^ wie die
freie schöne Sittlichkeit: für den gemeinen Mann dagegen, meinte Shaftesbury,
müssen die Yerheissungen und Drohungen der positiven Rehgion bestehen bleiben
wie Bad und Galgen. Auch Toland hatte seinen kosmopolitischen Naturcultus
ak ^esoterische'^ Lehre vorgetragen, und als die späteren Deisten in popu-
lären Schriften diese Vorstellungen in das Volk zu tragen begannen, erklärte sie
Lord ßolingbroke, selbst ein Freidenker ausgesprochenster Art, für eine Pest
der Gesellschaft, gegen welche die schärfsten Mittel die besten wären. Auch
unter den deutschen Deisten wollten Männer wie Semler sehr sorgfiUtig zwischen
der Religion als Privatsache und der Religion als öffentlicher Einrichtung ge-
schieden wissen.
Die französische Aufklärung war, wie das Verhältniss Voltaire 's zu
Bolingbroke zeigt, von Anfang an entschieden demokratischer: ja, sie hatte
die agitatorische Tendenz, die Aufklärung der Massen gegen die exclusive Selbst-
sucht der oberen Zehntausend auszuspielen. Damit aber vollzog sich ein Um-
schwung, vermöge dessen die Aufklärung sich nothwendig gegen sich selber
kehrte. Denn wenn die ^Cultur'^ in denjenigen Schichten, welche sie zunächst
ergriff, derartige Folgen gehabt hatte, wie sie in dem Lebensgenuss der „höheren^
Blassen zu Tage traten, wenn sie so wenig vermocht hatte, auch für die Bedürf-
nisse der Masse brauchbare Früchte abzuwerfen, so musste ihr Werth um so
zweifelhafter erscheinen, je mehr die Philosophie „das grösste Glück der grössten
Anzahl" als Massstab für die Beurtheilung der Dinge und der Handlungen oder
Gesinnungen betrachtete.
In diesem Zusammenhange hat sich das Culturproblem der modernen
Philosophie herausgebildet: die Frage, ob und wieweit die Civilisation, d. k
§ d7. Cultarproblem. (Mandeville, Ronssean.) 413
die inteUectuelle Yeirollkommnung (welche eine historische Thatsache ist) und
die damit zusammenhängende Veränderung des menschUchen Triebsystems und
der menschlichen LebensTerhältnisse, — ob und inwieweit diese Cultur zur För-
derung der Sittlichkeit und der wahren Glückseligkeit des Menschen gedient habe.
Je stolzer und selbstgefälliger der Durchschnittsaufklärer die Fortschritte des
Menschengeistes pries^ die in ihm ihren Höhepunkt klaren und deutlichen Ver-
nunftlebens in Theorie und Praxis erreicht haben sollten, um so brennender und
um so — unbequemer wurde diese Frage.
Sie regt sich zuerst^ obwohl in schiefer Stellung, bei Mandeville. In
der Psychologie ein extremer Anhänger des selfish System, suchte dieser gegen
Shaftesbury zu zeigen, dass die ganze reizvolle Lebendigkeit des gesellschaftlichen
Systems nur auf dem Interessenkampf der selbstsüchtigen Individuen beruht, —
ein Princip, das auch auf Adam Smith bei seiner Lehre von Angebot und Nach-
frage gewirkt hat'). Dächte man sich (das ist der Sinn der Bienenfabel) den
Menschen aller egoistischen Triebe ledig und nur noch mit den „moralischen^
Eigenschaften des Altruismus ausgestattet, so stünde vor lauter Selbstlosigkeit
der sociale Mechanismus still. Die treibende Kraft in der Civilisation ist nur der
Egoismus, und darum darf man sich auch nicht wundem, wenn die Cultur sich
nicht durch Erhöhung der sittlichen Qualitäten, sondern eben nur durch eine
Verfeinerung und Verhüllung des Egoismus bethätigt. Und ebensowenig wie
die Moralität wird die Glückseligkeit des Individuums durch die Civilisation
gesteigert. Geschähe es, so würde damit der Egoismus geschwächt, auf dem ja
ihr Fortschritt beruht. In Wahrheit zeigt sich vielmehr, dass jede durch die
inteUectuelle Steigerung herbeigeführte Verbesserung des materiellen Zustandes
in dem Individuum neue und stärkere Bedürfnisse hervorruft, in Folge deren es
immer unbefriedigter wird, und so erweist sich, dass die scheinbar so glänzende
Entwicklung des Ganzen sich nur vollzieht auf Kosten der Moralität und der
GlückseUgkeit des Einzelnen.
4. Bei Mandeville erscheinen diese Gedanken einerseits erst in leiser An-
deutung andrerseits in der hässlichen Form einer cynischen Empfehlung des
Egoismus, dessen „private vices public benefits^ seien: zu einer Bedeutung für
die Weltlitteratur sind sie durch die glänzende Wendung gelangt, welche ihnen
Rousseau gab. Bei ihm betraf die Frage nicht mehr und nicht weniger als
den Werth der gesammten menschlichen Geschichte, — ihren Werth für
die Sittlichkeit und das Glück der Individuen. Und er schleuderte der Aufklärung
die Schmach in's Gesicht, dass all das Wachsen des Wissens und all die Ver-
feinerung des Lebens den Menschen seiner wahren Bestimmung und seinem wahren
Wesen nur immer mehr untreu gemacht habe. Die Geschichte mit ihrem künst-
lichen Aufbau der civilisirten Gesellschaft hat den Menschen verschlechtert ^) :
gut und rein ist er aus der Hand der Natur hervorgegangen, aber seine Ent-
wicklung hat ihn von Schritt zu Schritt der Natur entfremdet. Den Anfang zu
dieser „Degeneration* fsind Rousseau — nach dem zweiten Discurs — in der
Schaffung des Eigenthums, welche die Theilung der Arbeit und damit die Son-
derung der Stände, schliesslich die Erweckung aller bösen Leidenschaften zur
1) Vgl. A. Längs, Gesch. d. Mater. I, 285. — 8) Die Auffassung der englischen Deisten
von der Reugionsgeschichte (vgl. § 35, 8) wird von Rousseau auf die gesammte Creschichte
ausgedehnt.
414 V. Philosophie der Aufklärang. 2. Praktische Fragen.
Folge hatte: dies war es^ was die Arbeit des Intellects dauernd in den Dienst der
Selbstsucht stellte.
Dieser Unnatur der civilisirten Barbarei gegenüber erscheint zunächst der
Naturzustand als das verlorene Paradies, und in diesem Sinne ÜEind die senti-
mentale Sehnsucht einer intelluctuell und moralisch blasirten Zeit ihre Nahrung
in RouBseau^s Schriften, vor Allem in der „Neuen Heloise". Die Damen der
Salons schwärmten für das Gessner'sche Schäferidyll : aber sie überhörten deshalb
den Mahnruf des grossen Genfers.
Denn nicht zu jenem gesellschaftslosen Naturzustande wollte er zurück-
führen. Er war überzeugt, dass der Mensch von seinem Schöpfer mit einer Ver-
Yollkommnungsfahigkeit (perfectibilit6) ausgerüstet sei, welche ihm die Aus-
bildung der natürlichen Anlage wie zur Pflicht so zur natürlichen Nothwendigkdt
mache. Wenn diese Entwicklung dm*ch den bisherigen historischen Process in
falsche Wege geleitet worden ist und deshalb zur Entsittlichung und zum Elend
geführt hat, so muss die Geschichte eben von Neuem begonnen werden,
so muss der Mensch von der Unnatur des intellectuellen Hochmuths zu dem ein-
fachen natürlichen Gefühle, aus der Verschränktheit und Verlogenheit der gesell-
schaftlichen Verhältnisse zu seinem reinen, unverkümmerten Selbst zurückkehren,
um den rechten Weg seiner Entwicklung zu finden. Dazu bedarf nach Rousseau
die Menschheit im Ganzen einer Staatsverfassung, welche nach dem Princip
der rechtlichen Gleichheit dem Einzelnen die volle Freiheit seiner persönlichen Be-
thätigung am Gesammtleben gewährleistet, und im Einzelnen einer Erziehung^),
welche die natürlichen Anlagen des Individuums sich zwanglos aus eigener Leben-
digkeit entfalten lässt. Der Optimismus, den Rousseau in der Auffassung von
dem natürlichen, gottentstammten Wesen des Menschen geltend macht, lässt ihn
hoffen, dass es um uns um so besser bestellt sein wird, je freier und natürlicher
wir uns entwickeln können.
5. Finden wir so Rousseau im lebhaften Gegensatz gegen die historische
Entwicklung und im eifrigen Bestreben, an deren Stelle eine neue, „naturgemässe"
zu setzen, so ist die letzte, versöhnende Synthese der Auf klärungsideen das Be-
streben, den bisherigen Verlauf der menschlichen Geschichte selbst als die natür-
liche Entwicklung des menschlichen Wesens zu begreifen: in diesem Gedanken
streift die Philosophie des 18. Jahrhunderts alle ihre Einseitigkeiten von sich
ab und gewinnt ihre höchste Vollendung. Die erste Regung davon findet sich
bei einer einsamen Erscheinung der italienischen Litteratur, bei Tico*). Von
1) Im Eiazelnen benutzt dabei Ronsseau^s Emile vielfach die „Gedanken*', welche Locke
mit viel beschränkterer Absicht fiir die Erziehung eines jungen Mannes aus der höheren
Gesellschaft aufgestellt hatte : auch da war die volle Ausbildung der Individualität die Haupt-
sache, aus der sich die Abwendung von gelehrter Einseitigkeit, der Hinweis auf das Reale und
Praktische, die Anschaulichkeit und Individualisirung von Unterricht und Erziehung von selbst
verstanden. Rousseau übernimmt diese für den vornehmen Engländer gedachten Bestim-
mungen als Momente einer Erziehung, welche im Menschen nicht den Angehörigen eines
bestimmten Standes oder zukünftigen Berufes, sondern nur „den Menschen" ausbilden wolle.
In diesem Sinne sind seine pädagogischen Lehren auf die Schule des deutschen Philanthro-
pismus übergegangen, welche unter Führung von Basedow (1723—1790) das Princip der
natürlichen Ausbildung mit demjenigen der Utilität verknüpften und danach die zweckmässigen
Formen einer gemeinschaftlichen Erziehung erdachten, wodurch der Einzelne auf natürlichem
Wege zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft herangebildet werden
sollte. — 2| Giov. BattistaVico (1668 — 1744) ist hauptsächlich wirksam geworden durch
seine Principj d^una scienza nuova dHntomo alla commune natura delle nazioni (1725). Vgl.
§ 37. Culturproblem. (Yico, Bossuet, Herder.) 415
der neuplatonischen Metaphysik der Renaissance^ insbesondere von Campanella
beeinflusst und an Bodin und Grotius gebildet, hatte er die Idee eines allgemeinen
Naturgesetzes der Lebensentwicklung erfasst^ welches sich in der Geschichte
der Völker ebenso wie in derjenigen der Individuen darstelle, und er hatte dies
Princip der Identität aller natürlichen Entwicklung mit grosser Gelehrsamkeit
zu erweisen gesucht. Wenn ihm aber bei solcher Auffassung der natürUch noth-
wendigen Correspondenzen zwischen den verschiedenen historischen Systemen
und dem biologischen Gnmdschema, der Gedanke an ein planvolles Ineinander-
greifen der Völkergeschicke fremd geblieben war, so hatte dieser vorher in
Bossuet^) eine um so kräftigere Vertretung gefunden. Der französische Prälat
fährte die patristische Geschichtsphilosophie, welche die Erlösung in den Mittel-
punkt des Weltgeschehens gerückt hatte, in der Weise fort, dass er die Christia-
nisirung der modernen Völker durch das Weltreich Karl's des Grossen als die
abschliessende und entscheidende Epoche der Universalgeschichte betrachtet
wissen wollte, deren ganzer Verlauf das Werk göttlicher Vorsehung und deren
Ziel die Herrschaft der Einen, katholischen Kirche sei. Solche theologische
Welt- und Geschichtsauffassung hatte nun freilich die neuere Philosophie energisch
abgewiesen: aber wie mager der Ertrag ihrer individualpsychologischen Behand-
lung des menschlichen Gemeinlebens für die Betrachtung der Geschichte ausfiel,
sieht man trotz der Anlehnung an Rousseau bei den trivialen ESucubrationen von
Iselin*),
Erst in einem Geiste von Herd er 's universeller Empfänglichkeit und
Feinfuhligkeit fielen Rousseau's Ideen auch nach dieser Hinsicht auf fruchtbaren
Boden. Aber sein an Leibniz und Shafbesbury grossgezogener Optimismus liess
ihn nicht an die Möglichkeit jener Abirrung glauben, als welche der Genfer die
bisherige G^chichte auffassen wollte. Er war vielmehr überzeugt, dass die natur-
gemässe Entwicklung des Menschen eben die sei, welche sich in der Geschichte
vollzogen hat. Wenn Bousseau's Begriff der Perfectibilität des Menschen von
dessen französischen Anhängern wie St. Lambert und namentlich Condorcet
als Gewähr einer besseren Zukunft und als eine unendliche Perspective auf die
Vervollkommnung der Gattung behandelt wurde, so benutzte ihn Herder —
gegen Rousseau — auch als Erklärungsprincip für die Vergangenheit des mensch-
lichen Geschlechts. Die Geschichte ist nichts als die ununterbrochene Fort-
setzung der natürlichen Entwicklung.
Das traf vor Allem den A n f a n g der Geschichte. Nicht als willkürlicher
Act sei es menschUcher Ueberlegung oder göttlicher Bestimmung, sondern als
ein allmählich gestaltetes Ergebniss des natürUchen Zusammenhangs ist der
Beginn des gesellschaftlichen Lebens zu verstehen. Er ist weder erfunden noch
geboten, sondern geworden. In charakteristischer Weise kamen diese geschichts-
phflosophischen Gegensätze am frühesten bei der Auffassung der Sprache zur
K. Webneb, Giambatiista V. als Philosoph und gelehrter Forscher (Wien 1879). R. Flint, V.
SEdinb. a Lond. 1884)*, und ebenso zum Folgenden Flint, The philosophy of history in Europe,
:. Bd. (1874).
1) Jacques B^niffne Bossuet (1627 — 1704), der gefeierte geistliche Rhetor, schrieb
orsprfinglich nir den Unterricht des L)auphin den Discours sur Thistoire universelle (Paris
1681). — 2) Der Basler Isaak Iselin (1728—1782) veröffentlichte 1764 seine „Philosophischen
Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit**. (2 Bde.)
416 V* Philosophie der Aufkläning.
Geltung : der associationspsychologische Individnalismus sah in ihr^ wie es be-
sonders bei Condillac^) zu Tage tritt, eine Erfindung des Menschen, — der
Supranaturalismus, in Deutschland durch Süssmilch*) vertreten , eine gött-
liche Eingebung: hier hatte schon Rousseau das erlösende Wort gesprochen,
wenn er in der Sprache eine natürUche, unwillkürliche Entfaltung des mensch-
lichen Wesens gesehen hatte ').
Herder machte sich nicht nur diese Auffassung zu eigen (vgl. oben § 33, 11),
sondern er dehnte sie auch consequenter Weise auf alle Culturthätigkeiten des
Menschen aus. Er geht daher in seiner Philosophie der Geschichte von der Stel-
lung des Menschen in der Natur, von den Lebensbedingungen^ die ihm der Planet
gewährt, und seiner eigenthiimlichen Anlage aus, um die Anfange und die Bichtung
seiner geschichtlichen Entwicklung daraus zu begreifen : und er lässt ebenso im
Fortgang der universalhistorischen Darstellung die Eigenart eines jeden Volks
und seiner geschichtlichen Bedeutung aus seinen natürlichen Anlagen und Ver-
hältnissen hervorgehen. Allein dabei fallen ihm die Entwicklungen der ver-
schiedenen Nationen nicht aus einander, wie das noch bei Vico geschah: sondern
sie alle reihen sich als eine grosse Kette aufsteigender Vervollkommnung organisch
an einander. Und sie alle bilden in diesem Zusammenhange die immer reifere
VerwirkUchung der allgemeinen Anlage des menschlichen Wesens. Wie der
Mensch selbst die Krone der Schöpfung, so ist seine Geschichte die Entfaltung
der Menschlichkeit. Die Idee der Humanität erklärt die verwickelte Bewe-
gung der Völkergeschicke.
In dieser Betrachtung war die unhistorische Denkart der Aufklärung über-
wunden : jede Gestalt dieses grossen Entwicklungsganges wurde als das natür-
liche Product ihrer Bedingungen gewürdigt, und die „Stimmen der Völker^ ver-
einigten sich zur Harmonie der Weltgeschichte, deren Thema die Humanität ist.
Und daraus entsprang auch die Aufgabe der Zukunft: immer reicher und voller
alle Regungen der menschlichen Natur zur Entfaltung zu bringen, die reifen
Erträge der geschichtlichen Entwicklung zu lebendiger Einheit zu verwirldichen.
Im Bewusstsein dieser Aufgabe der „ WelÜitteratur^ durfte, fem von allem Hoch-
muth des niederen Auf klärens, voll von der Ahnung einer neuen Epoche, Schiller
dem „philosophischen Jahrhundert'^ das frohe Wort nachrufen:
„Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige
Stehst du an des Jahrhunderts Neige
In edler, stolzer Männlichkeit!"
1) Logique und Langue des calculs. — 2) Beweis, dass der Ursprung der menschlichen
Sprache göttlich sei (Berlin 1766). — 8) Mit seinen Argumenten bel^mpfte, wenn auch xam
Theil anderer Ansicht, St. Martin, der Mystiker, die plumpe Darstellung der Gondülac'soheni
Lehre von Garat: vgl. Seances des äcoles normales, III, 61 ff.
417
VITheiL
Die deutsche PMosopMe.
Zu der Litteratnr auf S. 275 und 845 kommen hier hinzu:
H. M. Chaltbaetjs, Historische Entwicklung der speculativen Philosophie von Kant
bis Hegel. Dresden 1837.
F. £. Biedermann, Die deutsche Philosophie von Kant bis auf unsere Tage. Leipz. lä43L
£. L. MiCHELET, Entwickelungsgeschichte derneuesten deutschen Philosophie. Berl. 1849^
C. FoRTLAOE, Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant. Leipzig 1852L
0. LiEBMANN, Kant und die Epigonen. Stuttgart 1865.
Fb. Hakms, Die Philosophie seit Kant. Berlin 1876.
A. S. WiLLM, Histoire de la philosophie allemande depuis Kant jusqu^ä Hegel. Paris
1846 ff.
H. LoTZE, Geschichte der Aesthetik in Deutschland. München 1868.'
R. Flint, Philosophy of history in Europe I. Edinburgh and London 1874.
B. Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1890.
Eine glückliche Veremigung mehrfacher geistiger Bewegungen hat zu Ende
des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland eine Blüthe der
Philosophie hervorgebracht; welche in der Geschichte des europäischen Denkens
nur mit der grossen Entfaltung der griechischen Philosophie von Sokrates bis
Aristoteles zu vergleichen ist. In einer intensiv und extensiv gleich mächtigen
Entwicklung hat der deutsche Geist während der kurzen Spanne von vier Jähr-
zehnten (1780 — 1820) eine Fülle grossartig entworfener und allseitig aus-
gebildeter Systeme der philosophischen Weltanschauung erzeugt^ wie sie auf
so engem Baume nirgends wieder zusammengedrängt sind: und in allen diesen
schürzen sich die gesammten Gedanken der vorhergehenden Philosophie zu
eigenartigen und eindrucksvollen Gebilden zusammen. Sie erscheinen in ihrer
Gesammtheit als die reife Frucht eines langen WachsthumS; aus der, noch bis
heute kaum erkennbar; die Keimungen einer neuen Entwicklung spriessen soUen.
Diese glänzende Erscheinung hatte ihre allgemeine Ursache in der un-
vergleichUchen Lebendigkeit des Geistes, womit die deutsche Nation damals die
Culturbewegung der BenaissancC; welche in ihr durch äussere Gewalt unter-
brochen worden war, mit neuer Kraft wieder aufnahm und zur Vollendung führte.
Sie erlebte — ein Vorgang ohne gleichen in der Geschichte — den Höhepunkt
ihrer innerlichen Entwicklung zu derselben Zeit; wo ihre äussere Geschichte
den niedersten Stand erreichte. Als sie politisch machtlos damiederlag; schuf
sie ihre weltbezwingenden Denker und Dichter. Die siegreiche Kraft aber lag
gerade in dem Bunde zwischen Philosophie und Dichtung. Die Gleich-
zeitigkeit von Kant und Goethe, und die Verknüpfung ihrer Ideen durch Schiller
— das sind die entscheidenden Züge jener Zeit.
Die Geschichte der Philosophie ist an dieser Stelle auf das engste mit der-
jenigen der allgemeinen Litteratur verflochten, und die Beziehungen und An-
Windelband, Qeschiohte der Philosophie. 27
418 VI. Deutsche Philosophie.
regungen laufen zwischen beiden fortwahrend hin und her. Dies tritt charakte-
ristisch in der gesteigerten und schliesslich entscheidenden Bedeutung hervor,
welche in diesem Zusammenhange den ästhetischen Problemen und Be-
griffen zufiel. Für die Philosophie eröifnete sich damit eine neue Welt, die sie
bisher nur mit gelegentlichen Ausblicken gestreift hatte und von der sie nun wie
von dem gelobten Lande Besitz nahm: sachlich wie formell gelangten in ihr die
ästhetischen Principien zur Herrschaft; und die Motive des wissenschaftlichen
Denkens verschlangen sich mit denen der künstlerischen Anschauung zur Er-
zeugung grossartiger begrifflicher Weltdichtungen.
Der bestrickende Zauber, welchen damit die Litteratur auf die Philosophie
ausübte, beruhte hauptsächlich auf der historischen Universalität. Mit
Herder und Goethe beginnt, was wir nach ihnen die Weltlitteratur nennen: das
bewusste Herausarbeiten der eigenen Bildung aus der Aneignung aller grossen
Gedankenschöpfungen der gesammten menschlichen Geschichte. Als Träger
dieser Aufgabe erscheint in Deutschland die romantische Schule, und in
Analogie dazu entwickelte sich auch die Philosophie aus der Fülle der histo-
rischen Anregungen heraus: sie griff mit bewusster Vertieftmg auf die Ideen des
Alterthums und der Renaissance zurück, sie versenkte sich verständnissvoll auch
in das, was die Auf klärung von sich gewiesen hatte, und sie endete in Hegel damit,
sich selbst als die systematisch durchdringende und gestaltende Zusammenfassung
alles Desjenigen zu begreifen, was der Menschengeist bisher gedacht hat.
Für diese gewaltige Arbeit aber bedurfte es einer neuen begrifSichen
Grundlage, ohne welche alle jene Anregungen der allgemeinen Litteratur
wirkungslos geblieben wären.. Diese philosophische Kraft, den Ideenstoff der
Geschichte zu bemeistem, wohnte der Lehre Kant's inne, und das ist ihre un*
vergleichlich hohe historische Bedeutung. Kant hat durch die Neuheit und durch
die Grösse seiner Gesichtspunkte der folgenden Philosophie nicht nur die Probleme,
sondern auch die Wege zu ihrer Lösung vorgeschrieben : er ist der allseitig be-
stimmende und beherrschende Geist. Die Arbeit seiner nächsten Nachfolger,
worin sich sein neues Princip nach allen Seiten auseinanderlegte und mit Assimi-
lation der früheren Systeme historisch auslebte, wird nach ihrem bedeutsamsten
Merkmale am besten unter dem Namen des Idealismus zusammengefasst.
Daher behandeln wir die Geschichte der deutschen Philosophie in zwei
Kapiteln, von denen das erste Kant und das zweite die Entwicklung des Idealis*
mus umfasst. In der Gedankensymphonie jener vierzig Jahre bildet die kantische
Lehre das Thema und der Idealismus dessen Ausfuhi'ung.
1. Kapitel. Eant's Kritik der Vernunft.
G. L. Reinhold, Briefe über die Eantische Philosophie (Deutsch. Merkur 1786 f.).
Loipziff 1790 ff.
V. Cousin, Legons sur la philosophi^ de Kaot. Paris 1842.
M. Desdouits, La Philosophie de Kant, d'apräs les trois critiques. Paris 1876.
E. Cairds, The philosophy of Kant. London 1876.
C. Cantoni, Em. Kant (3 Vol.). Milano 1879—1884.
W. Wallace, Kant. Oxford, Edinb. a. Lond. 1882.
J. B. Mbteer, Kant*8 Psychologie. Berlin 1870.
Die hervorragende SteUung des Königsberger Philosophen beruht darauf,
dass er die verschiedenen Denkmotive der Aufklärungslitteratur allseitig in sich
1. Kant*8 Kritik der Vernunft. 419
aufgenommen und durch ihre gegenseitige Ergänzung zu einer völlig neuen Auf-
fassung von der Aufgabe und dem Verfahren der Philosophie ausgereift hat. Er
ist durch die Schule der Wolff'schen Metaphysik und durch die Bekanntschaft
mit den deutschen Popularphilosophen ebenso hindurchgegangen, wie durch die
Versenkung in die tiefgreifenden Problemstellungen Hume's und durch die Be-
geisterung für Rousseau's Naturpredigt: die mathematische Strenge Newton-
scher Naturphilosophie, die Feinheit der psychologischen Analyse vom Ursprung
menschlicher Vorstellungen und Willensrichtungen in der englischen Litteratur,
der Deismus in seiner Ausdehnung von Toland und Shaftesbury bis Voltaire^
der ehrliche Ereiheitssinn, mit dem die französische Aufklärung auf die
Besserung der politischen und socialen Zustände drang — all dies hatte in dem
jungen Kant einen treuen, überzeugungsvollen Mitarbeiter gefunden^ der mit
reicher Weltkenntniss und liebenswürdiger Klugheit^ wo es am Ort war auch
mit Geschmack und Witz^ dabei fem von aller Selbstgefälligkeit und Ueber-
hebung die besten Züge des Aufklärerthums typisch in sich vereinigte.
Allein zu seiner eigensten [Bedeutung hat er sich von allen diesen Grund-
lagen aus erst an den Schwierigkeiten des Erkenntnissproblems heraus-
gearbeitet. Je mehr er ursprünglich die Metaphysik gerade deshalb geschätzt
hatte, weil sie den moralischen und religiösen Ueberzeugungen wissenschaftliche
Sicherheit geben sollte, um so nachhaltiger war die Wirkung auf ihn selbst, als
er durch eigene, in stetigem Wahrheitsbedürfniss fortschreitende Kritik sich davon
überzeugen musste, wie wenig das rationalistische Schulsystem jenen Anspruch
befriedigte, — um so mehr war aber auch sein Blick für die Erkenntnissgrenzen
derjenigen Philosophie geschärft, welche ihren Empirismus an der Hand der
psychologischen Methode entwickelte. An dem Studium David Hume's kam ihm
dies in solchem Masse zum Bewusstsein, dass er begierig nach dem Hilfsmittel
griff, welches die Nouveaux essais von Leibniz für die Ermöglichung einer meta-
physischen Wissenschaft darzubieten schienen. Aber das erkenntnisstheoretische
System, welches er über dem auf die Mathematik ausgedehnten Princip des
virtuellen Angeborenseins errichtete (vgl. S. 367 und 382 f.), erwies sich ihm
selbst sehr bald als unhaltbar, und dies führte ihn auf die langwierigen Unter-
suchungen, welche ihn in der Zeit von 1770 bis 1780 beschäftigt und ihren Ab-
schluss in der Kritik der reinen Vernunft gefunden haben.
Das wesentlich Neue und Entscheidende dabei war, dass Kant die Un-
zulänglichkeit der psychologischen Methode für die Behandlung der
philosophischen Probleme erkannte') und die Fragen, welche den Ursprung
und die thatsächliche Entwicklung der menschlichen Vernunftthätigkeiten be-
treffen, vollständig von denjenigen sonderte, welche sich auf ihren Werth be-
ziehen. Er theilte dauernd mit der Aufklärung die Tendenz, den Ausgangspunkt
aller Untersuchungen nicht in der durch die mannigfachsten Voraussetzungen
beeinflussten Auffassung der Dinge, sondern in der Betrachtung der Vernunft
selbst zu nehmen: aber er fand in dieser allgemeine und über alle Erfahrung
hinausreichende Urtheile, deren Geltung weder von dem Ausweis ihrer that-
sächlichen Bewusstwerdung abhängig gemacht noch durch irgend eine Form des
1) Yd. den Anfang der transsc. Deduction der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik
der reinen Vernunft, II, 118 ff.
27'
420 ^* Deutsche Philosophie.
Eingeborenseins begründet werden kann. Diese Urtheile gilt es im ganzen Um-
kreise der menschlichen Vemunftthätigkeit festzustellen^ um aus ihrem Inhalte
selbst und ihren Beziehungen zu dem durch sie bestimmten System des Yer-
nunftlebens ihre Berechtigung oder die Grenzen ihres Anspruchs zu verstehen.
Diese Aufgabe bezeichnete Kant als Kritik der Vernunft und diese
Methode als die kritische oder transscendentale Methode: und als Gegen-
stand derselben betrachtete er die Untersuchung über die Möglichkeit syn-
thetischer Urtheile a priori'). Das beruht auf der fundamentalen Ein-
sicht^ dass die Geltung der Vemunftprincipien von der Art und Weise, wie sie
im empirischen Bewusstsein (sei es des Einzelnen oder der Gattung) zu Stande
kommen, völlig unabhängig ist. Alle Philosophie ist dogmatisch, welche diese
Geltung entweder durch Aufzeigung ihrer Genesis aus Empfindungselementeil
oder durch das Eingeborensein nach irgend welchen metaphysischen Voraus-
setzungen begründen oder auch nur beurtheilen will: die kritische Methode
oder die Transscendentalphilosophie prüft die Gestalt, in welcher diese Prin-
cipien thatsächlich auftreten, an der Fähigkeit, welche sie in sich selbst besitzen,
um allgemein und nothwendig in der Erfahrung angewendet zu werden.
Hieraus ergab sich für Kant die Aufgabe einer systematischen Durch-
forschung der Vemunftfunctionen, um ihre Principien festzustellen und deren
Geltung zu prüfen: denn die kritische Methode, welche zuerst in der Erkenntniss-
theorie gewonnen wurde, erstreckte von selbst ihre Bedeutung auch auf die
anderen Sphären der Vemunftbethätigung. Hier aber erwies sich für Kant das
neu gewonnene Schema der psychologischen Eintheilung (vgl. oben S. 403,
Anm. 6) als massgebend fiir die Gliederung der philosophischen Pro-
bleme. Wurden im Seelenleben Denken, Wollen und Fühlen als die Grund-
formen der Aeusserungsweise unterschieden, so musste die Kritik der Vernunft
sich an die so gegebene Eintheilung halten: sie betraf gesondert die Principien
der Erkenntniss, der Sittlichkeit und der von beiden unabhängigen Ge-
fühlswirkung der Dinge auf die Vernunft. •
Danach gUedert sich Kant's Lehre in den theoretischen, den prak-
tischen und den ästhetischen Theil, und seine Hauptwerke sind die drei
Kritiken: der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urtheilskraft.
Immanuel Kant, 22. April 1724 in Königsberg i.Pr. als Sohn eines Sattlers geboren,
wurde auf dem pietistischen Collegium Fridericianum gebildet und bezog 1740 die Universität
seiner Vaterstadt, um Theologie zu studiren : doch zogen ihn allmählich neben den philosophi-
schen mehr die naturwissenschaftlichen Gegenstände an. Nach Abschluss der Studien war er
1) Dieser Ausdruck hat sich bei der Entstehung der Kr. d. r. Yem. allmählich durch
die Bedeutung gebildet, welche darin der Begriff der Synthesis (vgl. § 38) gewann. Kant
entwickelt jene allgemeine Formel in der Einleitung zur Kritik d. r. Vem. folgendermassen :
Urtheile sind analytisch, wenn die darin behauptete Zugehörigkeit des Prädicats zum Subject
im Begriffe des Subjects selbst begründet ist („Erläuterungsurtheile"), synthetisch, wenn dies
nicht der Fall ist, sodass die Hinzufiigung des Prädicats zum Subject noch einen von beiden
logisch verschiedenen Grund haben muss (nErweiterungsurtheile"). Dieser Grund ist bei
synthetischen Urtheilen a posteriori („Wahmehmungsurtheile'*, vgl. Prolegomena § 18, III,
215 £.) der Act der Wahrnehmung selbst, bei den synthetischen Urtheilen a prio^ dagegen,
d. h. den allgemeinen Principien zur Deutung der Erfahrung, etwas anderes, was eben gesucht
werden soll. Apriorität ist bei Kant kern psychologisches, sondern ein rein erkenntniss-
theoretisches Merkmal: es bedeutet nicht ein zeitliches Vorhergehen vor der Erfahrung,
sondern eine sachlich über alle Erfahrung hinausgehende und durch keine
Erfahrung begründbare Allgemeinheit und Nothwendigkeit der Geltung von
Vemunftprincipien. "Wer dies nicht sich klar macht, hat keine Hoffnung, Kant zu verstehen.
1. Kant's Kritik der Yemunft. 42 1
1746 — 56 Hauslehrer bei verschiedenen Familien in der Nähe E^onigsbergs, habilitirte sich
dann im Herbst 1755 als Privatdocent in der philosophischen Facultat der heimischen Uni-
versität und wurde an dieser erst 1770 inmi ordentlichen Professor ernannt. Die heitere,
ffeistreiche Beweglichkeit seiner mittleren Jahre wich mit der Zeit einer ernsten, rifforistischen
Lebensauffassunff und der Herrschaft eines strengen Pflichtbewusstseins, welches in der
unablässigen Arbeit an seiner grossen philosophischen Aufgabe, an der meisterhaften Er-
füllung des akademischen Berufs und an der starren Rechtlichkeit seiner Lebensführung sich,
nicht ohne einen Stich ins Pedantische, bethati^. Den gleichmässigen Ablauf seines ein-
samen und bescheidenen Gelehrtenlebens störte nicht der wachsende Glanz des Ruhmes, der
auf seinen Lebensabend fiel, und auch nur vorübergehend der dunkle Schatten, welchen der
Hass der unter Friedrich Wilhelm 11. zur Herrschaft gelangten Orthodoxie durch das Ver-
bot seiner Philosophie auf seinen Weg zu werfen drohte. Er starb an Alterssdiwache am
12. Februar 1804.
Kantus Leben und Persönlichkeit ist nach den früheren Arbeiten am vollendetsten durch
Kuno Fischer gezeichnet worden (Gesch. d. neueren Phüos. lU u. IV, 3. Aufl., München
1882); über seine Jugend und die erste Zeit seiner Lehrthätigkeit hat E. Abnoldt (Königs-
berg 1882) gehandelt.
Die Umwandlung, welche mit dem Philosophen gegen Ende des siebenten Jahrzehnts
des 18. Jahrhunderts vorging, tritt namentlich in seiner schriftstellerischen Thätigkeit hervor.
Die früheren, „vorkritischen** Werke (von denen die philosophisch bedeutsamen bereits S. 351
citirt sind) zeichnen sich durch leichte, flüssige, anmuthige Darstellung aus und stellen sich
als liebenswürdige Gelegenheitsschriften eines feinsinnigen, weltgewandten Mannes dar: die
späteren Arbeiten lassen die Schwierigkeit der Gedankenarbeit und das Gedränge einander
widerstreitender Denkmotive an der umständlichen Schwerfallif^keit und an dem architek-
tonisch gekünstelten Aufbau der Untersuchung ebenso erkennen wie an der schwieru^ geschach-
telten, vielfach durch Restrictionen unterbrochenen SatzbÜdung« Minerva hat £e Grazien
verscheucht: dafür aber schwebt über den späteren Schriften der andächtige Ton eines tiefen
Denkens und einer ernsten Ueberzeugung, der sich hie und da zu gewaltigem Pathos und zu
wuchtigem Ausdruck steigert.
Für Kantus theoretische Entwicklung war anfanglich der Gegensatz zwischen der Leibniz-
WolfTschen Metaphysik und der Newton *8chen Naturphilosophie massgebend. Jene war ihm
an der Universität durch Knutzen (vgl. oben S. 351), diese durch Teske nahegetreten, und bei
seiner Entfremdung gegen das philosophische Schulsystem wirkte das Interesse für die Natur-
wissenschaft, der er sich eine Zeit lang ganz widmen zu wollen schien, sehr stark mit.
Seine erste Schrift (1747) betraf „Gedanken von der wahren Schätzung lebendiger Kräfte**, —
eine Streitfrage zwischen cartesianischen und leibnizianischen Physikern; sein grosses Werk
über die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" war eine naturwissenschaft-
liche Leistung ersten Ranges, und neben kleineren Aufsätzen gehört hierher seine Promotions-
schrift De igne (1755), welche eine Hypothese über Imponderabilien aufstellte. Auch seine
Lehrthätigkeit bezog sich bis in die spätere Zeit hinein mit Vorliebe auf naturwissenschaftliche
Gegenstände, insbesondere auf die physische Geographie und die Anthropologie.
In der theoretischen Philosophie hatte Kant „mancherlei Umkippungen" seines Stand-
punktes durchgemacht (vgl. § 33 u. 34). Er hatte anfangs (in der Physischen Monadologrie)
sich den Gegensatz zwiscnen Leibniz und Newton in der Kaumlehre durch die übliche Unter-
scheidung der (metaphysisch zu erkennenden) Dinge-an-sich und der (physicalisch zu unter-
suchenden) Erscheinungen zurechtzulegen gesucht; er war dann (in den Schriften nach 1760)
zu der Einsicht gelangt, dass eine Metaphysik im Sinne des Rationalismus unmöglich ist, dass
Philosophie und Mathematik diametral entgegengesetzte Methoden haben müssen, dass die
Philosophie als empirische Erkenntniss des Gegebenen den Kreis der Erfahrung nicht zu über-
schreiten vermag. Aber während er sich von Voltaire und Rousseau für diesen Ausfall der
metaphysischen Einsicht durch das „natürliche Gefühl" des Rechten und Heiligen trösten
Hess, arbeitete er doch mit Lambert an einer Verbesserung der Methode der Metaphysik, und
als er dieselbe an der Hand von Leibniz' Nouveaux essais gefunden zu haben hoflte, construirte
er in kühnen Linien das mystisch-dogmatische System semer Liaugnraldissertation.
Der Fortgang von da bis zum System des Kriticismus ist dunkel und controvers.
Vgl. über diese Entwicklung, bei der namentlich die Zeit und die Richtuug der Einwirkung
von David Hume in Frage ist: Fr. Michblis, Kant vor und nach 1770 (Braunsberg 1871). -—
Fr. Pa OLSEN, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie (Leipzig
1875). — A. RoraL, Geschichte und Methode des philosophischen Kriticismus (Leipzig 1876). —
B. Erdmamn, Kant*s Kriticismus (Leipzig 1878). — W. Windelbamd, Die verschiedenen Phasen
der kantischen Lehre vom Ding-an-sich (Vierteljahrschr. f. wissensch. Philos. 1876). — Vgl.
auch die Schriften von K. Dieterich über Kant's Verhältniss zu Newton und Rousseau,
zusammen unter dem Titel „Die kantische Philosophie in ihrer inneren Entwicklungsgeschichte^,
Freiburg i B^ 1885.
422 VI. Deutsche Philosophie. 1. Kant's Kritik der Vernunft.
Aus der Ausgleichung der verschiedenen Richtungen des kantischen Denkens gingdas
Grundbuch der deutschen Philosophie hervor, die Kritik der reinen Vernunft (Biga
1781). Sie erfuhr bei der zweiten Auflage (1787) eine Reihe von Veränderungen, welche,
seitdem Schelling (W. V, 196) und Jacobi (W. II, 291) darauf hingewiesen, Gegenstand sehr
lebhafter Gontroversen gewesen sind. Vgl. darüber die oben citirten Schriften ; eine fleissige
Zusammenstellung der Litteratur bietet H. Vaihinoer, Gommentar zu K. K. d. r. V. (I. !Eä.
Stuttgart 1887). Separatausgaben von K. Kehkbacu (Zugrundelegung der ersten Auflage) und
B. Erdhann (2. Aufl.).
Die weiteren Hauptschriften Kant's aus der Zeit des Kriticismus sind: Prolegomena
zu einer jeden künftigen Metaphysik, 1788. — Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785.
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1785. — Kritik der praktischen Ver-
nunft, 1788. — Kritik der Urtheilskraft, 1790. — Die Religion innerhalb der Grenzen der
blossen Vernunft, 1798. — Zum ewigen Frieden, 1795. — Metaphysische Anfangsgründe der
Rechts- und Tugendlehre, 1797. — Der Streit der Fakultäten, 1798.
Gesammtausffaben der Werke wurden besorgt durch K. Rosbnkbanz und Fr. W.
Schubert (12 Bde., Leipzig 18d8ff.), G. Hartenstein (lOBde , Leipzig 1838 f. und neuerdings
8 Bde., Leipzig 1867 ff.) und J. v. Kirchicann (in der Philos. Biblioth.) ^). Sie enthalten ausser^
dem die kleineren Aufsätze etc., die Vorlesungen über Logik, Pädagogik etc. und die Briefe.
Eine Uebersicht über alles von Kant Geschriebene (darunter au^ das für die Anffassunff
des Kriticismus belanglose Manuskript des „Uebergangs von der Metaphysik zur Physik")
flndet mau bei Ueberweo-Heinzk LH ' § 24; daselbst ist auch die massenhafte Litteratur mit
grosser Vollzähligkeit aufgeführt. Aus dieser kann hier nur eine Auswahl des Besten und
Lehrreichsten gegeben werden: eine sachlich geordnete Uebersicht der werth volleren Litte-
ratur bietet der Art. Kant von W. Windelband in Ersch und Gruber's Encyklopädie.
§ 38. Der Gegenstand der ErkenntnisB.
Ebh. ScsMiD, Kritik der reinen Vernunft im Grundrisse. Jena 1786.
H. Cohen, Kant's Theorie der Erfahrung. Berlin 1871.
A. Holder, Darstellung der Kantischen Erkeuntnisstheorie. Tübingen 1873.
A. Stadleb, Die Grundsätze der reinen Erkenntnisstheorie in der kantischen Philosophie
Leipzig 1876.
JoH. Volkelt, J. Kant's Erkenntnisstheorie nach ihren Grundprincipien analysirt.
Leipzig 1879.
E. Pfleidereb, Kantischer Kriticismus und englische Philosophie. Tübingen 1881.
Hutchinson Stibling, Text-book to Kant. Edinburgh and London 1881.
Seb. Tubbiglio, Analisi, storia, critica della Gritica della ragione pura. Rom 1881.
S. MoBBis, Kant's critique of pure reason. Chigaco 1882.
Fb. Staudingeb, Noumena. Darmstadt 1884.
Die Erkenntnisstheorie Kant's hat sich mit zäher Folgerichtigkeit aus den
Problemstellungen des modernen Terminismus ergeben (vgl. S. 368 und 379). Auf-
gewachsen war der Philosoph in dem naiven Realismus der WolfF'schen Schule,
welche Denknothwendigkeit und Realität unbesehen für identisch hielt: und seine
Selbstbefreiung vom Bann dieser Schule bestand darin, dass er die Unmöglichkeit
einsah, aus „reiner Vernunft, d. h. durch bloss logisch-begrifiliche Operationen
irgend etwas über die Existenz *) oder das Oausalverhältniss ') wirklicher Dinge
auszumachen. Die Metaphysiker sind „Lufbbaumeister mancherlei Gedanken-
welten" ^) ; aber ihre Entwürfe haben keine Beziehung auf die Wirklichkeit. Suchte
nun Kant diese Beziehung zunächst in den durch die Erfahrung gegebenen Be-
griffen, deren genetischer Zusammenhang mit der von der Wissenschaft zu
erkennenden Wirklichkeit unmittelbar einzuleuchten schien, so wurde er aus
diesem „dogmatischen Schlummer'^ durch Hume aufgerüttelt^), der den Nach-
1) Die Citate im Folgenden beziehen sich auf die ältere Hartenstein'sche Ausgabe. Bei
den Hauptwerken erlauben die bequemen Ausgaben von K. Eehrbach (Reclam^sche Bibliothek)
leicht die Umsetzung der Citate in die anderen Ausflraben. — 2) Vgl. Kant's „Einzig möglicher
Beweisgrund fiir das Dasein Gottes**. — 8) Vgl. den Versuch über die negativen Grossen,
namentlich den Sohluss, W. I, 59flf. — 4) Träume eines Geistersehers I, 8. W. DI, 75. —
o) Bei diesem vielerwahnten Selbstbekenn tniss Kant's wird meist nicht bedacht, dass er für
§ 88. Gegenstand der Erkenntnias. (Synthesis.) 423
weis führte^ dass gerade die constitutiven Formen einer begrifflichen Erkenntniss
der Wirklichkeit, insbesondere die der Causalität; nicht anschaulich gegeben,
sondern Producte des Associationsmechanismus ohne demonstrirbare Beziehung
auf das Wirkliche seien. Auch aus den ^gegebenen" Begriffen war die Realität
nicht zu erkennen, und dann hatte Kant an der Hand von Leibniz noch einmal
erwogen, ob nicht der geläuterte Begriff des virtuellen Eingeborenseins mit
Hilfe der in Gott begründeten „präformirten Harmonie" zwischen der erkennenden
und den zu erkennenden Monaden das Räthsel des Verhältnisses von Denken und
Sein löse, und er hatte sich in der Inauguraldissertation von dieser Lösung der
Frage überzeugt. Bald aber kam die kühle Ueberlegung nach, dass diese prä-
formirte Harmonie eine unbegründbare metaphysische Annahme sei, unfähig, ein
wissenschaftUches System der Philosophie zu tragen. So zeigte sich, dass weder
die empiristische noch die rationalistische Lehre die Cardinalfirage gelöst hatte:
worin besteht und worauf beruht die Beziehung der Erkenntniss auf
ihren Gegenstand^)?
1. Kant's eigene^ lang erwogene Antwort auf diese Frage ist die Kritik der
reinen Vernunft. Sie geht in ihrer systematischen Schlussredaction , die eine
analytische Erläuterung in den Prolegomena fand , von der Thatsächlich-
keit synthetischer ürtheile a priori in drei theoretischen Wissen-
schaften aus: in der Mathematik, der reinen Naturwissenschaft imd
der Metaphysik: und es gilt, deren Ansprüche auf allgemeine und nothwendige
Geltung zu prüfen.
In dieser Formulirung kam die Einsicht zur Geltung, welche Kant im Laufe
seiner kritischen Entwicklung von dem Wesen der Vemunftthätigkeit gewonnen
hatte: sie ist Synthesis, d. h. Vereinheitlichung einer Mannigfaltigkeit *). Dieser
Begriff der Synthesis^) ist etwas Neues, was die Kritik von der Inaugural-
dissertation trennt: in ihm fand Kant das Gemeinsame zwischen den Formen der
Sinnlichkeit und denjenigen des Verstandes, welche in der Darstellung von 1770
nach den Merkmalen der Keceptivität und der Spontaneität sich gänzlich von
einander sondern sollten ^). Es zeigte sich nun, dass die Synthesis der theo-
retischen Vernunft in drei Stufen sich vollzieht: die Verknüpfung der
^dogmatisch'' nicht nur den Rationalismus, sondern ebenso auch den Empirismus der früheren
Erkenntnisstheorie erklärte, und dass die classische Stelle, an der er diesen Ausspruch thut
(in der Vorrede der Prolegomena, W. III, 170 f.) Hume keineswegs zu Wolff, sondern durch-
aus zu Locke, Beid und Beattie in Gegensatz bringt. Der Dogmatismus, von dem also Kant
durch Hume befreit worden zu sein erklärt, war der empiristische.
1) Vgl. Kant's Brief an Marcus Herz vom 21. Febr. 1772. — 2) Diese mehrfach wieder-
holte Definition lässt den Grundbegriff der kritischen Erkenntnisslehre in nächster Nähe bei
dem metaphysischen Grundbegriff der Monadologie erscheinen: vgl. § dl, 11. — 8) Er wird
eingeführt in der transscendent. Analytik bei der Lehre von den Kategorien; § 10 und 15 (der
ersten Aufl. der K. d. r. V.) — 4) Daher kommt auch der Begriff der Synthesis in der vorliegenden
Gestalt der Vemunftkritik mit den psychologischen Voraussetzungen in Gollision, welche aus
der die transsc. Aesthetik und den Anfang der transsc. Logik bildenden deutschen Bearbeitung
der Inaugaraldissertation (sie sollte ursprünglich unter dorn Titel „Grenzen der €innUchkeit
und des Verstandes" gleich nach 1770 erschemen) in die Krit. d. r. V. übergangen, aber schon
in den Prolegomena verwischt sind. Früher waren Sinnlichkeit und Verstand als Receptivität
und Spontaneität gegenübergestellt worden: aber Baum und Zeit, die reinen Formen der
Sinnlichkeit, waren ja die Principien einer s3mthetischen Ordnung der Empfindungen, gehörten
somit unter den allgemeinen Be^piff der Synthesis, d. h. der spontanen Einheit des Mannig-
faltigen. So sprengte der Begriff der Synthesis das psychologische Schema der Inaugural-
dissertation.
424 ^^' Deutsche Philosophie. 1. Eant*8 Kritik der Vernunft.
Empfindungen zu Anschauungen geschieht in den Formen von Baum und Zeit,
die Verknüpfung der Anschauungen zur Erfahrung der natürlichen Wirklichkeit
geschieht durch Yerstandesbegriffe, die Yerknüpfting der Erfahrungsuriheile zu
metaphysischen Erkenntnissen geschieht durch allgemeine Principieh^ welche Kant
Ideen nennt. Diese drei Stufen der Erkenntnissthätigkeit entwickeln sich also
als verschiedene Formen der Synthesis, von denen jede höhere die niedere zu ihrem
Inhalte hat. Die Vernunftkritik aber hat zu untersuchen, welches auf jeder Stufe
die besonderen Formen dieser Synthesis sind und worin ihre allgemeine und noth-
wendige Geltung besteht.
2. Hinsichtlich der Mathematik fugt sich die Auffassung der Inaugural-
dissertation auoh der Yernunftkritik in der Hauptsache glücklich ein. Die mathe-
matischen Sätze sind synthetisch: sie beruhen in letzter Instanz auf anschaulicher
Construction, nicht auf Begrifibentwicklung. Ihre durch keine Erfahrung be-
gründbare Nothwendigkeit und Allgemeingiltigkeit ist also nur dann zu erklären,
wenn ihnen ein anschauliches Princip a priori zu Grunde liegt. Deshalb
zeigt Kant, dass die allgemeinen Vorstellungen von RaumundZeit, aufweiche
sich alle Einsichten der Geometrie und der Arithmetik beziehen, die „reinen
Formen der Anschauung" oder ;, Anschauungen a priori '^ sind« Die VorsteUnngen
des Einen unendlichen Raums und der Einen unendlichen Zeit beruhen nicht auf
der Oombination von Wahrnehmungen endlicher Räume und Zeiten^ sondern es
steckt mit den Merkmalen der Grenze im Nebeneinander und Nacheinander schon
immer der ganze Raum und die ganze Zeit in der Wahrnehmung einzelner Raum-
und Zeit grossen, die demnach nur als Theile des Raums überhaupt und der Zeit
überhaupt Vorstellbar sind. Raum und Zeit können nicht „Begriffe" sein^ da sie
sich ja nur auf einen einzigen und zwar einen nicht fertig gedachten, sondern in un-
endlicher Synthesis begriffenen Gegenstand beziehen, und sie verhalten sich zu den
Vorstellungen endlicher Grössen nicht wie Gattungsbegriffe zu ihren Exemplaren,
sondern wie das Ganze zum Theil. Sind sie danach reine, d. h. nicht auf Wahr-
nehmungen begründete, sondern selbst allen Wahrnehmungen zu Grunde liegende
Anschauungen ^), so sind sie als solche nothwendig: denn es lässt sich zwar Alles
aus ihnen, aber nicht sie selbst fortdenken. Sie sind die unentrinnbar gegebenen
Formen der Anschauung, die Gesetze der Beziehungen, in denen wir allein
die Mannigfaltigkeit der Empfindungen mit synthetischer Einheit vorzustellen
vermögen. Und zwar ist der Raum die Form des äusseren, die Zeit diejenige des
inneren Sinnes: d. h. alle Gegenstände der einzelnen Sinne werden als räumlich,
alle Gegenstände der Selbstwahrnehmung werden als zeitlich angeschaut.
Sind demnach Raum und Zeit die „beständige Form unserer sinnlichen
Receptivität^, so kommt den durch beide Anschauungsarten ohne jede Rücksicht
auf den einzelnen erfahrungsmässigen Inhalt bestimmten Erkenntnissen allgemeine
und nothwendige Geltung für den ganzen Umkreis dessen, was wir anschauen
und erfahren können, zu: im Gebiete der Sinnlichkeit — so lehrt die „transscen-
dentale Aesthetik^ — ist ein Gegenstand apriorischer Erkenntniss nur die
1) Es mus8 hier nochmals daran erinnert werden, dass es eine schiefe und völlig irre-
führende Auffassung Kant's ist, wenn man die» MZugrundeUegen" oder „Vorhergehen* zeitUoh
auffasst. Der Nativismus, welcher Kaum und Zeit für angeborene VorsteUnngen halt, ist
durchaus unkantisch und steht im Widerspruch mit ausdrücklichen Erklärungen des Philo-
sophen (vgl. z. B. oben S. 367).
§ 88. Gegenstand der Erkenntniss. (Raam und Zeit) 426
Form der Synthesis des durch die Empfindung gegebenen Mannigfaltigen, —
das Gesetz räumlicher und zeitlicher Anordnung. Aber die Allgemeinheit und
Nothwendigkeit dieser Erkenntniss ist auch nur dann begreiflich, wenn Raum
und Zeit eben nichts weiter sind als die nothwendigen Formen der
sinnlichen Anschauung des Menschen. Käme ihnen eine Realität unabhängig
von den Functionen der Anschauung zu^ so wäre die Apriorität der mathe-
matischen Erkenntniss unmöglich. Wären Raum und Zeit selbst Dinge oder
reale Eigenschaften und Verhältnisse von Dingen^ so könnten wir von ihnen nur
durch Erfahrung^ also niemals in allgemeiner und nothwendiger Weise wissen:
dies ist nur möglich; wenn sie eben nichts weiter als die Form sind; unter der alle
Dinge in unserer Anschauung erscheinen müssen^). Nach diesem Princip
werden für Kant Apriorität und Phänomenalität Wechselbegriffe. All-
gemein und nothwendig ist in der menschlichen Erkenntniss nur
die Form, unter der in ihr die Dinge erscheinen. Der Rationalismus
beschränkt sich auf die Form und gilt auch für diese nur um den Preis ihrer
^Subjectivität".
3. Wenn Kant so die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse der Wahr-
nehmungsgegenstände lediglich als Vorstellungsweise angesehen haben wollte, die
mit der Realität der Dinge selbst nicht zusammenfalle^ so unterschied er ^) diesen
Begriff ihrer Idealität sehr genau von jener „Subjectivität der SinnesquaU-
täten^; welche von ihm wie von der ganzen Philosophie seit Descartes und Locke
für selbstverständlich gehalten wurde. Und zwar handelt es sich dabei wiederum
lediglich um den Grund der Phänomenalität. HinsichtUch der Farbe; des Ge-
schmacks etc. war sie seit Protagoras und Demokrit durch die Verschiedenheit
und Relativität der Eindrücke begründet worden: für die Raum- und Zeitformen
leitet Kant sie gerade aus der absoluten Beständigkeit ab. Für ihn gewähren da-
her die sinnlichen Qualitäten nur eine individuelle und zufallige Vorstellungsweise;
die räumlichen und zeitlichen Formen dagegen eine allgemeine und noth-
wendige Erscheinungsweise der Dinge. AlleS; was die Wahrnehmung ent-
hält; ist nicht das wahre Wesen der Dinge ; sondern Erscheinung: aber die
Empfindungsinhalte sind in ganz anderem Sinne „Phänomene'' als die räumlichen
und zeitlichen Formen: jene gelten nur als Zustände des einzelnen Subjects,
diese als ;,objective'' Anschauungsformen für Alle. Daher sieht schon aus diesem
Grunde auch Kant die Aufgabe der Naturwissenschaft in der demokritisch-
galileischen Reduction des Qualitativen auf Quantitatives, worin allein auf mathe-
matischer Grundlage Nothwendigkeit und Allgemeingiltigkeit gefunden werden
kann: aber er unterscheidet sich von den Vorgängern dariu; dass erinphiloso-
phischem Betracht auch die mathematische Vorstellungsweise der Natur nur
für Erscheinung; wenn auch im tieferen Sinne des Worts gelten lassen kann. Die
Empfindung giebt eine individuelle Vorstellung; die mathematische Theorie giebt
eine nothwendige, allgemeingiltige Anschauung der WirkUchkeit : aber beide sind
nur verschiedene Stufen der Erscheinung; hinter der das wahre Ding-an-sich
unbekannt bleibt. Raum und Zeit gelten ausnahmslos für alle Gegenstände der
Wahrnehmung; aber nicht darüber hinaus: sie haben ;,empiri8che Realität^
imd „transscendentale Idealität^.
1) Besonders deutlich ist dieser Gedanke in den Prolegomena § 9 entwickelt. — 2) Vgl.
Kr. d. r. Vem. § 3, b. W. II, 68.
426 VI. Deutsche Philosophie. 1. Kant *8 Kritik der Vernunft.
4. Der Hauptfortschritt der Yemunftkritik über die Inauguraldissertation
hinaus besteht nun darin^ dass dieselben Principien in einer völlig parallelen
Untersuchung ^) auf die Frage nach dem erkenntnisstheoretischen Werthe aus-
gedehnt wurde, « welcher den synthetischen Formen der Verstandes-
thätigkeit zukommt.
Die Naturwissenschaft bedarf neben ihrer mathematischen Grundlage
einer Anzahl allgemeiner Sätze über den Zusammenhang der Dinge, welche, wie
der Satz dass alles Geschehen seine Ursache haben müsse, synthetischer Natur
sind, dabei aber nicht durch Erfahrung begründbar sind, wenn sie auch dadurch
zum Bewusstsein kommen, darauf angewendet werden und darin ihre Bestätigung
finden. Von solchen Sätzen sind freilich bisher erst einige gelegentlich aufgestellt
und behandelt worden, und es bleibt der Kritik selbst vorbehalten, das „System
der Grundsätze^ ausfindig zu machen : aber es ist klar, dass ohne diese Grund-
lage die Naturerkenntniss der nothwendigen und allgemeinen Geltung entrathen
würde. Denn die „Natur'' ist nicht bloss ein Aggregat von räumlichen und
zeitlichen Formen, von Körpergestaltungen und Bewegungen, sondern ein Z u-
sammenhang, den wir zwar auch sinnlich anschauen, aber zugleich durch
Begriffe denken. Verstand nennt Kant das Vermögen, das Mannigfaltige der
Anschauung in synthetischer Einheit zu denken, und die reinen Verstandes-
begriffe oder. Kategorien sind die Formen der Synthesis des Ver-
standes, wie Raum und Zeit die Formen der Synthesis der Anschauung sind.
Wäre nun die „Na tur^ als Gegenstand unserer Erkenntniss ein realer Zu-
sammenhang der Dinge, unabhängig von unseren Vemunftfunctionen, so könnten
wir wiederum von ihr nur durch die Erfahrung und niemals a priori wissen: eine
allgemeine und nothwendige Erkenntniss der Natur ist nur möglich, wenn unsere
begrifflichen Formen der Synthesis die Natur selbst bestimmen. Schriebe unserem
Verstände die Natur die Gesetze vor, so hätten wir davon nur eine empirische,
unzulängliche Kenntniss: eine apriorische Erkenntniss der Natur ist
also nur möglich, wenn es umgekehrt unser Verstand ist, welcher
der Natur die Gesetze vorschreibt. Allein unser Verstand kann die
Natur nicht bestimmen, insofern sie als Ding-an-sich oder als System von
Dingen-an-sich besteht, sondern nur insofern als sie in unserem Denken
erscheint. Apriorische Naturerkenntniss ist also nur dann möglich, wenn auch
der Zusammenhang, den wir zwischen den Anschauungen denken,
nichts weiter ist als unsere Vorstellungsweise: auch die begrifflichen
Beziehungen, in denen die Natur Gegenstand unserer Erkenntniss ist, dürfen
nur „Erscheinung^ sein.
5. Um zu diesem Resultate zu gelangen, geht die Vernunftkritik zunächst
darauf aus, sich dieser synthetischen Formen des Verstandes in systematischer
Vollzähligkeit zu versichern. Klar ist dabei von vornherein, dass es sich nicht
um jene analytischen Beziehungen handeln kann, welche in der formalen
Logik behandelt und aus dem Satze des Widerspruchs begründet werden.
Denn diese enthalten nur die Regeln, um die Beziehungen zwischen Begriffen
nach Massgabe des darin schon gegebenen Inhalts zu ermitteln. Solche Ver-
1) Dieser Farallelismus wird am deutlichsten durch eine Vergleichung der §§ 9 und 14
der Prolegomena.
§ 88. Gegenstand der Erkeuntniss. (Kategorien.) 427
knüpfungsweisen aber, wie sie in der Statuirung des Verhältnisses von Ursache und
Wirkung oder von Substanz und Accidens vorliegen^ sind in jenen analytischen
Formen — das hat gerade Hume gezeigt — nicht enthalten. Eitnt entdeckt
hier die völlig neue Aufgabe der transscendentalen Logik ^). Neben den
(analytischen) Verstandesformen; nach welchen die Verhältnisse inhaltlich ge-
gebener Begriffe festgestellt werden, zeigen sich die synthetischen Ver-
standesformen, durch welche Anschauungen zu Gegenständen der begriff-
lichen Erkenntniss gemacht werden. Räumlich coordinirte und zeitlich wechselnde
Empfindungsbilder werden z. B. erst dadurch „objectiv" oder ^gegenständlich ^^
dass sie als Dinge mit bleibenden Eigenschaften und wechselnden Zuständen
gedacht werden: aber diese durch die Kategorie ausgedrückte Beziehung
steckt analytisch weder in den Empfindungen noch in deren anschaulichen Ver-
haltnissen als solchen. In den analytischen Beziehungen der formalen Logik ist
das Denken von den Gegenständen abhängig und erscheint schliesslich mit Becht
nur als ein Bechnen mit gegebenen Grössen. Die synthetischen Formen der
transscendentalen Logik dagegen lassen den Verstand in der schöpferischen
Function erkennen, aus den Anschauungen die Gegenstände des Denkens
selbst zu erzeugen.
An dieser Stelle tritt zuerst in dem Unterschiede der formalen und der
transscendentalen Logik der fundamentale Gegensatz zwischen Kant und den
bis auf ihn herrschenden Auffassungen der griechischen Erkenntnisslehre zu Tage.
Die letztere nahm die „Gegenstände" als unabhängig vom Denken „gegeben"
an, betrachtete die intellectuellen Vorgänge als durchweg davon abhängig und
höchstens berufen, sie abbildlich zu reproduciren oder sich von ihnen leiten zu
lassen. Kant entdeckte, dass die Gegenstände des Denkens keine anderen sind
als die Erzeugnisse des Denkens selbst. Diese „Spontaneität" der Vernunft
bildet den tiefsten Kern seines transscendentalen Idealismus.
Wenn er aber so mit völlig klarem Bewusstsein neben die analytische
Logik des Aristoteles, welche die Subsumtionsverhältnisse fertiger Begriffe zu
ihrem wesentlichen Inhalt hatte (vgl. § 12), eine neue erkenntnisstheoretische
Logik der Synthesis setzte, so meinte er doch, dass beide eine Strecke
gemeinsam hätten : die Lehre vom Urtheil. Im Urtheil wird die zwischen
Subject und Prädicat gedachte Beziehung als gegenständlich geltend behauptet:
alles gegenständliche Denken ist Urtheilen. Wenn daher die Kategorien oder
Stammbegriffe des Verstandes als die Beziehungsformen der Synthesis
zu betrachten sind, wodurch Gegenstände zu Staude kommen, so muss es so viel
E^tegorien geben, als sich Arten der Urtheile finden, und jede Kategorie ist
die in einer eigenen Urtheilsart wirksame Verknüpfungsweise von Subject und
Prädicat.
Hiemach meinte nun Kant, die Tafel der Kategorien aus derjenigen
der Urtheile ableiten zu können. Er unterschied nach den vier Gesichtspunkten
der Quantität, Qualität, Relation und Modalität je drei Urtheilsarten: allgemeine,
besondere, einzelne, — bejahende, verneinende, unendliche, — kategorische,
hypothetische, disjunctive, — problematische, assertorische, apodiktische-, und
diesen sollten die zwölf Kategorien entsprechen: Einheit, Vielheit, Allheit, —
1) Vgl. M. Steckelmacher, Die formale Logik Kant's in ihren Beziehungen zur trans-
scendentalen. Breslau 1878.
428 VI. Deutsche Philosophie. 1. Eant's Kritik der Yemunft.
Realität, Negation, Limitation, — Inhärenz und Subsistenz, Causalität und
Dependenz, Gemeinschaft oder Wechselwirkung — Möglichkeit und Umnöglich-
keit; Dasein und Nichtsein; Nothwendigkeit und Zufälligkeit. — Die Künstlich-
keit dieser Construction, die Lockerheit der Beziehungen zwischen ürtheilsform
und Kategorie, die Ungleichwerthigkeit der Kategorien, — das alles liegt auf
der Hand, aber Kant fasste unglücklicherweise zu diesem System so viel Zu-
trauen, dass er es als architektonischen Grundriss fiir eine grosse Anzahl seiner
späteren Untersuchungen behandelte.
6. Der schwierigste Theil der Aufgabe jedoch war, in der ^^transscenden-
talen Deduction der reinen Verstandesbegriffe ^ den Nachweis zu fuhren, wie die
Kategorien „die Gegenstände der Erfahrung machen^. Die Dunkelheit, in welche
hier die tiefsinnige Forschung des Philosophen nothwendig geräth, wird am
besten durch einen glücklichen Einfall der Prolegomena erhellt. Kant unter-
scheidet hier Wahrnehmungsurtheile, d.h. solche, worin nur das räumlich
zeitliche Yerhältniss von Empfindungen fiir das individuelle Bewusstsein aus-
gesprochen wird, und Erfahrungsurtheile, d.h. solche, worin ein derartiges
Verhältniss als objectiv giltig, als im Gegenstande gegeben behauptet wird: und
er findet den erkenntnisstheoretischen Werthunterschied zwischen beiden darin,
dass im Erfahrungsurtheil die räumliche oder zeitliche Beziehung durch eine
Kategorie, einen begrifflichen Zusammenhang geregelt und begründet wird,
während dies im blossen Wahmehmungsurtheil fehlt. So wird z. B. die Auf-
einanderfolge zweier Empfindungen gegenständUch, objectiv und aUgemeingiltig,
wenn sie als dadurch begründet gedacht wird, dass die eine Erscheinung die
Ursache der anderen ist. Alle einzelnen Gebilde der räumUchen und zeitlichen
Synthesis von Empfindungen werden nur dadurch zu Gegenständen, dass sie nach
einer Regel des Verstandes verknüpft werden. Dem individuellen Vor-
stellungsmechanismus gegenüber^ worin sich die einzelnen Empfindungen beUebig
ordnen, trennen und verbinden, ist das gegenständliche, für alle gleichmässig
geltende Denken an bestimmte, begrifflich geregelte Zusammenhänge gebunden.
Insbesondere gilt dies hinsichtlich der zeitUchen Verhältnisse. Denn da
auch die Erscheinungen des äusseren Sinnes als „Bestimmungen unseres Ge-
müths^ dem inneren Sinn angehören, so stehen alle Erscheinungen ausnahmslos
unter der Form des inneren Sinnes, der Zeit. Deshalb suchte Kant zu zeigen,
dass zwischen den Kategorien und den einzelnen Formen der Zeitanschauung
ein „Schematismus^ obwalte, der es überhaupt erst möghch mache, die Formen
des Verstandes auf die Gebilde der Anschauung anzuwenden, und der darin
bestehe, dass jede einzelne Kategorie mit einer besonderen Form des Zeit-
verhältnisses eine schematische AehnUchkeit besitze. In der empirischen Erkennt-
niss benutzen mr diesen Schematismus, um das wahrgenommene Zeitverhaltniss
durch die entsprechende Kategorie zu deuten, z. B. die regelmässige Succession
als Causalität aufzufassen: die Transscendentalphilosophie hat umgekehrt die
Berechtigung dieses Verfahrens darin zu suchen, dass die Kategorie als Ver-
standesregel das entsprechende Zeitverhaltniss als Gegenstand der Erfahrung
begründet.
In der That findet nun das individuelle Bewusstsein in sich den Gegensatz
einer Vorstellungsbewegung (etwa der Phantasie), fiü' welche es keine über seinen
eigenen Bereich hinausgehende Geltung beansprucht, u nd andrerseits einer T h äti g -
§ 88. Gegenstand der Erkenntniss. (Erfahrung.) 429
keit des Erfahrens; bei der es sich in einer für alle anderen ebenso geltenden
Weise gebunden weiss. Nur in dieser Abhängigkeit besteht die Beziehung des
Denkens auf einen Gegenstand. Wurde nun aber erkannt; dass der Grund für
di)3 gegenständliche Geltung des Zeit- (und Baum-) Verhältnisses allein in seiner
Bestimmung durch eine Yerstandesregel begründet sein kann^ so ist es dagegen
eine Thatsache^ dass von dieser Mitwirkung der Kategorien in der Erfahrung
das Bewusstsein des Individuums Nichts weiss^ dass es vielmehr das Resultat
derselben als die gegenständliche Nothwendigkeit seiner Auffassung der räum-
lichen und zeitlichen Sjmthesis der Empfindungen übernimmt.
Die Erzeugung des Gegenstandes geht also nicht in dem individuellen Be-
wusstsein von Statten, sondern liegt diesem bereits zu Grunde : für sie muss also
ein höhereS; gemeinsames Bewusstsein angenommen werden; das nicht mit seinen
Functionen, sondern nur mit dem Resultate derselben in das empirische Bewusst-
sein des Einzelnen fällt. Dasselbe bezeichnete Kant in den Prolegomena als
;,das Bewusstsein überhaupt^; in der Kritik als trän sscendentale Apper-
ception oder als Ich.
Die Erfahrung ist danach das System der Erscheinungen, worin die
räumliche und zeitliche Synthesis der Empfindungen durch die Regeln des Ver-
standes bestimmt ist. So ist die „Natur als Erscheinung'' der Gegenstand
einer apriorischen Erkenntniss ; denn die Kategorien gelten für alle Erfahrung,
weil diese nur durch sie begründet ist.
7. Die allgemeine und nothwendige Geltung der Kategorien drückt sich
nun in den ^^Grundsätzen des reinen Verstandes'' aus, worin sich die
BiegrifiGsfibrmen vermittels des Schematismus entwickeln. Hierbei aber zeigt sich
sogleich, ! dass der Schwerpunkt der kantischen Kategorienlehre auf die dritte
Gruppe:uhd damit auf diejenigen Probleme fällt, in denen er „Hume's Zweifel
zu lösen" hoffte. Aus den Kategorien der Quantität und Qualität ergeben sich
nur das „Axiom der Anschauung", dass alle Erscheinungen extensive Grössen
sind, unddie'„Anticipationen der Wahrnehmung", wonach der Gegenstand der
Empfindung eine intensive Grösse ist; bei der Modalität erfolgen gar nur Defini-
tionen des Möglichen, Wirklichen und Nothwendigen unter dem Namen der
„Postülate des empirischen Denkens". Dagegen beweisen die „Analogien der
Erfahrung", dass das Beharrende in der Natur die Substanzen sind, der6n
Quantum nicht vermehrt noch vermindert werden kann, dass alle Veränderungen
nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung von Statten gehen, und dass die
sämmtlichen Substanzen in durchgängiger Wechselwirkung unter einander stehen.
Dies sind also die ohne aUe empirische Begründung allgemein und noth-
wendig geltenden Grundsätze und die obersten Prämissen aller Naturforschung ;
sie enthalten das, was Kant die Metaphysik der Natur nennt. Zu ihrer An-
wendung jedoch auf die sinnlich gegebene Natur müssen sie durch eine mathe-
matische Formulirung hindurchgehen, weil die Natur das nach den Kategorien
geordnete System der in den Formen von Raum und Zeit angeschauten Empfin-
dungen ist. Diese Umsetzung wird durch den empirischen Begriff der Bewegung
bewirkt, auf welche alles Geschehen in der Natur theoretisch zurückzufuhren ist.
Wenigstens reicht die eigentliche Wissenschaft der Natur nur so weit, wie die
Mathematik sich darin anwenden lässt: daher Kant Psychologie und Chemie als
bloss descriptive Disciplinen davon ausschloss. Die „metaphysischen Anfangs-
430 VI. Deutsche Philosophie. 1 . Kaufs Kritik der Vernunft.
gründe der Naturwissenschaft^ enthalten somit Alles^ was auf Grund der Kate-
gorien und der Mathematik allgemein und nothwendig über die Gesetze der
Bewegung gefolgert werden kann. Das Wichtigste in der so aufgebauten Natur-
philosophie Kant's ist seine dynamische Theorie der Materie, woriner jetzt
aus den allgemeinsten Grundsätzen der Kritik die schon in der ^Naturgeschichte
des Himmels^ angelegte Lehre ableitete , dass die Substanz des im Räume
Beweglichen das Product zweier einander in verschiedenem Masse das Gegen-
gewicht haltenden Kräfte, der Attraction und der Repulsion, sei.
8. Allein jene Metaphysik der Natur kann nach Kant's Voraussetzungen
nur eine Metaphysik der Erscheinungen sein: und eine andere ist nicht
möglich, denn die Kategorien sind Beziehungsformen und als solche an sich leer;
sie können sich auf einen Gegenstand nur durch Vermittlung von Anschauungen
beziehen, die eine mit einander zu verknüpfende Mannigfaltigkeit von Inhalten
darbieten. Diese Anschauung jedoch ist bei uns Menschen nur die sinnliche in
den Formen von Zeit und Raum, und für deren synthetische Function haben
wir wiederum den einzigen Inhalt in den Empfindungen. Danach istdereinzige
Gegenstand der menschlichen Erkenntniss die Erfahrung, d. h. die
Erscheinung: und die seit Piaton übliche Eintheilung der Gegenstände der Elr*
kenntniss in Phaenomena undNoumena hat keinen Sinn. Eine über die Erfahrung
hinausgreifende Erkenntniss der Dinge-an-sich durch „blosse Vernunft^ ist ein
Unding.
Hat denn aber dann der Begriff des Dinges-an-sich überhaupt noch einen
vernünftigen Sinn? und wird nicht mit ihm auch die Bezeichnung aller Gegen-
stände unserer Erkenntniss als „Erscheinungen^ bedeutungslos? Diese Frage ist
der Umkehrpunkt der kantischen Ueberlegungen gewesen. Bis hierher ist Alles,
was der naiven Weltauffassung als „Gegenstand^ dünkt, theils in Ehnpfindungen,
theils in synthetische Formen der Anschauung und des Verstandes aufgelöst
worden: es scheint neben dem individuellen Bewusstsein nichts wahrhaft bestehen
zu bleiben als das „Bewusstsein überhaupt^, die transscendentale Apperception.
Wo bleiben dann aber die „Dinge'^, von denen Kant erklärte, dass es ihm nie in
den Sinn gekommen sei, ihre Realität zu leugnen?
Der Begriff des Dinges-an-sich kann freiUch in der Vemunftkritik
nicht mehr einen positiven Inhalt haben, wie bei Leibniz oder in Kant's Inau-
guraldissertation: er kann nicht der Gegenstand rein rationaler Erkenntniss, er
kann überhaupt kein „Gegenstand^ mehr sein. Aber es ist wenigstens kein
Widerspruch, ihn bloss zu denken. Zunächst rein hypothetisch und als etwas,
dessen Realität weder zu bejahen noch zu verneinen ist, — ein blosses „Problem^.
Die menschliche Erkenntniss ist auf Gegenstände der Erfahrung beschränkt, weil
die zum Gebrauch der Kategorien erforderliche Anschauung bei uns nur die
receptiv-sinnliche in Raum und Zeit ist. Gesetzt, es gäbe eine andere Art der
Anschauung, so würde es für diese ebenfalls mit Hilfe der Kategorien auch
andere Gegenstände geben. Solche Gegenstände einer nicht menschlichen An-
schauimg blieben aber doch immer nur Erscheinungen, wenn diese Anschauung
auch wieder als eine solche angenommen würde, die gegebene Empfindungs-
inhalte in irgend einer Weise anordnete. Dächte man sich jedoch eine Anschau-
ung von nicht receptiver Art, eine Anschauung, welche nicht nur die
Formen, sondern auch den Inhalt synthetisch erzeugte, eine wahrhaft „productive
§ 38. Gegenstand der Erkenntniss. (Ding-an-sich.) 43 1
Einbildungskraft^; so müssten deren Gegenstände nicht mehr Erscheinungen,
sondern Dinge-an-sich sein. Ein solches Vermögen verdiente den Namen einer
intellectuellen Anschauung oder eines intuitiven Verstandes: es
wäre die Einheit der beiden Erkenntnisskräfte der Sinnhchkeit und des Ver-
Standes^ welche im Menschen getrennt auftreten^ obwohl sie durch ihr stetiges
Aufeinanderaugewiesensein auf eine verborgene gemeinsame Wurzel hindeuten.
Die Möglichkeit eines solchen Vermögens ist so wenig zu verneinen^ wie seine
Realität zu bejahen: doch deutet Kant schon hier an^ dass man sich ein höchstes
geistiges Wesen so würde vorzustellen haben. Denkbar sind also Noumena oder
Dinge-an-sich im negativen Sinne als Gegenstände einer nicht-
sinnlichen Anschauung^ von der freilich unsere Erkenntniss absolut Nichts
aussagen kann^ — als Grenzbegriffe der Erfahrung.
Und sie bleiben schliesslich nicht einmal so vöUig problematisch, wie es
danach zuerst aussieht. Denn wollte man die Realität der Dinge-an-sich leugnen,
so würde damit „Alles in Erscheinungen aufgelöst^, und man wagte damit die
Behauptung, dass nichts wirklich wäre, als was dem Menschen oder anderen
sinnlich-receptiven Wesen erscheint. Diese Behauptung aber wäre eine völlig
unbegründbare Vermessenheit. Der transscendentale Idealismus darf daher die
Realität der Noumena nicht leugnen, er muss sich nur bewusst bleiben, dass sie
auf keine Weise Gegenstände der menschlichen Erkenntniss werden können.
Dinge-an-sich müssen gedacht werden, sind aber nicht erkennbar. Auf diese
Weise gewann Kant das Recht, die Gegenstände des menschlichen Wissens
„nur als Erscheinungen'' zu bezeichnen, zurück.
9. Damit war dem dritten Theile der Vernunftkritik, der transscendentalen
Dialektik*) der Weg vorgeschrieben. Eine Metaphysik des ünerfahrbaren, oder
wie Kant lieber sagt, des Uebersinnlichen ist unmöglich. Das musste durch eine
Kritik der historisch vorliegenden Versuche dazu gezeigt werden, und Kant
wählte als actuelles Beispiel dafür die Leibniz-WoliTsche Schulmetaphysik mit
ihrer Behandlung der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie. Zu-
gleich aber musste nachgewiesen werden, dass das Unerfahrbare, welches nicht
erkannt werden kann, doch nothwendig gedacht werden muss, und es musste der
transscendentale Schein aufgedeckt werden, durchweichen auch die grossen
Denker von jeher verführt worden sind, dies nothwendig zu Denkende als einen
Gegenstand möglicher Erkenntniss anzusehen.
Zu letzterem Zwecke geht Kant von dem Gegensatz zwischen der Ver-
standesthätigkeit und der sinnlichen Anschauung aus, mit deren Hilfe sie allein
gegenständliche Erkenntniss liefert. Das durch die Kategorien bestimmte Denken
setzt die Data der Sinnlichkeit in der Weise mit einander in Beziehung, dass
jede Erscheinung durch andere Erscheinungen bedingt ist: dabei verlangt aber
der Verstand, um die einzelne Erscheinung vollständig zu denken, die Totalität
der Bedingungen zu erfassen, durch welche dieselbe im Zusammenhange
der ganzen Erfahrung bestimmt ist. Allein diese Anforderung ist angesichts der
1) Sachlich bilden transscendentale Aesthetik, Analytik und Dialektik, wie auch die
Einleitung zeigt, die drei coordinirten Haupttheile der Er. d. r. Y. : der formelle Schematismus
der Eintheüung, den Kant der seiner Zeit üblichen Einrichtung logischer Lehrbücher nach-
bildete, ist dagegen durchaus irrelevant. Die „ Methodenlehre " ist thatsächlich nur ein ar
feinen Bemerkungen überaus reicher Nachtrag.
432 ^- Deutsche Philosophie. 1. Eant's Kritik der V emanft
räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit der Erscheinungswelt unerfüllbar. Denn
die Eittegorien sind Principien der Beziehung zwischen Erscheinungen: sie
erkennen die Bedingtheit jeder Erscheinung immer nur wieder durch andere
Erscheinungen und verlangen für diese abermals die Einsicht in ihre Bedingt-
heit durch andere, u. s. f. in infinitum ^). Aus diesem Yerhältniss von Verstand und
Sinnlichkeit ergeben sich für die menschliche Erkenntniss nothwendige und
doch unlösbare Aufgaben: diese nennt Kant Ideen, und das zu dieser
höchsten Synthesis der Verstandeseinsichten erforderliche Vermögt bezeichnet
er im engeren Sinne als Vernunft.
Will nun die Vernunft eine so gestellte Aufgabe als gelöst vorstellen, so
muss die gesuchte Totalität der Bedingungen als etwas Unbedingtes gedacht
werden, welches zwar die Bedingungen für die unendliche Reihe der Erscheinungen
in sich enthalte, selbst aber nicht mehr bedingt sei. Dieser für die Verstandes-
erkenntniss in sich widerspruchsvolle Abschluss einer u^endlichen Reihe muss
gleichwohl gedacht werden, wenn die auf Totalität gerichtete Aufgabe des Ver-
standes an dem unendlichen Material der sinnlichen Daten als gelöst betrachtet
werden soll. Die Ideen sind daher Vorstellungen des Unbedingten, welche noth-
wendig gedacht werden müssen, ohne je Gegenstand der Erkenntniss werden zu
können, und der transscendentale Schein, dem die Metaphysik verfällt, besteht
darin, sie für gegeben zu erachten, während sie nur aufgegeben sind. In
Wahrheit sind sie nicht constitutive Principien, durch welche wie durch die Kate-
gorien Gegenstände der Erkenntniss erzeugt werden, sondern nur regulative
Principien, durchweiche der Verstand genöthigt wird, immer weitere Zu-
sammenhänge im Bereiche des Bedingten der Erfahrung aufzusuchen.
Solcher Ideen findet Kant drei : das Unbedingte für die Totalität aller
Erscheinungen des inneren Sinnes, aller Data des äusseren Sinnes, alles Bedingten
überhaupt wird gedacht als Seele, Welt und Gott.
10. Die Kritik der rationalen Psychologie in den „Paralogismen der reinen
Vernunft^ läuft darauf hinaus in den üblichen Beweisen für die Substantialität
der Seele die quatemio terminorum einer Verwechslung des logischen Subjects
mit dem realen Substrat nachzuweisen : sie zeigt, dass der wissenschaftliche Be-
griff der Substanz an die Anschauung des im Räume Beharrlichen gebunden und
deshalb nur auf dem Gebiete des äusseren Sinnes anwendbar sei, und sie führt
aus, dass die Idee der Seele als einer unbedingten realen Einheit alter Erschei-
nungen des inneren Sinnes zwar ebensowenig beweisbar wie widerlegbar, dabei
aber das heuristische Princip für die Ihforschung der Zusammenh&ige des Seelen-
lebens sei.
In ähnlicher Weise behandelt der Abschnitt vom „Ideal der Vernunft" die
Idee Gottes'. Mit präciserer Ausführung seiner früher über denselben Gegen-
stand geschriebenen Abhandlung zerstört Kant die Beweiskraft der für das Dasein
Gottes vorgebrachten Argumente. Er bestreitet dem ontologischen Beweise
das Recht, aus dem Begriffe allein auf die Existenz zu schliessen; er zeigt, dass
der kosmologische Beweis eine petitio principii involvirt, wenn er die „erste
Ursache" alles ^Zufälligen" in einem „absolut noth wendigen" Wesen sucht; er
1) Vgl. die ähnlichen, aber metaphysisch gewendeten Gedanken bei N'ic. Cusanos and
Spinoza: oben S. 274 und 331.
§ 39. Kategorisoher Imperativ. 433
beweist^ dass das teleologische oder physikotheologische Argument im besten
Falle — die Schönheit, Harmonie und Zweckmässigkeit der Welt zugegeben —
auf den antiken Begriff eines weisen und guten „ Weltbaumeisters ^ führt. Aber
er betont, dass die Leugnung Gottes eine ebenso unerweislich das Gebiet der
Erfahrungserkenntniss überschreitende Behauptung ist wie das Gegentheil^
und dass vielmehr in dem Glauben an eine lebendige, reale Einheit aller Wirk-
lichkeit der einzig kräftige Antrieb zur empirischen Erforschung der einzelnen
Zusammenhänge der Erscheinungen besteht.
Bei weitem am charakteristischsten jedoch ist Kantus Behandlung der Idee
der Welt in den „Antinomien der reinen Vernunft". Sie prägenden Grund-
gedanken der transscendentalen Dialektik am schärfsten aus, indem sie zeigen,
dass, wenn man das Universum als Gegenstand der Erkenntniss behandelt, man
darüber mit gleichem Rechte contradictorisch einander gegenüberstehende Sätze
behaupten kann, sofern man einerseits dem Bedürfniss des Verstandes nach
Abschluss der Erscheinungsreihen, andrerseits dem der sinnlichen Anschauung
nach unendlicher Fortsetzung derselben Folge giebt. Kant beweist daher in den
„Thesen", dass die Welt in Baum und Zeit Anfang und Ende haben, dass sie
hinsichtlich ihrer Substanz eine Grenze der Theilbarkeit aufweisen, dass das
G^chehen in ihr freie, d.h. causal nicht mehr bedingte Anfange haben und dass zu
ihr ein absolut noth wendiges Wesen, Gott, gehören müsse: und er beweist in den
Antithesen für alle vier Fälle das contradictorische Gegentheil. Dabei steigert sich
die Verwirrung dadurch, dass die Beweise (mit einer Ausnahme) indirect sind, so-
dass die These durch Widerlegung der Antithese, die Antithese durch Widerlegung
der These begründet, jede Behauptung also ebenso bewiesen wie widerlegt wird.
Die Auflösung dieser Antinomien geht aber nur für die beiden ersten, die
„mathematischen", darauf aus, dass der Satz des ausgeschlossenen Dritten seine
Geltung verliert, wo etwas zum Gegenstand der Erkenntniss gemacht werden soll,
was dies niemals werden kann, wie das Universum. Bei der dritten und vierten
Antinomie, den „dynamischen", welche die Freiheit und Gott betreffen, sucht
Kant zu zeigen (was rein theoretisch freilich unmöglich ist), dass es wohl denkbar
wäre, die Antithesen gälten f&r die Erscheinungen, die Thesen dagegen für die
unerkennbare Welt der Dinge-an-sich. Für diese sei es wenigstens kein Wider-
spruch, Freiheit und Gott zu denken, während beide in der Erkenntniss der
Erscheinungen allerdings nicht anzutreffen seien.
% 89. Der kategoHsohe Imperativ.
H. Cohen» Eant^s Beffründong der Ethüc. Berlin 1877.
£. Apnoldt, Eant's Idee vom höchsten Gut. Königsberg 1874.
B. PüNJKB, Die Religionsphilosophie Kant's. Jena 1874.
Die synthetische Function in der theoretischen Vernunft ist die Verknüpfung
von Vorstellungen unter einander zu Anschauungen, Urtheilen und Ideen: die
praktische Synthesis ist die Beziehung des WoUens auf einen vorgestellten
Inhalt, womit dieser zum Zweck wird. Diese Beziehungsform hat Kant sorg*
faltig aus den Stammbegriffen des erkennenden Verstandes ausgeschlossen : sie
ist dafür die Grundkategorie des praktischen Vernunftgebrauchs.
Sie giebt keine Gegenstände der Erkenntniss, aber Gegenstände des WoUens.
1, Für die Vemunftkritik erhebt sich daraus das Problem, ob es eine
WindAlband, Opflrhiehto dfir Philonophie. 28
434 Vi. Deutsche Philosophie. 1. Kaiit*8 Kritik der Yemunft.
praktische Synthesis a priori giebt, d. h. ob es nothwendige und all-
gemeingiltige Gegenstände desWoIlens giebt: oder ob etwas anzatreffen
ist^ was die Yemonft ohne alle Sücksicht auf empirische Beweggründe
a priori verlangt. Diesen aUgemeinen und nothwendigen Gegenstand der prakti-
schen Vernunft nennen wir das Sitten gesetz.
Denn es ist von vornherein für Kant klar, dass die zwecksetzende Thätigkeit
der rmen Vernunft; wenn es eine solche giebt, den empirischen Triebfedern des
Wollens und Handelns gegenüber als ein Gebot, in der Form des Imperativs
auftreten muss. Der auf die einzelnen Gegenstände und Veriiältnisse der Erfahrung
gerichtete Wille ist durch diese bestimmt und von ihnen abhängig: der reine Ver-
nunftwille dagegen kann nur durch sich selbst bestimmt sein. Er ist daher noth-
wendig auf etwas Anderes gerichtet ab die natürlichen Triebe, und dies
Andere, was das Sittengesetz den Neigungen gegenüber verlangt, heisst Pflicht.
Daher betreffen die Prädicate der sittlichen Beurtheilung nur diese Art
der Bestimmtheit des Willens: sie beziehen sich auf die Gesinnung, nicht auf
die Handlung oder gar deren äussere Folgen. Nichts in der Welt, sagt Kant^),
kann ohne Einschränkung gut genannt werden, als allein der gute Wille: und
dieser bleibt gut, auch wenn seine Ausführung durch äussere Ursachen völlig
gehemmt worden ist. Sittlichkeit als Eigenschaft des Menschen ist pf licht -
massige Gesinnung.
2. Um so nöthiger aber wird die Untersuchung, ob es ein solches apriorisches
Pflichtgebot giebt und worin es besteht, ein Gesetz, dessen Befolgung die Ver-
nunft ganz unabhängig von allen empirischen Zwecken verlangt. Zur Lösung
dieser Frage geht Kant von den teleologischen Verkettungen des wirkhchen
Willenslebens aus. Die Erfahrung der natürlichen Oausalzusammenhänge bringt
es mit sich, dass wir nach dem synthetischen Verhältniss von Zweck und
Mittel das Eine um des Anderen willen zu wollen genöthigt sind. Aus der
praktischen Ueberlegung derartiger Beziehungen erwachsen (technische) Regeln
der Geschicklichkeit und („praktische^) Rathschläge der Klugheit. Sie alle
besagen: „wenn du das und das ¥rill8t, so musst du so und so verfahren.'' Sie sind
eben deshalb hypothetische Imperative. Sie setzen ein Wollen als bereits
thatsächlich vorhanden voraus und verlangen auf Grund desselben dasjenige
weitere Wollen, welches zur Befriedigung des ersten erforderlich ist.
Das Sittengesetz aber kann von keinem schon empirisch bestehenden Wollen
abhängig sein, und das sittliche Handeln darf nicht als Mittel in den Dienst anderer
Zwecke treten. Die Anforderung des moralischen Gebots muss lediglich um
seiner selb st wiUen aufgestellt sein und erfüllt werden. Es appellirt nicht an
das, was der Mensch sonst schon wünscht, sondern es verlangt ein Wollen, welches
seinen Werth nur in sich selber hat, und ein wahrhaft sittliches Handeln ist nur
dasjenige, worin ein solches Gebot ohne Rücksicht auf alle sonstigen Folgen er-
füllt wird. Das Sittengesetz ist ein Gebot schlechthin, ein kategorischer
Imperativ. Es gilt bedingungslos und absolut, während die hypothetisdien
Imperative nur relativ sind.
Fragt man nun nach dem Inhalt des kategorischen Imperativs, so ist klar,
dass er keine empirische Bestinmiung enthalten kann : die Forderung des Sitten-
1) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, I; W. IV, 10 ff.
§ 89. Kategorischer Imperativ. 435
gesetzes bezieht sich nicht auf die „Materie des WoUens^. Darum eignet sich
auch die Glückseligkeit nicht zum Princip der Moral: denn das Streben nach
Glückseligkeit ist empirisch schon vorhanden, es ist nicht erst eine Forderung der
Vernunft. Die eudämonistiscbe Moral führt daher zu lauter hypothetischen Im-
perativen : für sie sind die sittlichen Gesetze nur „ftathschläge der Klugheit^,
wie man es am besten anfange, das natürliche Wollen zu befriedigen. Aber das
Sittengesetz verlangt eben ein anderes Wollen als das natürliche: es ist zu Höherem
da, als uns glücklich zu machen. Hätte die Natur unsere Bestimmung in die
Glückseligkeit legen wollen, so würde sie besser gethan haben, uns mit dem un*
fehlbaren Instincte auszurüsten, als mit der praktischen Vernunft des Gewissens,
welches mit unseren Trieben fortwährend im Conflicte ist ^). Die Glückseligkeits-
Bsoral ist für Elant sogar der Tjpns der falschen Moral : denn in ihr gilt gerade
überall, dass ich etwas thun soU deshalb, weil ich ein Anderes will. Jede solche
Moral ist he teronomisch : sie macht die praktische Vernunft von etwas ausser
ihr Gegebenem abhängig, und dieser Vorwurf trifft auch alle Versuche, das Princip
der Sittlichkeit in metaphysischen Begriffen, wie der Vollkommenheit, zu suchen.
Die theologische Moral vollends weist Kant mit der grössten Energie von sich :
denn sie verquickt alle Arten der Heteronomie, wenn sie die Sanction im göttlichen
Willen, das Ejiterium in der Utilität und das Motiv in der Erwartung von Lohn
und Strafe sieht.
3. Der kategorische Imperativ muss der Ausdruck der Autonomie der
praktischen Vernunft, d. h. der reinen Selbstbestimmung des vernünftigen
Willens sein. Er betrifft deshalb lediglich die Form des WoUens und verlangt,
dass diese ein allgemeingiltiges Gesetz sei. Der Wille ist heteronom, wenn
er einem empirisch gegebenen Triebe folgt; er ist autonom nur, wo er ein selbst-
gegebenes Gesetz ausführt. Der kategorische Imperativ verlangt also, statt nach
Triebimpulsen vielmehr nach Maximen zu handeln, und zwar nach solchen,
welche sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung für alle vernünftig wollenden
Wesen eignen. „Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch
deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.''
Diese rein formale Bestimmung der Gesetzmässigkeit gewinnt nun eine
sachliche Bedeutung durch die Reflexion auf die verschiedenen Arten der Werthe.
Im Beich der Zwecke hat dasjenige einen Preis, was zu irgend welchen Zwecken
dienUch und deshalb durch anderes ersetzbar ist, aber nur das hat Würde,
was absolut in sich selbst werthvoU und die Bedingimg ist, um deren willen anderes
werthvoll werden kann. Diese Würde gebührt in erster Linie dem Sittengesetz
selbst, und deshalb darf das Motiv, welches den Menschen zu dessen Befolgung
veranlasst, nur die Achtung vor demGesetze selbst sein: es wäre
entwürdigt, wenn es um irgend welcher Vortheile willen äusserlich erfüllt würde.
Die Würde des Sittengesetzes geht nun aber auf den Menschen über, der im
ganzen Umkreise der Erfahrung allein bestimmt und befähigt ist, sich nach diesem
Gesetze selbst zu bestinmien, sein Träger zu sein und sich mit ihm zu identi-
ficiren. Daher ist Achtung vor der Wü rde des Menschen für Kant
das inhaltliche Princip der Sittenlehre. Der Mensch soll seine Pflicht thun nicht
um seines Vortheils willen, sondern aus Achtung vor sich selbst, und
1) Ibid. IV, 12f.
28
436 VI* Deutsche Philosophie. 1. Kant*8 Kritik der Vernunft.
er soll in dem Verkehr mit dem Nebenmenschen es sich zur Richtschnur machen^
diesen niemals zu einem blossen Mittel zur Erreichung der eigenen Zwecke zu
behandeln; sondeni in ihm stets die Würde der Personlichkeitzu ehren.
Hieraus hat Kant ^) eine stolze und strenge Moral abgeleitet^ welche in
der Darstellung seines Alters die Züge des Rigorismus und einer gewissen pedan-
tischen Schroffheit nicht verkennen lässt. Aber der Grundzug des Gegensatzes
zwischen Pflicht und Neigung liegt tief in seinem System begründet.
Das Princip der Autonomie erkennt nur das päichtmässige Wollen aus Maximen
als sittlich an: es sieht in jeder Motivirung des sittlichen Handelns durch natür-
liche Antriebe eine Fälschung der reinen Moralität. Nur was lediglich aus Pflicht
geschieht, ist sittUch. Die empirischen Triebfedern der menschlichen Natur sind
deshalb an sich ethisch indifferent; aber sie werden böse, sobald sie sich gegen
die Forderung des Sittengesetzes auflehnen, und das moralische Leben des
Menschen besteht darin, das Gebot der Pflicht im Kampfe gegen die Neigungen
zu verwirklichen.
4. Die Selbstbestimmung des vernünftigen Willens ist also die oberste
Forderung und Bedingung aller Sittlichkeit. Allein sie ist im Bereiche der
durch Kategorien gedachten und erkannten Erfahrung unmöglich: denn diese
kennt nur die Bestimmung jeder einzelnen Erscheinung durch andere ; die Selbst-
bestimmung, als Vermögen eine Reihe des Bedingten anzufangen, ist nach
den Principien der Erkenntniss unmögUch. Dies Vermögen nennen wir in Bezug
auf den Willen Freiheit, als eine Handlung, welche nicht nach dem Schema
der Caufialität durch andere bedingt, sondern nur durch sich selbst bestimmt,
ihrerseits die Ursache einer endlosen Reihe von natürlichen Vorgängen ist.
Hätte daher die theoretische Vernunft, deren Erkenntniss auf Erfahrung be-
schränkt ist, über die Realität der Freiheit zu entscheiden, so müsste sie dieselbe
leugnen, damit aber auch die Möglichkeit des sittlichen Lebens verwerfen. Nun
hat aber die Kritik der reinen Vernunft gezeigt, dass die theoretische Vernunft
über die Dinge-an-sich gar nichts aussagen kann, und dass demgemäss es kein
Widerspruch ist, die Möglichkeit der Freiheit für das Uebersinnhche zu denken.
Zeigt sich aber, dass Freiheit nothwendig real sein muss, wenn Sittlichkeit
möglich sein soll, so ist eben damit die Realität der Dinge-an-sich und des
üebersinnlichen gewährleistet, welche für die theoretische Vernunft immer
nur problematisch bleiben konnte.
Diese Gewährleistung ist freilich nicht diejenige eines Beweises, sondern
diejenige des Postulats. Sie beruht auf dem Bewusstsein: du kannst, denn
du sollst. So wahr du das Sittengesetz in dir fühlst, so wahr du an die Mög-
lichkeit, ihm zu folgen, glaubst, so wahr musst du auch an die Bedingungen dafür,
an Autonomie und Freiheit, glauben. Die Freiheit ist kein Gegenstand des
Wissens, sondern ein Gegenstand des Glaubens, — aber eines Glaubens, der
auf dem Gebiete des Üebersinnlichen ebenso allgemein und nothwendig gilt,
wie im Bereiche der Erfahrung die Grundsätze des Verstandes, — eines aprio-
rischen Glaubens.
So wird die praktische Vernunft vollkommen unabhängig von der theore-
tischen. In der früheren Philosophie herrschte „der Primat'' der theoretischen
1) Metaphysische Anfanj^sgründe der Tugendlehre, W. V, 221 ff.
§ 39. Kategorischer Imperativ. (Freiheit.) 437
über die praktische Yernunft: es sollte durch das Wissen ausgemacht werden^
ob und wie es Freiheit giebt, und danach über die Realität der Sittlichkeit ent-
schieden werden. Nach Kant ist die Realität der SittUchkeit die Thatsache der
praktischen Vernunft^ und darum muss an die Freiheit als an die Bedingung
ihrer Möglichkeit geglaubt werden. Aus diesem Yerhaltniss ergiebt sich aber
nun für Kant der Primat der praktischen über die theoretische Ver-
nunft: denn die erste ist nicht nur fähig, zu gewährleisten, worauf die letztere
verzichten muss, sondern es zeigt sich auch, dass die theoretische Yernunft in
jenen Ideen des Unbedingten, womit sie über sich selbst hinausweist (§ 38, 9),
durch die Bedürfiiisse der praktischen bestimmt ist.
Damit erscheint bei Kant in neuer, völlig origineller Form die plato-
nische Lehre von den zwei Welten des Sinnlichen und des Uebersinnlidien,
der Erscheinungen und der Dinge-an-sich. Auf jene fuhrt das Wissen, auf diese
das Glauben; jene ist das Reich der Nothwendigkeit, diese das Reich der Frei-
heit. Das gegensätzliche und doch auf einander bezogene Yerhaltniss beider
Welten zeigt sich zumeist am Wesen des Menschen, welches allein gleichmässig
beiden angehört. Sofern der Mensch ein GUed der Naturordnung ist, erscheint
er als empirischer Charakter, d. h. seinen bleibenden Eigenschaften ebenso
wie seinen einzelnen Willensentscheidungen nach als ein nothwendiges Product
in dem causalen Zusammenhange der Erscheinungen : allein als Glied der über-
sinnlichen Welt ist er intelligibler Charakter, d. h. ein durch freie Selbst-
bestimmung in sich entschiedenes Wesen. Der empirische Charakter ist nur die
für das theoretische Bewusstsein an die Regel der Causalität gebundene Er-
scheinung des intelligiblen Charakters, dessen Freiheit allein die Verantwortlich-
keit, wie sie im Gewissen hervortritt, zu erklären vermag.
5. Freiheit ist aber nicht das einzige Postulat des apriorischen Glaubens.
Die Beziehungen zwischen der sinnlichen und der sittlichen Welt erfordern noch
einen allgemeineren Zusammenhang, den Kant im Begriffe des höchsten Gutes
findet '). Das Ziel des sinnlichen Willens ist die Glückseligkeit, das Ziel des
sittlichen Willens ist die Tugend: diese beiden können nicht zu einander in das
Yerhaltniss des Mittels zum Zweck treten. Das Streben nach GlückseUgkeit
macht nicht tugendhaft, und die Tugend darf weder glückselig machen wollen
noch thut sie es. Zwischen beiden besteht empirisch kein causaler und darf
ethisch kein teleologischer Zusammenhang eintreten. Allein da der Mensch
ebenso der sinnlichen wie der sittlichen Welt angehört, so muss das „höchste
Gut" für ihn in der Yereinigung von Tugend und Glückseligkeit
bestehen. Diese letzte Synthesis der praktischen Begriffe kann aber moralisch
nur so gedacht werden, dass Tugend allein der Glückseligkeit würdig sei.
Der damit ausgesprochenen Forderung des moralischen Bewusstseins wird
jedoch durch die causale Nothwendigkeit der Erfahrung nicht Genüge gethan.
Das Naturgesetz ist ethisch indifferent und leistet keine Gewähr dafür, dass
Tugend nothwendig zur Glückseligkeit führe: umgekehrt lehrt vielmehr die Er-
fahrung, dass Tugend den Yerzicht auf empirisches Glück verlangt und dass
Untugend mit zeitlicher Glückseligkeit vereinbar ist. Fordert deshalb das
ethische Bewusstsein die Realität des höchsten Gutes, so muss der Glaube
1) Kr. d. prakt. Vem., Dialektik, W- IX, 225 ff.
438 ^* Deutsche Philosophie. 1. Kant*8 Kritik der Vernunft.
über das empirische Menschenleben und über die Naturordnung in das Ueber-
sinnliche hinübergreifen. Er postulirt eine über die zeitliche Existenz hinaus-
reichende Realität der Persönlichkeit, — das unsterbliche Leben — und
eine sittliche Weltordnung, welche in einer höchsten Vernunft begründet
ist, in Gott.
Kant's moralischer Beweis für Freiheit, Unsterblichkeit und Gottheit
ist also kein Beweis des Wissens, sondern der des Glaubens : die Postulate sind
die Bedingungen des sittlichen Lebens und ihre Realität muss ebenso geglaubt
werden wie dieses. Aber sie bleiben damit theoretisch so wenig erkennbar,
wie zuvor.
6. Der Dualismus von Natur und Sittlichkeit kommt bei Kant am
schro£fsten in der Religionsphilosophie zu Tage, deren Principien er seiner
Erkenntnisstheorie gemäss nur in der praktischen Vernunft suchen konnte: All-
gemeinheit und Nothwendigkeit im Verhältniss zum Uebersinnlichen gewährt
nur das sittliche Bewusstsein. A priori kann in der Religion nur sein, was auf
Moral gegründet ist. Kant's Vemunftreligion ist also keine Naturreligion, son-
dern „Moraltheologie ^. Die Religion beruht auf der Vorstellung der sitt-
lichen Gesetze als göttlicher Gebote.
Diese religiöse Lebensform der Moralität entwickelt Kant wiederum aoB
der Doppelnatur des Menschen. Es bestehen in ihm zwei Triebsysteme; das
sinnliche und das sittliche: beide können wegen der Einheit der wollenden
Persönlichkeit nicht ohne Beziehung zu einander sein. Ihr Verhältniss sollte
nun nach sittlicher Anforderung die Unterordnung der sinnlichen unter die sitt-
lichen Triebfedern sein: thatsächlich aber findet sich nach Kant beim Menschen
von Natur das umgekehrte Verhältniss'), und da die sinnlichen Triebe böse sind,
sobald sie sich gegen die sittlichen auch nur auflehnen, so ist im Menschen ein
natürlicher Hang zum Bösen. Dies „Radical-Böse" ist nicht nothwendig;
denn sonst gäbe es dafür keine Verantwortung. Es ist unerklärlich, aber es ist
Thatsache, es ist eine That der inteUigiblen Freiheit. Die Aufgabe, die daraus
für den Menschen folgt, ist die Umkehrung der Triebfedern, welche durch
den Kampf des guten und bösen Princips in ihm herbeigeführt werden soll.
Allein in jenem verkehrten Zustande wirkt die eherne Majestät des Sittengesetzes
auf den Menschen nur mit niederschmetterndem Schrecken, und er bedarf daher
zur Unterstützung seiner moraUschen Triebfedern des Glaubens an eine
göttliche Macht, welche ihm das Sittengesetz als ihr Gebot auferlegt, aber
auch zur Befolgung desselben die Hilfe der erlösenden Liebe gewährt.
Von diesem Standpunkt aus deutet Kant die wesentlichen Stücke der
christUchen Glaubenslehre zu einer „reinen Moralreligion^ um: das Ideal der
moraUschen Vollkommenheit des Menschen im Logos, die Erlösung durch stell-
vertretende Liebe, das Geheimniss der Wiedergeburt. Er setzt damit, obwohl
frei von dem historischen Glauben der Orthodoxie, die wahrhaft religiösen
Motive, die im Erlösungsbedürfniss wurzeln, wieder in die Rechte ein, welche
ihnen durch den Rationalismus der Aufklärung verkümmert worden waren.
1) Die pessimistische Auffassuiig vom natürlichen Wesen des Mensohen hat ihre Anlasse
bei Kant zweifellos in seiner religiösen Erziehung: doch verwahrt er sich ausdrücklich gegen
die Identification seiner Lehre vom Radical-Bösen mit dem theologischen Begriff der Erb-
sünde : vgl. Rel. innerh. d. Grenze d. k. V. I, 4 W. VI, 201 flf.
§ 89. Kategorisoher Imperativ. (Rechtsphilosophie.) 439
Aber freilich ist auch ihm die wahre Kirche nur die unsichtbare, das moralische
Gottesreich, die sittliche Gemeinschaft der Erlösten. Die historischen Erschei-
nungen der moralischen Gemeinschaft der Menschen sind die Kirchen: sie be-
dürfen des Mittels der Offenbarung und des „statutarischen" Glaubens. Aber sie
haben die Aufgabe, diese Mittel in den Dienst des sittlichen Lebens zu stellen,
und wenn sie statt dessen das Hauptgewicht auf das Statutarische legen, so ver-
fallen sie der Lohndienerei und der Heuchelei.
7. Mit der Beschränkung der ethischen Beurtheilung auf die Gesinnung
hängt es zusammen, dass Kant in der Rechtsphilosophie diejenige Bichtung
verfolgte, welche dieselbe mögUchst unabhängig von der Moral behandelte. Kant
unterschied (schon hinsichtlich der ethischen Würdigung) zwischen der Morali-
tät der Gesinnung und der Legalität der Handlung, dem freiwilligen Ge-
horsam gegen das Sittengesetz und der äusserUchen Conformität der Handlung
mit dem vom Gesetz Verlangten. Handlungen sind erzwingbar, Gesinnungen nie.
Während die Moral von den Pflichten der Gesinnung redet, beschäftigt sich das
Recht mit den erzwingbaren äusseren Pflichten der EEandlung und fragt nicht
nach den Gesinnungen, aus denen sie erfüllt oder verletzt werden.
und doch macht Kant den Centralbegriff seiner gesammten praktischen
Philosophie, die Freiheit, auch zur Grundlage der Rechtslehre. Denn auch
das Recht ist eine Forderung der praktischen Vernunft und hat in dieser «ein
a priori geltendes Princip: es kann daher nicht als ein Product empirischer Inter-
essen abgeleitet werden, sondern muss aus der allgemeinen vernünftigen Be-
stimmung des Menschen begriffen werden. Diese ist die Bestimmung zur Freiheit.
Die Gemeinschaft der Menschen besteht aus solchen Wesen, welche zur sittlichen
Freiheit bestimmt, aber noch in dem natürlichen Zustande der Willkür begriffen
sind, wobei sie sich gegenseitig in den Sphären ihrer Wirksamkeit stören und
hemjnen: das Recht hat die Aufgabe, die Bedingimgen festzustellen, unter denen
die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen nach einem allgemeinen
Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann, und durch Erzwingung dieser
Bedingungen die Freiheit der Persönlichkeit sicher zu stellen.
Aus diesem Princip folgt analytisch nach Kant's Construction das ge-
sammte Privatrecht, Staatsrecht und Völkerrecht. Dabei ist es jedoch interessant
zu beobachten, wie überall die Principien der Sittenlehre in dieser Construction
massgebend werden. So ist es im Privatrecht ein weittragender Grundsatz, dass
— entsprechend dem kategorischen Imperativ — der Mensch niemals als Sache
gebraucht werden darf. So wird das Strafrecht der Staatsgewalt nicht durch die
Aufgabe der Aufrechterhaltung des Rechtszustandes, sondern durch die sittliche
Noth wendigkeit der Vergeltung begründet.
Die Geltung des Rechts ist im Naturzustande nur provisorisch, sie ist voll-
ständig oder, wie Kant sagt, peremtorisch erst, wo sie sicher erzwingbar ist, im
Staat. Die Richtschnur für die Gerechtigkeit im Staatswesen findet Kant darin,
dass nichts beschlossen und ausgeführt wird, was nicht hätte beschlossen werden
können, wenn der Staat durch einen Vertrag zu Stande gekommen wäre. Die
Vertragstheorie ist hier nicht eine Erklärung für das empirische Zustande-
kommen, sondern eine Norm für die Aufgabe des Staats. Diese Norm ist bei
jeder Art der Verfassung erfüllbar, wenn nur wirklich nicht die Willkür, sondern
das Gesetz herrscht: am sichersten ist ihre Verwirklichung, wenn die drei
440 ^^' Deutsche Philosophie. 1. Kant's Kritik der Yeruuuft.
öffentlichen Gewalten der Gesetzgebung, Ausführung und Recht-sprechung un-
abhängig von einander sind und wenn die gesetzgebende Gewalt in der „republi-
kanischen^ Form des repräsentativen Systems organisirt ist; was eine monarchische
Executive nicht ausschliesst. Erst damit; meint Kant, wird die Freiheit des Ein-
zelnen so weit gesichert seiu; wie sie ohne Beeinträchtigung der Freiheit der
Uebrigen bestehen kanu; und erst wenn alle Staaten diese Verfassung angenommen
haben, kann der Naturzustand; in dem sie sich jetzt noch mit einander befinden^
einem Bechtszustande Platz machen. Dann wird auch das Völkerrecht; das
jetzt nur provisorisch ist, „peremtorisch« werden.
8. Auf religionsphilosophischen und rechtsphilosophischen Grundlagen baut
sich endlich £[ant's Ansicht von der Geschichte auf ^) : sie hat sich an Rousseau
und Herder in derjenigen Abhängigkeit entwickelt, welche aus dem Gegensatz
folgt. Kant vermag in der Geschichte weder den Abweg von einem ursprünglich
guten Zustande des Menschengeschlechts zu sehen noch die natumothwendig
selbstverständliche Entwicklung seiner ursprünglichen Anlage. Hat es je einen
paradiesischen Urzustand der Menschheit gegeben, so war es der Stand der
Unschuld, in welchem sie sich; ganz ihren natürlichen Trieben lebend, der sitt-
lichen Aufgabe überhaupt noch nicht bevmsst war. Der Beginn der Cultur-
arbeit aber war nur durch einen Bruch mit dem Naturzustande möglich; indem
das -Sittengesetz an seiner Uebeitretung zum Bewusstsein kam. Dieser (theo-
retisch unbegreifliche) Sündenfall ist der Anfang der Geschichte. Der früher
ethisch indifferente Naturtrieb ist nun böse geworden und soll bekämpft werden.
Seitdem besteht der Fortschritt der Geschichte nicht in einem
Wachsen der menschlichen Glückseligkeit; sondern in der Annäherung
an die sittliche Vollkommenheit und in der Ausbreitung der Herrschaft sitt-
licher Freiheit. Mit tiefem Ernst nimmt Kant den Gedanken auf, dass die
Entwicklung der Civihsation nur auf Kosten der individuellen Glückseligkeit er-
folgt. Wer diese zum Massstab nimmt, darf nur von einem Rückschritt in der
Geschichte reden. Je verwickelter die Verhältnisse werden, je mehr die Lebens-
cnergie der Cultur wächst, um so mehr steigen die individuellen Bedürfhisse, und
um so geringer wird die Aussicht; sie zu befriedigen. Aber gerade dies wider-
legt die Meinung der Aufklärer; als sei Glückseligkeit die Bestimmung des
Menschen. Im umgekehrten Verhältniss mit der empirischen Befriedigung des
Einzelnen wächst die sittliche Gestaltung des Ganzen, die Herrschaft der prak-
tischen Vernunft. Und da die Geschichte das äussere Zusammenleben der Mensch-
heit darstellt, so ist ihr Ziel die Vollendung des RechtS; die Herstellung der
besten Staatsverfassung bei allen Völkern; der ewige Friede, — ein Ziel, dessen
Erreichung wie bei allen Idealen im UnendUchen liegt.
§. 40. Die natfirüche Zweckmässigkeit.
A. Stadler, Eant's Teleologie. Berlin 1874.
H. Cohen, Kant's Begründung der Aesthetik. Berlin 1889.
Durch die scharfe Ausprägung der Gegensätze von Natur und Freiheit,
Nothwendigkeit und Zweckmässigkeit treten bei Kant die theoretische und die
1) Vgl. ausser dem S. 417 — 422 Angeführten die Abhandlungen: „Idee zu einer
allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) ; Recension von Herder^s Ideen
(1785)5 Muthmasslicher Anfang der Weltgeschichte (1786); das Ende aller Dinge (1794).
§ 40. Natürliche Zweckmässigkeit. (Gefahl und Urtheilskraft.) 44 1
praktische VemuDft so weit aus einander, dass die Einheit der Vernunft ge-
fährdet erscheint. Die kritische Philosophie bedarf daher in einer fiir die metho-
dische Entwicklung ihres Systems vorbildlichen Weise ^) eines abschliessend
vermittendeln dritten Princips, worin die Synthesis jener Gegensätze
vollzogen wh-d.
1. Der psychologischen Bestimmung nach kann die Sphäre, in der diese
Aufgabe zu lösen ist, nach der von Kant (vgl. § 36, 8) adoptirten Dreitheilung
nur das Gefühls- oder ;,Billigungsvermögen'^ sein. Dies nimmt in der That
eine Zwischenstellung zwischen Vorstellen und Begeliren ein. Auch das Gefühl
oder die BiUigung setzt eine im theoretischen Sinne fertige Vorstellung des
Gegenstandes voraus und verhalt sich zu denselben synthetisch: und diese
Synthesis drückt als GefQhl der Lust oder Unlust, bzw. ab BilUgung oder Miss-
büligung immer irgendwie aus, dass jener Gegenstand von dem Subject als zweck-
mässig oder zweckwidrig empfunden wird. Dabei kann der Massstab dieser
Werthung als bewusste Absicht, also in der Form des Wollens vorher bestanden
haben, und in solchen Fällen werden die Gegenstände als nützlich oder schäd-
Uch bezeichnet: es giebt aber auch Gefühle, welche, ohne auf irgend welche Ab-
sichten bezogen zu sein, ihre Objecto unmittelbar als angenehm oder unangenehm
charakterisiren, und auch in diesen muss dann doch irgendwie eine Zweckbestim-
mung massgebend sein.
Die Vemunftkritik hat somit zu fragen: giebt es Gefühle a priori oder
Billigungen von allgemeiner und nothwendiger Geltung? Und es ist
klar, dass die Entscheidung dabei von der Geltung der Zwecke abhängig sein
wird, welche die betreffenden Gefühle und Billigungen bestimmen. Hinsichtlich
der Absichten des Willens ist nun diese Frage bereits durch die Kritik der
praktischen Vernunft entschieden: der einzige Zweck des bewussten Willens,
welcher a priori gelten darf, ist die Erfüllung des kategorischen Imperativs, und
nach dieser Seite hin dürfen also nur die Gefühle des Beifalls oder Missfallens,
mit denen wir die ethischen Prädicate 7,gut^ und „böse" anwenden, für noth-
wendig und allgemeingiltig erachtet werden. Deshalb beschränkt sich das neue
Problem auf die Apriorität solcher Gefühle, denen keine Zweckabsicht vorhergeht.
Dies aber sind, wie sich von vornherein übersehen lässt, die Gefühle des Schönen
und des Erhabenen.
2* Nach einer anderen Seite aber erweitert sich das Problem, wenn man
die logischen Functionen in Betracht zieht, um welche es sich bei allen Ge-
ftihlen und Billigungen handelt. Die Urtheile, in denen dieselben ausgesprochen
werden, sind offenbar alle synthetisch. Prädicate wie angenehm, nützUch, schön
und gut sind nicht analytisch im Subject enthalten, sondern drücken den Werth
des Gegenstandes hinsichtUch eines Zwecks aus: sie sind Beurtheilungen der
Zweckmässigkeit und enthalten in allen Fällen die Unterordnung des Gegen-
standes unter den Zweck. Nun bezeichnet Kant in dem psychologischen
Schema, welches seiner Kritik der reinen Vernunft zu Grunde hegt, das Ver-
mögen der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine, mit dem Namen
der Urtheilskraft, und diese sollte auch unter den theoretischen Functionen
die vermittelnde Bolle zwischen Vernunft und Verstand derart spielen, dass
1) Vgl. die Anmerkmig am Schluss der Einleitung in die Kr. d. Urth. W. VII, 38 f.
•442 ^X Deutsche Philosophie. 1. Kantus Kritik der Vernunft.
jene die Principien, letzterer die Gegenstände liefert; die ürtheilskraft aber die
Anwendung der Principien auf die Gegenstände vollzieht.
Im theoretischen Gebrauch ist nun aber die Ürtheilskraft analytisch, indem
sie nach formal logischen Regeln die Gegenstände durch allgemeine Begriffe
bestimmt: es kommt nur darauf an, dass zum Obersatz der passende Untersatz
oder zum Untersatz der passende Obersatz gefunden wird, damit die richtige
Conclusion erfolgt. Dieser bestimmenden Ürtheilskraft, welche somit keiner
„Eiitik^ bedarf; setzt nun Kant die reflectirende gegenüber; bei der die
Synthesis eben in der Unterordnung unter einen Zweck besteht. Und danach
formulirt sich das Problem der Kritik der Ürtheilskraft dahin: ist es a priori
möglich; die Natur als zweckmässig zu beurtheilen? Offenbar
ist dies die höchste Synthesis der kritischen Philosophie: die Anwendung
der Kategorie der praktischen Vernunft auf den Gegenstand
der theoretischen. Es ist von vornherein klar, dass diese Anwendung
selbst weder theoretisch noch praktisch; weder ein Erkennen noch ein
Wollen sein kann: sie ist nur eine Betrachtung der Natur unter dem
Gesichtspunkte der Zweckmässigkeit.
Wenn die reflectirende Ürtheilskraft dieser Betrachtung die Richtung giebt;
die Natur hinsichtUch ihrer Zweckmässigkeit ftir das betrachtende Subject als
solches zu beurtheilen, so verfahrt sie ästhetisch; d.h. rücksichtlich unserer
Empfindungsweise ^) : wenn sie dagegen die Natur so betrachtet; als ob dieselbe
in sich selber zweckmässig sei, so verfährt sie im engeren Sinne teleologisch,
und so theilt sich die Kritik der Ürtheilskraft in die Untersuchung der ästheti-
schen und der teleologischen Probleme.
3. In dem ersten Theil ist Kant zunächst bemüht, das ästhetische
Urtheil genau von den nach beiden Seiten angrenzenden Arten der Gefühls-
oder Billigungsurtheile zu scheiden und geht dazu vom Gefühl des Schönen aus.
Mit dem Guten theilt das Schöne die Apriorität ; aber das Gute ist das, was
mit der im Sittengesetz vorgestellten Zwecknorm übereinstimmt; das Schöne
dagegen gefällt ohneBegriff. Deshalb ist es auch unmögUch; ein allgemeines
inhaltliches Kriterium aufzustellen; nach welchem die Schönheit mit logischer
Evidenz beurtheilt werden sollte: eine ästhetische Doctrin ist unmöghch; es
giebt nur eine „Kritik des Geschmacks^, d.h. eine Untersuchung über
die MögUchkeit der apriorischen Geltung ästhetischer Urtheile.
Auf der anderen Seite theilt das Schöne mit dem Angenehmen die Begriffs-
losigkeit; die Abwesenheit eines bewussten Massstabes der Beurtheilung; also die
Unmittelbarkeit des Eindrucks. Aber der Unterschied hegt hier darin; dass das
Angenehme etwas individuell und zufällig Wohlgefalhges ist; während das Schöne
den Gegenstand eines allgemeinen und nothwendigen Gefallens bildet ^). Der
Satz, dass sich über den Geschmack nicht disputiren lasse, gilt nur in dem Sinne,
dass in Sachen des Geschmacks durch begriffliche Beweise in der That nichts
auszurichten ist : was aber nicht ausschliesst; dass darin eine Appellation an all-
gemeingiltige Gefühle möglich wäre.
1) So rechtfertig Kant VIT, 28 ff. seine Aenderung der Terminologie, vgl. 11, 60 f. und
oben S. 381. — 2) Vgl. F. Blencke, Kant's Unterscheidung des Schönen vom Angenehmen
(Strassburg 1889), wo die Analogie zu Wahmehmungs- und Erfahrungsartheil betont ist.
§ 40. Natürliche Zweokmäsngkeit. (Schönheit und Erhabenheit.) 443
Von beiden endlich; vom Guten und vom Angenehmen^ unterscheidet sich
das Schöne dadurch, dass es der Gegenstand eines völlig uninteressirten
Wohlgefallens ist. Dies tritt darin zu Tage, dass für das ästhetische ürtheil
die empirische Realität seines Gegenstandes völlig gleichgiltig ist. Die
hedonischen Gefühle setzen sämmtlich die materielle Gegenwart der sie erregen-
den Erscheinimgen voraus; die ethische Billigung oder Missbilligung betrifft
gerade die Verwirklichung des moralischen Zwecks im Wollen und Handeln :
die ästhetischen Gefühle dagegen bedingen ein reines Wohlgefallen an
dem blossen Yorstellungsbilde des Gegenstandes, gleichviel ob der-
selbe fär die Erkenntniss objectiv vorhanden ist oder nicht. Dem ästhetischen
Leben fehlt ebenso die GefLÄlsgewalt des persönUchen Wohl und Wehe wie der
Ernst allgemeinwerthiger Arbeit für sittliche Zwecke, es ist das blosse Spiel
der Vorstellungen in der Einbildungskraft.
Ein derartiges Wohlgefallen, welches sich nicht auf den Gegenstand,
sondern nur auf das Bild des Gegenstandes bezieht, kann nicht die objective
Materie desselben — denn diese steht immer in Beziehungen zum Interesse des
Subjects — , sondern nurdieVorstellungsform des Gegenstandes betreffen :
und in dieser wird daher, wenn irgendwo, der Grund der apriorischen Synthesis
zu suchen sein, welche den ästhetischen Ürtheilen innewohnt. Die Zweckmässig-
keit ästhetischer Gegenstände kann nicht in ihrer Angemessenheit zu irgend
welchen Interessen, sondern nur in ihrer Angemessenheit zu den Erkenntniss-
formen bestehen, mit denen wir sie vorstellen. Die Kräfte aber, welche bei der
Vorstellung eines jeden Gegenstandes mit einander thätig sind, bilden Sinnlich-
keit und Verstand. Das Gefühl der Schönheit entsteht also bei solchen
Gegenständen, für deren Auffassung in der Einbildungskraft Sinnlichkeit und
Verstand in harmonischer Weise zusammenwirken. Solche Gegenstände sind
in Ansehung der Wirkung auf unsere Voratellungsthätigkeit zweckmässig : und
darauf bezieht sich das interesselose Wohlgefallen, welches in dem Gefühl ihrer
Schönheit zu Tage tritt.
Diese Beziehung aber auf die formalen Principien des gegenständhchen
Vorstellens hat ihren Grund nicht in bloss individuellen Thätigkeiten, sondern
in dem „Bewusstsein überhaupt^, in dem „übersinnlichen Substrat der Mensch-
heit^. Darum ist das Gefühl einer darauf bezüglichen Zweckmässigkeit der
Gegenstände allgemein mittheilbar, wenn auch nicht begrifflich beweisbar,
und daraus erklärt sich die Apriorität der ästhetischen Urtheile.
4. Wird so die „absichtslose Zweckmässigkeit ^ des Schönen mit der Wirkung
des Gegenstandes auf die Erkenntnissfiinctionen in Beziehung gesetzt, so begreift
Kant das Wesen des Erhabenen aus einer Angemessenheit der Wirkung der
Gegenstände zu dem Verhältniss des sinnlichen und des übersinnlichen Theils
der menschlichen Natur.
Während das Schöne eine wohlgefällige Ruhe im Spiel der Erkenntniss-
kräfte bedeutet, geht der Eindruck des Erhabenen durch ein Unlustgefühl der
Unzulänglichkeit hindurch. Der unermessUchen Grösse oder der überwältigenden
Kraft der Gegenstände gegenüber fühlen wir die Unffihigkeit unserer sinnUchen
Anschauung, ihrer Herr zu werden, als ein Bedrücken und Niederwerfen: allein
über diese unsere sinnliche Unzulänglichkeit erhebt sich die übersinnliche Kraft
unserer Vernunft. Hat es die Einbildungskraft dabei nur mit extensiven Grössen-
444 VI* Deutsche Philosophie. 1. Kaut*s Kritik der Venmnft.
Verhältnissen zu thun^ — das mathematisch Erhabene — , so siegt die fest gestaltende
Thätigkeit der theoretischen Vernunft: handelt es sich dagegen um die Verhält-
nisse der Kraft; — das dynamisch Erhabene — , so kommt das Uebergewicht
unserer moralischen Würde über alle Naturgewalt zum Bewusstsein. In beiden
Fällen wird das Missbehagen über unser sinnliches Unterliegen reichlich auf-
gewogen und überwunden durch den Triumph unserer höheren, vernünftigen
Bestimmung. Und da dies das angemessene Verhaltniss der beiden Seiten unseres
Wesens ist, so wirken diese Gegenstände erhebend, und erzeugen das Grefühl
eines Wohlgefallens der Vernunft; welches wiederum, weil es sich nur auf das
Verhaltniss der Vorstellungsformen gründet, allgemein ndttheilbar und von
apriorischer Wirkung ist.
5. Kantus ästhetische Theorie geht somit trotz ihres „subjectiven'' Aus-
gangspunktes wesentlich auf eine Erklärung des Schönen und des Erhabenen in
der Natur aus; und sie bestimmt dasselbe durch das Verhaltniss der Vor-
stellungsformen. Daher findet der Philosoph die reine Schönheit auch
nur da, wo das ästhetische Urtheil sich nur auf die bedeutungslosen Formen
bezieht. Wo dem Wohlgefallen eine Rücksicht auf die Bedeutung der Formen
für irgend eine, wenn auch imbestimmt vorschwebende Norm beigemischt ist, da
haben wir schon die anhängende Schönheit. Diese tritt überall da ein, wo
das ästhetische Urtheil sich auf Gegenstände richtet, denen imsere Vorstellung
eine Zweckbeziehung unterlegt. Solche Normen der anhängenden Schönheit
treten nothwendig auf, sobald wir in der individuellen Erscheinimg das Verhalt-
niss zu der Gattung betrachten, welche sie dai'stellt. Es giebt keine Schönheits-
norm für Landschaften, Arabesken, Blumen, wohl aber für die höheren Typen
der organischen Welt. Solche Normen sind die ästhetischen Ideale, und das
walire Ideal des ästhetischen Urtheils ist der Mensch.
Die Darstellung des Ideals ist die Kunst, das Vermögen der ästhetischen
Production. Wenn aber diese eine zweckthätige Function des Menschen ist, so
wird ihr Erzeugniss den Eindruck des Schönen nur dann machen können, wenn
es so absichtslos, so interesselos und so begrifflos erscheint, wie das Naturschöne.
Die technische Kunst bringt nach Regeln und Absichten zweckentsprechende
Gebilde hervor, welche geeignet sind, bestimmte Interessen zu befriedigen. Die
schöne Kunst muss auf das Gefühl wirken wie ein absichtsloses Erzeugniss
der Natur: sie muss „als Natur angesehen werden können^.
Das also ist das Geheimniss und das Charakteristische am künstlerischen
Schaffen, dass der zweckvoll bildende Geist doch in derselben Weise arbeitet wie
die absichtslos und interesselos bildende Natur. Der grosse Künstler schafft
nicht nach allgemeinen Regeln, er erzeugt sie selbst in der unwillkürUchen Arbeit:
er ist originell und exemplarisch. Das Genie ist eine Intelligenz, welche
wirkt wie die Natur.
Im Bereiche menschlicher Vernunftthätigkeit wird also die gesuchte Syn-
thesis von Freiheit und Natur, von Zweckmässigkeit und Nothwendigkeit, von
praktischer und theoretischer Function durch das Genie reprasentirt, welches in
absichtsloser Zweckmässigkeit das Werk der schönen Kunst erzeugt.
6. In der Kritik der teleologischen Urtheilskraft ist es die vornehmste
Aufgabe, die Beziehungen festzustellen, welche nach den Gesichtspunkten des
transscendentalen Idealismus zwischen der wissenschaftlichen Erklärung der
§ 40. Natürliche Zweckmässigkeit. (Organismus.) 445
Natur und der Betrachtung der ihr innewohnenden Zweckmässigkeit bestehen.
Die natiirwissenschaftliche Theorie kann in alle Wege nur mechanisch
sein, der Zweck ist keine Kategorie und kein constitutives Princip gegenständ-
licher Erkenntnisse alle Naturerklärung besteht in dem Aufweis der causalen
Nothwendigkeit, womit eine Erscheinung die andere hervorbringt; eine Er-
scheinung kann nie dadurch begreiflich gemacht werden, dass ihre Zweckmässig-
keit hervorgehoben wird. Solche „faule" Teleologie ist der Tod aller Natur-
philosophie. Die Auffassung der Zweckmässigkeit kann also nie ein Erkennen
sein wollen.
Andrerseits aber würde man auf dem Standpunkte der mechanischen
Naturerklärung nur dann ein Recht haben, die teleologische Betrachtung der
Natur völlig zu verwerfen, wenn man mit Hilfe der wissenschaftlichen Begriffe
das gesammte System der Erfahrung wenigstens principiell bis auf den letzten
Rest begreiflich zu machen im Stande wäre. Sollten sich aber Punkte finden, wo
die wissenschaftliche Theorie nicht etwa wegen der extensiven Beschränktheit
des Materials der bisherigen menschlichen Erfahrung, sodern wegen der bestän-
digen Form ihrer principiellen Bestimmtheit zur Erklärung des Gegebenen nicht
ausreicht, so würde an diesen Punkten die Möglichkeit einer Ergänzung des
Wissens durch eine teleologische Betrachtung zugestanden werden müssen, wenn
sich zugleich zeigte, dass das mechanisch Unerklärliche den unabweisbaren
Eindruck des Zweckmässigen macht. Kritische Teleologie kann also nur die
Grenzbegriffe der mechanischen Naturerklärung betreffen.
.Der erste derselben ist das Leben. Eine mechanische Erklärung des
Organismus ist nicht nur bisher nicht gelungen, sondern sie ist auch nach Kant
principiell unmöglich. Jedes Leben ist immer nur wieder durch anderes Leben
zu erklären. Man soll die einzelnen Functionen der Organismen durch den
mechanischen Zusammenhang ihrer Theile unter einander und mit der Umgebung
begreifen : aber man wird immer die Eigenart der organisirten Materie und ihre
Reactionsfahigkeit als ein nicht weiter reducirbares Moment in Rechnung ziehen
müssen. Ein Archäologe der Natur möge die Genealogie des Lebendigen, die
Entstehung der einen Arten aus den anderen nach mechanischen Principien so
weit wie möglich zurückverfolgen ') : er wird immer bei einer ursprünglichen
Organisation stehen bleiben müssen, die er durch den blossen Mechanismus
der unorganischen Materie nicht erklären kann.
Diese Erklärung aber ist deshalb unmöglich, weil das Wesen des Organismus
darin besteht, dass das Ganze ebenso durch die Theile, wie der Theil durch das
Ganze bestimmt, dass jedes Glied ebenso Ursache wie Wirkung des Ganzen ist.
Diese wechselseitigeCausalitätist mechanisch unbegreiflich : der Orga-
nismus ist das Wunder in der Erfahrungswelt*). Eben dieses auf sich selbst be-
zogene Spiel der Formen und Kräfte ist es aber auch, welches im Organismus
den Eindruck des Zweckmässigen macht. Darum ist die teleologische
Betrachtung der Organismen nothwendig und allgemeingiltig. Aber
sie darf auch nie etwas anderes sein wollen, als eine Betrachtungsweise. Das
Denken darf sich im Einzelnen nie dabei beruhigen: sondern der Einblick in diese
1) Die Stellen, in denen Kant der spateren Descendenztheorie vorgegriffen hat, sind
gesammelt bei Fr. Schultze, Kant und Darwin (Jena 1874). — 2) Vgl. oben S. 378.
446 ^* Deutsche Philosophie.
zweckvolle Lebendigkeit muss vielmehr alsheuristischesPrincipfiär die
Aufsuchung der mechanischen Zusammenhänge dienen^ mittels deren sie sich in
jedem einzelnen Falle realisirt.
7. Eine zweite Orenze der Naturerkenntniss bezeichnet Kant mit dem
Namen der Specification der Natur. Aus reiner Yemunft ergeben sich die
allgemeinen Formen der Naturgesetzmässigkeit, allein auch nur diese. Die
besonderen Naturgesetze ordnen sich zwar jenen allgemeinen unter, aber
sie folgen nicht daraus. Ihr besonderer Inhalt ist nur empirisch, d. h. in Rücksicht
der reinen Vernunft zufällig, von nur thatsächlicher Geltung '). Es ist niemals
zu begreifen, weshalb es gerade dieser und nicht ein anderer Inhalt ist. Zugleich
aber erweist sich dieses Besondere der Natur als durchaus zweckmässig: einer-
seits in Rücksicht auf unsere Erkenntnisse indem sich die Fülle des Thatsach-
lichen der Erfedu^ung geeignet zeigt, unter die apriorischen Formen der Elrfahm^
untergeordnet zu werden, — andrerseits auch zweckmässig in sich selbst, insofern
sich die ganze bunte Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu einer objectiv einheit-
Uchen WirkUchkeit zusammenfügt.
Hierin liegen die Gründe a priori, die Natur als Ganzes unter dem
Gesichtspunkte der Zweckmässigkeit zu betrachten und in dem
ungeheuren Mechanismus ihrer Oausalzusammenhänge die Realisirung eines
höchsten Vernunftzweckes zu sehen. Dieser Zweck aber kann wiederum
nach dem Primat der praktischen Vernunft kein anderer sein als das Sit t en-
ge setz, und damit mündet die teleologische Betrachtung in den moralischen
Glauben an die göttliche Weltordnung.
Betrachten wir endlich so die Natur als in dem Sinne zweckmässig, dass
in ihr die allgemeinen Formen und die besonderen Inhaltsbestimmungen völlig
mit einander übereinstimmen, so erscheint der göttliche Geist als die Vernunft,
welche mit ihren Formen zugleich den Inhalt erzeugt, als intellectuelle
Anschauung oder intuitiver Verstand^). In diesem Begriffe laufen die Ideen
der drei Kritiken zusammen.
2. Kapitel. Die Entwicklnng des Idealismus.
R. Hatm, Die romantische Schule. Berlin 1870.
Die Ausbildung der von Kant gewonnenen Principien zu den umfassenden
Systemen der deutschen Philosophie vollzog sich unter der Zusaau&enwirkung
sehr verschiedenartiger Umstände. In äusserer Hinsicht wurde es zunächst von
Bedeutung, dass der KriticismuS; nachdem er anfanglich das Geschick der Nicht-
beachtung und des Missverständnisses erlebt hatte, zuerst von den führenden
Geistern der Universität Jena auf den Schild erhoben und zum Mittelpunkt
einer glänzenden akademischen Lehrthätigkeit gemacht wurde: darin aber lag
der Anlass dazu, die Fundamente, welche Kant durch seine sorgsame Scheidung
und feine Anordnung der philosophischen Probleme gelegt hatte, zu einem ein-
heitlichen und eindrucksvollen Lehrsystem auszubauen. Der Systemtrieb hat
das philosophische Denken zu keiner Zeit so energisch beherrscht, wie zu dieser,
1) Hier knüpft Kant in höchst interessanter Weise an die letzten Specolationen der
Leibniz'sohen Monadologie an : vgl. oben S. 336. — 2) Krit. d. Urth. § 77. Vgl. G. TmBX.E,
Kant's intellectuelle Anschauung. Halle 1876.
2. Entwicklung des Idealismus. 447
und ein gut Theil der Schuld daran hatte das Begehren einer in hoher und viel-
seitiger Erregung begriffenen Zuhörerschaft, welche von dem Lehrer eine ge-
schlossene wissenschaftliche Weltanschauung verlangte.
In Jena aber befand sich die Philosophie dicht neben Weimar, der Resi-
denz Ooethe's und der litterarischen Hauptstadt von Deutschland. In stetiger
persönlicher Berührung regten sich hier Dichtung und Philosophie gegen-
seitig an, und seitdem Schiller die gedankUche Verbindung zwischen beiden
hergestellt hatte, griffen sie mit ihrer rapiden Vorwärtsbewegung immer inniger
und tiefer in einander.
Ein drittes Moment ist rein philosophischer Natur. Ein folgenreiches Zu-
sammentreffen wollte es, dass gerade zu der Zeit, wo die Vemunftkritik des
„Alles zermalmenden^ Königsbergers sich Bahn zu brechen anfing, in Deutsch-
land das festest gefügte und wirkungsvollste aller metaphysischen Systeme, den
Typus des „Dogmatismus^, bekannt wurde: der Spinozismus. Durch den
Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn, der sich auf Lessing's Stellung zu
Spinoza bezog, war des letzteren Lehre eben in das lebhafteste Interesse ge-
rückt, und so wurden bei dem tiefen Gegensatz, der zwischen beiden waltet,
Kant und Spinoza die beiden Pole, um welche sich das Denken der folgenden
Generation bewegte.
Das Vorwiegen des kantischen Einflusses lässt sich nun aber hauptsächlich
darin erkennen, dass der gemeinsame Charakter aller dieser Systeme der Idealis-
mus') ist: sie entwickeln sich sämmtlich aus den antagonistischen Gedanken-
mächten, welche in Kant's Behandlung des Ding- an -sich- Begriffes mit
einander verschlungen waren. Nach kurzer Zeit kritischen Zögerns übernahmen
Fichte, Schelling und Hegel die Führung, um die Welt restlos als ein
System der Vernunft zu begreifen. Der kühnen Energie ihrer metaphysischen
Speculation, welche von zahlreichen Schülern zu bunter Mannigfaltigkeit aus-
gebreitet wurde, tritt in Männern wie Schleiermacher und Herbart die
kantische Erinnerung an die Grenzen der menschhchen Erkenntniss gegenüber:
während andrerseits dasselbe Motiv sich in den Bildungen einer Metaphysik
des Irrationalen in Schelling's späterer Lehre und bei Schopenhauer ent-
faltete.
Gemeinsam aber ist allen diesen Systemen die Allseitigkeit des philosophi-
schen Interesses, der Reichthum an schöpferischen Gedanken, die Feinfühligkeit
ftir die Bedürfiiisse der modernen Bildung und die siegreiche Kraft einer prin-
cipiellen Durcharbeitung des historischen Ideenstoffes.
Die Kritik der reinen Vernunft fand anfangs wenig Beachtung, später heftige Gegner-
schaft. Den bedeutendsten Anstoss dazu gab Friedrich Heinrich Jacobi (1743 — 1819, zuletzt
1) Es sei hier von vornherein bemerkt, dass nicht nur die Hauptreihe der Entwicklung
von Reinhold zu Fichte, Schelling, Krause, Schleiermacher und Hegel idealistisch ist, sondern
auch die ihr gewöhnlich gegenübergestellten Herbart und Schopeimauer, — sofern man näm-
lich als „Idealismus^ die Auflösung der Erfahrungswelt im Bewusstseinsprocesse versteht.
Herbart und Schopenhauer sind in demselben Masse „Idealisten** wie Kant: sie statuiren
Dinge-an-sich, aber die sinnliche Welt ist auch ihnen ein „Bewusstseinsphänomen*'. Bei
Schopenhauer pflegt dies auch beachtet zu werden. Bei Herbart dagegen hat der Umstand,
dass er die Diiige-an-sich Realen nannte, in Verbindung mit der Thatsache, dass er aus ganz
anderen Gründen der Fichte-Hegerschen Richtung Opposition machte, zu der durchaus
schiefen und irreführenden, durch alle bisherigen Lenrbücher der Geschichte der Philosophie
laufenden Ausdrucksweise geführt, seine Lehre als „Realismus** und ihn im Gegensätze zu
den „Idealisten** als „Realisten** zu bezeichnen.
448 VI* Deutsche Philosophie.
Präsident der Münchner Akademie). Seine Hauptschrift führt den Titel : „David Hume über
den Glauben, oder Idealismus undllealisnius'* (1787); dazu die Abhandlung „(Jeber das Unter-
nehmen des Kriticismus, die Vernunft ssu Verstände zu briiigen'' (1802). Die Schrift „Von den
göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung*^ (1811) ist gegen ScheUing gerichtet. Vgl. auch seine
Einleitung in seine philosophischen Schriften im zweiten Bande der G-esammtausgabe ifi Bde.,
Leipzig 1812 — 25). Sein Hauptschüler war Fr. Koppen (1775 — 1858 ; Darstellung des Wesens
der Philosophie, Nürnberg 1810; vgl. über ihn den Art. K. von W. Windblband in £rsch u.
Gruber 's Encyklopädie).
Femer sind als Gegner Kant's zu nennen Gottlob Ernst Schulze (1761 — 1823), der
Verfasser der anonymen Schrift „Aenesidemus oder über die Fundamente der Elementar-
philosophie" (1792) und einer «Kritik der theoretischen Philosophie" (Hamburg 1801); J. G.
Hamann (vgl. oben S. 402), dessen „Recension" der Kritik erst 1801 inBeinhold's Beiträgen
gedruckt wurde, und G. Herder in seiner Schrift „Verstand und Vernunft, eine Metakritik
zur Kritik der reinen Vernunft" (1799).
Positiver wirkten in der Entwicklung der kantischen Lehre Jac. Sig. Beck (1761 — 1842;
Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurtheilt werden muss,
Riga 1796), und Salomon Maimon (gest. 1800; Versuch einer Transscendentalphilosophie,
1790; Versuch einer neuen Logik, 1794; Die Kathegorien des Aristoteles, 1794; vgl. J. WrrrE,
S. M., BerUn 1876).
In Jena wurde die kantische Philosophie durch den Professor Erh. Schmid eingeführt;
ihr Hauptorgan war die seit 1785 unter der Redaction von Schütz und Hufeland dort
erscheinende „Allgemeine Litteraturzeitung". Den meisten Erfolg fiir die Verbreitung des
Kriticismus hatten K. L. Reinhold's zuerst in Wieland's „deutschem Merkur* (17B6)
erschienenen „Briefe über die kantische Philosophie".
Derselbe beginnt auch die Reihe der Umbildungen. Karl Leonh. Reinhold (1758 — 1823;
aus dem Bamabitenkloster in Wien entflohen, 1788 Professor in Jena, von 1794 an in Kid)
schrieb „Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens" (Jena 1789),
und „Das Fundament des philosophischen Wissens" (1791). Spater gerieth er nach mannig*
fachem Wechsel seines Standpunkts in Wunderlichkeit und Vergessenheit. Die in der Jenenser
Zeit vorgetragene Lehre gab in groben Zügen eine oberflächlich systematische Darstellung,
welche alsbald zum Schulsystem der „Kantianer" wurde. Die Namen diesem zahlreichen
Männer ihrer Vergessenheit zu entreissen, ist nicht dieses Orts.
Sehr viel feiner, geistreicher und selbständiger hat Kant's Ideen Fr. Schiller ver-
arbeitet. Von seinen philosophischen Abhandlungen sind hauptsächlich zu nennen: Ueber
Anmutli und Würde, 1793; Vom Erhabenen, 1793; Briefe über die ästhetische Erziehni^ des
Menschengeschlechts, 1795; üeber naive und sentimentalische Dichtung, 1796; dazu die philo-
sophischen Gedichte wie „Die Künstler", „Ideal und Leben" und der Briefwechsel mit Körner,
Goethe und W. v. Humboldt. Vgl. K. Tomaschkk, Seh. in seinem Verhältniss zur Wissenschaft,
Wien 1862; K. Twesten, Seh. in seinem Verhältniss zur Wissenschaft, Berlin 1863; Kuno
Fischer, Seh. als Philosoph, 2. Aufl., 1891; Fr. Ueberweo, Seh. als Historiker und Philosoph,
hrsg. von Brasch, Leipzig 1884.
Johann Gottlieb Fichte, 1762 zu Rammenau in der Lausitz geboren, in Schulpforta
und an der Universität Jena gebildet, erhielt, nachdem er manchje Schicksale als Hauslehrer
durchgemacht hatte und durch seine, zufallig anonym erschienene und allgemein Kant zu-
geschriebene Erstlingsarbeit „Kritik aller Offenbarung" (1792) berühmt geworden war, 1794
in Zürich den Ruf als Reinhold's Nachfolger in die Jenenser Professur. Nach glänzender
Wirksamkeit wurde er 1799 wegen des „Atheismusstreites" (vgl. seine „Appellation an das
Publicum" und die „Gerichtliche Verantwortungsschrift") entlassen und ging nach Berlin, wo
er mit den Romantikem in Verkehr trat. 1805 war er zeitweilig der Universität Erlangen
zugewiesen, 1806 ging er nach Königsberg, und kehrte dann nach Berlin zurück, wo er im
Winter 1807/8 die „Heden an die deutsche Nation" hielt. An der neu errichteten Berliner
Universität fungirte er als Professor und als erster Rector. Er starb 1814 am Lazarethfieber.
Die Hauptschriften sind: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794; Gmndriss des
Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, 1795; Naturrecht, 1796; die beiden Einleitungen
in die Wissenschaftslehre, 1797; System der Sittenlehre, 1798; Die Bestimmung des Menschen,
18(X); Der geschlossene Handelsstaat, 1801; Ueber das Wesen des Gelehrten, 1805; Gnmdzüge
des gegenwärtigen Zeitalters, 1806; Anweisung zum seligen Leben, 1806. Werke, 8 Bde.,
Berlin 1845 f.; Nachgel. Werke, 8 Bde., Bonn 1884; Leben und Briefwechsel, Sulzbach 1830;
Briefwechsel mit Schelling, Leipzig 1856. Vgl. J. H. Löwe, Die Philos. Fichte's, Stuttgart
1862. R. Adamson, Fichte, London 1881.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775 zu Leonberg (Württembeiig) geboren»
kam nach seiner Ausbildung in Tübingen 1796 nach Leipzig, wurde 1798 Professor in Jena
und 1803 in Würzburg. 1806 an die Münchner Akademie berufen, zeitweilig (1820 -96) an der ^
2. Entwickluog des Idealismus. 449
Erlam^r Universität thätig, trat er 1827 in die neu begründete Münchner Universität ein. Von
hier wlffte er 1840 dem Rufe nach Berlin, wo er seine Lehrthätigkeit bald wa^h. Er starb
1864 in Kagaz. Vgl. Aus Sch/s Leben in Briefen, hrsg. von Pütt, Leipzig 1869 f. Caroline,
Briefe etc., hrsg. ^ von G. Wattz, Leipzig 1871. — Schelling's philosophische und schrift-
stellerische Entwicklung zerfallt in fünf Perioden: 1) Die Naturphilosophie: Ideön zu einer
Philos. der Natur, 1797; Von der Weltseele, 1798; Erster Entwurf eines Systems der Natm*-
philoBophie, 1799; — 2) Der ästhetische Idealismus: Der transscendentale Idealismus, 1800;
Vorlesungen über die Philosophie der Kunst; — 3) Der absolute Idealismus: Darstellung
meines Systems der Philosophie, 1801; Bruno, oder über das natürliche und göttliche Princip
der Dinge, 1802 ; Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803; — 4) Die
Freiheitslehre: Philosophie und Religion, 1804; Untersuchungen über das Wesen der mensch-
lichen Freiheit, 1809; Denkmal der Schrift Jacobi's von den göttlichen Dingen, 1812; —
5) Philosophie der Mythologie und Offenbarung, Vorlesungen im zweiten Theil der Schriften.
— Ges. Werke, 14 Bde., Stuttg. und Angsb. 1856—1861.
Unter den Schelling nahestehenden Denkern mögen hervorgehoben sein: von den
Romantikem Fr. Schlegel (1772—1829; Charakteristiken und Kritiken im „Athenäum"
1799 f.; Lucinde, 1799; Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804 — 6, hrsg. von
WiMPiBCHiUNN, 1836 f. Sämmtliche Schriften, 15 Bde., Wien 1846) und Novalis (Fr. v. Harden-
berg, 1772—1801), auch K. W. F. Solger (1780—1819; Erwin, 1816; Phüosophische Ge-
spräche, 1817; Vorlesunffen über Aesthetik, hrsg. von Hetsb, 1829); femer Lor. Oken (1779
—1851, Lehrbuch der Natun>hilosophie, Jena 1809; vgl A. Egkkb, L. 0., Stuttgart 1880),
H. Steffens (1773 — 1845, ein Norweger, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft,
1806), G. H. Schubert (1780—1860, Ahndungen einer allg. Geschichte des Lebens, 1806f.),
Franz Baader (1765—1841; Fermenta cognitionis, 1822ff.; Speculative Dogmatik, 1827ff.
Ges. Schriften mit Biographie von Fb. HoFrMANN hrsg., Leipz. 1851 ff.); endlich K. Chr. Fr.
Krause (1781—1882; Entwurf des Systems der Philosophie, 1804; Urbild der Menschheit,
1811; AbrisB des Systems der Philosophie, 1825; Vorlesunieen über das System der.Philo-
sojihie 1828. Seit einigen Jahren erscheinen aus dem Nachlass unerschöpfliche Massen,
hrsg. von P. Hohlfeld und A. WOnsohb. Vgl. B. Euckkn, Zur Erinnerung an £., Leipzig 1881).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schelling's älterer Freund, war 1770 in Stuttgart
geboren, studirte in Tübingen, war Hauslehrer in Bern und Frankfurt und begann 1801 seine
Lehrthätigkeit in Jena, wo er 1805 ausserordentlicher Professor wurde. Nach 1806 wurde er
Zeitnngsredacteur in Bamberg und 1808 Gymnasialdirector in Nümbexv. 1816 ging er als
Professor nach Heidelbergs, 1818 von da nach Berlin, wo er bis zu seinem Tode 1881 als Haupt
«iner immer glänzender sich ausbreitenden Schule wirkte. £r veröffentlichte ausser den Ab-
handlungen in dem mit Schelling zusammen herausgegebenen „kritischen Journal der Philo-
sophie **: Phänomenologie des Geistes (1807); Wissenschaft der Logik, 1812 ff.; Encyclopädie
der philosophischen Wissenschaften, 1817; (Grundlinien der Philosophie des Bechts, 1821. Seit
1827 waren die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik** das Organ seiner Schule. Die Werke
mit Einschluss der von seinen Schülern redigirten Vorlesungen wurden in 18 Bdn., Berlin 1832 ff.
herausgegeben. Aus der sehr ausgebreiteten Litteratur seien genannt: C. Rosenkranz, H/s
Leben (Berlin 1844), und H. als deutscher Nationalphilosoph (Berlin 1870); R. Hayh, H. und
seine Zeit (Berlin 1857); E. Köstun, H. (Tübingen 1870). J. Kuober, Hölderlin, Schelling
und Hegel in ihren schwäbischen Jugendjahren (Stuttgart 1877).
Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, 1768 in Breslau geboren, auf den Herrn-
hutisohen Erziehungsanstalten zu Niesky und Barby und auf der üniveraität Halle gebildet,
nahm nach Privatstellungen ein Vicariat in Landsberg a. W. und 1796 die Function als Prediger
an der Berliner Charit^ an. 1802 ging er als Hofprediger nach Stolpe, 1804 als Extraordinarius
nach Halle, 1806 wieder nach Berlin, wo er 1809 Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und
1810 Professor an der Universität wurde. Beide Aemter verwaltete er, erfolgreich zugleich in
der kirchenpolitischen Bewegung (Union) stehend, bis zu seinem Tode 1834. Seine philosophi-
schen Schriften bilden die dritte Abtheilung der nach seinem Tode gesammelten Werke
(Berlin 1835 ff.). Sie enthält die Vorlesungen über Dialektik, Aesthetik etc. ; unter den Schriften
sind zu erwähnen: Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799);
Monologen (1800); Grundlinien einer lu*itik der bisheri^n Sittenlehre (1803). Das vrichtigste
Werk, Die Ethik, liegt in der Sammlung in der Redaction von Al. Schweizer, ausserdem in
einer Ausgabe von A. Twbstrn (Berlin 1841) vor. — Vgl. Aus Sch.^s Leben in Briefen, hrsg.
von L. Jonas und W. Dilthby, 4 Bde., Berlin 1858—63. — W. Dilthey, Leben Schleiermacher's
(Bd. L Berlin 1870).
Johaim Friedrich Herbarf , 1776 zu Oldenburg geboren, dort und an der Jenenser
Universität gebildet, eine Zeit lang in Bern als Hauslehrer thätig und mit Pestalozzi bekannt,
wurde 1802 rriv^tdocent in Göttingen, war 1809 — 1833 Professor in Königsberg und kehrt«
dann als solcher nach Göttingen zurück, wo er 1841 starb. Seine Hauptschnftcn sind : Haupt-
Windelband, Geschichte der Philosophie. 29
450 ^^' Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
punkte der Metaphysik, 1806; Allffemeine praktische Philosophie, 1808; Einleitung in die
Philosophie, 1813; Lehrbuch zur Psychologie, 1816; Psychologie als Wissenschaft, 1824 f.
Gesammtausgabe von G. Hartenstein, 12 Bde., Leipzig 1860 ff.; im Erscheinen begriffen von
E. Kehrbach seit 1882. Die päda^gischen Schriften hat 0. Willmann in 2 Bdn., Leipzig 1878
und 75, herausgegeben. Vgl. G. Hartenstein, Die Probleme und Grundlehren der allgemeinen
Metaphysik (Leipzig 1836) ; J. Kaftan, Sollen und Sein (Leipzig 1872) ; J. Capesius, Die Meta-
physik Herbart's (Leipzig 1878).
Arthur Schopenhauer, 1778 in Danzig geboren, ging erst spat zum wissensohaftlichen
Leben über, studirte in Göttingen und Berlin, promovirte 1813 in Jena mit der Schrift über
die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, lebte zeitweilig in Weimar und
Dresden, habilitirte sich 1820 in Berlin, zog sich aber, nachdem er in einer mehrfach durch
Reisen unterbrochenen Lehrthätigkeit keinen Erfolg gehabt, 1831 in das Privatleben nach
Prankfurt a. M. zurück, wo er 1860 starb. Das Hauptwerk ist „Die Welt als Wille und Vor-
stellung**, 1819. Daran schliessen sicJi „üeber den Willen in der Natur", 1836. „Die beiden
Grundprobleme der Ethik", 1841; endlich „ParergaundPanüipomena", 1851. G^ammtausgabe
in 6 Bdn., Leipzig 1873 f., seitdem mehrfoch aufgelegt. Vgl. W. Gwinnxr, Sch.'s Leben, 2. Aufl.
(Leipzig 1878) ; J. Prauenstädt, Briefe über die Seh. sehe Philosophie (Leipzig 1B54); R. Sbtdrl,
Seh. 8 System (Leipzig 1857); A. Hatm, A. Seh. (Berlin 1864); (t. Jkllinrk, Die Weltanschau-
ungen Leibniz^ und Schopenhauer's (Leipzig 1872).
Neben der metaphysischen Hauptentwicklung läuft eine psycholop^ische Neben-
linie, eine Reihe solcher Schulen, welche den Lehren der ^ssen Systeme sich auf dem Wege
psychologischer Methode oft edectisch nähern. So verhält sich zu Kant und Jacobi J. Fr. Fri es
(1773—1843; „Reinhold, Fichte und Schelling", 1803; Wissen, Glaube und Ahndung, 1805;
Neue Kritik der Vernunft, 1807; Psychische Anthropologie, 1820f. Vgl. Küno Fischer, Die
beiden kantischen Schulen in Jena, Akad. Reden, Stuttg. 1862), — zu Eant aad Fichte Wilh.
Traug. Krug (1770—1842; Organen der Philosophie, 1801; Handwörterbuch der philos.
Wissenschaften, 1827 ff.), — zu Fichte und Schelling Fried. Bouterwek (1766—1828, Apo-
diktik, 1799; Aesthetik, 1806), — zu Herbart endlich Fr. Beneke (1798—1854, Psychologische
Skizzen, 1825 und 27; Lehrbuch der Psychologrie als Naturwissenschaft, 1832; Metaph>8ik und
Religionsphilosophie, 1840; Die neue Psychologie, 1845).
§ 41. Das Ding-an-sich.
Die packende Gewalt, welche Kantus Philosophie über die Gemüther ge-
wann, verdankte sie *) hauptsächlich dem Ernst und der Grösse ihrer sittlichen
Weltauffassung: der Fortschritt des Denkens jedoch knüpfte sich zunächst an
die neue Gestaltung, welche die Principien der Erkenntnisstheorie in der Kritik
der reinen Vernunft erfahren hatten. Kant übernahm den Gegensatz der Phaeno-
mena und Noumena aus der früheren Philosophie: aber er erweiterte durch die
transscendentale Analytik das Reich der Erscheinungen zu dem ganzen Dmfange
menschUcher Erkenntniss, und das Ding-an-sich blieb nur als ein problemati-
scher Begriff bestehen, wie ein rudimentäres Organ, das zwar für die historische
Genesis dieser Erkenntnisstheorie charakteristisch sein mochte, aber keine leben-
dige Function darin ausübte.
1. Dies hat zuerst Jacobi gesehen, wenn er bekannte, dass man ohne Vor-
aussetzung des Realismus nicht in das kantische System hinein kommen und mit
derselben nicht darin bleiben könne'): denn der anfänglich eingeführte Begriff
der Sinnlichkeit involvire das Causalverhältniss des Afficirtwerdens durch Dinge-
an-sich, welches nach der Lehre der Analytik, dass Kategorien nicht auf Dinge-
an-sich angewendet werden dürften, zu denken verboten sei. In diesem Wider-
spruch, Dinge -an -sich denken zu wollen und doch nicht denken zu dürfen,
bewegt sich die ganze Vemunftkritik: und dabei hilft diese widerspruchsvolle
Annahme nicht einmal dazu, der Erkenntniss der Erscheinungen auch nur die
1) Dies ist namentlich aus Rknhold^s Briefen über die kant. Ph. su erkenneiL. —
2) Jacobt, W. U, 804.
§41. Ding-an-sich. (Jacobi.) 461
geriDgste Beziehung auf Wahrheit zu gewähren. Denn nach Kant stellt die ^eele
vor „nicht sich selbst noch andere Dinge; sondern solches einzig und allein^ was
weder sie selbst ist noch was andere Dinge sind^ *). Das Erkenntnissvermögen
schwebt zwischen einem problematischen X des Subjects und einem gleich proble-
matischen X des Objects. Die Sinnlichkeit hat nichts hinter sich und der Ver-
stand nichts vor sich: ;,in einem zwiefachen Hexenrauche ; Raum und Zeit
genannt; spuken Erscheinungen^ in denen Nichts erscheint^ ^). Nimmt man
Dinge aU; so lehrt Kant; dass die Erkenntniss damit nicht das geringste zu thun
habe. Die kritische Vernunft ist eine um lauter NichtS; d. h. nur um sich selbst
gßadMige Vernunft. Will deshalb der Kriticismus nicht dem NihiUsmus oder
absoluten Skepticismus verfallen; so muss der transscendentale Idealist den Muth
haben; den „stärksten" Idealismus zu behaupten^): er muss erklären; dass nur
die Erscheinungen sind.
In der Behauptung, was Kant den Gegenstand der Erkenntniss nennt; sei
in Wahrheit „Nichts"; steckt mm eben als Voraussetzung derselbe naive Eealis-
muS; dessen Zerstörung die grosse Leistung der transscendentalen Analytik war:
und ebenderselbe Realismus bestimmt denn auch die Erkenntnisstheorie des
G-laubenS; welche Jacobi „der transscendentalen Unwissenheit"; nicht ohne
durchweg von ihr abhängig zu seiu; entgegenstellt. Alle Wahrheit ist Erkenntniss
des Wirklichen; das Wirkliche aber macht sich im menschUchenBewusstsein nicht
durch das Denken; sondern durch das Oefühl geltend : gerade Kant's Experiment
beweise; dass das Denken allein sich in einem Kreise bewege; aus dem es keinen
Zugang zur Wirklichkeit giebt; in einer endlosen Reihe des Bedingten; worin
kein Unbedingtes zu finden ist. Das Grundgesetz der Causalität lässt sich ja
geradezu formuliren: es giebt nichts Unbedingtes. Das Wissen also oder das
demonstrirbare Denken ist seinem Wesen nach; wie Jacobi sagt, Spinozismus,
Lehre von der mechanischen Noth wendigkeit alles Endlichen: und es ist das
Interesse der Wissenschaft, dass kein Gott sei; — ja, ein Gott der gewusst werden
könnte, wäre gar kein Gott ^). Auch wer im Herzen ein Christ ist, muss im Kopf
ein Heide sein: sowie er das Licht; das im Herzen ist; in den Verstand bringen
will; erlischt es'^). Aber dies Wissen ist eben auch nur ein mittelbares Er-
kennen; das wahre; unmittelbare Erkennen ist das Gefühl: in diesem sind
wir mit dem Gegenstaude wahrhaft Eins ^) und besitzen ihn wie uns selbst in der
Gewissheit beweislosen Glaubens^). Dies Gefühl ist aber seinen Gegenständen
nach doppelter Art: die Wirkhchkeit des Sinnlichen offenbart sich uns in der
Wahrnehmung, die des UebersinnUchen in der „Vernunft". Für diesen
snpranaturalen Sensualismus bedeutet also „Vernunft" das unmittelbare
Gefühl von der Wirklichkeit des UebersinnlicheU; von Gott; Freiheit; Sittlichkeit
und Unsterblichkeit. In dieser Verschränkung kehren Kant's Dualismus von
theoretischer und praktischer Vernunft und der Primat der letzteren bei Jacobi ^)
wieder; um in den Dienst einer mystischen Ueberschwenglichkeit des Gefühls
gestellt zu werden, die sich auch in der Eigenart einer warmen, geistreichen;
1) Allwill XV; w. 1, 121. — 2) w. ni, Ulf. — s) w. n, 310. — 4) w. m, 384. —
5) An Hamank; I, 367. — 6) W. IE, 176. — 7) Hümb's Begriff des belief und seine ünter-
Bcheidnng von Impressionen und Ideen (hier Vorstellungen genannt) erfieJiren dabei eine
merkwürdige Umbüdung. — 8) W. III, 351 flF.
29*
45ä ^« Deutsche Philosophie. 9. Entwicklung des Idealismus.
aber rhapsodischen und mehr behauptenden als begründenden Schreibweise zu
erkennen giebt.
Noch etwas näher an Kant gerückt erscheint dieselbe Grundauffitssang
bei Fries. Wenn dieser forderte, dass die von der kritischen Philosophie an-
gestrebte Erkenntniss der apriorischen Formen selbst a posteriori, durch innere
Erfahrung von Statten gehen und deshalb Kantus Resultate durch eine „ anthropo-
logische^ Kritik begründet oder richtig gestellt werden müssen, so beruhte dies
auf der Ueberzeugung, dass die unmittelbaren, eigenen Erkenntnisse der Ver-
nunft ursprünglich dunkel durch das Gefühl gegeben seiend) und erst durch die
Reflexion in Yerstandeswissen verwandelt werden. Dieser Leibniz'sche Rumpf
endigt jedoch in den kriticistischen Schwanz, indem die Anschauungs- und Begrifl^-
formen dieser Reflexion nur als ein Ausdruck der Erscheinungsweise jenes ur-
sprünglichen Wahrheitsinhaltes gelten sollten: andrerseits erhielt jener Rumpf
einen Kant- Jacobi'schen Kopf, wenn der Beschränkung des Wissens auf diese
Erscheinungsformen die unmittelbare Beziehung des moralischen Glaubens axä
Dinge-an-sich gegenübergestellt, zugleich aber — mit entschiedenem Anschluss
an die Kritik der Urtheilskraft — dem ästhetischen und religiösen Gefuht die
Bedeutung einer Ahnung („Ahndung^) dafUr zugeschrieben wurde, das&rdas
den Erscheinungen zu Grunde liegende Sein eben dasjenige ist, worauf sich die
praktische Vernunft bezieht.
2. Die von Jacobi scharf erkannte Unhaltbarkeit des kantischen Ding-an-
sich-Begriffs trat gewisserm^^ssen handgreiflich hervor, als Reinhold in seiner
Elementarphilosophie den Versuch einer einheitlich systematischen Dar-
stellung der kritischen Lehre machte. Er vermisste an dem bewunderten Kant,
dessen Lösungen der einzelnen Probleme er sich durchaus zu eigen machte,
nur die Formulirung eines einfachen Grundprincips, aus dem alle besonderen
Einsichten abzuleiten wären. Durch die Erfüllung dieser (cartesianischen) Forde-
rung") würde endKch an Stelle der widerstreitenden Privatmeinungen die Philo-
sophie, die Philosophie ohne Beinamen treten. Er selbst glaubte dies Princip
in dem vermeintlich ganz voraussetzungslosen Grundsatz gefunden zu haben,
dass im Bewusstsein jede Vorstellung durch das Bewusstsein von dem Subject
und dem Object unterschieden und auf beide bezogen wird (Satz des Be wussi-
seins) *). Daher steckt in jeder Vorstellung Etwas, was zum Subject und Etwas,
was zum Object gehört. Aus dem Object stammt die Mannigfaltigkeit des Stoffs,
aus dem Subject die syiiTlhetische Einheit der Form. Hieraus folgt, dass weder
das Object an sich, noch das Subject an sich, sondern nur die zwischen beiden
schwebende Bewusstseinswelt erkennbar ist ; hieraus ergiebt sich weiter der Gegen-
satz des (sinnlichen) Stofftriebes und des (sittlichen) F o r m t r i e b e s : im ersteren
ist die Heteronomie der Abhängigkeit des Willens vom Dinge, im zwdten die
Autonomie des auf die formale Gesetzmässigkeit gerichteten Willens zu erkennen.
In dieser plumpen Gestalt hat die kantische Schule die Lehre des
Meisters fortgepflanzt : die ganze Feinheit und der Tiefsina der Analytik des
„Gegenstandes'^ war verloren gegangen, und einen Ersatz dafür bot nur Rein-
hold's Bestreben, im „Vorstellungsvermögen" oder „Bewusstsein" die tiefere Ein-
1) Fribs, Neue Kritik, I, 206. — 2) Reinhold, Beiträge I, 91ff. — 8) Neue Theorie
des Vorst. 8. 201 ff.
§41. Ding-an-sich. (Reinhold, Schulze.) 453
heit aUer der verschiedenen Erkenntnisskräfte zu finden, welche Kant als Sinn-
lichkeit; Verstand; ürtheilskraft, Vernunft von einander gesondert hatte. Insofern
kam die „Fundamentalphiloeophie" mit einer positiven Hypothese den Einwürfen
entgegen, auf welche bei vielen Zeitgenossen in der kantischen Lehre gerade die
scharfe Trennung der Sinnlichkeit und des Verstandes stiess. Diese trat
in der durch die Nachwirkung der Inauguraldissertation bestunrnten Darstellung
(vgl. S. 423; Anm. 4) noch stärker hervor, als es der Geist der Vemunftkritik ver-
langte, und wurde zugleich durch den praktischen Dualismus noch fühlbarer.
So wurde die Tendenz wachgerufen; die Sinnlichkeit Kant gegenüber wieder in
ihre Rechte einzusetzen; und die Leibniz'sche Lehre von dem allmählichen lieber-
gange aus den sinnlichen in die vernünftigen Functionen erwies sich als die
Quelle einer kräftigen Gegenströmung gegen Kant's mehr scheinbare als ernst-
liche „Zerstückelung^ der Seele. Gegen die Eoitlk der reinen Vernunft machte
dies Hamann in seiner Becension und im Anschluss an ihn Herder in der Meta-
kritik geltend. Beide nehmen dabei hauptsächlich auf die Sprache als das ein-
heitliche sinnlich-geistige Grundgebilde der Vernunft Rücksicht und suchen zu
zeigen, wie aus der ersten „ Spaltung'^ von Sinnlichkeit und Vei*stand alle die
anderen Spaltungen und DuiEÜismen der kritischen Philosophie folgen mussten ^).
3. Die Blossen des Reinhold 'sehen Systems konnten den Skeptikern nicht
entgehen; aber deren Angriffe trafen zugleich Kant selbst. Am wirkungsvollsten
sind sie in Schulzens Aenejsidemus vereinigt. Er zeigt die Selbstverstrickung
der kritischen Methode dariU; dass sie sich eine Angabe stellt, deren Lösung
ihren eigenen Resultaten nach unmöglich ist. Denn wenn die Kritik die Be-
dingungen sucht, welche der Erfahrung zu Grunde liegen, so sind diese Be-
dingungen doch nicht selbst Gegenstände der Erfahrung (eine Auffassung, welche
sicher Eant's Sinne mehr entsprach, als Fries' Versuch einer psychologischen
Aufsuchung des Apriori) : die kritische Methode verlangt also, die philosophische
Erkenntniss; jedenfalls ein Denken in Kategorien, soll üb^ die Erfiährung hinaus-
gehen ; und eben dies erklärt die Analytik für unerlaubt. In der That ist die
„Vernunft^ und ist jede einzelne der Erkenntnisskräfte, wie Sinnlichkeit, Ver-
stand etc. ein Ding an sich, ein unwahmehmbarer Grund der empirischen Thätig-
keiten der b6ti*effeDden Erkenntnissart: und von allen diesen Dingen -an -sich
und ihren Verhältnissen zu einander und zur Erfahrung bietet die kritische
Philosophie — die Metaphysik des Wissens — eine sehr ausführliche Kenntniss.
Freilich ist diese Kenntniss, genau besehen, sehr gering: denn solch ein 7, Ver-
mögen'^ ist doch schliesslich nur als unbekannte (jresammtursache empirischer
Functionen gedacht und nur durch eben diese Wirkungen zu charakterisiren.
Der ^ Aenesidemud^ entwickelt diese Kritik an Reinhold's Begriff des „ Vor-
stellungsvermögens ^ ^): er zeigt; dass man garnichts erklärt, wenn man den Inhalt
des zu Erklärenden mit der problematischen Marke „Ejraft^ oder „Vermögen^
versehen noch einmal setzt. Schulze wendete sich damit gegen die von den
empirischen Psychologen der Aufklärung ziemlich gedankeiüos angewendete
^Vermögentheorie^. Nur descriptiv kann es einen Sinn haben, gleichartige Er-
. •
1) Herder, Metakritik 14, III. Werke in 40 Bdn. XXXVII, dd3ff. Uebrigens war
auch dieser Qedanke, als ihn Herder in der Metakritik, einem thörichten Machwerk persönlicher
Gereiztheit, vortrug, längst ein positiv treibendes Moment der Entwicklung, vgL § 42. —
2) Aenesid. S. 98.
454 ^^* Deutsche Philosophie. 9. Entwicklung des Idealismus.
scheinungen des Seelenlebens unter einem Gattungsbegriffe zusammenzufassen :
diesen Begriff aber zu einem metaphysischen Kraftwesen zu hypostasiren^ das
ist eine mythologische Behandlung der Psychologie. Unter diesem Stichwort
hat Herbart') die Kritik Schulzens auf die gesammte frühere psychologische
Theorie ausgedehnt, und auch Beneke ^ sah in der Aufhebung desselben Begriffs
den wesentlichen Fortschritt zur Naturwissenschaft von der Seele , d. h. der
Associationspsychologie.
Für Schulze ist dies nur eins der Momente, um zu beweisen, dass die
kritische Philosophie, während sie Hume gegenüber die Berechtigung des
Causalbegriffs darzuthun beabsichtigt, dieselbe aber auf die Erfahrung be-
schränken will, doch überall die Voraussetzung eines Causalrerhältnisses
zwischen der Erfahrung und dem, was ihr „zu Orunde liege^, macht. Dahin
gehört natürlich auch der schön von Jacobi dargelegte Widerspruch im Begriffe
des Dinges- an-sich, durch welche die „Sinnlichkeit^ afficirt werden soll. So
ist denn jeder Versuch der Ejritik der reinen Vernunft, über den Umkreis der
Er&hrung auch nur problematisch hinauszugehen, durch sie selbst von vorn-
herein gerichtet *).
4 Der erste Versuch zur Umbildung des in seiner kautischen Fassung
unhaltbaren Ding -an -sich -Begriffes ging von Salomon Maimon aus. Er sah
ein, dass die Annahme einer ausserhalb des Bewusstseins zu setzenden Realität
einen Widerspruch involvirt. Was gedacht wird, ist im Bewusstsein: etwas
ausserhalb des Bewusstseins zu denken, ist so imaginär, wie mathematisch das
Verlangen V— a als eine reale Grösse zu betrachten. Das Ding-an-sich ist
ein unmöglicher Begriff. Aber was war die Veranlassung, ihn zu bilden?
Sie lag in dem Bedürfhiss, das Gegebene im Bewusstsein zu erklären^). Es
begegnet uns nämlich in unseren Vorstellungen der Gegensatz der Form, welche
wir selbst erzeugen und zu erzeugen uns bewusst sind, und des Stoffs, den wir nur
in uns vorfinden, ohne zu wissen, wie wir dazu konunen. Von den Formen haben
wir also ein vollständiges, von dem Stoffe dagegen nur ein unvollständiges
Bewusstsein: er ist etwas, was im Bewusstsein ist, ohne mit Bewusstsein her-
vorgebracht zu sein. Da aber nichts ausserhalb des Bewusstseins denkbar ist, so
kann das Gegebene nur durch den niedrigsten Grad der Vollständigkeit des Be-
wusstseins definirt werden. Das Bewusstsein kann durch unendlich viele Zwischen-
stufen bis zum Nichts abnehmend gedacht werden, und die Vorstellung der Grenze
dieser unendlichen Reihe (vergleichbar der V7) ist diejenige des Nur-Gegebenen,
des Dinges -an -sich. Dinge - an - sich sind deshalb, wie Maimon mit directer
Erinnerung an Leibniz — petites perceptions, vgl. S. 334f. — sagt, Differen-
tiale des Bewusstseins^). Das Ding-an-sich ist der Grenzbegriff für die
unendliche Reihe der Abnahme des vollständigen Bewusstseins: eine irrationale
Grösse. — Die Consequenz dieser Grundannahme ist bei Maimon die, dass es
vom Gegebenen wie ein unvollständiges Bewusstsein, so auch immer nur eine
1) Herbabt, Lehrb. z. Psych. § 3. W. V, 8 und sonst. — 2) Bkmekv, Neue Psych. S. 34 ff.
— 8) Mit bündif^ter ZusammenfassuDff hat der Autor des AeDesidemus in seiner „Kritik
der theoretischen Philosophie'' (U, 549 n.) die Gedanken seiner Polemik wiederholt — einem
Werke übrigens, welches nicht nur eine der bis auf den heutigen Tag besten Analysen der
Er. d. r. Yem. (1, 172 — 582), sondern auch eine von tiefem historischen Verständniss (vgl. über
das Yerhfiltniss zu Leibniz II, 176 ff.) getragene Kritik derselben (11, 126—722) enthält. —
4) Madcon, Transscendentalphilos. S. 41 9 f. — 5) Ibid. 27 ff.
§ 41. Diog-an-sioh. (Maimon, Beck, Fichte.) 465
unvollständige Erkenntniss geben kann ') und dass die vollständige Erkenntniss
auf das Wissen von den autonomen Formen des theoretischen Bewusstseins be-
schränkt ist, auf Mathematik und Logik. In der Achtung vor diesen beiden
demonstrativen Wissenschaften kommt Maimon's kritischer Skepticismus mit
Hume überein: hinsichtlich der Erkenntniss des empirisch Gegebenen gehen sie
diametral aus einander.
Damit aber war klar geworden, dass die Untersuchungen der Kritik der
reinen Vernunft eine neue Fassung des Verhältnisses von Bewusstsein
und Sein verlangen. Sein ist nur im Bewusstsein, nur als eine Art des
Bewusstseins zu denken. So beginnt sich die Prophezeihung Jacobi's zu er«
füllen: Kant's Lehre drängt zum „stärksten Idealismus^ hin.
Man sieht das an einem Schüler, der in den nächsten Beziehungen zu Eant
selbst stand, an Sigismund Beck. Er fand^ den „einzig möglichen Standpunkt
zur Beurtheilung der kritischen Philosophie^ darin, dass das für das individuelle
Bewusstsein als „Gegenstand^ Gegebene zum Inhalt eines „ursprünglichen^,
überindividuellen') und deshalb für die Wahrheit des empirischen Erkennens
massgebenden Bewusstseins erhoben wurde. An Stelle der Dinge - an - sich
setzte er Eant's „Bewusstsein überhaupt^. Aber er erklärte sich auf diese
Weise die Apriorität der Anschauungen und Kategorien: das Gegebene der
sinnlichen Mannigfaltigkeit blieb auch für ihn der ungelöste Best des kantischen
Problems.
5* Die volle idealistische Zersetzung des Ding -an- sich -B^riffes ist das
Werk Fichte 's. Man versteht es nach dieser Seite am besten, wenn man dem
Gedankengange seiner Einleitungen in die Wissenschaftslehre ^) folgt, der sich in
freier Wiedergabe direct an den schwierigsten Theil der kantischen Lehre, die
transscendentale Deduction, anlehnt und in vollendeter lOarheit den Höhepunkt
der hier betrachteten Gedankenbewegung beleuchtet.
Das Fundamentalproblem der Philosophie — oder wie Fichte sie eben
deshalb deutsch benennt, der Wissenschaftslehre — ist durch dioThatsache
gegeben, dass der willkürlichen und zufiUligen Beweglichkeit der Vorstellungen
des individuellen Bewusstseins gegenüber ein anderer Theil in demselben sich
behauptet, welcher mit einem ganz sicher unterscheidbaren Gefühl der Noth-
wendigkeit behaftet ist. Diese Nothwendigkeit begreiflich zu machen, ist die
vornehmste Aufgabe der Wissenschaftslehre. Wir nennen das System jener mit
dem Gefühl der Nothwendigkeit auftretenden Vorstellungen die Erfahrung; das
Problem lautet also: was ist der Grund der Erfahrung? Zu seiner Lösung giebt
es nur zwei Wege. Die Erfahrung ist eine auf Gegenstände gerichtete Thätig-
keit des Bewusstseins: sie kann daher nur entweder von den Dingen oder vom
Bevrusstsein abgeleitet werden. In dem einen FaUe ist die Erklärung dogma-
tisch, in dem anderen idealistisch. Der Dogmatismus betrachtet das Bewusst-
sein als ein Product der Dinge, er führt auch die Thätigkeiten der Intelligenz
auf die mechanische Nothwendigkeit der Causalverhältnisse zurück, er kann des-
halb, consequent gedacht, nicht anders als fatalistisch und materialistisch endigen.
Der Idealismus umgekehrt sieht in den Dingen einErzeugniss des Bewusstseins,
1) Man vergleiche die Zutälligkeit der Welt bei Leibniz und die Specißcation der Natur
bei Kant: 8. 315 und 446. — 2) 3. Bd. seines „Erläuternden Auszugs'' aus Kant's Schriften,
Leipzig 1796. — 8) Ibid. S. 120ff. — 4) Fichtk's W. I, 419ff.
466 ^* Deutsche Philosophie. 2. Entvrioklang des Idealismus.
der freien nur durch sich selbst bestinimteii Function^ er ist das System der
Freiheit und der That. Diese beiden Erklarungsweisen, yon denen jede in sich
folgerichtig ist, sind so sehr im durchgängigen Widerspruch zu einander und so
unvereinbar, dass Fichte den Versuch des Synkretismus, die Erfahrung durch
eine Abhängigkeit sowohl von den Dingen-an-sich als auch von der Vernunft
begreiflich zu machen, von vornherein für verfehlt halt. Zwischen ihnen muss,
wenn man nicht der skeptischen Verzweiflung anheimfallen will, gewählt werden.
Diese Wahl wird nun, da beide sich logisch als gleich folgerichtige Systeme
darstellen, zunächst davon abhängen, ^was f&r ein Mensch man ist^^); aber
wenn so schon das sittliche Interesse für den Idealismus spricht, so kommt ihm
noch eine theoretische Ueberlegung zu Hilfe. Die Thatsache der Erfahrung
besteht in dem stetigen Aufeinanderbezogensein des „Seins^ und des n^e-
wusstseins^, darin dass die ^^reelle Reihe^ der Gegenstände in der
„idealen^ Reihe der Vorstellungen angeschaut wird*). Diese Doppelheit
kann der Dogmatismus nicht erklären: denn die Causalität der Dinge ist nur
eine einfache Reihe (des „blossen G^etztseins^). Die Wiederholung des Seins
im Bewusstsein ist unbegreiflich, wenn das Sein als Erklämngsgrund Skr das
Bewusstsein gelten soll. Dagegen gehört es gerade zum Wesen der Intelli-
genz „sich selbst zuzusehen^. Indem das Bewusstsein handelt, weiss es
auch, dass und was es thut: es erzeugt mit der reellen (primären) Reihe seiner
Functionen immer zugleich die ideale (secundäre) Reihe des Wissens von diesen
Functionen. Wenn, aber deshalb das Bewusstsein den einzigen Erklärungsgrund
fiii* die Erfahrung abgiebt, so leistet es dies nur insofern, als es die sich selbst
anschauende, in sich selbst reflectirte Thätigkeit ist, d. h. als Selbstbewusst-
sein. Die Wissenschaftslehre hat zu zeigen, dass alles auf etwas Anderes, auf
ein Sein, auf Gegenstände, auf Dinge gerichtete Bewusstsein (der Erfahrung) in
der ursprünglichen Beziehung des Bewusstseins auf sich selbst wurzelt.
Das Princip des Idealismus ist das Selbstbewusstsein; in subjectiver, metho-
discher Hinsicht insofern, als die Wissenschaftslehre alle ihre Einsichten nur aus
der intellectuellen Anschauung entwickeln will, womit das Bewusstsein
seine eigenen Thätigkeiten begleitet, aus der Reflexion auf das, was das Be-
wusstsein von seinem eigenen Thun weiss, — in objectiver, systematischer Hin-
sicht insofern, als auf solchem Wege diejenigen Functionen der Intelligenz auf-
gewiesen werden sollen, wodurch das erzeugt wird, was im gemeinen Leben Ding
und Gegenstand und in der dogmatischen Philosophie Ding -an -sich genannt
wird. Der letztere, in sich durchaus widerspruchsvolle Begriff ist damit bis auf
den letzten Rest aufgelöst, alles Sein ist nur begreiflich als Product der Vernunft,
und der Gegenstand der philosophischen Erkenntniss ist das System der Ver-
nunft (vgl. § 42).
Für Fichte und seine Nachfolger wurde so der Begriff des Dinges-an-
sich gleichgiltig, und der alte Gegensatz zwischen Sein und Bewusstsein sank zu
der secundären Bedeutung einer immanenten Beziehung innerhalb der Ver-
1) Ibid. I, 484. — 2) Wenn der Gegensatz von Dogmatismus und Idealifmus auf den
kantischen von Natur und Freiheit zurückweist, wobei übrigens auch schon das System der
Nothwendigkeit der Dinge stark spinozistisoh gezeichnet erscheint, so macht sich in diesem
Verhältniss der beiden Reihen zuerst die systematische Einwirkung von Spinoza's Lehre fiber
die beiden Attribute geltend.
§ 41. Ding-an-sich. (Krug, Schleieimaoher.) 457
nunftthätigkeit^ herab. Ein Object giebt es nur für ein Subject: und der
gemeinsame Gmnd für beide ist die Yemunft, das sich selbst und sein Thun
anschauende Ich^).
6. Während die Hauptentwicklung der deutschen Metaphysik diesem Fichte'-
sehen Zuge folgte, blieb doch auch jener „Synkretismus" nicht ohne Vertreter,
welchen die Wissenschaftdehre a limine von sich gewiesen hatte. Seinen meta-
physischen Typus hatte ja Beinhold ausgeprägt; ebenso nahe aber lag er allen,
die psychologistisch ron dem individuellen Bewusstsein ausgingen und dieses in
gleicher Abhängigkeit von dem Realen wie von dem allgemeinen Wesen des
Intellects zu finden glaubten. Als ein Beispiel dieser Auffassung kann der
„transscendentale Synthetismus" aufgefasst werden, den Krug lehrte.
Ihm ist die Philosophie eine Selbstverständigung vermöge der Reflexion des Ich
auf die „Thatsachen des Bewu^stseins". Dabei aber zeigt sich als ürthatsache
die transscendentale Synthesis, dass Reales und Ideales als gleich ursprünglich
im Bewusstsein gesetzt und auf einander bezogen sind'). Wir kennen das Sein
nur, insofern es im Bewusstsein erscheint, und das Bewusstsein nur, insofern es
auf das Sein sich bezieht: aber beide sind Gegenstände eines unmittelbaren
Wissens ebenso wie die zwischen ihnen in unserer Yorstellungswelt bestehende
Gemeinschaft.
Eine feinere Wendung haben diese Gedanken in Schleiermacher' s
Dialektik gefunden. Alles Wissen ist darauf gerichtet, die Identität von
Sein und Denken herzustellen: denn beide treten im menschlichen Bewusstsein
getrennt auf, als dessen realer und idealer Factor, Anschauung und Begriff,
organische und intellectuelle Function. Nur ihre völlige Ausgleichung gäbe
Erkenntniss, aber sie bleiben immer in Differenz. In Folge dessen ist die Wissen-
schaft ihren Gegenständen nach in Physik und Ethik, ihren Methoden nach in
empirische und theoretische Disciplinen getheilt: Naturgeschichte und Natur-
wissenschaft, Weltgeschichte und Sittenlehre. In allen diesen besonderen Dis-
cipUnen überwiegt^), materiell oder formell, der eine oder der andere von
beiden Factoren, obwohl darin die Gegensätze auf einander zustreben : die em-
pirischen Wissenszweige auf rationale Gliederung, die theoretischen auf Yer-
standniss der Thatsachen, die Physik auf die Genesis des Organismus und des
Bewusstseins aus der Eörperwelt, die Ethik auf die Beherrschung und Durch-
dringung des Sinnlichen durch den zweckvoU thätigen Willen. Aber nirgends
im wirklichen Erkennen ist die Ausgleichung des Realen und des Idealen voll-
kommen erreicht: sie bildet vielmehr den absoluten, unbedingten, im Unend-
Uchen liegenden Zielpunkt des Denk^s, welches Wissen werden will, aber
niemals vöUig wird^). Daher ist die Philosophie Lehre vom ewig werdenden
Wissen, — Dialektik.
Aber sie setzt eben deshalb die Realität dieses im menschlichen Wissen
nianals zu erreichenden Zieles voraus: die Identität von Denken und Sein.
Diese nennt Schleiermacher mit Spinoza (und Schelling) Gott. Sie kann kein
Gegenstand der theoretischen und ebensowenig dner der praktischen Vernunft
1) Vgl. auch ScBXLLniG'& Jugendschrift „vom Ich als Frinoip der Philosophie'', W. I,
151 ff. — 2) KBüa, Fandamentalphilosophie S. 106 ff. — 9) Dies Yerhältniss erscheint in der
Schleiermacher'schen Dialektik der jcnetaphysischen Form von Schelling^s Identitätssystem
nachgebüdet: vgl. § 42, 8. — 4) Dialektik (W. lU, 4 b, 68 f.).
458 ^I* Deutsche Philosophie. 2. EntwickluDg des Idealismus.
sein. Wir wissen Gott nicht, und wir können darum auch nicht mit Bücksicht
auf ihn unser sittliches Leben einrichten. ReUgion ist mehr als Wissen und.
Rechthandehi ; ist die Lebensgemeinschaft mit der höchsten Wirklichkeit, in
der Sein und Bewusstsein identisch sind. Diese Gemeinschaft aber tritt des-
halb nur im Gefühl auf, in dem „frommen" Gefiihl einer absoluten „schlecht-
hinnigen" Abhängigkeit von jenem unendlichen, unausdenkbaren Weltgnmde
(vgl. § 42, 6). Spinoza's Gott und Kant's Ding- an -sich fallen, im Unend-
lichen zusammen, werden aber damit über alles menschliche Wissen und
Wollen hinausgehoben und zu Gegenständen eines mystischen Gefühls
gemacht, dessen feine Schwingungen bei Schleiermacher (wie in etwas anderer
Form auch bei Fries) an die Herrnhutische Verinnerlichung des religiösen
Lebens anklingen.
Durch den Pietismus hindurch, dessen nach Spener und Francke inuner
stärker hervortretende orthodoxe Yergröberung den Gegensatz der Brüder-
gemeine hervorrief, ziehen sich so die Traditionen der Mystik bis auf die Höhen
der idealistischen Entwicklung, und in dem Geiste, der alles Aeusserliche in
Innerliches umsetzen will, berührten sich in der That die Lehre Eckhart's und
die Transscendentalphilosophie: sie haben beide einen echt germanischen Erd-
geschmack; sie suchen die Welt im „Gemüthe".
7. Mit der Ablehnung einer wissenschaftlichen Erkennbarkeit des Welt-
grundes blieb Schleiermacher näher bei Kant; aber die religiöse GefiUüs-
anschauung, welche er an deren Stelle setzte, war dafür desto mehr von Spinoza
und von den Einwirkungen abhängig, welche dieser seit Fichte's Wissenschafts-
lehre auf die idealistische Metaphysik ausgeübt hatte. Diesen Monismus der
Vernunft (vgl. die Entwicklung im § 42) bekämpfte Herbart durch eine ganz
andersartige Umbildung des kantischen Ding-an-sich-Begriffes. Er wollte der
Auflösung desselben entgegentreten und sah sich dadurch zu der Paradoxie einer
Metaphysik der Dinge-an-sich gedrängt, welche doch deren ünerkennbarkeit
festhalten sollte. Die Widersprüche der transscendentalen Analytik erscheinen
hier in grotesker Yergrösserung.
Das ist um so merkwürdiger, als die rückläufige Tendenz, welche man der
Herbart'schen Lehre wohl im Gegensatze zu den idealistischen Neuerungen
nachgesagt hat, sich eben in der Bekämpfung von Kant's transscendentaler Logik
(vgl. § 38, 5) entwickelt hat. Herbart sah mit Recht in dieser die Wurzeln des
IdeaUsmus: sie lehrte ja die Formen, mit denen der „Verstand^ die Welt der
Gegenstände erzeugt, undinFichte's »Ich^ war nur ausgewachsen, was in Kant's
„Bewusstsein überhaupt" oder „transscendentaler Apperception" keimte. Her-
bart's Neigung zur früheren Philosophie besteht nun gerade darin , dass er die
schöpferische Spontaneität des Bewusstseins leugnet und dasselbe wie die Associa-
tionspsychologen nach Form und Inhalt von aussen bestimmt und abhängig findet.
Er bestreitet auch das virtuelle Angeborensein, das sich ja von Leibniz her durch
die Inauguraldissertation in die Kritik der reinen Vernunft fortgepflanzt hatte :
wie Raum und Zeit, so gelten ihm auch die in den Kategorien ausgedrückten
Beziehungsformen als Producte des Yorstellungsmechanismus. In Betreff der
psychogenetischen Fragen steht er durchweg auf dem Boden der Auf klärungs-
philosophie. Deshalb kennt er auch keine andere Logik als die formale, deren
Princip der Satz des Widerspruchs ist, — nämlich das Verbot ihn zu begehen.
§ 41. Ding-an-sich. (Herbart) 459
Der oberste G-rundsatz alles Denkens ist : was sich widerspricht, kann nicht wahr-
haft wirklich sein^).
Nun zeigt sich aber, dass die Begriffe, in denen wir die Erfahrung denken,
in cdph widerspruchsvoll sind : wir nehmen Di n ge an, die mit sich selbst identisch,
doch einer Mannigfaltigkeit von Merkmalen gleichgesetzt werden sollen ; wir reden
von Veränderungen, in denen das mit sich Gleiche successive Verschiedenes
sei; wir fiLhren alle innere Erfahrung auf ein Ich zurück, welches als das „sich
selbst Vorstellende" in der Bichiung des Subjects wie in der des Objects eine
unendliche Reihe involvirt, — alle äussere Erfahrung auf eine Materie, in deren
Vorstellung die Merkmale des Diskreten und des Continuirlichen sich streiten.
Diese ErfEihrung kann nur Erscheinung sein : aber der Erscheinung muss etwas
widerspruchslos Wirkliches zu Grunde liegen, den scheinbaren Dingen absolute
'„Reale", dem scheinbaren Geschehen ein wirkliches Geschehen. So viel
Schein, so viel Hindeutung auf das Sein. Dies auszumitteln, ist die Aufgabe der
Philosophie: sie ist eine Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe, welche
gegeben und nun nach den Regeln der formalen Logik so lange umzubilden sind,
bis die in sich widerspruchslose Realität erkannt ist.
Das allgemeine Mittel dazu ist die Methode der Beziehungen. Die
Grundform des Widerspruchs ist überall die, dass etwas Einfaches als verschieden
gedacht werden soll (die synthetische Einheit des Mannigfaltigen bei Kant). Diese
Schwierigkeit ist nur zu heben, wenn man eine Mehrheit von einfachen Wesen
annimmt, durch deren Beziehung auf einander an jedem einzelnen der „Schein"
des Mannigfaltigen bzw. Veränderlichen hervorgebracht wird. So ist der Begriff
der Substanz nur aufrechtzuerhalten, wenn man annimmt, dass die mehrfachen
Eigenschaften und die wechselnden Zustände, welche dieselbe vereinigen soll,
nicht sie selbst, sondern nur die Beziehung treffen, worin sie zu anderen Substanzen
abwechselnd steht. DieDinge-an-sich müssen viele sein : aus einem einzigen wäre
die Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und Zustände nie begreiflich. Jedes
einzelne aber dieser metaphysischen Dinge muss als durchaus einfach und un-
veränderlich gedacht werden: sie heissen bei Herbart Realen. Alle Eigen-
schaften nun, welche in der Erfahrung die Merkmale der Dinge bilden, sind relativ
und lassen dieselben nur im Verhältniss zu anderen Dingen erscheinen : die ab-
soluten Qualitäten also jener Realen sind unerkennbar.
8. Allein sie müssen als der bestimmende Seinsgrund der erscheinenden
Qualitäten gedacht werden, und ebenso muss als Grund der scheinbaren Ver-
änderungen, welche der Wechsel der Qualitäten an den empirischen Dingen zeigt,
ein wirkliches Geschehen, ein Beziehungswechsel, zwischen den Realen
angenommen werden. Hier geräth nun aber diese ganze künstliche Construction
des Unerfahrbaren ins Schwanken. Denn die eleatische Starrheit dieser Realen
erlaubt auf keine Weise, eine Vorstellung von der Art der „wirklichen Beziehungen"
1) VgL Einleitung in die Philos. W. I, 72—82. Den historischen Anlass zu dieser
scharfen Hervoricehrnng des Satzes vom Widerspruch bot für Herbart allerdinffs die Herab-
setzung, welche derselbe in der dialektischen Methode (vgl. %42,1) fand; sachlich aber ist
Herbart's Lehre (mit Ausnahme der Behandlung des Ich-BegrifTs) davon durchaus unabhängig.
Mit dem Postulat des widerspruchslosen Seins ist das eleatische Moment der Her-
bart^schen Philosophie (vgl. I, 236) g^ben, und diesem Umstände verdankte der sonst wenig
historisch veranlagte Philosoph seine Feinfühligkeit für das metaphysische Motiv der platoni-
schen Ideenlehre, vgl. I, 237 ff. und XU, 61 ff.
460 VI. Deutsche Philosophie. 2. EntwiokluDg des Idealismus.
zu Ulden, welche doch zwischen ihnen stattfinden sollen. BÄumlich zunächst können
. dieselben nicht sein ^). Raum und Zeit sind Producte der B^ihenbüdung der
Vorstellungen, des seelischen Mechanismus imd daher für Herbart in fast noch
stärkerem Grade phänomenal als für Kant. Nur in übertragenem Sinne können
die wechselnden Beziehungen der Substanzen als ein „Eonunen und Gehen im
intelligiblen Baimie^ bezeichnet werden : was sie aber selbst sind, dafUr fehlt der
Herbart'schen Lehre jeder Ausdruck. Nur in negativer Bichtung muss de eine
bedenkliche Concession machen. Jedes Reale ist nur in sich einfach und wandele
los bestimmt : die Beziehung also, welche zwischen zwei Realen besteht oder zu
Stande kommt, ist keinem von beiden wesentlich und in keinem von beiden be-
gründet. Ein drittes aber, das diese Beziehung setzte, ist in dieser Metaphysik
nicht aufzufinden '). Daher werden die Beziehungen, in denen die Realen sich
befinden und aus denen die Erscheinungen der Dinge und ihrer Verhältnisse
folgen sollen, „zufällige Ansichten'^ der Realen genannt: und Herbarts Mei-
nung ist an manchen Stellen kaum anders zu verstehen, als dass das Bewusst-
sein der intelligible Raum sei, in welchem jene Beziehungen stattfinden, dass
auch das wirkliche Geschehen etwas sei, was selbst als „objectiver Schein*^ nur
,,dem Zuschauer passirt^ *). Nimmt man hinzu, dass auch das „Sein^ der Realen
oder absoluten Qualitäten von Herbart als „absolute Position^, d. h. als
eine „Setzung^ definirt wird^), bei der es sein Bewenden haben und die nicht
zurückgenommen werden soll, so eröffnetsich die Perspektive auf einen „absoluten^
Idealismus.
Diesen hat nun freilich Herbart noch weniger ausgeführt als Kant : es hätte
auch hier zum absoluten Widerspruch geführt. Denn die Theorie der Realen
müht sich ja gerade ab, auch das Bewusstsein als eine in der Erscheinung auf-
tretende Folge des „Zusammenseins der Realen^ zu deduciren. Die letzteren
nämlich sollen sich dabei gegenseitig „stören^ und als Reactionen gegen diese
Störungen die eine in der anderen innerliche Zustände hervorrufen, welche
die Bedeutung von „ Selbsterhalt ungeu ^ haben ^). Solche Selbsterhaltungen
sind uns unmittelbar bekannt als diejenigen, mit welchen das unbekannte Reale
unserer Seele gegen die Störung durch andere Reale sich aufrechterhält: es
sind die Vorstellungen. Die Seele als einfache Substanz ist natürlich unerkenn-
bar: Psychologie ist nur die Lehre von ihren Selbsterhaltungen. Diese, die
•
1) Nicht nur hierdurch unterscheiden sich auf dem gemeinsamen Grunde einer plura-
listischen Umbildung des eleatischen Seinsbegriffs Herbart's Realen Ton Demo-
krit's Atomen, sondern auch durch die Verschiedenheit der (unerkennbaren) Qualität, an
deren Stelle der Atomismus nur quantitative Differenzen zulässt. Ebensowenig sind die Realen
mit Leibniz' Monaden zu verwechseln, mit denen sie allerdings die Fetisterlosigkeit^ aber nicht
die Einheit des Mannigfaltigen theilen. Mit den platonischen Ideen haben sie die Merkmale
des eleatischen Seins, aber nicht den Charakter der Gattungsbegriffe gemein. — 2) In diese
Lücke der Metaphysik hat Her hart seine Religionsphilosophie eingeschoben: denn da
es keine Erkenntniss des realen Grundes der Beziehungen zwischen den Realen giebt, aus
denen die Erscheinungswelt hervorgeht, so erlaubt der Eindruck der Zweokmässü^ei^ welchen
die letztere macht, in theoretisch unanfechtbarer Weise an eine höchste IntdBgenz ab den
Grund dieser Beziehungen zu glauben, — eine sehr blasse Emeuemnff . des alten phyaiko-
theologischen Beweises. — 8) Vgl. W. lY, 9dff., 127—132, 233, 240?., 246ff.; dazu anoh
E. Zellxr, Gesoh. d. deutsch. Philos. 844. ~ 4) Vgl. W. IV, 71 ff. — 5) Das „Saum esse oon-
servare", bei Hobbes und Spinoza der Grundtrieb der Einzelwesen, erscheint bei Herbart ak
die metaphysische Bethätigung der Realen, vermöge deren sie die Welt des Scheins, die
Erfahrung, hervorbringen.
§ 41. Bing-an-sich. (Herbart, Bouterwek.) 461
VoratelkingeD, verhalten sich nun innerhalb der Seele, welche lediglich den in-
differenten Boden für ihr Zusammensein abgiebt, wiederum zu einander wie
Realen : sie stören und hemmen einander, und aus dieser gegenseitigen Spannung
der Vorstellungen ist der ganze Ablauf des seelischen Lebens zu erklären.
Durch die Spannung verlieren die Vorstellungen an Intensität: und am Grrade
der Intensität hängt ihr Bewusstsein. Der niederste Grad von Stärke, bei dem
die Vorstellungen noch ak wirklich gelten können , ist dieBewusstseins-
schwelle. Werden die Vorstellungen durch andere unter diese Schwelle hinab-
gedrückt, so verwandeln sie sich in den Trieb. In den Hemmungs Verhältnissen
der Vorstellung ist daher das Wesen derjenigen seehschen Zustände zu suchen,
welche Gefühl und Wille heissen. Alle diese Verhältnisse aber müssen als „Statik
undMechanik der Vorstellungen" entwickelt werden ^), und da es sich dabei wesent-
lich um die Bestimmung von Kraftdifferenzen handelt, so muss diese metaphysische
Psychologie sich zu einer mathematischen Theorie des Vorstellun^s-
mechanismus gestalten^). Insbesondere legte Herbart dabei Gewicht auf die
Untersuchung des Vorganges, durch welchen neu eintretende Vorstellungen von
den schon vorhandenen „assimilirt^, eingeordnet, geformt und zum Theil verändert
werden: er verwendet dafür den (zuerst von Leibniz, vgl. S. 366, geprägten) Aus-
druck Apperception, und seine Theorie derselben lief auf eine associations-
psychologische Erklärung des 7,Ich" hinaus, welches als der wandernde Punkt
gedacht wurde, an dem jeweils die appercipirenden und die appercipirten Vor-
stellungen zusammenlaufen.
Während so die Selbsterhaltung des Seelen-Bealen gegen die Störung
durch die übrigen die Erscheinung des Vorstellungslebens hervorbringt, so ergiebt
die gegenseitige Selbsterhaltung und „partielle Durchdringung" mehrerer Realen
für das zuschauende Bewusstsein den „objectiven Schein" der Materie. Mit
einer unsäglich mühseligen Construction wird hier") die Mannigfaltigkeit physi-
calischer und chemischer Phänomene aus den metaphysischen Voraussetzungen
herausgequält, — ein heute vergessener Versuch, der in der Naturforschung
ebenso wirkungslos gewesen ist wie in der Philosophie.
9. Ein anderer Göttinger Professor, Bouterwek, ging dem Ding-an-sich
1) Auf dieser metaphysischen Basis errichtete Herbart das Gebäude einer immanenten
Associationspsychologie. Die Voraosseti^ang einer mechanischen Nothwendiffkeit des
Vorstellungsproc^sses und die Ansicht, dass daraus auch die Willensthätigkeiten als ebenso
npthwendige Verhältnisse folgen, erwies sich als glückliche Grundlage für eine wissen-
schaftliche Theorie der Pädagogik, welche Disciplin Herbart ausserdem von der Ethik
abhängig machte, indem diese das Ziel der Erziehung (sittliche Charakterbildung und die
Psychologie den Mechanismus von dessen Verwirklichunff lehre. In ähnlicher Weise liat
Beneke, welcher den Standpunkt der Associationspsychologie ohne Herbart's Metaphysik
einnahm, den Weg zu einer systematischen Pädi^^ gefunden. — 2) Bei der Ausführung
dieses Gedankens setzte Herbart voraus, dass VorsteUun^en bei ihrer gegenseitigen Hemmung
so viel an Intensität verlieren, als die schwächste von ihnen daran besitzt, und dass diese
Hemmu Uff s summe sich auf die einzelnen Vorstellungen in umgekehrtem Verhältniss ihrer
nrsprüngHohen Stärke vertheilt, sodass, wenn im einfadisten Falle a > b ist, durch die Hem-
mung a auf — ' , . und b auf — r-r- reducirt wird. Vgl. über diese willkürlich axio-
a-j-b a-f-b
matische Annahme und die Verfehltheit des granzen „psychologischen Galcüls'' A. Lanqe, Die
Grundlegung der mathematischen Psychologie, Duisburg 1^5. — 8) AUgem. Metaphysik
§ 240ff., 331 ft W. IV, 147 ff., 3ä7ff, In der Metaphysik Herbart's wird die Auszweigung der
allgemeinen Ontologie in die Anfönge der Psychologie und der Naturphilosophie mit den
Namen Eidologie und Synechologie bezeichnet.
462 ^I* Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
mit anderen Waffen zu Leibe. Er zeigte in seiner „Apodiktik^; dass, wenn mit
den Lehren der Kritik der reinen Vernunft Ernst gemacht werden solle, als das
^Objecty worauf sich das Subject nothwendig bezieht^; lediglich ein röllig unvor-
stellbares X übrig bleibt. Man kann nicht vom Dmg-an-sich oder von Dingen-an-
sich reden-, denn darin stecken die Kategorien der Lihärenz, der Einheit und
Vielheit ^), der Realität^ welche ja nur für Erscheinungen gelten. Die Trans-
scendentalphilosophie muss ^^negativer Spinozismus^ werden^). Sie kann nur
lehren, dass dem „Bewusstsein überhaupt^ ein „Etwas überhaupt^ entspricht^
irarliber im absohiten Wissen gar nichts anssusageo isl. (Y gL in B^soff Spinoza's
oben S. 322f.) Dagegen macht sich dies absolut Beale in allem relatirea
Wissen durch das Bewusstsein des Wollens geltend^), i^ies zeigt
nämlich überall die lebendige Kraft der Individualität. Wir wissen
vom Subject, weil es etwas will, und vom Object, weil es diesem Willen Wider-
stand leistet. Der Gegensatz von KraftundWiderstand begründet gemein-
sam das Wissen von der Realität unser selbst und anderer Dinge, — des Ich
und des Nicht-Ich^). Diese Lehre will Bouterwek absoluten Virtualismus
genannt wissen. Wir erkennen unsere eigene Realität daran, dass wir wollen,
und die Realität anderer Dinge daran, dass unser Wille an ihnen eine entgegen-
strebende Kraft findet. Das Gefühl des Widerstandes widerlegt den reinen Sub-
jectivismus oder Solipsismus, aber dies relative Wissen von den besonderen
Kräften des Wirldichen ergänzt sich mit dem Bewusstsein unseres eigenen
Wollens nur zur empirischen Wissenschaft ^).
Diesen Gedanken seines Göttinger Lehrers hat Schopenhauer unter der
Einwirkung Fichte's zu einer Metaphysik ausgebildet. Mit einem kühnen Sprunge
schwingt er sich von jenem Virtualismus zur Erkenntniss des Wesens aller Dinge
auf. Als die wahre Realität erkennen wir in uns den Willen, und der Wider-
stand, aus dem wir die Realität anderer Dinge erkennen, muss deshalb ebenfalls
Wille sein. So verlangt es das „metaphysische Bedürfnisse nach einer
einheitlichen Erklärung der gesammten Erfahrung. Die Welt „als Vorstellung^
kann nur Erscheinung sein: ein Object ist nur im Subject mogUch und durch
dessen Formen bestimmt. Daher erscheint die Welt in der menschlichen Vor-
stellung (als „Gehimphänomen", wie Schopenhauer mit bedenklich widerspruchs-
voller Laxheit des Ausdrucks auch manchmal gesagt hat) als eine in Raum und
Zeit angeordnete Mannig<igkeit, deren Verbindung lediglich nach danr Satze
der Causalität gedacht werden kann, — der einzigen unter den kantischen
Kategorien, welcher Schopenhauer eine den reinen Anschauungen ebenbürtige
Ursprünglichkeit zuerkennen kann. An diese Formen gebunden, kann die begriff-
liche Erkenntniss immer nur die Nothwendigkeit, welche zwischen den einzelnen
Erscheinungen obwaltet, zu ihrem Gegenstande haben: denn Causalität ist ein
Verhältniss von Erscheinungen unter einander; die Wissenschaft kennt nichts
Absolutes, Unbedingtes ; der Leitfetden der Causalität, welcher von einem Be-
dingten zum anderen führt, reisst nie ab und darf nicht willkürlich abgerissen
1) y^l. bes. Apodiktik I, 261, dOaff. — 2) Ibid. 385ff. — 8) Nach kantisch-fichte*8ehem
Vorgänge endet bei Bouterwek die theoretische Apodiktik in Skepticismus oder in das völlig
abstracMormale absolute Wissen: erst die npraktische" Apodiktik gewinnt eine inhalUiohe
Beziehung zur Realität. — 4) Apodiktik ü, 62 ff. — 6) Ibid. 11, 67 f.
§ 41. Ding-an-sich. (Schopenhauer.) 463
werden ^). Ueber diese unendliche Reihe der Erscheinungen kann sich also die
begriffliche Arbeit der Wissenschaft in keiner Weise erheben: nur eine intuitive
Deutung des Ganzen derVorstellungswelt; ein genialer Blick über die Erfahrung^
ein unmittelbares Erfassen kann zu dem wahren Wesen dringen, welches in den
Vorstellungen als räumlich^ zeitlich und causal bestnnmte Welt erscheint. Diese
Intuition aber ist diejenige, durch welche das erkennende Subject sich selbst
unmittelbar sis Wille gegeben ist. Dies Wort löst also auch das Räthsel
der Aussenwelt. Denn nach dieser Analogie des einzig unmittelbar Gegebenen
mfissen wir auch die Bedeutung alles mittelbar, in Baum und Zeit als Vorstellung
Gegebenen auffassen'). Das Ding-an-sich ist der Wille.
Freilich muss dabei das Wort in einer erweiterten Bedeutung genonunoi
werden. In uns Menschen und in den animalischen Wesen erscheint dar Wille
als die durch Vorstellungen bestimmte Motivation, in dem instinctiven und
vegetativen Leben des Organismus alsReizemp f üb gliehkeit,in den übrigen
Gebilden der Erfahrungswelt als mechanisches Geschehen. Diejenige
Gesammtbedeutung, welche diesen versdnedenen, innerlichen oder äusserlichen
Arten der Causalität gemeinsam ist, soll a potiori als Wille bezeichnet werden
nach deijenigen Form, in welcher sie allein uns unmittelbar bekannt ist. Demnach
betont der Philosoph MndrückUch, dass von dem Willen als Ding-an-sich die
besonderen Eigentümlichkeiten, mit denen er in der menschUchen Selbstanschau-
ung gegeben ist, die Motivation durch Vorstellungen und Begriffe, durchaus
femzuhatten sei, — ein Verlangen, dem nachzukommen ihm selbst freilich schwer
genug geworden ist.
Dabei darf jedoch das Verhaltniss zwischen Ding-an-sich und Erscheinung
nicht nach der Regel des Verstandes, d. h. nicht causal gedacht werden. Das
Ding-an-sich ist nicht die Ursache der^Erscheinungen. Schon beim
Menschen ist der Wille nicht die Ursache des Leibes oder der Leibesthätigkeiten :
sondern dasselbe Wirkliche, welches uns mittelbar durch Vorstellung in der
räumlichen und zeitlichen Anschauung als Leib gegeben ist und in der Erkennt-
niss als etwas causal Nothwendiges und von anderen Erscheinungen Abhängiges
begriffen wird, dasselbe ist unmittelbar als Wille gegeben. Weil nun das Ding-
an-sich dem Satz vom Grunde nicht unterworfen ist, so kommt das Paradoxon
heraus, dass der Mensch sich als WiUe unmittelbar frei fühlt, und sich doch in
der Vorstellung als nothwendig determinirt weiss. So übernimmt Schopenhauer
Kant's Lehre vom inteUigiblen und empirischen Charakter. In derselben Weise
aber muss überall die Erscheinungswelt als Objectivation, d. h. als die an-
schauliche und begriffliche Vorstellungsweise des Willens oder des unmittelbar
Wirklichen, und darf nicht als dessen Erzeugniss betrachtet werden. Das
Verhaltniss von Wesen und Erscheinung ist nicht dasjenige von Ursache und
Wirkung.
Femer kann der Wille als Ding-an-sich nur der Eine, allgemeine Welt-
wille sein. Alle Vielhdt und MannigfEdtigkeit gehört der Anschauung in Raum
und Zeit an; diese sind das principium individuationis. Daher sind die Dinge nur
als Erscheinungen, in der Vorstellung und Erkenntniss, von einander verschieden
1) Hierin iat Schopenhaaer völlig mit Jacobi (vgl. oben S. 451) einvorstanden. —
2) Vgl. Welt als W. u. Vorst 11, § 18^23.
464 VI. Deutsche Philosophie. 2. Entwioklung des Idealismus.
und getrennt: ihrem wahren Wesen nach sind sie alle dasselbe. Der Wille ist
das §v xal ffäv. Hier liegt für Schopenhauer die metaphysische Wurzel der Moral.
Es ist die Täuschung der Erscheinung, welche das Individuum eigenes Wohl und
Wehe von demjenigen anderer Individuen unterscheiden und beide in Gegensatz
zu einander gerathen lässt : im moralischen Grundgefühl, welches das fremde Leiden
als eigenes empfindet, im Mitleid kommt die transscendentale Willenseinheit aller
Wirklichkeit zum Vorschein. •
Der Wille kann endlich auf keinen besonderen, empirisch vorstellbaren
Inhalt als auf seinen Gegenstand gerichtet sein ; denn jeder solche Inhalt gebort
bereits zu seiner „Objectität^. Der Weltwille bat nur sich selbst zum Gegen-
stande ; er will nur wollen. Er will nur wirklich sein ; denn alle Wirklichkeit ist
selbst wieder nur wollen. In diesem Sinne nennt ihn Schopenhauer den Willen
zum Leben. Er ist das sich zeitlos ewig selbst gebärende Ding^an-sich, und
als solcher wird er vorgestellt in dem rastlosen Wechsel der Erschdnungen.
§ 42. Das System der Vernunft.
Der Hauptlinie der idealistischen Entwicklung war ihre Richtung durch das
Princip vorgezeichnet, woraus Fichte den Muth schöpfte, den Begriff des D|nges-
an-sich über Bord zu werfen. Die Beziehung von Sein und Bewusstsein lämt sich
nur aus dem Bewusstsein erklären, und zwar dadurch, dass dieses „seinem eigenen
Thun zusieht" und damit zugleich die reelle und die ideelle Beihe der Erfahrung,
die Gegenstände und das Wissen von ihnen erzeugt. Die Aufgabe der Wissen-
schaftslehre ist also, die Welt als einen nothwendigen Zusammenhang von Ver-
nunftthätigkeiten zu begreifen, und die Lösung kann nur so von Statten gehen,
dass die Reflexion der philosophirendeu Vernunft sich auf ihr eigenes Thun und
das, was dazu erforderlich ist, besinnt. Die Nothwendigkeit also, wdche in
diesem System der Vernunft waltet, ist nicht ca'usal, sondern teleo-
logisch. Das dogmatische System versteht die Intelligenz als ein Produet der
Dinge, das idealistische entwickelt die Intelligenz als einen in sich zweckvollen
Zusammenhang von Handlungen, unter denen einige dazu dienen, Gegenstände
hervorzubringen. Der Fortschritt des philosophischen Denkens soll nicht derart
sein, dass, weil etwas ist, darum auch ein Anderes sei, sondern sich nach dem
Leitfaden gestalten, dass, damit etwas geschehe, auch ein Anderes ge-
schehenmüsse. Jede Handlung der Vernunft hat eine Aufgabe ; diese zu lösen,
bedarf sie anderer Handlungen und damit anderer Aufgaben: der einheitliche
Zweckzusammenhang aller Thätigkeiten ftir die Erfüllung der Aufgaben ist das
System der Vernunft, die „Geschichte des Bewusstseins^. Der Grund alles Seins
liegt im Sollen, d. h. in der Zweckthätigkeit des Selbstbewusstseins«
1. Das Schema für die Ausführung dieses Gedankens ist die dialektische
Metho de. Soll die Welt als Vernunft begriffen werden, so muss deren System
aus einer ursprünglichen Aufgabe herausentwickelt werden : alle einzelnen Hand-
lungen der Intelligenz mitasen als Mittel zu ihrer Lösung deducirt werden. Diese
Thathandlung ist das Selb stbewussts ein. Ein voraussetzungsloser Anfang
wie ihn die Philosophie braucht, ist nicht durch eine Behauptung oder einen Satz
zu finden, sondern durch eine Forderung, welche Jedermann zu erfiUlen im
Stande sein muss: „ Denke dich selbst! ^ Und das ganze Geschäft der Philo-
sophie besteht nun darin, sich klar zu machen, was dabei geschieht und was dazu
^
§42. System der Vernutifb. (Dialektik.) 465
erforderlich ist. Dies Princip kann aber nur so lange weiterführen, als sich zeigt,
dass zwischen dem was geschehen soll; und dem was dazu geschieht, noch ein
Widerspruch besteht, woraus sich die neue Aufgabe ergiebt, u. s. f. Die dialektische
Methode ist ein System, worin jede Aufgabe eine neue erzeugt. Dem, was die
Vernunft leisten wül, steht in ihr selbst ein Widerstand gegenüber, und um diesen
zu überwinden, entfaltet sie eine neue Function. Diese drei Momente werden
als Thesis, Antithesis und Synthesis bezeichnet.
Wenn Kant zur Erklärung und Kritik der Metaphysik die Nothwendigkeit
unlösbarer Yemunftaufgaben behauptet hatte, so macht nun die idealistische
Metaphysik diesen Gredanken zu einem positiven Princip. Dadurch wird ihr die
Yernunftwelt zu einer Unendlichkeit des Selbsterzeugens, und dadurch wird der
Widerspruch zwischen der Aufgabe und dem Thun ßir das reale Wesen der
Vernunft selbst erklärt. Dieser Widerspruch ist nothwendig und unauf hebbar!
Er gehört zum Wesen der Vernunft, und da nur die Vernunft real ist, so ist damit
der Widerspruch für real erklärt. So gerieth die dialektische Methode, diese
metaphysische Umbildung von Kant's transscendentaler Logik, in einen immer
stärkeren Gegensatz zu der formalen Logik. Die Regeln des Verstandes, welche
ifi dem Satz des Widerspruchs ihr allgemeines Princip haben , reichen für die
gewöhnliche Verarbeitung der Wahrnehmungen zu Begriffen, Urtheilen und
Schlüssen wohl aus : für die intellectuelle Anschauung der philosophirenden Ver-
nunft genügen sie nicht, vor den Aufgaben der „speculativen Construction^ sinken
sie zu relativer Bedeutung herab.
Dies macht sich schon in der ersten Darstellung geltend, welche Eichte
der Wissenschaftslehre gab '); es wurde dann von Schülern und Genossen wie
Fr. Schlegel immer kecker ausgesprochen , und schliesslich that die speculative
Vernunft gar vornehm gegen die im Satze des Widerspruchs befangene „Reflexions-
philosophie des Verstandes^. Schelling ^ berief sich auf die coincidentia opposi-
torum von Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno, und Hegel ^) sieht in dem
Triumph des „bomirten Verstandes^ über die Vernunft den Erbfehler aller
früheren Philosophie^). Die Metaphysik, von der Kant gezeigt hat, dass sie ßlr
den Verstand nicht möglich ist, sucht ein eigenes Organ in der intellectuellen
Anschauung und eine eigene Form in der dialektischen Methode. Die pro-
dttctive Synthesis des Mannigfaltigen muss ihre Einheit über den Gegensätzen
bewahren, in die sie sich selbst auseinanderlegt. Es ist das Wesen des Geistes,
sich in sich selbst zu entzweien und aus dieser Zerrissenheit zu seiner ursprüng-
lichen Einheit zurückzukehren.
Diese T r i pl icität beruht ganz auf jener (Fichte'schen) Grundbestimmung
des Geistes als des sich selbst Zusehenden. Die Vernunft ist nicht nur „an sich^
als einfache ideelle Realität, sondern auch „für sich^ : sie erscheint sich selbst als
etwas Anderes, Fremdes; sie wird sich zu einem vom Subject verschiedenen Ob-
ject, und dies Anderssein ist das Princip der Negation. Die Aufhebung dieser
Verschiedenheit, die Negation der Negation, ist die Synthesis jener beiden Mo-
1) Grundlage der ges. W.-L. § 1. W. I, 92 ff. — 2) 6. Vorl. über Meth. d. ak. St. W. V.
267 ff. — a) Vgl. bes. seine Abhandlung über „Glauben und Wissen« W. I, 21 ff. — 4) Man
versteht hieraus am besten Herbart's Polemik gegen den absoluten Idealismus. Auch Jener
findet Widersprüche in den Grundbegriffen der Erfahrung: aber eben deshalb sollen diese so
lange bearbeitet werden, bis die widerspruchslose Realität erkannt ist, vgl. oben § 41, 7.
Windelband, Geschichte der Philosophie. 80
466 ^I- Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
mente: diese sind in ihr „aufgehoben '^ in der dreifachen Hinsicht, dass ihre- ein-
seitige Geltungüberwundcn, ihre relative Bedeutungbewahrt und ihr ursprünglicher
Sinn in eine höhereWahrheit verwandelt wird. Nach diesem Schemades „An-sich^,
yf Für-sich^ und ,, An-und-fUr-sich ^ hat H e g e 1 die dialektische Methode mit grosser
Virtuosität ausgebildet; indem er jeden Begriff „in sein Gregentheil umschlagen^ und
aus dem Widerspruch beider den höheren Begriff hervorgehen liess, welcher dann
dasselbe Schicksal erlebte , eine Antithesis zu finden , die eine noch höhere Sjn-
thesis verlangte; u. s. f. Der Meister selbst hat in die Anwendung dieser Methode,
besonders in der Phänomenologie und in der Logik; eine staunenswerthe Fülle
des WissenS; eine ganz einzige Feinfühligkeit für begriffliche Zusammenhänge
und eine siegreiche Kraft des combinativen Denkens hineingearbeitet; wobei auch
schon der Tiefsinn gelegentlich in Dunkelheit und schematische Wortbildung
überging : bei den Jüngeren hat sich daraus ein philosophischer Jargon gebildet;
der alles Denken in jene Triplicität presste und durch die gedankenlose Aeusser-
lichkeit seines eine Zeit lang sehr ausgedehnten Gebrauchs die Philosophie als
leeren Wortschwall zu discreditiren nur allzu geeignet war ^).
2. In völligem Einklang mit dieser Methode steht nun auch inhaltlich das
System der Vernunft bei Fichte in dem ersten Zeitraum seiner philosophischen
Wirksamkeit (etwa bis 1800). Die ursprüngliche, durch nichts als sich selbst be-
stimmte ;,Thathandlung^ des Selbstbewusstseins ist; dass das j^lch ^ nur ^gesetzt''
werden kann, indem es von einem „Nicht-Ich^ unterschieden wird. Da jedoch
dabei auch das Nicht-Ich nur im Ich — d. h. historisch ausgedrückt; auch der
Gegenstand nur im Bewusstsein — gesetzt ist; so müssen innerhalb des Ich sich
dJas Ich unddas Nicht-Ich (d.h. Subjectund Object) gegenseitig bestimmen. Daraus
ergiebt sich die theoretische und die praktische Reihe des SelbstbewusstseinS; je
nachdem ob das Nicht-Ich oder das Ich der bestimmende Theil ist.
Die Functionen der theoretischen Vernunft werden nun von Fichte in
der Weise entwickelt; dass die einzelnen Stufen derselben aus der Reflexion des
Bewusstseins auf sein eigenes vorher bestimmtes Thun sich ergeben, üeber jede
Schranke, die das Ich sich im Nicht*Ich als Gegenstand gesetzt hat; dringt es
vermöge seiner durch nichts Aeusseres begrenzten Thätigkeit hinaus, um jene
Schranke zu seinen Gegenstande zu machen. Als die Formen dieser Selbst-
bestimmung werden die reinen Anschauungen Raum und Zeit; die kategorialen
Regeln des Verstandes und die Principien der Vernunft behandelt : an Stelle der
Gegensätze; welche Kant zwischen diesen einzelnen Schichten aufgerichtet hatte;
setzt Fichte das Princip; dass auf jeder höheren Stufe die Vernunft reiner eriasst;
was sie auf der vorigen ausgeführt hat: das Erkennen ist ein von der sinnlichen
Anschauung her aufsteigender Process der Selbsterkenntniss der Vernunft').
Aber diese ganze Reihe der theoretischen Vernunft setzt eine ursprüngliche
„ Selbstbeschränkung ^ des Ich voraus: ist diese gegeben; so ist die ganze Reihe
nach dem Princip der Selbstanschauung begreiflich. Denn jede Thätigkeit hat
1) Vgl. die humorvolle Schilderung bei G. Rümeun, Reden und Aufsätze, S. 47 — 50, Prei-
burg 1888. — 2) Ohne direct sichtbare Einflüsse von Leibniz kommt dabei dessen Auflassung
von dem Verhaltniss der verschiedenen Erkenntnisskräfte ge^nüber der kantischen Scheidung
derselben wieder zur Geltunff. Nur ist zu beachten, dass diese „Entwicklungsgeschichte der
Yemui^'' bei Leibniz causal, bei Fichte teleoloffisch bestimmt ist. Was Hamann und Herder
(vgl. oben S. 458) als Forderung der Einheit der Intelligenz im Leibniz'schen Sinne verlangten,
das hatten inzwischen Fichte und Schelling in ganz anderem Sinne geleistet.
§43. System der Vernunft. (Fichte.) 467
an der yörhergehendeii ihren Oegenstand und darin ihren Grund: jene erste
Selbstbeschränkung dagegen hat an keiner vorhergehenden; also theoretisch über-
haupt keinen Grund; sie ist eine grundlos freie Thätigkeit , als solche aber
der Grund aller anderen Thätigkeiten. Diese grundlos freie Handlung ist die
Empfindung. Sie fallt deshalb nur ihrem in die Anschauung aufzunehmenden
Inhalte nach in dasBewusstsein, als Handlung ist sie^ wie alles^ was keinen Grund
hat; bewusstlos^). Hierin besteht ihr Gegebensein ; vermöge dessen sie als
fremd und ;,von aussen^ kommend erscheint. An Stelle des Dinges-an-sich tritt
also die bewusstlose Selbstbeschränkung des Ich. Fichte nennt die^e
Thätigkeit die productive Einbildungskraft: es ist die welterzeugende
Thätigkeit der Yemunft.
Für die Empfindung giebt es also keinen Grund; der sie bestimmte: sie
ist da mit absoluter Freiheit und bestimmt ihrerseits alle Erkenntniss dem Inhalte
nach. Darum kann sie nur durch ihren Zweck begriffen werden, — in der prak-
tischen Wissenschaftslehre; welche zu untersuchen hat; wozu das Ich sich selbst
beschrankt. Dies ist nur zu verstehen, wenn man das Ich nicht als ruhendes
Sein, sondern seinem Wesen nach als unendliche Thätigkeit oder als Trieb
betrachtet. Denn da alles Thun auf einen Gegenstand gerichtet ist; an dem es
sich entfaltet, so muss das Ich; welches seinen Gegenstand nicht wie der em-
pirische Wille als gegeben vorfindet; seinerseits, um Trieb und Thun zu bleiben,
sich Gegenstände setzen. Dies geschieht in der Empfindung; welche keinen
Grund; wohl aber nur den Zweck hat; für den Trieb des Ich eine Grenze zu
schaffen; über die es hinausgeht; um sich selbst Gegenstand zu werden. Die
empirische Wirklichkeit mit allen ihren Dingen und mit der ,, Realität^; welche
sie für das theoretische Bewusstsein hat, ist nur das Material für die Thätig-
keit der praktischen Vernunft.
Das innerste Wesen des Ich also ist das nur auf sich selbst gerichtete; nur
durch sich selbst bestimmte ThuU; die Autonomie der sittlichen Vernunft.
Das System der Vernunft gipfelt im kategorischen Imperativ. Das Ich ist der
sittliche WillC; und die Welt ist das versinnlichte Material der Pflicht.
Sie ist dazu da, dass wir in ihr thätig sein können. Nicht das Sein ist die Ursache
des ThunS; sondern um des Thuns willen ist das Sein hervorgebracht. AUeS; was
ist; ist nur zu begreifen aus dem, was es soll.
Die für das gemeine Öewusstsein paradoxe Zumuthung der Wissenschafts-
lehre^ läuft somit darauf hinaus, der Kategorie der Substantialität die
fundamentale Bedeutung zu rauben, welche sie in der naiven, sinnlichen Welt-
anschauung hat. Darin denkt man überall ein „Seiendes^ als Trägerund Ursache
1) Die Paradoxie der „bewusstloiren Thätigkeiten des Bewnsstseins" liegt irii Ausdrucke,
nicht in der Sache. Die deutschen Philosophen sind mit ihrer Terminologie häufig sehr unglück-
lich gewesen, am unglücklichsten gerade da, wo sie deutschen Wörtern eine neue Bedeutung
geben wollten. Fichte braucht nicht nur Bewusstsein und Selbstbewussten promiscue, sondern
er versteht auch unter Bewusstsein einerseits die wirkliche Vorstellung des Individuums oder
des empirischen Ich (daher in diesem Sinne „bewusstlos**), andrerseits die Functionen des
„Bewusstseins überhaupt'', der transscendentalen Apperception oder des „allgemeinen Ich**
(in diesem Sinne „Geschichte des Bewusstseins"). In diesen Wortverhältnissen beruht schon
ein gut Theü der Schwierigkeit von Fichte's Darstellung und der Missverständnisse, die sie
hervorgerufen hat — 2) In diesem Sinne protestirte Fr. H. Jacobi gegen dies Stricken nicht
etwa des Strumpfs, sondern des Strickens (W. III, 24 ff.). Vgl. dagegen 0. Fortläöb, Beiträge
zur Psychologie (Leipzig 1875) S. 40 f.
30*
468 VI. Deutsche Philpsophie. 2. Entwicklunf^ des IdealismoB.
der Thätigkeiten : hier soll als das Ursprüngliche das „Thun" begriffen werden
und das Sein nur als das zweckgesetzte Mittel dafür gelten. Dieser Gegensatz
kam ganz scharf in dem für Fichte persönlich so folgenreichen Atheismiisstreit
zu Tage. Die Wissenschaftslehre konnte Gott nicht als „Substanz^ gelten lassen;
er hätte ihr ja dann etwas Abgeleitetes sein müssen : sie konnte den metaphy-
sischen Gottesbegriff nur in dem ^allgemeinen Ich'^, in dem absolut freien^ welt-
- erzeugenden Thun suchen/ und in deutlichem Gegensatz zu der Natura naturans
des Dogmatismus nannte sie Gott die sittliche Weltordnung'), den Ordo
ordinans.
Danach ist die vornehmste philosophische Disciplin für Fichte die Sitten-
lehre. Vor Kant's Metaphysik der Sitten entworfen^ nimmt Fichte's System
derselben den kategorischen Imperativ in der Formel ^Handle nach deinem Ge-
wissen^ zum Ausgangspunkte einer streng durchgeführten Pflichtenlehre; welche
aus dem im empirischen Ich aus einander tretenden Gegensatz des Naturtriebes
und des sittlichen Triebes die allgemeinen und die besonderen Aufgaben des
Menschen entwickelt. Dabei mildert sich der kantische Rigorismus hier dadurch,
dass auch die Sinnlichkeit des Menschen als Vernunftproduct ihre Rechte geltend
machen darf. Der Dualismus bleibt noch bestehen, aber er geht schon seiner
Ueberwindung entgegen; und in dem Gedanken, dass der zweckvolle Zusammen-
hang des Yemunftganzen jedem einzelnen seiner Glieder eine durch seine natür-
liche Erscheinung vorgezeichnete Bestimmung zuweise, wird die ethische Theorie
zu einer viel eingehenderen und das Gegebene tiefer werthenden Durcharbeitung
des ,,Materials der Pflichterfüllung^ geführt. Das zeigt sich an Fichte's Dar-
stellung der Beruftpflichten, an seiner edleren Auffassung von Ehe und Familien-
leben, an dem feineren Eingehen seiner ethischen Untersuchungen in die Mannig-
faltigkeit menschlicher Lebensverhältnisse.
Aehnliches gilt auch von Fichte's Behandlung der Probleme des öffent-
lichen Lebens. Eine jugendliche Energie bemächtigt sich in ihnen der kantischen
Grundgedanken und prägt sie viel eindrucksvoller aus, als es von Kant selbst, der
die systematische Ausführung erst in spätem Alter unternahm, geschehen konnte.
Die gegenseitige Einschränkung der Freiheitssphären ind«m äusseren Zusammen-
leben der Individuen ist auch für Fichte das Princip des Naturredits. Als „ Ur-
rechte ^ galten ihm die Ansprüche des Individuums auf Freiheit seines Leibes
als des Organs der Pflichtbethätigung , seines Eigenthums als der äusseren
Wirkungssphäre dazu, seiner Selbsterhaltung endlich als Persönlichkeit. Wirk-
sam aber werden diese Urrechte erst als Zwangsrechte durch die Herrschaft der
Gesetze im Staat. Die Idee des den Staat begründenden Vertrages zerlegt Fichte'
in den Staatsbürger-, den Eigenthums- und den Schutzvertrag. Interessant dabei
ist, wie er diese Gedanken in seiner Politik auf das Princip zuspitzt, der Staat
habe dafür zu sorgen, dass Jeder von seiner Arbeit leben könne, auf das nach
ihm sog. Recht auf Arbeit^). Arbeit ist Pflicht der sittlichen, ist Existenz-
bedingung der physischen Persönlichkeit: sie muss unbedingt vom Staate ge-
währleistet werden. Daher darf die Regelung der Arbeitsverhältnisse nicht dem
natürlichen Getriebe von Angebot und Nachfrage (nach Adam Smith) und der
1) FicHTB, W. V, 189ff., 210ff..— 2) Natiirrecht, § 18. W. III, 210ff. Geschl. Handelast
I, 1. W. ni, 400ff.
§ 42. System der Vernunft. (Fichte, SchelliDg^) 469
Ertrag der Arbeit nicht dem Mechanismus des gesellschaftlichen Interessen-
kampfes Überlassen werden, sondern es muss hier das Vemunftgesetz des Staates
eintreten. Von diesem Gedanken aus entwarf Fichte mit sorgfaltiger Abwägung
der empirisch gegebenen Zustände *) sein Ideal des socialistischen Staates
als des ^geschlossenen Handelsstaates^, der alle Production und Fabrikation
und allen Handel mit dem Auslande selbst in die Hand nimmt, um dem einzelnen
Bürger seine Arbeit, aber auch den vollen Ertrag seiner Arbeit zuzuweisen. Der
gewaltthätige Idealismus des Philosophen schreckte nicht vor einem tief ein-
schneidenden Zwangssystem zurück, wenn er hoffen konnte, damit jedem Einzelnen
einen Umkreis freier Pflichterfüllung zu sichern.
3* Die Aufgabe, das Universum als Syistem der Vernunft zu begreifen, war
in der Wissenschaftslehre der Hauptsache nach so gelöst, dass die sinnliche
Aussenwelt als ein im empirischen Ich erscheinendes Product des „Bewusstseins
überhaupt^ dedudrt wurde : in diesem Sinne ist Fichte's Lehre später wie Kant's
als „subjectiver Idealismus^ charakterisirt worden. Dabei war jedoch Fichte's
Meinung durchaus die, dass der „Natur ^, die er als ein organisches Ganze gesetzt
wissen wollte^), den Vorstellungen der Individuen gegenüber die volle Bedeu-
tung eines objectiven Vemunftproductes zukommen sollte: dies darzusteUen,
fehlte es ihm an der eindringenden Kenntniss der Sache, welche er für die
Lebensverhältnisse der menschUchen Vernunft besass. So war es eine auch
Fichte willkommene Ergänzung, alsSchelling jenen anderen Theil der Aufgabe
zu lösen übernahm und mit dem Gedanken Ernst machte, die Natur als das
objective System der Vernunft zu construiren. Das war nach der Wissefi-
schaftslehre und Kantus Naturphilosophie nur dann möglich, wenn es gelang, die
Natur als ein zusammenhängendes Ganze von Kraftwirkungen zu begreifen,
welche ihre letzte Zweckbestimmung in einer Leistung für die Bealisirung des
Vendunftgebotes hätten. Den Ausgangspunkt dieser Construction musste Kant's
dynamische Theorie bilden, welche das Sein der Materie aus dem Verhält-
niss der Attractions- und der Repulsionskraft ableitete (vgl. § 38, 7), und ihren
Zielpunkt gab diejenige Naturerscheinung ab, in welcher sich die praktische
Vernunft allein bethätigt: der menschliche Organismus. Zwischen beiden
musste die ganze Fülle der Gestalten und Functionen der Natur al^ ein ein-
heitliches Leben ausgebreitet werden, dessen vernünftiger Sinn in dem organi-
schen Herauswachsen des Endziels aus den materiellen Anfangen zu suchen war.
Die Natur ist das werdende Ich — das ist das Thema der Schelling'schen
Naturphilosophie* Diese in den philosophischen Prämissen begründete Auf-
gabe erschien zugleich geradezu gefordert durch den Zustand der Natur-
wissenschaft, welche wieder einmal auf dem Punkte angelangt war, wo die
zerstreute Einzelarbeit nach einer lebendigen Gesammtauffassung der Natur be-
gehrte. Und dies Verlangen machte sich um so lebhafter geltend, als gerade der
Fortschritt des empirischen Wissens die hoch geschraubten Erwartungen, welche
man seit dem 17. Jahrhundert auf das Princip der mechamschen Naturerklärung
setzte, wenig befriedigte. Die Ableitung des Organischen aus dem Unorganischen
blieb, wie es Kant constatirte, zum mindesten problematisch, eine genetische
1) Vffi G. Sgbholler, Studie über J. G. Fichte in flildebrand's Jahrb. f. Nat. u. Stat.
1865: auch W. Wuidelband, Fichte^s Idee des deutschen Staates (FreibuTjr 1890). — 2) Ficbte,
W. iV, 115.
470 ^^* Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
Entwickong der Organismen auf dieser Grundlage streitig; für die in grosser
Bewegung begriffene Theorie der Medidn fehlte es noch an jeder Handhabe zu
ihrer Einfligung in die mechanische Weltauffassung; nun kamen die Entdeckungen
elektrischer und magnetischer Erscheinungen hinzu, deren zunächst räthselhafte
Eigenart eine Subsumtion unter die Gesichtspunkte galilei'scher Mechanik damals
noch nicht ahnen liessen. Dem gegenüber hatte Spinoza den mäx^htigen Eindruck
auf die Geister gerade dadurch gemacht, dass er die ganze Natur, den Menschen
nicht ausgeschlossen, als einen einheitlichen Zusammenhang dachte, in welchem
sich das göttliche Wesen in seiner ganzen Fülle darstelle, und fiir die Entwick-
lung des deutschen Denkens ist es von entscheidender Bedeutung geworden, dass
Goethe diese Auffiassung zu der seinigen machte. Freilich deutete der Dichter,
wie man es am besten in den herrlichen Aphorismen „Die Natur" ausgesprochen
findet, sich diese Ansicht in seiner Weise um: an die Stelle der „mathematischeil
Folge" und ihrer mechanischen Nothwendigkeit setzte er die Anschauung einer
Lebenseinheit der Natur, worin ohne begriffliche Formulirung die Welt-
ansicht der Benaissance sich erneuerte. Dieser poetische Spinozismus^) ist
ein wesentliches Glied in der Entwicklungskette der idealistischen Systeme
geworden. ,
Alle diese Motive spielen in Schelling's Naturphilosophie hinein: sie führen
dazu, dass der Centralbegriff derselben das Leben ist, und dass sie den Versuch
macht, die Natur unter dem Gesichtspunkte des Organismus zu betrachten
und den Zusammenhang ihrer Kraftwirkungen aus dem Gesammtzweck der Er-
zeugung des organischen Lebens zu begreifen. Es soll die Natur nicht beschrieben
und gemessen werden, sondern es soll der Sinn und die Bedeutung verstanden
werden, welche ihren einzelnen Erscheinungen in dem zweckvoUen System des
Gänzen zukommt. Die „Kategorien der Natur^ sind die Gestalten, in denen
die Vernunft sich selbst als objectiv setzt, sie bilden ein Entwicklungssystem,
worin jede besondere Erscheinung ihren b^rifflich bestimmten Platz findet. In
der Ausführung 'dieser Idee war Schelling natürlich von dem Stande der natur-
wissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit abhängig. Von dem Zusammenhange
der Kräfte, von ihrer Umsetzung in einander, worauf es ja für dies Interesse
hauptsächlich ankam, hatte man damals nur noch sehr unvollkommene Vor-
stellungen, und der Philosoph zögerte nicht, die Lücken des Wissens durch
Hypothesen auszufüllen, welche er der apriorischen Construction des teleo-
logischen Systems entnahm. In manchen Fällen haben sich diese Ansichten
als werthvolle heuristische Principien (vgl. oben S. 446), in anderen als Irrwege
erwiesen, auf welchen die Forschung zu brauchbaren Resultaten nicht gelangte«
Das historisch Bedeutsame an der Naturphilosophie ist ihr Gegensatz
gegen die Herrschaft des demokritisch-galilei'schen Princips rein mechanischer
Naturerklärung. Die quantitative Bestimmung gilt hier wieder nur als äussere
Form und Erscheinung, der causal-mechanische Zusammenhang nur als die ver-
standesmässige Vorstellungsweise. Der Sinn der Naturgebilde ist die Bedeutung,
welche sie im Entwicklungssystem des Ganzen haben. Wenn deshalb Schelling
seinen Blick auf die Formenverwandtschaft der organischen Welt richtete, wenn
1) Er nahm auch Herder geÜBingen, wie desBen Gespräche über das System SpinoM^a
unter dem Titel „Gott" (1787) beweisen.
§42. System der Vernunft. (Schelling, Goethe.) 471
er die Anfiinge der vergleichenden Morphologie, in denen Goethe eine so be-
deutende Bolle spielte^ dazu benutzte, um die Einheit des Plans au&uzeigen,
welchen die Natur in der Reihenfolge der Lebewesen rerfolgt, so galt ihm und
auch seinen Schülern wie Oken dieser Zusammenhang nicht eigenthch im Sinne
zeitlich- causaler Genesis, sondern als der Ausdruck einer stufenweise gelingenden
Erlbllung des Zwecks. In den yerschiedenen Ordnungen der animalen Wesen
kommt nach Oken gesondert zu Tage, was die Natur mit dem Organismus ¥äll,
und was ihr vollständig erst im Menschen gelingt. Diese teleologische Deutung
schliesst ein zeitliches Causalverhältniss nicht aus, aber bei Schelling und Oken
wenigstens. nicht ein. Es liegt ihnen nicht daran zu fragen, ob die eine Art aus
der anderen entstanden ist : sie wollen nur zeigen, dass die eine die Vorstufe für
die Leistung der anderen sei^).
Es ist danach begreiflich, dass die mechanische Naturerklärung, welche im
19. Jahrhundert wieder zum Siege gelangt ist, in der Zeit der Naturphilosophie
nur einen jetzt glücklich überwundenen Bausch teleologischer Ueberhebung zu
sehen pflegt, der die ruhige Arbeit der Forschung aufgehalten habe. Allein die
Akten über den Streit, der seit Demokrit und Piaton die Greschichte der Natur-
auffassung erfüllt, sind auch heute noch nicht geschlossen. Der Beduction des
Qualitativen auf das Quantitative, welche unter der Fahne der Mathematik sieg-
reich vordringt, ist immer wieder jenes Bedürfniss entgegengetreten, welches
hinter den Bewegungen im Baume eine sinnvoll vernünftige Wirklichkeit sucht.
Diesem Bedüifniss nach lebendigem Lihalt der Natur ging Schelling's Lehre
nach, und darum fühlte sich auch zu ihr der grosse Dichter hingezogen, der äch
bemühte, in dem reizenden Spiel der Farben als das wahrhaft Wirkliche nicht
eine Atomschwingung, sondern ein ursprünglich qualitativ Bestimmtes nach-
zuweisen. Das ist der philosophische Sinn von Goethe's „Farbenlehre ''.
Bei ScheUing ist das System der Natur von dem Gedanken beherrscht,
dass sich in ihr die objective Vernunft von der materiellen Erscheinungsweise
durch die Fülle der Gestaltungen und Eräfteverwandlungen hindurch zu dem
Organismus aufringt, in dem sie zumBewusstsein kommt'). Das empfindende
Wesen ist der Schlusspunkt des Naturlebeus : mit der Empfindung beginnt das
System der Wissenschaftslehre. Der viel verschlungene Weg, welchen die Natur
bis zu diesem Ziele einhält, ist in den Umarbeitungen der Naturphilosophie im
Einzelnen mehrfach abgeändert, in den Grundzügen aber derselbe geblieben.
Insbesondere war es die aus der Wissenschaftslehre stammende Auffassung von
der Dualität, von dem Widerstr^ der Kräfte, die in höherer Einheit sich
aufheben, welche das Grundschema der „Construction der Natur ^ ausmachte,
und von hier wurde für Schelling besonders die Polarität bedeutsam, welche in
den elektrischen und magnetischen Erscheinungen als neu gefundenes Bäthsel
die Zeitgenossen beschäftigte.
1) Die „Deutiuiff'' der Erscheinungen war freilich ein in wissenschaftlicher Hinsicht
gefährliches Frincip: sie öfinete der poetischen Phantasie und den geistreichelnden Einfällen
ie Thore der Naturphilosophie. Diese Gäste drängen sich schon bei Schelling, noch mehr aber
bei seinen ^hülem, wie Novalis, Steffens, Schubert herein. Eine magische, traumhafte
Natursymbolik treibt insbesondere bei Novalis ihr poetisch liebenswürdiges, aber philosophisch
bedenkliches Spiel. — 2) Die Poesie dieses Grundgedankens hat Schelling selbst am charakte-
ristischsten in den schonen Versen ausgesprochen, welche in Sch.'s Leben in Brie£^ I, 282 ff.
abgedruckt sind.
47^ VI. Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
4. Als Schelling neben die Naturphilosophie eine eigene Bearbeitung der
Wissenschafbslehre unter dem Namen des ^transscendentalen Idealismus^ stellen
wollte, hatte sich in dem gemeinsamen Denken der Jenenser Idealisten eine be-
deutsame Aenderung vollzogen, welcher er nun den ersten systematischen Aus-
druck gab. Der Anstoss dazu stammte von Schiller und der Ausbildung,
welche dieser den Gedanken der Kritik der ürtheilskraft gegeben hatte. Schritt
für Schritt war dabei deutlicher geworden, dass fUr den Idealismus sich das
System der Vernunft in der ästhetischen Function vollenden müsse, und an Stelle
des ethischen Idealismus, den die Wissenschaftslehre, und des physischen, den
die Naturphilosophie lehrte, trat nun der ästhetische Idealismus.
Die folgenreiche Umbildung, welche Kant's Gedanken durch Schüler
erfuhren, betraf keineswegs nur die dem Dichter zunächst liegenden ästhe-
tischen, sondern ebenso die ethischen und die geschichtsphilosophischen Fragen
und damit das ganze Sjrstem der Vernunft. Denn Schiller's Gedanken waren,
wie u. A. das Gedicht die „Künstler" zeigt, schon vor der Bekanntschaft mit
Kant auf das Problem gerichtet gewesen, welche Bedeutung das Schöne und die
Kunst in dem ganzen Zusammenhange des menschlichen Vemunftlebens und in
dessen geschichtlicher Entwicklung hat, und indem er sich dies Problem mit
kantischen Begriffen löste, gab er dem Idealismus nach der Wissenschaftslehre
die entscheidende Wendung.
Sie begann mit den neuen Formen, welche er filr Kant's Begriff der Schön-
heit fand. Die Synthesis der theoretischen und der praktischen in der ästhe-
tischen Vernunft (vgl. § 40, 2) konnte vielleicht keinen glücklicheren Ausdruck
finden, als in Schiller's Definition der Schönheit als Freiheit in der Er-
scheinung^). Sie besagt, dass die ästhetische Anschauung ihr Object auffasst,
ohne es den Regeln des erkennenden Verstandes zu unterwerfen: es wird nicht
unter Begriffe subsumirt, und wir fragen nicht nach den Bedingungen, die es
in anderen Erscheinungen hat. Es wird angeschaut, als ob es frei wäre.
Schopenhauer hat das nachher so ausgedrückt, der Genuss des Schönen sei
die Betrachtung des Gegenstands unabhängig vom Satz des Grundes. Noch mehr
Gewicht hat Schiller später darauf gelegt, dass das ästhetische Verhalten der
praktischen Vernunft gegenüber ebenso unabhängig ist wie der theoretischen.
Das Schöne ist (vom Angenehmen und Guten geschieden) so wenig Gegenstand
■des sinnlichen wie des sittlichen Triebes: ihm fehlt ebenso die Bedürftigkeit des
empirischen Trieblebens wie der Ernst der praktischen Vernunft. Im ästhe»
tischen Leben entfaltet sich der Spieltri^b*); in der interesselosen Betrach-
tung schweigt jede Biegung des Willens. Auch hierin ist Schopenhauer gefolgt,
wenn er das Glück des ästhetischen Zustandes in der Ueberwindung des un-
seligen Willens zum Leben, in der Thätigkeit des reinen, willenlosen Subjects
der Erkenntniss fand*).
1) Vgl. hauptsäohlioh die Briefe an Kömer vom Februar 1793, dazu die bei dem Briefe
vom 20. Jnni dess. J. gedruckte Skizze über ^das Schöne in der Kunst**, — alles Fragmente des
nicht ausgeführten Dialogs >,Kallias''. — 2) Die transscendcntal-psychologisohe Begründung,
welche Schiller hierfür in den ^»Briefen über die asthet. Erziehung^ (H^-) versucht,^ erinnert
stark an die reinhold-fichte'sche Zeit, wo es „in Jena von Form tmd Stoff sohwirAe**. —
8) Welt als W. u. Y. I, § 36—38. Dabei nimmt Schopenhauer allerdings denselben Werth liir
die wissenschaftliche Erkenntniss in Anspruch. Vgl. § 43, 4.
§ 42. System der Vernunft. (Schiller.) 473
Hieraus folgerte Schiller zuDächst, dass überall da, wo es sich darum handelt,
den seiner Sinnlichkeit unterworfenen Menschen zum sittUchen Wollen zu erziehen,
das ästhetische Leben das wirksamste Mittel dazu darbietet. Kant hatte die
„Umkehrung der Triebfedern^ als die ethische Aufgabe des Menschen bezeichnet
(vgl. oben § 39, 6): für den Uebergang aus der sinnlichen in die sittliche Be-
stimmtheit des Willens bot er dem Menschen als Unterstützung die Religion, —
Schiller die Kunst '). Glaube und Geschmack lassen den Menschen wenigstens
legal handeln, wo er zur Moralität noch nicht reif ist. Im Umgang mit dem
Schönen verfeinert sich das Gefühl, sodass die natürliche Rohheit schwindet und
der Mensch für seine höhere Bestimmung erwacht Die Kunst ist der Nährboden
für Wissenschaft und Sittlichkeit. So lehrte Schiller schon in den „Künstlern'';
die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts graben tiefer.
Der ästhetische Zustand („Staat'') vernichtet, weil er der völlig interesselose ist,
auch das sinnliche Wollen und sdiafit damit Raum für die Möglichkeit des sitt-
lichen WoUens: er ist der nothwendige Durchgangspunkt aus dem physischen
Nothstaat in den moralisciien Staat. Im physischen Zustand erleidet der Mensch
die Macht der Natur, er entledigt sich ihrer im ästhetischen, und er beherrscht
sie im moralischen.
Aber schon in den „Künstlern" war dem Schönen die zweite, höhere Auf-
gabe zugewiesen worden, der moralischen und intellectueUen Cultur schhesslich
auch die höchste Vollendung zu geben, und indem der Dichter diesen Gedanken
dem kritischen Begrifbsystem einbildet, geht, er von der Ergänzung zur Um-
gestaltung der kantischen Lehre über. Die beiden Seiten der menschlichen Natur
sind nicht versöhnt, wenn der sittliche Trieb den Sinnentrieb übenvinden muss.
Im physischen und im „moralischen" Zustand ist je eine Seite der mensch-
lichen Natur zu Gunsten der anderen unterdrückt. Ein vollendetes Menschen-
thum ist nur da, wo keiner der beidien Triebe über den anderen herrscht. Der
Mensch ist nur da wahrhaft Mensch, wo er spielt, wo der K^mpf in ihm schweigt,
wo die sinnliche Natur in ihm zu so edler Empfindung erhoben ist, dass er
nicht mehr nöthig hat, erhaben zu wollen. Der kantische Rigorismus gilt überall
da, wo der Pflicht die sinnliche Neigung gegenübersteht: aber es giebt das höhere
Ideal der schönen Seele, welche diesen Kampf nicht kennt, weil ihre Natur so
veredelt ist, dass sie das Sittengesetz aus Neigung erfällt. Und eben diese Ver-
edlung gewinnt der Mensch nur durch die ästhetische Erziehung. Durch sie
allein wird der sinnlich-übersinnliche Zwiespalt in der menschlichen Natur auf-
gehoben, in ihr allein kommt das ganze, volle Menschenthum zur Verwirklichung.
5. In dem Ideal der „schönen Seele" überwindet die Shaftesbury'sche
„Virtuosität" den kantischen Dualismus. Die Vollendung des Menschen ist die
ästhetische Versöhnung der beiden in ihm wohnenden Naturen; die Bildung soll
das Leben des Individuums zum Kunstwerk machen, indem sie das sinnlich
Gegebene zum vollen Einklang mit der ethischen Bestimmung adelt. In dieser
Richtung hat Schiller im Gegensatz zum Rigorismus Kant's der idealen Lebens-
auffassung seintr Zeit dien tonangebenden Ausdruck verliehen, und der ästhe-
tische Humanismus, welchen er so der Begrüfsarbeit abrang, fand neben ihm
eine Fülle von anderen, eigenartigen Ausprägungen. In ihnen allen aber erschien
1 ) VgL den Schluss der Abhandlung „Ueber den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten" .
474 Vr. Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
Goethe als die gewaltige Persönlichkeit, welche in der ästhetischen Vollkommen-
heit ihrer Lebensflihrung ebenso wie in den grossen Werken ihrer dichterischen
Thätigkeit diese ideale Höhe der Humanität lebendig darstellte.
In dieser Au£Pas8ung des Genius begegnete sich mit Schiller zunächst
Wilhelm von Humboldt^): er suchte von hier aus das Wesen der grossen
Dichtungen zu verstehen, er fand in der Harmonie der sinnlichen und der sitt-
lichen Natur das Lebensideal des Menschen, und er wendete dies Prindp in
seiner für die Sprachwissenschaft grundlegenden Abhandlung^) in der Weise
an, dass er aus der organischen Wechselwirkung beider Elemente das Wesen
der Sprache zu verstehen lehrte.
Zu schärferem Gegensatz gegen den kantischen Bigorismus ging in dem
Shaftesbury'schen Geiste schon Jacobi in seinem auf Goethe's PersönUchkeit zu-
geschnitMien Boman „AUwill's Briefsammlung^ vor. Auch das moralische
Genie ist „exemplarisch^ : es fügt sich nicht imter hergebrachte Begdn und
Maximen, es lebt sich selbst aus und giebt sich damit auch die Gesetze sein^
MoraUtät. Diese „sittliche Natur ^ ist das Höchste, was es im Umkreise der
Menschheit giebt.
Zu vollem Uebermuth ist diese ethische Genialität in Theorie und Praxis
bei den Rom antikern ausgewuchert. Hier entwickelte sie sich als eine ästhe-
tische Aristokratie der Bildung gegen die demokratische ütilität der
Auf klänmgsmoral. Das bekannte Schiller'sche Wort von dem Adel in der sitt-
lichen Welt wurde dahin gedeutet, dass der Philister mit seiner nach allgemeinen
Grundsätzen geregelten Arbeit seine zweckbestimmte Thätigkeit zu leisten habci
während der geniale Mensch, frei von aller äusseren Bestimmung durch Absichten
und Regeln in dem interesselosen Spiel seiner bewegten Innerlichkeit, in der Aus-
gestaltung seiner ewig bildsamen Phantasie nur seine bedeutende Individualität
als etwas in sich WerthvoUes auslebt. In dieser genialen Moral soll deshalb auch
die Sinnlichkeit (in der engsten Bedeutung des Worts) zu ihrem vollen un-
verkümmerten Rechte kommen und durch ästhetische Steigerung den feinsten
Regungen der Innerlichkeit ebenbürtig werden, — ein sublimer Gedanke, der
nicht hinderte, dass seine Ausführung in Schlegers Lucinde auf geistreich raffinirte
Gemeinheit hinauslief.
Zu der Reinheit Schiller'scher Gesinnung wurde die romantische Moral durch
Schleiermacher' s®) Ethik zurückgeführt. Sie ist der vollendete Ausdruck des
Lebensideals jener grossen Zeit. Auf die Einheit von Yemimft und Natur scheint
ihr alles ethische Handeln gerichtet : danach bestimmt sich im Allgemeinen das
Sittengesetz, welches kein anderes sein kann als das natürUche Lebensgesetz der
Vernunft, danach auch im Einzelnen die Aufgabe jedes Individuums, welches in
besonderer, nur ihm eigener Weise jene Einheit zum Ausdruck bringen soll. In
der systematischen Ausführung dieses Gedaidcens unterscheidet Schleiermacher
(nach dem organischen und dem intellectuellen Factor der Intelligenz, vgl. §41, 6)
die organisirende und die symboHsirende Thätigkeit, je nachdem ob die Einheit
von Natur und Vernunft erstrebt oder vorausgesetzt wird, und so ergeben sich
1) Geb. 1767, gest. 1835. Ges. Werke 7 Bde., Berlin 1841 ff. Vgl. ausser dorn Brief-
wechsel, namentlich mit Schiller, hauptsächlich die „Aesthetischen Yersnohe" (Braunschweig
1799). Dazu Run. Haym, W. v. H. (Berlin 1856). — 2) Ueber die Kawi-Sprache, Berlin 1836. —
3) Vgl. auch ScmiBiERHACHSR's „Vertraute Briefe über die Lucinde" (1800).
§ 42. System der Vernutift. (Schleiermacher, Herbart, Schiller.) 475
im Ganzen vier sittliche Grondverhältnisse^ denen als Güter Staat, Geselligkeit;
Sdiule und Kirche entsprechen. Aus diesen heraus hat sich das Individuum zu
harmonischem Eigenleben selbstthätig zu entwickeln.
Auf die ästhetische Vernunft hat endlich in völlig selbständiger Weise auch
Herbart die ethische Theorie zurückgeführt : ihm gilt die Moral ak ein Zweig
der allgemeinen Aesthetik. Neben der theoretischen Vernunft; welche die Prin-
dpien fiir die Erkenntniss des Seins enthalt; erkennt er als ursprünglich nur die
Beurtheilung des Seienden nach ästhetischen Ideen an. Diese hat
mit dem Willen und den Bedürfiiissen des empirischen Ich ebenso wenig zu thun
wie das Erkennen. Die ^Geschmacksurtheile^ gelten mit unableitbarer Evidenz
nothwendig und allgemein^ und sie beziehen sich stets auf die Verhältnisse
des Seienden: ihnen wohnt ein ursprüngliches Wohlgeüedlen oder Missfallen
bei. Die Anwendung dieser Principien auf das engere Gebiet des Aesthetischen
ist von Herbast nur angedeutet worden : die Ethik dagegen gilt ihm als die Lehre
von den Geschmacksurtheilen über Verhältnisse des menschlichen Willens. Sie
hat nichts zu erklären — das ist Sache der Psychologie — , sie hat nur^die Normen
festzusteUen, nach denen sich jene Beurtheilung richtet. Als solche findet Herbart
die fünf sittlichen Ideen: Freiheit, Vollkommenheit, Wohlwollen, Recht und
Billigkeit; und nach ihnen sucht er auch die Systeme des sittlichea Lebens zu
ordnen, während er für die genetische Untersuchung immer die Principien der
Associationspsychologie geltend macht und so in der Statik und Mechanik des
Staats den Mechanismus der Willensbewegungen darzustellen unternimmt; durch
welchen das gemeinsame Leben der Menschen sich erhält.
6* AusSchiller 's ästhetischer Moral ergab sichaber auch eineGeschichts-
Philosophie; welche die Gesichtspunkte vonRousseau und Kant in neuer Verbin-
dung erscheinen liess. Der Dichter entwickelte sie in ganz eigenartiger Weise,
indem er in den Aufsätzen über ,, Naive und sentimentalische Dichtung^ die ästhe-
tischen Grundbegriffe aus der Aufstellung historischer Gegensätze und aus einer
allgemeinen Construction ihrer Bewegung gewann. Die Zeitalterund dieDichtungs-
artencharakterisiren sich ihm durch das verschiedene Verhältniss des Geistes zum
Reiche der Natur und zum Reiche der Freiheit. Als der ^ arkadische^ Zustand
erscheint hier der, wo der Mensch instinctiv, ohne Gebot das Sittliche thut, weil
der Gegensatz seiner beiden Naturen noch nicht im Bewusstsein entfaltet ist :
als das „elysische^ Ziel erscheint jene Vollendung, in welcher die Natur so
veredelt ist; dass sie wiederum das Sittengesetz in ihren Willen aufgenommen
hat. Zwichen beiden liegt der Kampf der beiden Naturen,. — die wirkliche
Geschichte.
Die Dichtung aber, deren eigentliche Aufgabe es ist, den Menschen dar-
zustellen; ist überall durch diese Grundverhältnisse bestimmt. Lässt sie die
sinnUche Natürlichkeit des Menschen noch in der harmonischen Einheit mit seinem
geistigen Wesen erscheinen; so ist sie naiv; bringt sie dagegen den Widerspruch
zwischen beiden zur DarsteUung, lässt sie in irgend einer Weise die ünangemessen-
heit zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal des Menschen hervortreten, so ist sie
sentimental, und zwar entweder satirisch oder elegisch, sei es auchimidyll. Der
Dichter; der selbst Natur ist; stellt die Natur naiv dar; der, welcher sie nicht
besitzt, hat an ihr das sentimentalische Interesse, die Natur, die aus dem Leben
schwand, ak Idee in der Dichtung zurückzurufen. Die Harmonie von Natur
476 ^I- Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
und Vernunft ist bei jenem gegeben ; bei diesem aufgegeben^ — dort als Wirk-
lichkeit; bier als Ideal. Dieser Unterschied der dichterischen Empfindungs-
weise cbarakterisirt nach Schiller auch den Gegensatz des Antiken und des
Modernen. Der Grieche empfindet natürlich , der moderne Mensch empfindet
die Natur als ein verlorenes Paradies, wie der Kranke die Genesung. Daher
giebt der antike und naive Dichter die Natur wie sie ist, ohne seine Empfindung,
der moderne und sentimentale nur in Beziehung auf seine Reflexion : jener ver-
schwindet hinter seinem Gegenstande wie der Schöpfer hinter seinen Werken,
dieser zeigt in der Gestaltung des Stoffs die Macht seiner dem Ideal zustrebenden
Persönlichkeit. Dort waltet Realismus, hier Idealismus, und die letzte Höhe der
Kunst wäre die Vereinigung, worin der naive Dichter das Sentimentalische dar-
stellte : so umriss Schiller die Gestalt seines grossen Freundes, des modernen
Griechen.
Mit Begier wurden diese Bestimmungen von den Romantikern auf-
gegriffen. Virtuosen des Recensententhums, wie die SchlegeTs waren, freuten
sich dieses philosophischen Schemas für Kritik und Charakteristik und führten
es in ihre umfassende Bearbeitung der Litteraturgeschichte ein. Dabei gab indess
Friedrich Schlegel den schiller'schen Gedanken die spedfisch romantische
Zuspitzung, fiir die er mit schlagfertiger Oberflächlichkeit fichte'sche Motive zu
verwerthen wusste. Wenn er den von Schiller aufgestellten Gegensatz mit den
neuen Namen classisch und romantisch bezeichnete, so bildete er ihn auch
sachUch durch seine Lehre von der Ironie um. Der classische Dichter geht in
seinem Stoff auf, der romantische schwebt als souveräne Persönlichkeit über ihm,
er vernichtet den Stoff durch die Form. Indem er über den Stoff, den er setzt,
mit freier Phantasie hinweggeht, entfaltet er an ihm nur das Spiel seiner Genialität,
das er in keiner seiner Bildungen beschränkt. Daher hat der romantüsche Dichter
einen Zug zum Unendlichen, zum Niemalsfertigen: er selbst ist immer hoch mehr
als jeder seiner Gegenstände, und darin eben bethätigt sich die Ironie. Dem
unendlichen Thun des sittlichen Willens, wovon Fichte gelehrt, schiebt der
Romantiker das endlose Spiel der zwecklos bildenden und wieder zerstörenden
Phantasie unter.
Die geschichtsphilosophischen Momente in Schiller^s Lehre haben
bei Fichte, dem sie manches entlehnte, ihre volle Ekitwicklung gefunden, dabei
aber auf diesen den Einfluss gehabt, dass auch er in der ästhetischen Vernunft
die Gegensätze der Wissenschafkslehre sich ausgleichen liess. Schon in den
.1 enenser Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten und in der Behandlung,
welche die Berufspflichten des Lehrers und des Künstlers im „System der Sitten-
lehre^ fanden, klingen solche Motive an: zum beherrschenden Thenia sind sie in
Fichte's Erlanger Vorlesungen geworden. Wenn er daran ging, die Grundisiige
des gegenwärtigen Zeitalters zu zeichnen, so that er es in den markigen Linien
einer universalhistorischen Construction. Als der erste („arkadische") Zustand
der Menschheit erscheint hier der des „Vernunftinstincts*^, als dessen Träger
ein Normalvolk angenommen wird. In diesem Zeitalter waltet über und in den
Individuen mit unmittelbarer, unangefochtener Sicherheit der Natumothwendig-
keit das allgemeine Bewusstsein: aber die Bestimmung des freien Einzel-Ich ist
es, sich von dieser Gewalt der Sitte und des Herkommens loszureissen und dem
eigenen Triebe und Urtheile zu folgen. Damit aber beginnt das Zeitalter der
§ 42. System der Vernunfb. (Fichte, Schelling.) 477
Sündhaftigkeit. Diese vollendet sich in dem intellectuellen und moralischen Zer-
fall des Gesammtlebens, in der Anarchie der Meinungen, in dem Atomismus der
Privatinteressen. Mit deutlichen Strichen wird diese „vollendete Sündhaftig-
keit^ als Theorie und Praxis der Aufklärung gekennzeichnet. Die Lebens-
gemeinschaft der Menschheit ist hier zu dem „Nothstaat^ herabgesunken, der
auf die Ermöglichung eines äusserlichen Zusammenseins beschränkt ist und
darauf beschränkt sein soll, da er mit allen höheren Interessen des Menschen,
Moralität, Wissenschaft, Kunst und Religion nichts zu thun hat und sie der
Freiheitssphäre des Individuums überlassen muss. DaftLr hat denn aber auch das
Individuum an diesem „ wirklichen'^ Staat kein lebendiges Interesse : seine Heimath
ist die Welt und vielleicht noch in jedem Augenblicke der Staat, der gerade auf
der Höhe der Cultur steht*). Diese Cultur aber besteht in der Unterordnung
der Individuen unter das erkannte Vemunftgesetz. Aus der sündhaften Willkür
der Individuen muss die Autonomie der Vernunft, die Selbsterkenntniss und
Selbstgesetzgebung des nun bewusst im Einzelnen waltenden AUgemeingiltigen
sicherheben. Damit wird das Zeitalter der Yernunftherrschaft beginnen,
aber es wird sich nicht vollenden, ehe nicht in dem „wahren Staate^ alle Kräfte
des vernünftig vollgereiften Individuums in den Dienst des Ganzen gestellt werden
und so wieder das Gebot des Gesammtbewusstseins widerstandslos erfüllt wird.
Dieser („elysische^) Endzustand ist der der „Vernunftkunst^. Es ist das
Ideal der „schönen Seele^, auf Politik und Geschichte übertragen. Dies Zeit-
alter herbeizuführen und in ihm die Gemeine, das „Reich^ durch Vernunft zu
leiten, ist die Aufgabe des „Lehrers'', des Gelehrten und des Künstlers^).
Den „Beginn der Vemunftherrschaff sahFichte^s thatkräftiger Ideatismus
gerade da, wo die Sündhaftigkeit und die Noth am höchsten gestiegen waren.
In den Reden an die deutsche Nation feierte er sein Volk als dasjenige, welches
allein noch die Ursprünglichkeit bewahrt habe und dazu bestimmt sei, den wahren
Culturstaat zu schaffen. Er rief es auf, sich auf diese seine Bestimmung zu be-
sinnen, an der das Schicksal Europa's hange, von innen heraus durch eine völlig
neue E2rziehung sich selbst zum Vemunftreiche zu erheben und der Welt die
Freiheit Ssurückzugeben.
7» Zur vollen Hen*schaft im ganzen System der idealistischen Philosophie
gelangte der Gesichtspunkt der ästhetischen Vernunft durch Schelling.
In seiner Ausarbeitung des „transscendentalen Idealismus'' entwickelte er den
fichte'schen Gegensatz der theoretischen und der praktischen Wissenschaftslehre
durch das Verhältniss der bewussten und der bewusstlosen Thätigkeit des Ich
(vgl. oben No. 2). Ist die bewusste durch die bewusstlose bestimmt, so verhält
sich das Ich theoretisch, im umgekehrten Falle praktisch. Aber das theoretische
Ich, welches derProductivität der bewusstlosen Vernunft empfindend, anschauend,
denkend zuschaut, kommt damit nie zu Ende, und auch das praktische Ich, welches
die bewusstlose Weltwirklichkeit in der freien Arbeit der individuellen SittUch-
keit, der staatlichen Gemeinschaft und des geschichtUchen Fortschritts um-
1) Die für den Kosmopolitismus der Bildung im 18. Jahrhundert classische Stelle ist bei
Fichte, W. YTT, 212. — 2) In der religiösen Schlusswendung des Fichte'schen Denkens nimmt
dies Bild des idealen Colturstaates der Zukunft mehr und mehr theokratische Züge an : der
Gelehrte und Künstler ist jetzt der Priester und Seher geworden. Vgl. W. IV, 453 ff. und
Nachgel. Werke III, 147 ff.
478 VI. Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
gestaltet; hat das Ziel seiner Thätigkeit im Unendlichen. In. beiden Reihen
kommt das ganze Wesen der Vernunft nie zu voller Verwirklichung. Dies ist
nur möglich durch die bewusstlos-bewusste Thätigkeit des künstleri-
schen Genies, worin jene Q-egensätze au%ehoben sind« In der absichtslosen
Zweckmässigkeit des Schaffisns, dessen Froduct die Freiheit in der Erscheinung
ist; mu8s die höchste Synthesis aller VemunftthitiglBateii gesucht werden. Hatte
Kant das Genie als die Intelligenz definirt; die wie Natur wirkt, hatte Schiller
den ästhetischen Zustand des Spiels als den wahrhaft menschlichen bezeidiMt,
so erklärte Schelling die ästhetische Vernunft fär den Schlussstein des idealisti-
schen Systems. Das Kunstwerk ist diejenige Erscheinung; worin die Vernunft
am reinsten und Tollsten zur Entwicklung gelangt: die Kunst ist das wahre
Organen der Philosophie. An ihr hat das „zuschauende Denken^ zu lernen, was
Vernunft ist. Wissenschaft und Moralität sind einseitige und nie abgeschlossene
Entwicklungsreihen der subjecüren Vernunft: nur die Kunst ist in jedem ihrer
Werke fertig als ganz verwirklichte Vernunft.
Nachdem erden ;,transscendentalen Idealismus^ geschrieben, hielt Schelling
in Jena die Vorlesungen über die „Philosophie der Kunst", welche diese Grund-
gedanken mit einem bewunderungsvrürdig feinen, insbesondere an der Behandlung
der Dichtkunst bewährten Verständniss für künstlerische Eigenart und Schaffens-
weise ausführten. Damals nicht gedruckt, haben diese Vorlesungen durch ihre
Wirkung auf die Jenenser Kreise die gesammte folgende Entwicklung der
Aesthetik bestimmt. Die spätere Veröffentlichung ') legt diejenige Bedaction
vor; welche Schelling einige Jahre später in Würzburg vortrug. In ihr macht
sich noch mehr die Aenderung in der allgemeinen Auffassung geltend, wozu der
Philosoph inzwischen fortgeschritten war.
8. Auch dabei wirkte das ästhetische Motiv wenigstens in formeller Hin-
sicht; indem für die Naturphilosophie und die Transscendentalphilosophie eine ge-
meinsame systematische Grundlage gesucht wurde. Jene handelte von der ob-
jectiven, diese von der subjectiven Vernunft: beide aber mussten im letzten Wesen
identisch sein-, weshalb sich diese Phase des Idealismus das Identität&system
nennt. Danach bedarf es fQr die Natur und das Ich eines gemeinsamen Prineips.
Dies wurde in der Schrift; welche Schelling ^Darstellung meines Systems der Philo-
sophie*^ betitelte, die „absolute Vernunft" oder die „Indifferenz von Natur
und Geist; von Object und Subject" genannt: denn das höchste Princip kann weder
real noch ideal bestimmt sein, in ihm müssen alle Gegensätze ausgelöscht sein. Das
„Absolute" ist hier bei Schelling inhaltlich so unbestimmt'); wie in deralten nnegß,-
tiven Theologie", wie in Spinoza's „Substanz". Mit dem letzteren" Begriffe aber
theUt es die Eigenschaft, dass seine Erscheinung in zwei Beihen aus einander geht;
die reale und ideale, Natur und Geist. Diese sachliche Verwandtschaft mit Spinoza
verstärkte Schelling durch die formelle; indem seine „Darstellung" den Schema*
tismus d^ „Ethica" nachahmte. Trotzdem ist dieser idealistische Spino-
zismus von dem originalen in seiner WeltauffSiSsung durchaus verschieden.
Beide wollen die ewige Verwandlung des Absoluten in die Welt daMellen: dabei
betrachtet aber Spinoza die beiden Attribute der Materialität und des Bewusstseins
1) In den Ges. Werken V, 353 ff., erst 1859 gedruckt. — 2) Sehr charakteristisch drückte
dies Schelling's Schüler Oken ans, wenn er (Naturphilosophie!, S. 7 ff.) das Absolute, von
ihm schon Gott genannt, = ^ 0 setzte.
§42. System der Vernunft. (Schelling.) 479
als völlig getrennt und jede endliche Erscheinung als lediglich einer der beiden
Sphären angehörig. Schelling aber verlangt, dass in jeder Erscheinung „Realität^
und „Idealität^ enthalten sein müssen und construirt die einzelnen je nach dem
Masse, in welchem beide Momente darin verknüpft sind. Das dialektische Pnncip
des absoluten Idealismus ist die quantitative Differenz des
realen und des idealen Factors: das Absolute selbst ist eben deshalb die
völlige Indifferenz '). Die reale Seihe ist diejenige, worin der objective Factor
„überwiegt^ : sie führt von der Materie durch Licht, BUektricität und Chemismus
zum Organismus, der relativ geistigsten Erscheinung der Natur. In der
idealen Beihe überwiegt der subjective Factor, in ihr geht die Entwicklung von
der Morafität und der Wissensdiaft zum Kunstwerk, der relativ natürlichsten
Erseheinung im Reiche des Geistes. Und die Gesammterscheinung des Absoluten,
das Universum, ist deshalb zugleich der vollkommenste Organismus und das
vollkommenste Kunstwerk ^.
9. In diesem System wollte Schelling den ganzen Ertrag der früher nach
verschiedenen Richtungen aus einander gehenden Untersuchungen zusammen-
fassen. Er bezeichnete dabei die verschiedenen Stufen der Selbstdifferenzirung des
Absoluten zuerst als „Potenzen'': bald aber führte er einen anderen Namen
und zugleich eine andere Auffassung der Sache ein. Das hing mit der reli-
giösen Wendung zusammen, welche das Denken der Romantiker um die Wende
der Jahrhunderte nahm. Die Anregung dazu ging von Schleiermacher aus.
Er bewies den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion^, dass das System
der Vernunft sich nur in der Religion vollenden könne. Auch darin lag
ein Sieg der ästhetischen Vernunft. Denn was Schleiermacher damals als
Religion predigte (vgl. § 41, 6), war kein theoretisches und kein praktisches Ver-
halten des Menschen, sondern eine ästhetische Beziehtmg zum Weltgrunde, das
Gefühl sohlechthiniger Abhängigkeit. Darum beschränkte sich auch die Religion
für ihn auf das fromme Gefbhl, auf das Durchdrungensein des Individuums von
dieser innerlichen Beziehung zum Allgemeinen, und lehnte alle theoretische Form
und alle praktische Organisation ab. Darum sollte die Religion Sache der Indi-
vidualität sein, darum wurde die positive Religion auf das „religiöse Genie^ ihres
Stifters zurückgeführt. Bei dieser Verwandtschaft ist die Wirkung begreiflicfa,
welche Schleiermacher's „Reden^ auf die Romantik ausgeübt haben, von hier
stammt deren Neigung, die einheitliche Lösung aller Probleme der Menschheit
von der Religion zu erwarten, in ihr die getrennten Sphären der Culturthätigkeit
wieder innerlich vereinigen zu wollen, und schliesslich das Heil in jener Herr-
schaft der Religion über alle Lebenskreise zu suchen, wie sie im Mittelalter be-
standen haben sollte. Wie SchiUer ein idealisirtes Griechenthum, so schufen die
späteren Romantiker ein idealisirtes Mittelalter.
Mit grosser Feinfühligkeit folgte Schelling diesem Zuge des Denkens. Wie
Spinoza nannte er nun das Absolute „Gott^ oder das „Unendliche^, und ebenso
wie Spinoza zwischen der „Substanz^ und den einzelnen endlichen Wirklichkeiten
die Attribute und die „unendlichen Modi" (vgl. S. 323) eingeschoben hatte, so galten
nun die „Potenzen" als die ewigen Formen der Erscheinung Gottes, deren end-
1) SchematUch erläutert Sohelling dies darch das Bild des Magneten, in dessen ver-
schiedenen Theilen Nordmagnetismus und Südmagnetismus mit verschiedenem Intensitäts-
verhältniss gegenwärtig sind. — 2) W. I, 4, 423.
480 ^^' Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
liehe Abbilder die empirischen Einzelerscheinungen sind. Wenn sie aber in diesem
Sinne von Schelling (im „Brano^ und in der „Methode des akademischen Stu-
diums^), als Ideen bezeichnet ¥nirdeny so kommt darin noch ein anderer Ein-
fluss zu Tage. Schleiermacher und Hegel, der seit 1801 seinen persönlichen
Einfluss auf Schelling geltend machte, wiesen gleichmässig auf Piaton hin; aber
die damalige philosophische Kenntniss betrachtete ^) dessen Lehre noch immer
durch die Brille des Neuplatonismus, welcher die Ideen als Selbst-
anschauung Gottes auffasste. Und so ging Schelling's Lehre in einen neu-
platonischen Idealismus zurück, wonach die „Ideen*^ das Mittelglied bildeten,
durch welches sich das Absolute in die Welt verwandeln sollte.
Dieser religiöse Idealismus der ScheUing'schen Ideenlehre hat eine Anzahl
von Parallel- und Folgeerscheinungen. Die persönlich interessanteste davon ist
Fichte 's spätere Lehre, worin er dem Sieg des Spinozismus den Tribut ent-
richtete, dass er nun doch wieder den unendlichen Trieb des Ich aus einem „ab-
soluten Sein^ hervorgehen und auf dasselbe gerichtet sein liess. Für die end-
lichen Dinge hielt er daran fest, sie als Producte des Bewusatseins zu deduciren:
aber dessen unendliche Thätigkeit leitete er nun aus dem Zweck ab, ein absolutes
Sein, die Gottheit, „abzubilden^, und deshalb erschien ihm jetzt als die Be-
stimmung des Menschen nicht mehr die rastlose Thätigkeit des kategorischen
Imperativs, sondern das „selige Leben^ der Versenkung in die. Anschauung des
göttlichen Urbildesj — ein mystischer Ausklang des gewaltigen Denkerlebens,
welches den Sieg der ästhetischen Vernunft in seiner vollen Grösse erscheinen lässt.
Noch weiter ist das religiöse Motiv von Schelling's Schüler Krause
verfolgt worden. Die pantheistische Weltanschauung des Idealismus, welche
Schelling auch damals noch (eben in spinozistischer Weise) vertrat, wollte Krause
mit dem Begriff der göttlichen Persönlichkeit verbinden. Die Welt gilt auch ihm
als Entwicklung des göttlichen „Wesens^, das in den Ideen ausgeprägt ist: aber
diese Ideen sind die Selbstanschauung der höchsten Persönlichkeit.
Wesen — so sagt Krause für Gott — ist nicht indifferente Vernunft, sondern
der persönliche Lebensgrund der Welt. In der weiteren Ausführung des hier-
nach als „Panentheismus^ charakterisirten Systems hat Krause kaum eine andere
Originalität als die sehr bedenkliche, dass er die gem'einsamen Gedanken der
ganzen idealistischen Entwicklung in einer unverständlichen Terminologie vor-
trägt, die er selbst erfand, aber für urdeutsch erklärte. Besonders ausgeführt ist
bei ihm die Auffassung des ganzen Vemunftlebens unter dem Gesichtspunkte des
„Gliedbau's'^ (zu deutsch: Organismus). Er betrachtet nicht nur das Universum
wie Schelling als „Wesengliedbau^ (göttlichen Organismus), sondern auch die
Bildungen des gesellschaftlichen Zusammenhanges als Fortsetzungen der organi-
schen Lebensbewegung über den individuellen Menschen hinaus: jeder „Bund^
ist ein solcher GUedbau und fügt sich wieder einem höheren als Glied ein, und
der Gang der Geschichte ist die Erzeugung immer vollkommenerer und um-
fassenderer Vereinigungen.
Für die romantische Aesthetik endlich hatte Schelling's neue Lehre
die Folge, dass die neuplatonische Auffassung der Schönheit als Erscheinung der
1) Heber Herbart's selbsULndige AusnahmestelluDg, deren Bedeutung gerade im Gegen-
sat« zu Schelliog und Hegel klar wird, siehe oben 8. 459, Anm.
§42. System der Vernunft. (Hegel:) 481
Idee im Sinnlichen für sie wieder massgebend wurde. Das Verhältniss der Un-
zulänglichkeit zwischen der endlichen Erscheinung und der unendlichen Idee
stimmte zu dem Schlegerschen Princip der Ironie^ und dieser Zusammenhang
wurde namentlich von Solger zur Grundlage der Kunsttheorie gemacht.
10. Den Abschluss dieser ganzen gestaltenreichen Entwicklung bildet
Hegel's logischer Idealismus. Er bedeutet in der Hauptsache eine Rück-
kehr von Schelling zu Fichte, ein Aufgeben des Gedankens, dass aus dem
„Nichts^ der absoluten Indifferenz der lebendige Eeichthum der Welt abgeleitet
werden könne *), und den Versuch; jene leere Substanz wieder zum Geist, zum
in sich bestimmten Subject zu erheben. Solche Erkenntniss kann aber nicht
die Form der Anschauung haben, welche Fichte und Schelling für das Ich oder
das Absolute in Anspruch genommen haben, sondern nur die des Begriffs.
Wenn alles Wirkliche die Erscheinung des Geistes ist, so fällt die Metaphysik
mit der Logik*) zusammen, welche die schöpferische Selbstbewegung des Geistes
als eine dialektische Nothwendigkeit zu entwickeln hat. Die Begriffe, in welche
der Geist seinen eigenen Inhalt aus einander legt, sind die Kategorien der
Wirklichkeit, die Gestalten des Weltlebens, und die Philosophie hat dies
Reich der Formen nicht als gegebenes Mannigfaltiges zu beschreiben, sondern als
die Mometite einer einheitlichen Entwicklung zu begreifen. Die dialektische
Methode dient also bei Hegel dazu, das Wesen der einzelnen Erscheinungen
durch die Bedeutung zu bestimmen, welche sie als Glieder in der Selbst-
entfaltung des Geistes haben. Statt Geist sagt Hegel auch Idee oder Gott. Es
ist die höchste Aufgabe, welche der Philosophie je gestellt worden ist, die Welt
als eine Entwicklung der Inhaltsbestimmungen des göttUchen Geistes zu begreifen.
Dabei verhält sich Hegel nicht nur zur deutschen Philosophie, sondern zu
der gesamnlten früheren Geistesbewegung ähnlich wie Proklos zur griechischen^):
in dem ^Schema der Dreieinigkeiten^ von Position, Negation und Aufhebung
der Negation werden alle Begriffe, mit denen der menschliche Geist je die Wii'k-
lichkeit oder einzelne Gruppen derselben gedacht hat, zu einem einheitlichen
System zusämmengewoben. Jeder davon erhält damit seine Stelle angewiesen,
an der seine Nothwendigkeit, seine relative Berechtigung deutlich werden soll:
aber jeder erweist sich damit auch nur als ein Moment, welches erst im Zu-
sammenhange mit den übrigen und durch die Art seiner Einfügung in das Ganze
seinen wahren Werth erhält. Es soll gezeigt werden, dass die Gegensätze und
Widersprüche der Begriffe zum Wesen des Geistes selbst und damit auch zum
Wesen der aus ihm entfalteten Wirklichkeit gehören und dass ihre Wahrheit
gerade in dem Zusammenhange besteht, in welchem die Kategorien aus einander
sich ergeben. „Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst
nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Be-
wegung des Lebens der Wahrheit ausmacht^ ^).
1) Hegel, Phänomen. Vorr. W. JI, 14. — 2) Diese metaphysische Logik ist natürlich
nicht die formale, sondern ihrer Bestimmung nach recht eigentlich Kant's transscendentale
Logik. Der Unterschied ist nur der, dass die „Erscheinung" für Kant eine menschliche Vor-
steUungsweise, für Hegel eine objective Entausserung des absoluten Geistes ist. — 8) Vgl. oben
S. 197. — 4) Dieser Heraklitismus, der schon in Fichte's Lehre vom Thun (vgl. oben S. 467)
angelegt war, fand seinen lebhaftesten Gegner in Herbart's Eleatismus (vgl. § 41, 7f). Dieser
uralte Gegensatz macht das Wesentliche in dem Verhältniss der beiden Zweige des deutschen
Idealismus aus (vgl. oben S. 459, Anm.).
Windelband, Geschichte der Philosophie. 31
482 VI. Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
Darum ist Hegers Philosophie wesentlich historisch, eine systema-
tische Verarbeitung des ganzen Gedankenstoffs der Geschichte. Er
besass sowohl die Polyhistorie, welche dazu nöthig war, als auch die combinative
Feinftihligkeit zur Auffindung jener logischen Beziehungen^ auf welche es ihm
ankam. Das Interesse an seiner Philosophie trifft weniger die einzelnen Begriffe,
die er der geistigen Arbeit von zwei Jahrtausenden entnahm, als die syste-
matische Verbindung, welche er zwischen ihnen herstellte: und gerade durch
diese wusste er Sinn und Bedeutung des Einzelnen meisterhaft zu zeichnen und
tiberraschendes Licht auf längst bestehende Gedankengebilde zu werfen. Frei-
lich entfaltete er am Gegebenen die Willkür des constructiven Denkens,
welche das Wirkliche nicht so darstellte, wie es empirisch sich darbietet, sondern
so, wie es in der dialektischen Bewegung sein sollte, und diese Vergewaltigung
des Thatsächlichen konnte da bedenklich werden, wo er es versuchte, das em-
pirische Material in ein philosophisches System zu bringen, wie in der Natur-
philosophie, in der Geschichte der Philosophie, in der Geschichte überhaupt*
Desto glänzender bewährte sich die Macht des von historischem Geiste ge-
tränkten Denkens auf solchen Gebieten, wo der philosophischen Behandlung
ausdrücklich nur die Reflexion über ein zweifellos Gegebenes, kein Bericht über
empirische Wirklichkeit zukommt. So gab Hegel als Aesthetik einen histo-
rischen Aufbau der ästhetischen Ideale der Menschheit, welcher nach
Schiller'scher Methode und auch mit sachlicher Anlehnung an ilire Resultate
alle systematischen Grundbegriffe dieser Wissenschaft in der wohlgefügten
Reihenfolge des Symbolischen, des Classischen und des Romantischen heraus-
springen liess und danach ebenfalls das System der Künste in Architektur,
Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung gliederte. So entwickelte auch die
Religionsphilosophie aus dem Grundbegriff der Religion, dass sie das Ver-
hältniss des endlichen Geistes zum absoluten Geiste in der Form der Vorstellung
sei, die Stufen ihrer positiven Verwirklichung in der Naturrebgion der
Zauberei, des Feuerdienstes und der Thiersymbolik, in der Religion der geistigen
Individualität des Erhabenen, des Schönen, des Verstandesmächtigen, endlich
in der absoluten Religion, welche Gott als das vorstellt, was er ist, als den drei-
einigen Geist. Ueberall hat Hegel hier mit tiefgreifender Sachkenntniss die
Grundlinien gezogen, in denen sich später die empirische Behandlung derselben
Gegenstände bewegt hat, und die philosophischen Kategorien für die Gesammt-
betrachtung der historischen Thatsachen aufgestellt.
Dasselbe gilt auch für seine Behandlung der Weltgeschichte. Hegel ver-
stand unter objectivem Geist den übergreifenden Lebenszusammenhang der
Individuen, der, nicht von diesen erzeugt, vielmehr den Boden bildet, aus dem
sie geistig hervorgehen. Die abstrakte Form dieses Zusammenhanges heisst
Recht'); es ist der objective Geist „an sich". Die Unterordnung der subjec-
tiven Gesinnung des Einzelnen unter die Gebote des Gesammtbewusstseins
nennt der Philosoph „Moralität", während er den Namen der „Sittlichkeit''
für die Verwirklichung jenes Gesammtbewusstseins im Staate aufbewahrt. In
der immanenten Lebensthätigkeit der menschlichen Vernunft ist der Staat das
1) Daher behandelt Hegel die Lehre vom objectiven Geiste nnter dem Titel „Rechts-
philosophie**.
§ 42. System der Vernunft. (Hegel) 483
Höchste^ über ihn hinaus dringen nur Kunst, Religion und Wissenschaft bis
zum absoluten Geiste vor. Der Staat ist die Verwirklichung der sittlichen Idee,
der sichtbar gewordene Yolksgeist: er ist seiner Idee nach das lebendige Kunst^
werk, worin die Innerlichkeit der menschlichen Vernunft in die äussere Erschei'
nung tritt. Aber diese Idee, aus der sich das System der Formen und Functionen
des Staatslebens ableitet, tritt in der Wirklichkeit nur in den individuellen
Bildungen der entstehenden und vergehenden Staaten auf: seine wahre und volle
Verwirklichung ist nur die Weltgeschichte, in welche die Völker successive
eintreten, um ihren Geist in der Arbeit der Staatenbildungen auszuleben und
dann vom Schauplatz zurückzutreten. So charakterisirt sich jede Epoche durch
die geistige Vorherrschaft eines bestimmten Volkes, welches das Zeichen seiner
Eigenart allen Arten der Culturthätigkeit aufragt. Und wenn es die Gesammt-
aufgabe der Geschichte ist, diesen Zusammenhang zu verstehen, so wird auch
die Politik nicht meinen dürfen, aus abstrakten Anforderungen ein Staatsleben
construiren und decretiren zu können, sondern sie wird in der ruhigen Entwick-
lung des Volksgeistes die Motive seiner politischen Bewegung zu suchen haben.
So wendet sich in Hegel, dem „Philosophen der Restauration'', die histo-
rische Weltanschauung gegen den revolutionären Doctrinarismus der Auf-
klärung.
Geringer sind HegePs Erfolge in der Behandlung naturphilosophischer
und psychologischer Fragen: die Energie seines Denkens liegt auf dem Gebiete
der Geschichte. Das äussere Gesammtschema seines Systems ist in grossen
Zügen folgendes: der „Geist an sich'', d. h. seinem absoluten Inhalt nach, ist
das Reich der Kategorien; von ihm handelt die Logik als Lehre vom Sein, vom
Wesen und vom Begriff. Der „Geist flir sich", d. h. in seinem Anderssein und
seiner Selbstentfremdung, ist die Natur, deren Gestalten in der Mechanik,
Physik und Qrganik abgehandelt werden. Der dritte Haupttheil betrachtet als
Philosophie des Geistes den „Geist an undftLr sich", d. h. in seinem bewusst
zu sich selbst zurückkehrenden Leben; hier werden drei Stufen unterschieden:
der subjective (individuelle) Geist, der objective Geist als Recht, Moralität, Staat
und Geschichte, endlich der absolute Geist als Anschauung in der Kunst, als
Vorstellung in der Religion, als Begriff in der Geschichte der Philosophie.
Dabei wiederholt sich in allen diesen Theilen der Philosophie nicht nur
die formale Dialektik der Begriffsbildung, sondern auch die sachliche Reihenfolge
der Begri&inhalte. So entwickelt bereits die Logik in ihrem zweiten und dritten
Theil die Grundkategorien der Natur- und Geistesphilosophie; so weist die Ent-
wicklung der ästhetischen Ideale stetig auf diejenige der religiösen Vorstellungen
hin, so steht der gesammte Gang der Logik in Parallelismus zur Geschichte der
Philosophie. Gerade dies Verhaltniss gehört zum Wesen des Systems derVer-
nunft, welches hier nicht mehr wie bei Kant nur die Formen, sondern auch
den Inhalt umfasst und diesen seinen zuletzt doch überall mit sich selbst gleichen
Inhalt in der Mannigfaltigkeit der „Gestalten der Wirklichkeit '^ vor sich ent**
falten soll. Die Entwicklung ist immer dieselbe, dass die „Idee" durch ihre
Selbstentzweiung „zu sich selbst kommt". Darum gehen die Kategorien von
dem inhaltlosen Sein zu dem innerlichen Wesen und von da zu der sich selbst
begreifenden Idee fort; darum steigen die Gestalten der empirischen Welt von
der Materie zu den Imponderabilien, zum Organismus, zum Bewusstsein, zum
31*
484 ^* Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
Selbstbewusstseiii; zur Yerhunft^ zum Recht, zur Moralität und zur Sittlichkeit
des Staats auf, um in Kunst, Religion und Wissenschaft den absoluten Geist zu
erfassen; darum hebt die Geschichte der Philosophie mit den Kategorien des
materiellen Seins an und vollendet sich nach allen üiren Geschicken in der Lehre
von der sich selbst begreifenden Idee; darum endlich soll man auch in dies
„System der Vernunft^ den Eingang am besten dadurch finden, dass man sich
klar machty wie der menschUche Geist mit dem sinnlichen Bewusstsein beginnt
und durch dessen Widersprüche zu immer höherer und tieferer Erfassung seiner
selbst getrieben wird, bis er in der philosophischen Erkenntniss, in der Wissen-
schaft des Begriffs, seine Buhe findet. Das Ineinander aller dieser Entwicklungen
hat Hegel mit dunkler Sprache und geheimnissvoll andeutendem Tiefsinn in
seiner Phänomenologie dargestellt.
In diesem System der Vernunft hat jedes Einzelne seine Wahrheit und
Wirklichkeit eben nur darin, dass es ein Moment in der Entwicklung des Ganzen
ist. Nur als solches ist es in concreto wirklich und wird es von der Philosophie
begriffen. Nimmt man es aber abstrakt, denkt man es in seiner Vereinzelung,
worin es nicht realiter, sondern nur nach der subjectiven Auffassung des Ver-
standes besteht, so verliert es jenen Zusammenhang mit dem Ganzen, in dem
seine Wahrheit und Wirklichkeit besteht: dann erscheint es als zufällig und ver-
nunftlos. Aber als solches existirt es eben nur in dem beschränkten Denken des
einzelnen Subjects. Für die philosophische Erkenntniss gilt, dass, was ver-
nünftig ist, wirklich ist, und dass, was wirklich ist, vernünftig ist ^). Das System
der Vernunft ist die einzige Realität.
§ 48. Die Metaphysik des Irrationalen.
Die „Dialektik der Geschichte^ hat gewollt, dass auch das System der
Vernunft in sein Gegentheil umschlug, und dass die Einsicht in die Unübersteig-
lichkeit der Grenzen, auf welche^ der Versuch einer Deduction aller Erschei-
nungen aus Einem Grundprincip nothwendig stösst, unmittelbar neben jenen
idealistischen Lehren andere entstehen liess, welche sich eben dadurch genöthigt
fanden, die Unvernunft des Weltgrundes zu behaupten. Diesen Process
hat zuerst der vielseitigste Träger der Hauptentwicklung, der Proteus des
Idealismus, Schelling, an sich selbst erlebt. Das Neue ist dabei nicht die Er-
kenntniss, dass das vernünftige Bewusstsein zuletzt doch immer irgend etwas zum
Inhalt hat, was es einfach in sich vorfindet, ohne sich darüber Rechenschaft
geben zu können: solche Grenzbegriffe waren das transscendentale X als Ding-
an-sich bei Kant, als Bewusstseinsdifferential bei Maimon, als grundlos freie
Handlung bei Fichte. Das Neue war, dass dies von der Vernunft nicht zu Be-
greifende, ihrer Arbeit Widerstehende nun auch als etwas Unvernünftiges
gedacht werden sollte.
1. Schelling ist auf die Bahn des Irrationalismus merkwürdigerweise gerade
durch die Aufnahme des religiösen Motivs in den absoluten IdeaUsmus (§ 42, 9)
gedrängt worden. Wenn „das Absolute^ nicht mehr bloss in spinozistischer
Weise als das allgemeine, indifferente Wesen aller Erscheinungen, sondern als
Gott gedacht, wenn das göttUche und das natürliche Princip der Dinge unter«*
1) Vorrede zur Rechtsphilos. W. VIII, 17.
§ 43. Metaphysik des Irrationalen. (Schelling.) 485
schieden wurden^ sodass den ewigen Ideen als den Formen der göttlichen Selbst-
anschauung eine gesonderte Existenz neben den endlichen IHngen zugewiesen
wurde^ so musste die Verwandlung Gottes in die Welt von Neuem zum Problem
werden. Das war ja im Grunde genommen auch Hegel's Problem, und dieser
hatte sehr Kecht, wenn er später lehrte, dass nach ihm die Philosophie dieselbe
Aufgabe habe wie die Theologie. Er half sich mit der dialektischen Methode,
die in der Form einer höheren Logik zeigen sollte, wie die Idee sich ihr^n
eigenen begrifflichen Wesen gemäss zum ;, Anderssein", d. h. zur Natur, zur end*
liehen Erscheinung entlässt
Dasselbe Problem hat Schelling auf dem Wege der Theosophie zu lösen
versucht; d. h. durch eine mystisch-speculative Lehre, welche die philosophischen
Begriffe in religiöse Anschauungen umsetzte. Er gerieth auf diesen Weg dadurch,
dass ihm das Problem in der Gestalt eines Versuchs der Einschränkung der
Philosophie durch die Religion entgegengebracht wurde, und dass er in lebhafter
Keaction dagegen sich im Namen der Philosophie anheischig machte, auch das
religiöse Problem zu lösen. Bas konnte dann freilich nur geschehen, wenn die
Philosophie in theosophische Speculationen überging.
Ein Schüler des Identitätssjstems, Eschenmayer ^), zeigte, dass die philo-
sophische Erkenntniss zwar die Vemünftigkeit des Weltinhalts, seine üeber-
einstimmung mit der göttlichen ürvemunft aufweisen, dass sie aber nicht zeigen
könne, wie dieser Inhalt zu der selbständigen Existenz gelange, welche er in
den endlichen Dingen der Gottheit gegenüber hat. Hier höre die Philosophie
auf und beginne die Religion. Um nun auch dies Gebiet der Philosophie zu
vindiciren und die alte Einheit von Religion und Philosophie wiederherzustellen,
nimmt Schelling specifisch religiöse Anschauungen als philosophische Begriffe
in Anspruch und formt sie demgemäss bo um, dass sie nach beiden Seiten
brauchbar erscheinen: wobei er in ausgiebigstem Masse Kant's Religionsphüo-
sophie benutzt.
In der That^), vom Absoluten zum Wirklichen giebt es keinen stetigen
Uebergang; der Ursprung der Sinnenwelt aus Gott ist nur durch einen Sprung,
ein Abbrechen von der Absolutheit denkbar. Ein Grund dafür — lehrt Schelling
hier noch — ist weder im Absoluten noch in den Ideen zu finden: aber im Wesen
der letzteren ist wenigstens die Möglichkeit gegeben. Denn den Ideen als dem
„Gegenbild" des Absoluten, worin es sich selbst anschaut, theilt sich die Selb-
ständigkeit des Urbildes mit, die Freiheit des „In-sich-selbst-seins". In dieser
liegt die Möglichkeit des Abfalls der Ideen von Gott, ihrer metaphysischen
Verselbständigung, wodurch sie wirklich und empirisch, d. h. endlich werden.
Aber dieser Abfall ist nicht nothwendig und nicht begreiflich : er ist eine grund-
lose Thatsache, aber nicht ein einmaliges Geschehniss, sondern so zeitlos, ewig,
wie das Absolute und die Ideen selbst. Man sieht, die reUgiöse Färbung dieser
Lehre stammt aus Kant's Lehre vom Radical-Bösen als einer That des inteUigiblen
Charakters, die philosophische dagegen aus Fichte's Begriff der grundlos freien
Handlungen des Ich. Auf diesem Sündenfall also beruht die Verwirklichung der
Ideen in der Welt. Daher ist der Inhalt der Wirklichkeitvemünftig und göttlich ;
1) EscHEMMATBB (1770—1862), Die Philosophie in ihrem Uebergange zur NiohtphÜo*
Sophie (1803). — 2) Schsluno, Religion und Phüosophie, W. I, 6, S. 38 ff.
486 VI. Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
denn es sind Gottes Ideen, die darin wirklich sind: ihr Wirklichsein aber ist
AbÜEilly Sünde und Unvernunft. Diese Wirklichkeit der Ideen ausser Gott ist die
Natur. Aber ihr göttliches Wesen strebt zu dem Urgrund und Urbild zurück,
und dieser Rückgang der Dinge in Gott ist dieGeschichte, das im Geiste
Gottes gedichtete Epos, dessen Ilias die immer weitere Abkehr des Menschen
von Gott, dessen Odyssee seine Rückkehr zu Gott ist. Ihre Endabsicht ist die
Versöhnung des Abfalls^ die Wiedervereinigung der Ideen mit Gott, das
Aufhören ihrer Selbständigkeit. Auch die Individualität erleidet dies Schicksal:
ihre Ich-heit ist inteUigible Freiheit, Selbstbestimmung, Losreissung vom Ab-
soluten : ihre Erlösung ist das Untertauchen in das Absolute.
In ähnlicher Weise hat Friedrich Schlegel*) die „Triplicität" des Un-
endlichen, des Endlichen und der Rückkehr des Endlichen zum Unendlichen zum
Princip seiner späteren Lehre gemacht, welche die Widersprüche des Wirklichen
alsThatsachebehaupten^aus dem Sündenfall erklären und durch die Unterwerfung
unter die göttliche Offenbarung versöhnen wollte, aber unter der gewandten Dar-
stellung nur mühsam die philosophische Impotenz ihres Urhebers verbarg.
2. Den Grübelsinn Schelling^s dagegen liess das einmal aufgedeckte
Problem nicht los. Der Monismus, der sein Denken stets beherrscht hatte, drängt
auf die Frage hin, ob denn nicht doch schliesslich der Grund des Abfalls im
Absoluten selbst zu finden sei; und diese konnte nur bejaht werden, wenn das
Irrationale in das Wesen des Absoluten selbst verlegt wurde. Von diesem
Gedanken aus befreundete sich Schelling mit der Mystik Jacob Boehme's
(vgl. S. 296). Sie wurde ihm durch den Umgang mit Franz von Baader nahe
gebracht. Dieser selbst hatte seine Anregung ebenso wie von Boehme auch von
dessen französischem Propheten St.Martin ^) empfangen und sie, am katholischen
Glauben festhaltend, mit geistvoll dunkler Phantastik und unmethodischer An-
eignung kantischer und fichte'scher Gedanken in sich verarbeitet. Die eigene
Idee, die in ihm wühlte, war die, dass der Lebenslauf des Menschen, der Gottes
Ebenbild ist und der von sich nur so weit wissen kann als Gott von ihm weiss,
der Selbstentwicklung Gottes parallel sein müsse. Da nun des Menschen Leben
durch den Sündenfall als Anfang und die Erlösung als Ziel bestimmt ist, so muss
die ewige Selbstgebärung Gottes darin bestehen, dass auch Gott aus
dunklem, vemunftlosen Urwesen sich durch Selbstoffenbarung und Selbsterkennt-
niss zur absoluten Vernunft entfaltet.
Unter solchen Einflüssen fing nun auch Schelling in seiner Schrift ') über die
Freiheit (1809) an, von einem Urgrund, Ungrund oder Abgrund im göttlichen
Wesen zu reden, welcher als das blosse Sein und der absolute „Urzufall", als
ein dunkles Streben, ein unendhcher Trieb geschildert wird. Es ist der unbe-
wusste Wille, und alle WirkUchkeit ist in letzter Instanz Wollen. Dieser nur auf
1) In den von Wn^DrscmiANN herausgegebenen „FhüosophiBchen Vorlesungen'' (1804 — 6)
und ebenso später in der „Phüosophie des Lm>ens'' und der i,Fhilosophie der Geschichte" (1828
u. 29). — 8) St. Mabun (1748—1803), „Le philosophe inconnu**, der rührige Gegner der Auf-
klärung und der Hevolution war durchaus von Boehme^s Lehren ergriffen, dessen Aurora er
übersetzte. Von seinen Schriften sind Lliomme de desir (1790), Le nouvel homme (1796), De
Feaprit des choses (1801) die wichtigsten; die interessanteste vielleicht das wunderliche Werk
Le crocodile ou guerre du bien et du mal arrivee sous le r^gne de Louis XV, potoe äpioo-
magique (1799). Vgl. A. France, La philosophie mystique en France (Paris 1866); auch
V. Osten-Sacken, Fr. Baader und St. Martin (Leipzig; 1860). — S) Hiemach pflegt diese spätere
Lehre Schelling's „Freiheitslehre" genannt zu weraen wie die frühere das nldentitätssyBiem".
§ 43. Metaphysik des Irrationalen. (Schelling.) 487
8ich selbst gerichtete Wille erzeugt als seine Selbstoffenbarung die Ideen, das
Ebenbild, in dem der Wille sich selbst anschaut, — die Vernunft: aus der Wechsel-
wirkung des ewig dunklen Dranges und seiner idealen Selbstanschauung geht die
Welt hervor, die als Natur den Widerstreit zweckmässiger Gestaltung und un-
vernünftigen Triebes erkennen lässt ^) und ak geschichtlicher Process den Sieg
des in der Vernunft offenbarten Allgemeinwillens über die natürliche Unvernunft
des Particularwillens zu ihrem Inhalte hat. Derart fuhrt die Entwicklung
des Wirklichen von der Unvernunft des Urwillens (deus implicitus) zur Selbst-
erkenntniss und Selbstbestimmung der Vernunft (deus explicitus').
3. So wurde fiir Schelling wie früher die Kunst zuletzt die Religion zum
^Organen der Philosophie^. Da der Process der Selbstentwicklung Gottes sich
in den Offenbarungen abspielt, mit denen er im menschlichen Geiste sich selbst
anschaut, so müssen alle Momente des göttUchen Wesens in der Reihenfolge der
Vorstellungen zu Tage treten, welche der Mensch in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung von Gott hat. Deshalb wird in der Philosophie der Mythologie
und Offenbarung, dem Werke von Schelling's Alter, die Erkenntniss
Gottes aus der gesammten Religionsgeschichte gewonnen: indemFort-
schritt von den Naturreligionen bis zum Christenthum und seinen verschiedenen
Gestaltungen kommt die Selbstoffenbarung Gottes vom dunklen Urwillen bis zum
Geiste der Vernunft und der Liebe zum Durchbruch. Gott entwickelt sich selbst,
indem er sich den Menschen offenbart').
Der methodischen Form nach erinnert dies Princip stark an Hegel's Auf-
flEissung der Geschichte der Wissenschaft, worin „die Idee zu sich selbst kommt",
und auch die glückliche Combination und die feinfühlige Gruppirung, womit
Schelling den massenhaften Stoff der ReUgionsgeschichte in diesen Vorlesungen
bemeistert hat, zeigt sich durchaus der HegePschen Art verwandt und ebenbürtig.
Allein die philosophische Grundauffassung ist doch völlig verschieden. Schelling
bezeichnet den Standpunkt dieser seiner letzten Lehre als metaphysischen
Empirismus. Sein eigenes früheres und Hegel's System nennt er jetzt die
negative Philosophie: sie vermag wohl zu zeigen, dass, wenn Gott sich einmal
offenbart, er dies in den dialektisch zu construirenden Gestalten der natürlichen
und der historischen Wirklichkeit thut. Aber dass er sich offenbart und sich
damit in die Welt verwandelt, vermag die Dialektik nicht zu deduciren. Das ist
überhaupt nicht zu deduciren, sondern nur zu erfahren, und zwar aus der Art,
wie sich Gott im religiösen Leben der Menschheit offenbart. Daraus
Gott und seine Selbstentwicklung in die Welt zu begreifen, ist die Aufgabe der
positiven Philosophie.
Diejenigen, welche Schelling's Philosophie der Mythologie und Offenbarung
sogleich und später als „Gnosticismus'' verspottet haben, wussten wohl kaum,
wie tief begründet der Vergleich war. Sie hatten nur die phantastische Verquickung
mythischer Vorstellungen und philosophischer Begriffe und die WiUkür kosmo-
gonischer und theogonischer Constructionen im Auge. Die wahre Aehnlichkeit
aber besteht darin, dass, wie einst die Gnostiker den Kampf der Religionen, in
dem sie standen, zu einer Geschichte des Universums und der darin waltenden
1) ScHKLUNO, Unters, über die Freiheit, W. I, 7, 376. — 2) Vgl. oben S. 229. — 8) Vgl.
CONSTANTIN Frantz, Schelling's positive Philosophie, Cöthen 1879 f.
488 ^^* Deutsche Philosophie. 2. Entwicklung des Idealismus.
göttlichen Mächte umdeuteten, so nun Schelling die Entwicklung der menschlichen
Vorstellungen von Gott als die Entwicidung Gottes selbst darstellte.
4« Zur vollen Ausbildung ist durch Abstreifnng des religiösen Moments
der Irrationalismus bei Schopenhauer entwickelt worden. Jener dunkle,
nur auf sich selbst gerichtete Drang erscheint bei ihm unter dem Namen des
Willens zum Leben als das Wesen aller Dinge, als Ding-an-sich (vgl. § 41, 9).
Dem Begriffe nach hat dieser nur auf sich selbst gerichtete Wille eine formale
Aehnlichkeit mit Fichte's ^unendlichem Thun^, gerade so wie das auch bei
SchlegeFs Ironie der Fall war (vgl. § 42, 5): allein in beiden Fällen ist die sach-
liche Differenz um so grösser. Die lediglich auf sich selbst gerichtete Thätigkeit
ist bei Fichte die Autonomie sittlicher Selbstbestimmung, bei Schlegel das will*
kürliche Spiel der Phantasie, bei Schopenhauer die absolute Unvernunft eines
gegenstandslosen Willens. Da dieser Wille nur ewig sich selbst erzeugt, so
ist er der niemals befriedigte, der unselige Wille: imd da die Welt nichts ist
als die Selbsterkenntniss (Selbstoffenbarung — Objectivation) dieses Willens, so
muss sie eine Welt des Elends und des Leidens sein.
Diese metaphysische Begründung des Pessimismus verstärkt nun Schopen-
hauer^) durch die hedonische Beurtheilung des Lebens selbst. Zwischen Wollen
und Erreichen fliesst jedes Menschenleben fort. Aber Wollen ist Schmerz, ist
Unlust desNoch-nicht-befiiedigtseins. Darum ist Unlust das positive Gefühl,
und die Lust besteht nur in der Aufhebung einer Unlust. Daher muss im Willens-
leben unter allen Umständen die Unlust überwiegen, und das wirkliche Leben
bestätigt diese Folgerung. Man vergleiche mit der Lust des fressenden Thieres
die Qual des gefressenen — und man wird ungefähr richtig das Yerhaltniss von
Lust und Unlust in der Welt überhaupt danach abschätzen können. Deshalb
endet aber auch das Leben der Menschen überall in die Klage, das Beste sei
nie geboren zu sein.
Ist Leben Leiden, so kann nur Mitleid das ethische Grundgefühl sein (vgl.
§ 41, 9). Unmoralisch ist der Individualwille, wenn er das Leid des anderen
mehrt oder auch nur dagegen gleichgiltig ist; moralisch ist er, wenn er es als
eigenes Leid fühlt und zu lindern sucht. Vom Mitleid aus gab Schopenhauer
seine psychologische Erklärung des sittlichen Lebens. Allein diese Linderung
des Leids ist nur ein Palliativ: sie hebt den Willen nicht auf, und mit ihm bleibt
seine Unseligkeit bestehen. „Die Sonne brennt ewigen Mittag." Das Elend des
Lebens bleibt immer dasselbe: nur seine Yorstellungsform ändert sich. Die ein-
zelnen Gestalten wechseln, aber der Inhalt ist immer der gleiche. Deshalb kann
von einem Fortschritt in der Geschichte nicht die Rede sein: die intellectuelle
Vervollkommnung ändert an dem Willenswesen des Menschen nichts. Die Ge-
schichte zeigt nur das endlose Leid des Willens zum Leben, der mit immer neuen
Personen stets dieselbe Tragikomödie vor sich selber auffuhrt*). Aus diesem
1) Welt als W. u. V. I § 56ff., 11 cap. 46; Parerga II, cap. llf. — 2) Daher war
der Gedanke, auf diesen Schopenhauer'schen Willens-Irrationalismus nach dem Muster der
Schelling'schen Freiheitslehre den Optimismus des Hegerschen Entwicklungssystems zu
pfropfen, ebenso verfehlt wie etwa die Hofinung, speculative Resultate nach inductiv-natur-
wissenschaftlicher Methode zu gewinnen : und mit der organischen Verbindung beider Un-
möglichkeiten konnte selbst ein so geistvoller, tief und vielseitig grübelnder Denker wie
Eduard V. Hartmann (Die Philosophie des Unbewnssten, Berlin 1869) nur den Erfolg eines
für kurze Zeit blendenden Meteors haben.
§ 43. Metaphysik des Irrationalen. (Schopenhauer.) 489
Grunde hat die Schopenbauer'sche Philosophie kein Interesse an der Geschichte:
die letztere lehrt nur Individuelles, es giebt von ihr keine begriffliche Wissenschaft.
Eine Erlösung vom Elend des Willens wäre nur durch die Verneinung
des Willens selbst möglich. Aber diese ist ein Mysterium. Denn der Wille^
das §v xal icav, das einzig Reale ist ja seinem Wesen nach Selbstbejahung: wie
soll er sich selbst yemeinen? Allein die Idee dieser Erlösung liegt vor in der
mystischen Askese, in der Abtödtimg des Selbst, in der Verachtung des Lebens
und aller seiner Güter, in dem Seelenfrieden der Wunschlosigkeit. DaS; meinte
Schopenhauer, ist der Inhalt der indischen Religion und Philosophie, die um
seine Zeit in Europa bekannt zu werden anfing; er begrüsste diese Identität
seiner Lehre mit der ältesten Weisheit des Menschengeschlechts als willkonmiene
Bestätigung und nannte nun die Vorstellungswelt den Schleier der Miga und die
Verneinung des Willens zum Leben den Eingang in das Nirwana. Aber jener
imvemünftige Wille zum Leben liess doch den Philosophen nicht los. Am
Schlüsse seines Werks deutet er an, was nach Vernichtung des Willens und
damit auch der Welt übrig bliebe, sei für alle die, welche noch des Willens voll
sind, allerdings Nichts: aber die Betrachtung des Lebens dei^ Heiligen lehre,
dass, während ihnen wiederum die Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstrassen
Nichts ist, sie die Seligkeit und den Frieden erreicht haben. „In deinem Nichts
hoflT ich das All zu finden."
Ist somit eine absolute Erlösung unmöglich — wäre sie je möglich, so könnte
es bei der Idealität der Zeit überhaupt keine Welt der Willensbejahung geben — ,
so giebt es doch eine relative Erlösung vom Leid in denjenigen intellectuellen
Zuständen, worin das reine willenlose Subject des Erkennens thätig ist, in der
interesselosen Anschauung und im interesselosen Denken. Das Object fiir beide
sind nicht die einzelnen Erscheinungen, sondern die ewigen Formen der Willens-
objectivation, — die Ideen. Dies platonische (und schelling'sche) Moment fügt
sich aber (wie andrerseits auch die Annahme der intelligiblen Charaktere) äusserst
schwer dem metaphysischen System Schopenhauer's ein, wonach alle Besonde-
rung des Willens erst als Vorstellung in Raum und Zeit gedacht werden soll:
aber es giebt dem Philosophen Gelegenheit, das Schiller'sche Princip der inter-
esselosen Betrachtung auf die glücklichste Weise für den Abschluss seiner Lebens-
ansicht zu verwerthen. Der Wille wird sich selbst los, wenn er seine Objectivation
absichtslos vorzustellen vermag. Das Elend des unvernünftigen Weltwillens wird
gemildert durch Sittlichkeit : in Kunst und Wissenschaft wird es überwunden.
490
Vn. Theil.
Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
M. J. MoNRAD, Denkrichtanffen der neueren Zeit. Bonn 1879.
A. Frangk, Pbilosophes modernes etrangers et fran^is. Paris 1873.
Ph. Damiron, Essai sur Thistoire de la philosophie en France au 19* siecle. Paris 1834.
H. Tainb, Les philosophes classiques fintn^s au 19* siecle. Paris 1857.
F. Ravaisson, La philosophie en France au 19* siecle. Paris 1868.
L. Ferraz, Histoire de la philosophie en France au 19* siecle, 3 Bde. Paris 1880—89.
D. Massok, Recent English philosophy, 3. Aufl. London 1877.
Har. Höffoing, Einleitung; in die englische Philosophie der Gegenwart. Leipzig 1890.
L. Ferri, Essai sur Thistoire de la philosophie en Italic au 19* siäole. Paris 1869.
K. Werner, Die italienische Philosophie des 19. Jahrhunderts. Wien 1884ff.
Die Geschichte der philosophischen Principien ist mit der Ent-
wicklung der deutschen Systeme an der Orenzscheide zwischen dem vorigen und
unserem Jahrhundert abgeschlofssen. Eine Uebersicht über die darauf und
daraus folgende Entwicklung^ in der wir noch heute stehen, ist weit mehr litterar-
historischen, als eigentlichen philosophischen Interesses. Denn wesentlich und
werthvoll Neues ist seitdem nicht zu Tage getreten. Das 19. Jahrhundert ist
weit davon entfernt, ein philosophisches zu sein : es ist in dieser Hinsicht etwa
mit dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. oder mit dem 14. und 15. Jahrhundert
n. Chr. zu vergleichen. Wollte man in HegeFs Sprache reden, so müsste man
sagen, dass der Weltgeist unserer Zeit, in der Wirklichkeit so sehr beschäftigt
und nach aussen gerissen, abgehalten ist, sich nach Innen und auf sich selbst zu
kehren und in seiner eigenthümlichen Heimath sich selbst zu gemessen ^). Aus-
gebreitet freilich genug und ebenso bunt in allen Farben schillernd ist die philo-
sophische Litteratur des 19. Jahrhunderts: reich gewuchert in allen Sphären der
Wissenschaft und des öffentlichen Lebens, der Dichtung und der Kunst hat der
Same der Ideen, der uns aus den Tagen der Bltithe des geistigen Lebens her-
überwehte; in einer fast unübersehbaren Fülle wechselnder Verbindungen haben
sich die Gedankenkeime der Geschichte zu vielen Bildungen von persönlich ein-
drucksvoller Besonderheit zusammengefunden: aber selbst Männer, wie Hamilton
und Comte, wie Rosmini und Lotze haben ihre Bedeutung doch schliesslich nur
in der geistvollen Energie und der feinfühligen Umsicht,* womit sie typische Ge-
dankenformen der Geschichte zu neuer Lebendigkeit gestaltet haben, und auch
der allgemeine Gang, welchen das Probleminteresse und die Begriffsbildung
unseres Jahrhunderts genommen haben ^, bewegt sich in den Bahnen historisch
1) Hegel, Berliner Antritterede, W. VI, XXXV. — 2) Dem litterarhistorischen Inter-
esse an dieser schwer zu bemeistemden Mannigfaltigkeit hat der Verfasser seit Jahren eine
umfangreiche, der Natur der Sache nach weit verzweigte und, wie sich leicht verstehen lasst,
vielfach durch äussere Schwierigkeiten gehemmte Arbeit gewidmet, deren Ertrag er nun bald
successive als einzelne Theile des dritten (ergänzenden) Bandes seiner nOeschichte der neueren
Philosophie" vorzulegen hoffen darf. Darin wird ausgeführt und bewiesen werden können,
was hier nur noch kurz skizzirt werden darf.
VII. Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. 491
Überkommener und höchstens in ihrem empirischen Ausdruck neu geformter
Gegensätze.
Denn das entscheidende Moment in der philosophischen Bewegung des
19. Jahrhunderts ist zweifellos die Frage nach dem Mass von Bedeutung^ welches
die naturwissenschaftliche Auffassung der Erscheinungen für die gesammte Welt-
und Lebensansicht in Anspruch zu nehmen hat. Der Einfluss, welchen diese
Specialwissenschaft auf die Philosophie und das allgemeine Geistesleben gewonnen
hat; ist im 19. Jahrhundert anfänglich gehemmt und zurückgedrängt worden^
nachher aber zu um so grösserer Macht angewachsen. Die Metaphysik des 17.
und deshalb auch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts standen im Grrossen und
Ganzen unter der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens: die
AufEassung der allgemeinen Gesetzmässigkeit alles Wirklichen^ die Aufsuchung
einfachster Elemente und Formen des Geschehens, die Einsicht in die beständige
Nothwendigkeit, die allem Wechsel zu Grunde liegt, bestimmte die theoretische
Forschung und damit auch die beurtheilende Ansicht des Einzelnen, dessen
Werth an dem „Natürlichen^ gemessen wurde. Der Ausbreitung dieser mecha-
nischen Weltbebrachtung trat die deutsche Philosophie mit dem Grundgedanken
entgegen, dass alles so Erkannte nur die Erscheinungsform und das Vehikel einer
sich zweckvoU entwickelnden Innenwelt sei und dass das wahre Begreifen des
Einzelnen die Bedeutung zu bestimmen habe, welche ihm in einem zweckvollen
Lebenszusammenhange zukommt. Die historische Weltanschauung wai*
das Resultat der Gedankenarbeit, welche das „System der Vernunft" entwerfen
wollte.
Diese beiden Mächte ringen im geistigen Leben unseres Jahrhunderts mit
einander, und in ihrem Kampfe sind alle Argumente aus den früheren Perioden
der Geschichte der Philosophie in den mannigfachsten Zusammenstellungen auf-
geboten, aber keine neuen Principien in's Feld geführt worden, und wenn sich
dabei allmählich der Sieg auf die Seite des Demokritismus neigen zu wollen
scheint, so sind es hauptsächlich zwei Motive, die ihm in unseren Jahrzehnten
günstig gewesen sind. Das erste ist wesentlich intellectueller Natur und dasselbe,
welches auch in den geistiger lebenden Zeiten der vorigen Jahrhunderte wirk-
sam war: es ist die anschauliche Einfachheit und Klarheit, die Sicherheit
und Bestimmtheit naturwissenschaftlicher Einsichten, welche, mathematisch
formulirt und jederzeit in der Erfahrung aufweisbar, alle Zweifel und Meinungen
und alle Mühe des deutenden Denkens auszuschliessen verspricht. Weit wirk-
samer aber ist in unseren Tagen die handgreifliche U tili tat der Naturwissen-
schaft. Die mächtige Umgestaltung der äusseren Lebensverhältnisse, welche sich
im rapiden Fortschritt vor unseren Augen vollzieht, unterwirft den Intellect des
Durchschnittsmenschen widerstandslos der Herrschaft der Denkformen, denen
er so grosse Dinge verdankt, und deshalb leben wir unter dem Zeichen des
Baconismus (vgl. oben S. 305).
Sollen aus der philosophischen Litteratur dieses Jahrhunderts diejenigen
Bewegungen herausgehoben werden, in welchen jener charakteristische Gegensatz
seine bedeutsamste Erscheinung gefunden hat, so handelt es sich in erster Linie
um die Frage, in welchem Sinne das Seelenleben der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnissweise unterworfen werden kann: denn an diesem Punkte zuerst muss
über das Anrecht dieser Denkformen auf philosophische Alleinherrschaft ent-
492 ^n* Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
schieden werden. Deshalb ist über Aufgabe, Methode und systematische Be-
deutung der Psychologie nie mehr gestritten worden als im 19. Jahrhundert^
und an diesem Punkte sind auch die Geister am heftigsten auf einander gestossen.
Im Rückschlag gegen den hoch gespannten Idealismus der deutschen Philo-
sophie fliesst durch das 19. Jahrhundert ein breiter Strom materialistischer
Weltanschauung^ welche sich um die Mitte des Zeitraums, zwar ohne neue
Gründe oder Erkenntnisse, aber mit desto leidenschaftlicherer Emphase ans-
sprach; seitdem freilich in ihren Ansprüchen auf wissenschaftliche Gdtung sehr
viel bescheidener geworden ist, daftir aber um so wirksamer im Gewände skep-
tischer und positivistischer Vorsicht umgeht.
Zu den bedeutsamsten Auszweigungen dieser Denkrichtung gehört zweifel-
los das Bestreben, auch das gesellschaftliche Leben des Menschen, die geschicht-
liche Entwicklung und die Verhältnisse des geistigen Daseins unter naturwissen-
schaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Auf der anderen Seite hat aber
auch die historische Weltanschauung ihre kräftige Wirkung auf die Natur-
forschung nicht verfehlt, und in den Principien der entwicklungsgeschicht-
lichen Theorien scheinen sich historische und naturwissenschaftliche Welt-
ansicht so weit einander genähert zu haben, als es ohne eine neue übergreifende
philosophische Idee möglich ist.
Aus der phüosophischen Litteratur des 19. Jahrhunderts bis 1860 — 70 dürften etwa
folgende Hauptpunkte herauszuheben sein :
In Frankreich theilte sich die Ideologie in einen mehr physiologfischen und einen
mehr psychologischen Zweig. In der Richtung von Oabanis wirkten hauptsächlich die Pariser
Aerzte, wiePh.Pinel (1745—1826; Nosographie philosophique, 1798), F. J. V.Bronssais
(1772—1838; Traite de physiologie, 1822 f.; Traitö de Tirritation et de la folie, 1828) und der
Begründer der Phrenologie, Fr. Jos. Gall (1758—1828; Recherches sur le systÄme nerveux
en genäral et sur celui du cerveau en particulier, 1809,mit Spurz heim zusammen redigirt). —
Den Gegensatz bildete physiologisch die Schule von Montpellier: Barthez (1734—1806;
Nouveaux Clemens de la science de Thomme, 2. Aufl., 1806). Ihr traten bei M. F. X. Bichat
(1771—1802; Recherches physiologiques sur la vie et la mort, 1800), Bertrand (1795—1831,
Traite du somnambulisme, 1823) und Buisson (1766 — 1805; De la division la plus naturelle
des phencm^nes physiologiques, 1802). Dem entsprach die Ausbildung der Ideologie bei
Daube (Essai d'ideologie, 1803) und besonders bei Pierre Laromigui^re (1756 — 1837;
J^egons de philosophie, 1815—18) und seinen Schülern Fr. Thurot (1768—1832; De Tenten-
dcment et de la raison, 1830) und J. J.Oardaillac (1766 — 1845; Etudes ^l^mentaires de philo-
sophie, 1830). — Vgl. PiCAVET, Les ideolo^es. Paris 1891.
-Eine Richtung von umfangreicher historischer Bildung und tieferer Psychologie beginnt
mit M. J. Degerando (1772 — 1842; De la g^neration des connaissances humaines, Berlin
1802; Histoire comparee des systdmes de philosophie, 1804) und hat ihr Haupt in Fr. P. Gon-
thier Maine de Biran (1766 — 1824; De la decomposition de la pensee, 1805; Les rapports
du physique et dumoral de Thomme, gedr. 1834; Essai sur les fondemens de la psychologie,
1812; Oeuvres philosophiques editees par V. Cousin, 1841; Oeuvres in^dites öditees par
E. Naville, 1859; Nouvelles oeuvres inedites ed. par A. Bertrand, 1887). In diese Lehre münden
die Einflüsse der schottischen und der deutschen Philosophie durch P. Prevost (1751 — 1839),
Ancillon (1766—1887), Royer-Collard (1763—1845), Jouffroy (1796-1842) und vor
allen Victor Cousin (1792 — 1867; Introduction i Thistoire generale de la philosophie,
7. Aufl., 1872; Du vrai, du beau et du bien, 1845; Oeuvr. compl. Paris 1846 fif., vgl. E. Fuchs,
Die Philos. V. C.'s, Berlin 1847; J. E. Alaüx, La philosophie de M. Cousin, Paris 1864). Die
zahlreiche und namentlich durch ihre historischen Arbeiten ausgezeichnete Schule, welche
Cousin gründete, pflegt die spiritualistische oder eclectische genannt zu werden. Sie
war die officielle Philosophie seit der Juli-Revolution.
Ihre Hauptp^egner waren die Philosophen der kirchlichen Partei, deren Theorie
als Traditionalismus bezeichnet zu werden pflegt. Neben Chateaubriand (Le gänie du
Christianisme, 1802), Jos. de Maistre (1753 — 1821; Essai sur le principe g^nerateur des
constitutions politiques, 1810; Soiröes de St. Petersbourg, 1821)undJ.Fravssinon8(1765 — 1841;
Defense du Christianisme, 1823) steht hier im Vordergrunde V. G. A. de Stonald (1753 — 1841;
Theorie du pouvoir politique et religieux, 1796; Essai analytique sur les lois naturelles de
Vn. Philosophie des neuDzehnten Jahrhunderts. 493
I'ordre social, 1800; Du divorce, 1801; De la philosophie morale et politique du 18*8i^cle;
Oeuvres compl., 15 Bde., Paris 1816 £f.). In wunderlich phantastischer Weise ist der Traditio-
nalismus von P. S. Ballanche vorgetragen worden (1776 — 1847; Essai sur les institutions
sociales, 1817; La palingenesie sociale; Oeuvres compl^tes, 6 Bde., Paris 1883). Anfangs vertrat
diese Bichtung auch H. F. R de Lamennais (1782 — 1854) in seinem Essai sur Tindifference
en matiöre de religion (1817); später mit der Kirche zerfallen (Parole d'un croyant, 1834),
stellte er in der Esquisse d*une philosophie (4 Bde., 1841—46) ein umfassendes System der
Philosophie auf, welches zum Theil das Schelling'sche Identitatssystem, zum Theil den italieni-
schen Ontologismus zum Vorbilde hatte.
Unter den philosophischen Vertretern des Socialismus (vgl. L. Stein, Geschichte der
socialen Bewegung in Frankreich, Leipzig 1849fr.) ist der bedeutendste Cl. H. de St. Simon
(1760—1825; Introduction aux travaux scientifiques du 19* sidcle, 1807; Reorganisation de la
soci^t^ europ^enne, 1814; Systeme industriel, 1821 f. ; Nouveau christianisme, 1825; Oeuvres
choisies, 3 Bde., 1859). Von den Nachfolgern seien genannt: B. Enfantin (1796 — 1864; La
religion St. Simonienne, 1831), Pierre Leroux (1798 — 1871; Refutation de Teclecticisme,
1839; De Thumanitd, 1840) und Ph. Buchez (1796—1866; Essai d'un traite complet de philo-
sophie au point de vue du catholicisme et du progr^s, 1840).
Die interessanteste Sonderstellung nimmt Aug. Gomte ein, 1798 zu Montpellier
geboren, 1857 vereinsamt in Paris geston)en: Cours de philosophie positive (6 Bde., Paris
1840 — ^); Systöme de politique positive (Paris 1851 — 54); Catechisme positiviste (1858); vgl.
LiTTBft, G. et la philosophie positive, Paris 1868; J. St. Mill, 0. and positivisra, London 1865;
J. Rio, A. C, la philosophie positive resumee, Paris 1881 ; E. CAmD, The social philosophy and
religion of C, Glasgow 1885.
In England setzt sich die Associationspsychologie durch Thomas Brown auf
Männer wie Thomas Belsham (1750—1829; Elements of the philosophy of the human mind,
1801), John Fe am (First lines of the human mind, 1820) und viele andere fort, findet auch
hier in physiologischen und phrenologischen Theorien wie bei G. Gombe (A system of phreno-
logy, Edinburg 1825), Sam. Baley (Essays on the pursuit of truth, 1829; The theory of reaso-
ning, 1851 ; Lettres ou the philosophy of human mind, 1855) und Harriet Martine au (Lettres
on the laws of man^s uature and development, 1851) Unterstützung und erhält ihre volle Aus-
bildung durch James Mill (Analysis of the phaenomena of the human mind, 1829) und seinen
Sohn J. Stuart Mill (1806 — 1873; System of logic ratiocinative and inductive, 1843; Utili-
tarianism, 1863; Examination of Sir W. Hamiltons philosophy, 1865, posthum Nature, 1874.
Vgl. H. TADfE, Le positivisme anglais, Paris 1864). Nahe steht dieser Richtung auch Alex.
Bain (The senses and the intellect, 1856; Mental and moral science, 1868; The emotions and
the will, 1859). Den verwandten Utilitarismus vertreten G. Gogan (Philosophical treatise
on the passions, 1802; Ethical questions, 1817), John Austin (1790 — 1859; The philosophy
of positive law, 1832), G. Gornwall Lewis (A treatise on the methods of Observation and
reasoning in politics, 1852), den Gomte'schen Positivismus G. Henry Lewes (Problems of
life and mind, 3. Aufl., 1874) und mit einer Art von dialektischer Umbildung Herbert Spencer
(First principles, 1862; Principles of psychology, 1855; Dataof Ethics, 1879; zusammengefasst
als System of philosophy, seit 1862).
Die schottische Philosophie hatte nach Dugard Stewart und James Mackin tosh
(1764 — 1832; Dissertation on the progress of ethical philosophy, 1830) zunächst unbedeutende
Vertreter wie Abercrombie (1781 — 1846; Inquiry conc. the intellectual powers, 1830;
Philosophy of the moral feelings, 1833), Ghalmers (1780 — 1847) und wurde namentlich als
akademische Lehre dem Gousin^schen Eclecticismus genähert durch Henry Galderwood
(Philosophy of the Infinite, 1854), S.Morell (An historical and critical view of the speculative
philosophy of Europe in the 19'*» Century, 1846) auch H.Wedgwood (On the development of
the understanding, 1848).
Eine weitere Bereicherung der Gesichtspunkte trat durch die Bekanntschaft mit der
deutschen Litteratur ein, für welche Sam. Tayl. Goleridge (1772 — 1834), W. "Wordsworth
(1770—1850) und vor Allem Thomas Carlyle (1795 -1881); Past and present, 1843) thätig
waren. In der Philosophie machte sich dies zunächst durch den Einfluss von Kant geltend,
dessen Erkenntnisslehre auf J. Her sc hei (On the study of natural philosophy, 1831) und
besonders auf W. Whewell (Philosophy of the inductive sciences, 1840) wirlde.
In verständnissvoller Reaction gegen diese Einwirkung hat die schottische Philosophie
eine verth volle Umbildung durch Sir William Hamilton erfahren (1788—1856; Discussions
on philosophy and litterature, 1852; On truth and error, 1856; Lectures on metaphysics and
logic, 1859; Ausgaben von Reid's und Stewart's Werken; vgl. M, Veitsch, S. W. H., the man
and bis philosophy, Edinburg and London 1888). In seiner Schule scheidet sich der eigent-
liche Agnosticismus, den hauptsächlich M. L. Mansel (1820 — 1871; Metaphysics or the
philosophy of consciousness, 1860) vertritt, von einer anderen, der eclectischen Metaphysik
494 Vn. Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
zuneigenden Richtung: M. Veitsch, R. Lowndes (Introduction to the philosophy of primary
beliefe, 1865), Leechman, M'c Cosh u. A. r
Mehr noch als die französische ist die italienische Philosophie des 19. Jahrhunderts
durch politische Motive bestimmt und dabei in dem Inhalte der zu solchen Zwecken verarbei-
teten Gedanken theils von der französischen, theUs von der deutschen Philosophie abhängig.
Anfanglich hen'schte in Männern wie Gioia (1766 — 1829) oder seinem Freunde Romagnosi
(1761 — 1835) die Weltansicht der Encyclopädisten in praktischer und theoretischer Hinsicht,
während schon bei Pasquale Galluppi (1771 — 1846; Saggio iilosofico suUa critica delle con-
noscenze umane, 1820 ff.; Filosofia della volenti, 1832 ff.) kantische Einflüsse, freilich unter der
psychologistischen Form des Leibniz'schen virtuellen Angeborenseins sich geltend machen.
Später war die meist von Klerikern entwickelte Philosmphie wesentlich von der politi-
schen Verbindung des Papstthums mit dem demokratischen Liberalismus beeinflusst, indem
der Rationalismus sich mit dem Offenbarungsglauben vereinigen wollte. Die eigenartigste
und persönlich liebenswürdigste Erscheinung dieser Richtung ist Antonio Rosmini-Serbati
(1797 — 1855; Nuovo saggio sull' origine delle idee, 1830; Principj della scienza morale, 1831;
posthum Teosofia, 1859 ff ; Saggio storico-critico suUe categorie e la disdettioa, 1884; vgl. über
ihn F. X. Kraus, Deutsche Rundschau, 1890). Noch ausgesprochener geht die VerknüpAing
platonischer, cartesianischer und schelling*scher Ideen auf einen Ontologismus, d.h. auf
eine apriorische Seinslehre, aus bei Vincenzo Öioberti (1801 — 1852; Degli errori ülosofici di
Rosmini, 1842; Introduzione alla filosofia, 1840; Protolona, 1857. Vgl. B. Spavknta, La filo-
sofia di G., 1863). Diese ganze Entwicklung hat Terenzo J^amiani mitgemacht (1800 — 1885;
Confessioni di un metafisico, 1865).
Als Gegner fand diese Richtung einerseits den strammen Orthodoxismus von Ven-
tura (1792 — 1861), Tapparelli und Liberatore (Della conoscenza intellettuale , 1865),
andrerseits den politisch radicalen Skepticismus, wie ihn Guiseppe Ferrari (1811 — 1866;
La filosofia delle revoluzioni, 1851) und Antonio Francki (La reUgione del 19. secolo, 1853)
vertreten.
In Deutschland— vgl. Joh. Ed. Erdmakn, Grundriss 11, Anhang, § 331 ff. — breiteten
sich im drittenundvierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zunächst die grossen Schulzusammen-
hänge aus. Am geschlossensten und stabilsten erwies sich Herbart*s Anhängerschaft; in ihr
ragen hervor: M. Drobisch (Religionsphilosophie, 1840; Psychologie, 1842; Die moralische
Statistik und die menschliche Willensfreiheit, 1867), R. Zimmermann (Aesthetik, Wien 1865),
L. Strümpell (Hauptpunkte der Metaphysik, 1840; Einleitung in die Philosophie, 1886),
T. Ziller (Einleitung in die allgemeine Pädagogik, 1856). Eine besondere Auszweigung der
Schule bildet die sog. Völkerpsychologie, wie sie M. Lazarus (Leben der Seele, 18ß6f.)
und H. Steinthal (Abriss der Sprachwissenschaft, I, Einleitung in die Psychologie und
Sprachwissenschaft, 1871) eröffnet haben: vgl. deren gemeinsames Programm im 1. Bde. der
Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft.
Die HegeTsche Schule hat den Segen der Dialektik reichlich an sich er&hren; sie ging
an religiösen Gegensätzen schon in den dreissiger Jahren auseinander. Unbeirrt davon sind
die bedeutenden Historiker der Philosophie ihren Weg gegangen: Zeller und Prantl, Erd-
mann und Kuno Fischer. In der Mitte zwischen den Parteigegensätzen stehen mit selb-
ständigerem Denken K. Rosenkranz (1805—1879; Wissenschaft der logischen Idee, 1858f.)
und Friedrich Theodor Vi scher (1807—1887; Aesthetik, 1846—1858; Auch Einer, 1879).
Der „rechten Seite" der Schule HegePs, welche sich gegen die pantheistische Deutung
wehrte und die metaphysische Bedeutung der Persönlichkeit betont, traten solche Denker nahe,
welche in freierem Verhältniss zu Hegel Fichte'sche und Leibniz'sche Motive aufrechterhielten,
so J. H. Fichte (Sohn des Schöpfers der Wissenschaftslehre, 1797 — 1879; Beiträge zur
Charakteristik der neueren Philosophie, 1829; Ethik, 1850 ff.; Anthropologie, i856), Christ.
Weisse (1801—1866; System der Aesthetik 1830, bzw. 1871; Grundzüge der Metaphysik,
1835; Das philosophische Problem der Gegenwart, 1842; Philosophie des Christenthums,
ia55ff.), H. ülrici (1806—1884; Das Grundprincip der Philosophie, 1845f.; Gott und die
Natur, 1861; Gott und der Mensch, 1866). Ihnen verwandt war A. Trendelenburg, der an
Stelle von HegeFs dialektischem Princip den Begriff der „Bewegung" setzte und damit HegeFs
Philosophie zu bekämpfen meinte, sein Verdienst aber in der Anregung aristotelischer Studien
hat (1802—1872; Logische Untersuchungen, 1840; Naturrecht, 1860).
Zu den „Linken" unter den Hegelianern gehören Arnold Rüge (1802 — 1880; mit
EcHTEBMBYEB Herausgeber der Halle'schen Jahrbücher, 1838 — 40, und der Deutschen Jahr-
bücher, 1841f.; Ges. Schriften, 10 Bde., Mannheim 1846 ff.), Ludwig Peuerb ach (1804—1872;
Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, 1830; Philosophie und Christenthum, 1839; Wesen
des Christenthums, 1841; Wesen der Religion, 1845; Theogonie, 1857; Ges. Werke, 10 Bde.,
Leipzig 1846ff. Vgl. K. Grün, L. F, Leipzig 1874), David Friedrich Strauss (1808-1874;
§ 44. Kampf um die Seele. (Ideologie.) 495
Da8 Leben Jesu, 1835; Christliche G-laubenslehre, 1840 f.; Der alte und der neue Glaube, 1872;
G-es. Schriften, 12 Bde., Berlin 1876 ff. Vgl. A. Haüsbath, D. F. Str. und die Theologie seiner
Zeit, Heidelberg 1876 und 78).
Aus dem Materialismusstreit sind zu erwähnen: K. Moleschott (Kreislauf des
Lebens, 1852); Rudolph Wagner (lieber Wissen und Glauben, 1854; der Kampf um die Seele,
1857); 0. Vogt (Köhlerfflaube und Wissenschaft, 1854; Vorlesungen über den Menschen, 1863);
L. Büchner (Kraft und Stoff, 1855).
Die weitaus bedeutendste Erscheinung unter den Epigonen der deutschen Philosophie
Hrar Bud. Herrn. Lotze (1817 — 1881; Metaphysik, 1841; Logik, 1842; Medicinische Psycho-
loge, 1842; Mikrokosmus, 1856 ff.; System der Philosophie, I Logik, 1874, II Metaphysik,
1871^: vgl. 0. Gaspabi, H. L. in seiner Stellung zur deutschen Philosophie, 1883; E. v. Hart-
MAMli^L. s Philosophie, Berlin 1888).
Interessante Nebenerscheinungen sind: G. Th. Fechner (1801 — 1887; Nanna, 1848;
Physical. und philos. Atomenlehre, 1855; Elemente der Psychophysik, 1860; Drei Motive des
Glaubens, 1863; Vorschule der Aesthetik, 1876; Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht,
1879) und Eug. Dührinff (1833 geb.; Natürliche Difdektik, 1865; Werth des Lebens, 1865;
Logik und Wissenschafbsüieorie, 1878). — Von katholischer Seite haben sich an der Entwick-
lung der Philosophie betheiligt: Fr. Hermes (1775 — 1831; Einleitung in die christkatholisclie
Theologie, 1819), Beruh. Bolzano (1781—1848; Wissenschaftslehre, 1837), Anton Günther
(1785—1863; Ges. Schriften, Wien 1881) und Wilhelm Rosenkrantz (1821—1874; Wissen-
schaft des Wissens, 1866).
§ 44. Der Kampf um die Seele.
Eine charakteristische Veränderung in den allgemeinen wissenschaftlichen
Verhältnissen während des 19. Jahrhunderts ist die stetig fortschreitende und
jetzt als principiell vollendet anzusehende Ablösung der Psychologie von
der Philosophie^). Sie folgte aus dem rapiden Niedergange des metaphysi-
schen Interesses und der metaphysischen Leistungen, welcher zumal in Deutsch-
land als natürlicher Rückschlag auf die hohe Spannung des speculativen Denkens
eintrat. So eines allgemeineren Rück)ialts beraubt, besass die Psychologie in
dem Bestreben, sich als rein empirische Wissenschaft zu befestigen, zunächst
nur geringe Widerstandskraft gegen den Einbruch der naturwissenschaftlichen
Methode, wonach sie als ein Specialfach der Physiologie oder der allgemeinen
^Biologie behandelt werden sollte. Um diese Frage gruppiren sich eine Keihe leb-
hafter Bewegungen.
1. Im Anfang des Jahrhunderts bestand ein reges Wechselverhältniss
zwischen der französischen Ideologie und den Ausläufen der englischen Auf-
klärungsphilosophie, welche in Associationspsychologie und Common-sense-Lehre
gespalten war: dabei jedoch war jetzt Frankreich der führende Theil. Hier aber
trat immer schärfer der Gegensatz heraus, welcher in dem französischen Sen-
suaUsmus von Anfang an zwischen Condillac und Bonnet bestanden hatte (vgl.
S. 361). Bei Destutt de Tracy und noch bei Laromigui^re kommt es nicht zu
einer scharfen Entscheidung. Dagegen ist Cabanis der Führer der materiali-
stischen Bichtung: seine Untersuchung über den Zusammenhang des physi-
schen und des seelischen (moral) Wesens des Menschen kommt an der Betrach-
tung der verschiedenen Einflüsse des Alters, des Geschlechts, des Temperaments,
des EHimas etc. zu dem Ergebniss, dass überall das Seelenleben vom Leibe und
seinen physischen Beziehungen bestimmt sei. Andere Aerzte, vide Broussais
gaben dem Materialismus einen noch schärferen Ausdruck: die intellectuelle
Thätigkeit ist „eines der Resultate^ der Gehimfunctionen. Mit Begierde ergriff
1) Vgl. W. WiNDELBAMD, Ueber den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung
(Leipzig 1876).
496 Vn. Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
man daher die wunderliche Hypothese der Phrenologie, mit welcher Gall alle
die einzelnen „ Vermögen **, über die bisher die empirische Psychologie verfügt
hatte, an bestimmten Stellen des Gehirns localisiren wollte. Es war nicht nur
ein lustiges Treiben, als man im Publikum vernahm, dass sogar am Schädel die
mehr oder minder kräftige Entwicklung der einzelnen Seelenkräfte zu erkennen
sei, sondern es knüpfte sich, namentlich bei Medicinem, daran auch die Meinung,
dass ja damit nun die Materialität des sogenannten Seelenlebens «zweifellos auf^^
gedeckt sei. Besonders in England hat der phrenologische Aberglaube, wie>Ber
Erfolg von Combe's Schriften zeigt, sehr grosses Interesse hervorgerufOT und
einer rein physiologischen Psychologie im Sinne Hartley's Vorschub g^fleistet.
Erst John Stuart Mi 11 hat seine Landsleute zu Hume's Auffassung der Asso-
ciationspsychologie zurückgeführt. Ohne danach zu fragen, was Materie und
was Geist an sich seien, soll man von der Thatsache ausgehen, dass die körper-
lichen und die geistigen Zustände zwei völlig unvergleichliche Gebiete der Er-
fahrung darstellen, und dass die Psychologie als die Wissenschaft von
den Gesetzen des geistigen Lebens die Thatsachen desselben in sich selbst
Studiren muss und sie nicht auf die Gesetze einer anderen Daseinssphäre zurück-
führen darf.
2. Im Gegensatze zu der materialistischen Aufhebung der „Seele", die,
weil sie physiologisch nicht mehr als „Lebenskraft" nöthig schien, auch als Träger
des Bewusstseins ausgedient haben sollte, wurde aber doch von anderer Seite
die Activität des Bewusstseins betont. Nach de Tracy's Vorgang unter-
schied Laromiguidre's Ideologie sorgfältig zwischen den „Modificationen",
welche die blosse Folge leiblicher Erregungen sind, und den „Actionen" der
Seele, worin diese bereits im Wahrnehmen ihre Selbständigkeit bethätigt. In
der Schule von Montpellier glaubte man sogar noch an die „Lebenskraft",
welche Barthez allerdings als ein völlig Unbekanntes von Leib und Seele
getrennt denken wollte: aber auch Bichat unterschied vom „organischen"
Leben das „animale" durch das Merkmal der spontanen „Reaction". Zur vollen
Ausbildung aber war dies Moment in der Psychologie durch Maine de Biran
gekommen. Der feine Grübelsinn dieses Philosophen hat mannigfache An-
regungen der englischen und der deutschen Philosophie erfahren: hinsichtlich
der letzteren ist die wenn auch nur oberflächliche Bekanntschaft mit Kant's und
Fichte's Lehren und mit dem Virtualismus des in Paris merkwürdig oft ge-
nannten Bouterwek hervorzuheben^). So ist die Grundthatsache, auf welche
Maine de Biran seine später Spiritualismus genannte Theorie gründet, die,
dass wir im Willen zugleich unsere eigene Activität und den Widerstand des
„Non-Moi" (zunächst des eigenen Leibes) unmittelbar erleben. Die Reflexion
der Persönlichkeit auf diese ihre eigene Bethätigung bildet den Ausgangspunkt
aller Philosophie, für deren Erkenntniss somit die innere Erfahrung die Form,
die Erfahrung des Widerstrebenden den Stoff darbietet. Aus der Grundthat-
sache werden die Begriffe Kraft, Substanz, Ursache, Einheit, Identität, Freiheit,
1) Die Vermittlungen sind hier nicht nur litterarisch (Villers, Degerando etc.), sondern
in starkem Masse persönlich gewesen. Von g^rosser Bedeutung war u. A. die Anwesenheit der
Schlegel's in Paris, besonders die Vorlesungen Friedrich's ; in raris selbst die Gesellschalt von
Auteuil, zu der auch der Schweizer Gesandte Stapfer, eine hervorragend vermittelnde Persön-
lichkeit, gehörte.
fr.
l.U
§ 44. Kampf um die Seele. (Maine de Birau, Hamilton, Hegelianer.) 497
Nothwendigkeit entwickelt. Derart baut Maine de Siran auf die Psychologie ein
metaphysischefl System; welches vielfach an Descartes und Malebranche erinnert;
aber das cogito ergo sum durch ein volo ergo sum ersetzt; eben deshalb aber
hat er sich ganz besonders bemüht; die Grenzlinien zwischen Psychologie und
Physiologie sicher zu legen und namentUch den Begriff der inneren Erfahrung
(sens intime) als die an sich deutliche und selbstverständliche Grundlage aUer
Geisteswissenschaft zu erweisen. In nicht unähnlicher Weise hat Beneke die
innere ErÜEihrung; welche auch für ihn alle philosophischen Disciplinen trägt, als
das unmittelbare Wissen von den „Urvermögen^; d. h. von den activen Elementen
der Seelenthätigkeit; behandelt; und Fortlage hat diesen BegrüF noch mehr
fichtisch gestaltet.
In paralleler Weise ist in Folge der Einflüsse der deutschen Philosophie
und besonders Kant's die schottische Philosophie durch Hamilton vertieft
worden. Auch er vertheidigt den Standpunkt der inneren Erfahrung und be-
trachtet ihn als massgebend für alle philosophischen Disciplinen: nur in den
einem Jeden geläufigen und einfiach; unmittelbar verständlichen Thatsachen des
Bewusstseins ist Nothwendigkeit und AUgemeingiltigkeit zu finden. Aber in
diesen Thatsachen (und zu ihnen gehört auch jede einzelne Wahrnehmung von
dem Vorhandensein eines äusseren Dinges) gelangt immer nur Endhches in end-
lichen Verhältnissen und Beziehungen zu unserer Erkenntniss, und in diesem
Sinne (also ohne den kantischen Begriff der Phänomenialität) gilt fitr Hamilton
das menschliche Wissen auf Erfahrung des Endlichen beschränkt: vom Unend-
lichen und Absoluten; d. b. von Gott hat die Wissenschaft keine Vorstellung;
weil sie nur solches denken kann, was sie, um es auf einander zu beziehen; von
einander unterscheidet (vgl. Kant's Begriff der Synthesis).
3. Bei den Debatten über diese Fragen in Frankreich und England mischt
sich natürlich auch immer das religiöse oder theologische Interesse an dem
Begriffe der Seelensubstanz ein: im Vordergrunde stand dasselbe bei den
sehr heftigen Streitigkeiten; welche in Deutschland zur Auflösung der Hegel'-
sehen Schule führten. Sie drehten sich wesentlich um die Persönlichkeit
Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Der Hegelianismus konnte als
„preussische Staatsphilosophie ^ nicht bestehen, wenn er nicht darin die ^Identität
der Philosophie mit der Religion" aufrechterhielt. Die vieldeutige; in den dialek-
tischen Formalismus gehüllte Ausdrucksweise des Meisters, der an diesen Fragen
kein directes Interesse gehabt hatte; begünstigte diesen Streit um die Recht-
Gläubigkeit seiner Lehre. In der That versuchte die sog. ;,rechte Seite" der
Schule; zu der hervorragende Theologen wie Gabler, Göschel und Hinrichs ge-
hörten; diese Rechtgläubigkeit zu halten: aber wenn es vielleicht zweifelhaft
bleiben konnte, wie weit das ;,Zu-sich-selbst-kommen der Idee" als Persönlichkeit
Gottes zu deuten wäre; so wurde andrerseits klar; dass in dem System des
ewigen Werdens und des dialektischen Ueberganges aller Gestalten in einander
die endliche Persönlichkeit auf den Charakter einer „Substanz" und auf Un-
sterblichkeit im religiösen Sinne kaum scheinbar Anspruch zu erheben vermochte.
Dies Motiv drängte einige Philosophen aus der Hegel' sehen Schule heraus
und zu einer atheistischen" Weltansicht; welche (ähnUch wie die von Maine
de Biran) den Begriff der Persönlichkeit zu ihrem Mittelpunkte hatte und
hinsichtlich der endlichen Persönlichkeiten sich der Leibniz'schen Monadologie
Windelband, Geschichte der Phflosophie. 32
498 Yll» Philosophie des nounzehnten Jahrhunderts.
zuneigte. Der jüngere Fichte bezeichnete diese geistigen Realitäten als „Ur-
positionen"; die bedeutendste Ausfuhrung des Gedankens ist das philosophische
System von Chr. Weisse, welches ontologisch den Begriff des Möglichen über
den des Seins stellt, um dann alles Sein aus der Freiheit, als der Selbsterzeugang
der Persönlichkeit- (Fichte), abzuleiten. Mit mehr psychologischer Ausfuhrung
dieser Ansicht betrachtete Ulrici das Selbst als Voraussetzung der „unter-
scheidenden^ Thätigkeit, womit er alles Bewusstsein identificirte.
4. Von der Gegenpartei wurde gerade die in der Bestaurationszeit an Macht
und Anspruch wachsende Orthodoxie mit den Waffen des Hegehanismus bekämpft,
wobei in pubUcistischer Vertretung des religiösen wie des poUtischen Liberalismus
Buge den Führer abgab. Wie pantheistisch und spinozistisch von dieser Seite
her das idealistische System aufgefasst wurde, sieht man am besten aus Feuer-
bach's Gedanken über Tod und Unsterbhchkeit, wo die göttliche Unendlichkeit
als der letzte Lebensgrund des Menschen und sein Aufgehen in dieselbe als die
wahre Unsterbhchkeit und Seligkeit gefeiert wird. Von diesem idealen Pantheis-
mus aus ist Feuerbach dann sehr schnell zu den radicalsten Aenderungen seiner
Lehre fortgeschritten. Er fühlte, dass das panlogistische System das natürliche
Einzelding nicht zu erklären vermochte: hatte doch Hegel die Natur das Beich
der ZufälUgkeit genannt, welches unfähig sei, den Begriff rein zu erhalten.
Diese Unfähigkeit, dachte Feuerbach, steckt vielmehr in dem Begriff, den sich
der Mensch von den Dingen macht: die allgemeinen Begriffe, in denen die Philo-
sophie denkt, sind allerdings unfähig , das wirkhche Wesen des Einzeldinges zu
verstehen. Darum stellt Feuerbach nun das Hegel'sche System auf den Kopf,
imd so giebt es einen nomin alistischen Materialismus. Das Wirkhche ist
das sinnUche Einzelwesen: alles Allgemeine, alles Geistige ist nur eine Illusion
des Individuums. Der Geist ist die „Natur in ihrem Anderssein". So giebt Feuer-
bach seine rein anthropologische Erklärung derBeligion: der Mensch
betrachtet sein eigenes Gattungswesen, so wie er selbst zu sein wünscht, als Gott.
Die Erkenntnisslehre dieser „Philosophie der Zukunft" kann nur Sensuahsmus,
ihre Ethik nur Eudämonismus sein : der Glückseligkeitstrieb ist das Princip der
Moral und das Mitwollen des fremden Glücks, die Mitfreude, das ethische Grund-
gefühl.
Nachdem der MateriaUsmus eine so vornehm metaphysische Abkunft er-
wiesen hatte, bemächtigte man sich zu seinen Gunsten auch der anthropologischen
Begründungsweise, welche er seit Lamettrie in der französischen Litteratur er-
fahren hatte und welche sich durch die Fortschritte der Physiologie noch zu
stärken schien. So begann sich die materialistische Denkart auch in Deutschland
unter den Aerzten und Naturforschern auszubreiten, und dies kam bei der Natur-
forscherversammlung von 1854 in Göttingen zu Tage. Der Widerspruch zwischen
den Folgerungen der Naturwissenschaft und den „Bedürfnissen des Gemüths"
wurde das Thema eines auch litterarisch heftig fortgesetzten Streites, worin Carl
Vogt die Alleinherrschaft der mechanischen Weltansicht vertheidigte, Budolph
Wagner dagegen an den Grenzen der menscliUchen Erkenntniss die MögUchkeit
fär einen Glauben gewinnen wollte, der die Seele und ihre Unsterblichkeit rettete.
Dies Bestreben, welches höchst ungeschickt als „ doppelte Buchführung " bezeichnet
wurde '), ist in der Folge hauptsächlich wirksam gewesen, um bei den Natur-
1) Es ist nicht ohne luteressc zu constatiren, dass dies Motiv schon den franzrisischen
§ 44. Kampf um die Seele. (Lotze, Fechner.) 499
forschen}; welche die Einseitigkeit des Materialismus durchschauten; aber mit
der Teleologie des Idealismus sich nicht befreunden konnten; eine wachsende
Neigung für Kant zu erzeugen; in dessen Ding-an-sich sich jene Bedürfiüsse des
Gremüths flüchten zu dürfen meinten. Als dann 1860 Kuno Fischer's glänzende
Darstellung der kritischen Philosophie erschien; da begann jene „Rückkehr zu
Kant^; der es nachher beschieden sein sollte, in litterarhistorische Mikrologie
auszuarten. Der naturwissenschaftlichen Stimmung; aus der sie entsprang; hat
Albert Lange's Geschichte des Materialismus den Ausdruck gegeben.
Der Materialismus war damit in der Wissenschaft überwunden: er lebt in
populären Darstellungen; wie Büchner's „Kraft und Stofif^ oder in der feineren
Form von Strauss' „Alter und neuer Glaube^, er lebt aber auch als Lebensansicht
gerade in solchen Eireisen fort, welche die „Ergebnisse der Wissenschaft^ aus der
gefalligsten Hand zu naschen lieben.
Für die Psychologie jedoch als Wissenschaft ergab sich auch danach die
Nothwendigkeit; auf den Begriff der Seelensubstanz als Grundlage ebenso wie
als Ziel ihrer Forschung zu verzichten; und als Lehre von den Gesetzen des
seelischen Lebens sich nur auf innerer oder äusserer Erfahrung oder auf beiden
zusammen aufzubauen. So bekamen wir die „Psychologie ohne Seele"; welche
von allen metaphysischen Voraussetzungen frei ist — oder zu sein meint.
6. Eine tiefere Versöhnung jener Gegensätze hat Lotze von den Grund-
gedanken des deutschen Idealismus aus gegeben. Er betrachtet den Naturmecha-
nismus als die Form der Gesetzmässigkeit ; worin der Trieb des Lebens und
Gestaltens, der das geistige Wesen alles Wirklichen ausmacht; seinen Zweck; das
Gute; verwirklicht. Danach hat die Natuinvissenschaft allerdings kein anderes
Princip als das des mechanischen CausalzusammenhangeS; aber die Anfange der
Metaphysik liegen wie diejenigen der Logik nur in der Ethik. Li der Ausfiüirung
dieses teleologischenldealismus klingen Motive aus allen grossen Systemen
der deutschen Philosophie zu einem neuen harmonischen Gebilde zusammen:
jedes einzelne Wirkliche hat sein Wesen nur in den lebendigen Beziehungen, in
welchen es zu anderem Wirklichen steht, und diese Beziehungen; welche den
Zusammenhang des Universums ausmachen, sind nur möglich, wenn alles Seiende
als TheilwirkUchkeit in einer substantiellen Einheit begründet ist und wenn dabei
alles Geschehen zwischen den Einzelnen als zweckvolle Verwirklichung eines
gemeinsamen Lebensziels aufzufassen ist. Diesen metaphysischen Grundgedanken
zur vollen Ausführung zu bringen; war Lotze durch die mächtige Universalität
berufen; mit der er den Thatsachenstoff und die Formen der wissenschaftUchen
Bearbeitung in allen besonderen Disciplinen beherrschte, und auch in dieser Hin-
sicht reiht sich seine Persönlichkeit wie seine Lehre der vorhergehenden Epoche
würdig an.
Einen anderen Ausweg aus den Schwierigkeiten der naturwissenschaftlichen
Behandlung des Seelenlebens hat Fee hn er gewählt. Er will Leib und Seele als
die zwar völlig getrennten und verschiedenartigen, aber stetig mit einander cor-
respondirenden Erscheinungsweisen eines und desselben unbekannten Wirklichen
ansehen; und verfolgt diesen Gedanken in der Richtung; dass den physischen Zusam-
Materialiaten nicht fem lag: von Cabanis wie von Broussais liegen am Ende ihres Lebens
Erklärungen in diesem Sinne» sogar mystischer Tendenz, vor.
32*
500 VII« Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
menhängen auch überall geistige Zusammenhänge entsprechen, während uns die
letzteren durch Wahrnehmung nur an uns selbst bekannt sind. Wie sich bei uns
die Empfindungen; welche der Erregung einzelner Theile des Nervensystems ent-
sprechen, als Oberwellen in der Gresammtwelle unseres Individualbewusstseins dar-
stellen, so lässt sich vorstellen, dass die Be wusstheiten der einzelnen Persönlichkeiten
wiederum nur Oberwellen eines allgemeineren Bewusstseins, etwa des Planeten-
geistes sind: und setzt man diese Betrachtung fort, so kommt man schliesslich zu
der Annahme eines universalen Gesammtbe w US st sein sin Gott, welchem
der universale Causalzusammenhang der Atome correspondirt. Uebrigens gestattet
nach Fechner die Verknüpfung innerer und äusserer Erfahrung in unserem Be-
wusstsein auch den Gesetzen dieser Correspondenz nachzuforschen. Die Wissen-
schaft davon ist die Psych ophysik. Deren erste Aufgabe ist, Methoden
zur Messung psychischer Grössen aufzufinden, um so mathematisch for-
muürbare Gesetze zu gewinnen. Fechner stellt hauptsächlich dieMethodeder
eben noch merklichen Unterschiede auf, welche als Masseinheit den
kleinsten noch wahrnehmbaren Unterschied zweier Empfindungsintensitäten de-
iinirt und diesen als überall und in allen Fällen gleich annimmt.
§ 45. Natur und Geschichte.
Der Dualismus der kantischen Weltanschauung spiegelt sich in der Wissen-
schaft des 19. Jahrhunderts durch die eigenthümliche Spannung des Verhältnisses
von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Keiner früheren Zeit
ist dieser Gegensatz in sachlicher und methodischer Bedeutung so geläufig gewesen
wie der unsrigen, und diesem Umstände sind eine Anzahl neuer verheissungs-
voller Verschiebungen entsprungen. Nimmt man dabei aus dem Bereiche der
Geisteswissenschaft das, wie gezeigt wurde, streitige Gebiet der Psychologie fort,
so bleibt der „Natur" gegenüber, noch mehr dem kantischen Gedanken ent-
sprechend, das gesellschaftliche Leben und seine historische Ent-
wicklung in ihrer ganzen Ausdehnung nach allen Richtungen übrig. Das
annexionskräftige Vordringen des naturwissenschaftlichen Denkens fand nun dem
Wesen der Sache nach an den socialen Erscheinungen ebenso wie an den psycho-
logischen leicht die Punkte, wo es die Hebel seiner Betrachtungsweise ansetzen
konnte, sodass auch auf diesem Gebiete ein ähnUches Ringen wie wegen der
Seele nothwendig wurde; und so hat sich jener Gegensatz auf den von Natur-
wissenschaft und Geschichtswissenschaft zugespitzt.
1. Die erste Form, in welcher der Kampf zwischen naturwissenschaftlicher
und historischer Weltanschauung ausgefochten worden ist, war die erfolgreiche
Bestreitung der Revolutionsphilosophie durch den französischen Traditio-
nalismus. Nachdem St. Martin und de Maistre die Revolution als das Straf-
gericht Gottes über die ungläubige Menschheit dargestellt hatten, ging de B o n a 1 d
dazu über, den gesellschaftUchen Theorien des 18. Jahrhunderts, welche auch er
für die Greuel der Terreur verantwortUch machte, die Theorie der kl er ik al-
le gitimistischenRestauration entgegenzuhalten. Ungeschult im begrifSichen
Denken, dilettantisch namentlich in seiner Vorliebe für Etymologisiren, wirkte
er durch die Wärme seiner Darstellung und durch die Wucht des Princips, das
er voi-trat. Das ist, lehrt er, der Fehler der Aufklärung, dass sie geraeint hat,
§45. Natur und Geschichte. (Traditionalismus, EoleoticismuB, Volkerpsychologie.) 501
die Vernunft könne von sich ans die Wahrheit finden und die GeseUschaft ein-
richten; dass sie in das Beheben der Individuen die Gestaltung ihres Zusammen-
lebens legen wollte. In Wahrheit aber ist alles geistige Leben des Menschen ein
Product der geschichtlichen Tradition. Denn es wurzelt in der Sprache.
Die Sprache aber ist (und gerade hier wird der Condillacismus am kräftigsten
bekämpft) dem Menschen von Gott als erste Offenbarung gegeben worden; das
göttliche Wort ist der Quell aller Wahrheit. Die menschliche Erkenntniss ist
immer nur ein Theilhaben an dieser Wahrheit, sie erwächst aus dem Gewissen,
worin wir uns das allgemein Geltende zu eigen machen. Der Träger aber der
Tradition des göttlichen Worts ist die Kirche: ihre Lehre ist die von Gott ge-
gebeneUniversalvernunft, durch die Jahrhunderte fortgepflanzt als der grosse
Baum, an welchem alle echten Früchte menschlicher Erkenntniss reifen. Und nur
diese Offenbarung kann deshalb auch die Grundlage der Gesellschaft sein. Der
Uebermuth der Individuen, die sich dagegen empörten, hat seine Sühne gefunden
in der Auflösung der Gesellschaft, die es nun auf dem ewigen Boden neu zu er-
richten gilt: das war auch der Gedanke, welcher die dunklen und wunderlichen
Phantasien von Ballanche lose zusammenhielt.
2. Das philosophische Moment dieser Idrchenpohtischen Theorie bestand
darin, dass als der geistige Lebensgrund der Individuen die in der historischen
Entwicklung der Gesellschaft sich verwirklichende Gattungsvemunft erkannt
wurde: zog man die theologischen Anschauungen von diesem Traditionalismus ab,
so befand man sich dicht bei Hegel's Begriff vom objectiven Gei ste. Daher
war es äusserst humorvoll, dass Victor Cousin, als er die deutsche Philosophie
gerade nach dieser Seite hin sich zu eigen machte, den Ultramontanen gewisser-
massen den Rahm von ihrer Milch fortschöpfte. Auch der Eclccticismus lehrte
eineUniversalvemunft, und er war nicht abgeneigt, darin etwas dem schottischen
Common-sense Aehnhche» zu sehen, dem er aber doch die metaphysische Basis
nach Schelling und Hegel nicht versagte. Als daher Lamennais, der anfanglich
Traditionalist gewesen war und dann durch die Schule der deutschen Philosophie
ging, in der Esquisse d'une philosophie die Ideenlehre behandelte, konnte er jene
Theorie des Gewissens der Sache nach völlig beibehalten.
Eine ganz andere Form nahm die Lehre vom objectiven Geist da an, wo
sie rein psychologisch und empirisch aufgefasst wurde. Im geistigen Leben des
Individuums spielen sich zahlreiche Vorgänge ab, welche lediglich darauf beruhen,
dass der Einzelne überhaupt nie anders denn als Ghed eines psychischen Zusammen-
hanges existirt. Dies Uebergreifende aber, in welches Jeder hineinwächst und
vermöge dessen er ist, was er ist, erweist sich nicht von der naturgesetzlichen
Gleichmässigkeit wie die allgemeinen Formen des seelischen Geschehens : es ist
vielmehr von historischer Bestimmtheit, und der Gesammtgeist, der dem Indivi-
dualleben zu Grunde liegt, prägt sich objectiv in der Sprache, in den Sitten, in
den öffentlichen Einrichtungen aus. Durch deren Studium muss die Individual-
Psychologie zu einer Socialpsychologie erweitert werden. Dies Princip haben
Lazarus und Steinthal aufgestellt, und den eminent historischen Charakter,
welchen die Ausfuhrung desselben haben muss, deuteten sie durch den übrigens
wenig glücklichen Namen der Völkerpsychologie an.
3. Den socialen Grundgedanken des Traditionahsmus muss man berück-
sichtigen, um die rehgiöse Färbung zu verstehen, welche im Gegensatz zu den
502 ^I^- Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.
social-politischen Theorien des vorigen Jahrhunderts für den französischen
Socialismus seit St. Simon charakteristisch ist. Des Letzteren Lehre steht aber
nicht nur unter dem Druck der zu neuer socialerundpolitischer Macht erstarkenden
Religiosität^ sondern auch in lebhaften Beziehungen zur deutschen Philosophie
und sogar zu ihrer Dialektik. Alles dies ist auf seinen Schüler Auguste Comte
übergegangen , dessen Gedankenentwicklung einem höchst eigenthümhchen
Schicksal unterlegen ist.
Der Entwurf seines positivistischen Systems der Wissenschaften
treibt zunächst die Auffassung Hume's und Condillac's auf die äusserste Spitze:
nicht nur die menschUche Erkenntniss ist auf die Verhältnisse der Phänomene
unter einander angewiesen^ sondern es giebt überhaupt nicht etwas Absolutes,
das diesen etwa unerkannt zu Grunde läge. Das einzige absolute Princip ist; dass
alles relativ ist. Es hat keinen vernünftigen Sinn, von ersten Ursachen oder
letzten Zwecken der Dinge zu reden. Allein dieser Relativismus (oder wie man
später gesagt hat Correlativismus) verföUt nun sogleich dem universalistischen
Ansprüche des mathematisch naturwissenschaftlichen Denkens, wenn der Wissen-
schait die Aufgabe zugesprochen wird, alle diese Relationen unter dem Gesichts-
punkte zu erklären, dass sie in allgemeinen Naturgesetzen begründet sind. Zu
diesemZwecke ordnen sich die Wissenschaften (sciences) in einer „Hierarchie"
aU; welche vom Einfachen Schritt für Schritt zum Verwickelten fortschreitet: auf
die Mathematik folgt die Astronomie; dann die Physik, weiter die Chemie, die
Biologie, deren höchster Zweig die Psychologie ist, und endlich die „S o ciologie".
Damit ist allerdings im Princip die Begründung der Gesellschaftswissenschaft
durch die vorhergehenden Disciplinen verlangt : bei der Ausführung aber ist davon
bei Comte nicht im entferntesten die Rede. Schon die sociale Statik verzichtet
vielmehr mit charakteristischer AusdrückUchkeit^darauf, die Socialität aus dem
Individuum abzuleiten, wie es etwa in der Aufklärungsphilosophie geschah. Die
Geselligkeit ist ursprüngliche Thatsache, und das erste sociale Phänomen ist
schon die Familie. Noch selbständiger dagegen ist die sociale Dynamik, welche
ohne psychologische Erklärung sich die Aufgabe stellt, das Naturgesetz der
Geschichte der Gesellschaft zu entdecken. Comte findet dies in dem
Princip der drei Stadien, welche die Gesellschaft nothwendig zu durchlaufen
habe (ein Apercu, welches nicht bloss Hegel und Cousin zu Vorbildern hat). Li-
tellectuell geht der Mensch aus der theologischen Phase durch die metaphysische
in die positive über. In der ersten erklärt er sich die Erscheinungen durch anthro-
pomorphistisch gedachte übernatürliche Kräfte und Wesen, im zweiten durch all-
gemeine Begriffe, welche er sich als das hinter den Erscheinungen wirkende Wesen
construirt ; im positiven Stadium begreift er das Einzelne nur durch die thatsäch-
lich nachweisbaren Bedingungen , aus denen es nach einem experimentell zu er-
härtenden Gesetze folgt. Diesem allgemeinen Gesetze des geistigen Lebens sollen
alle einzelnen Processe, in welche sich dasselbe spaltet, ebenso unterworfen sein
wie die Gesammtbewegung der menschlichen Geschichte, und dabei
soll der intellectuelle Process von einem correspondirenden Entwicklungsgang der
äusseren gesellschaftlichen Organisation begleitet sein, welche ausdem priesterlich-
kriegerischen Zustande über die Herrschaft der Rechtsgelehrten zu dem „in-
dustriellen" Stadium der Gesellschaft hinüberführt. Der Sieg der positiven
Weltanschauung und der industriellen Lebensordnung ist das Ziel der historischen
§ 45. Natur und Geschichte (Comte, Carlyle, Darwin.) 603
Entwicklung der europäischen Völker; welche die positive Philosophie nach diesem
Schema höchst interessant construirte.
Allein als sollte sich das Gesetz vom Kreislauf der drei Phasen zuerst an
seinem Urheber bestätigen^ so fiel Comte in der letzten (^subjectiven^) Periode
seines Denkens in das theologische Stadium zurück^ indem er die Menschheit als
Grand-etre zum Gegenstand einer religiösen Verehrung machte, als deren Hohe-
priester er den ganzen Apparat des Heiligendienstes in positivistischer Umbildung
nachahmte.
4. Dieser vornehmste Versuch, die Geschichte nach Naturgesetzen zu con-
struiren, zeigt also in seiner Ausführung den Sieg des historischen Denkens^ und
in diesem Widerspruch kommt gerade die sachliche Energie von Comte's Denken
zu Tage. Er steht darin weit über seinem englischen Schüler Thomas Buckle,
der in seiner History of civilization in England (1857) der Geschichtswissenschaft
die Aufgabe dahin stellen wollte, dass sie nur Naturgesetze des Völker-
lebens zu suchen habe. Dafür aber bieten Buckle jene leisen Wandlungen des
gesellschaftlichen ZustandeS; die sich in den Zahlen der statistischen Forschung
aussprechen, sehr viel brauchbareres und exacteres Material als die Erzählung
einzelner Ereignisse, auf welche sich die alte chronikhafte Geschichtsschreibung
beschränkt. Hier enthüllt sich der eigentliche Sinn des Gegensatzes : auf der
einen Seite das abstrakte Gesetz, ein GtittungsbegriiSr von Veränderungen, — auf
der anderen der lebendige Eigen werth der einmaligen, in sich bestimmten Gestalt.
In dieser Hinsicht ist das Wesen der historischen Weltauffassung von Niemand
so tief ergriffen und so eindringUch und warm dargestellt worden wie vonCarlyle.
5. Während aber so die Geschichte ihre Autonomie gegen die Verwischung
der Grenzlinien der Wissenschaft zu vertheidigen hat, ist umgekehrt auf einem
besonderen Gebiete der Naturforschung, in der Lehre von der organischen Welt,
das historische Princip derEntwicklung zur Geltung gekommen, wonach
der gesammte Zusammenhang der Lebewesen als der einmalige Process einer
durch den teleologischen Gesichtspunkt der Lebensfähigkeit bestimmten Ausbil-
dung der organischen Formen betrachtet wird. Diese auf vielen Wegen vorbereitete
Auffassung ist durch Charles Darwin 's grosses Werk On the origin of species
by means of natural selection (1859) in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen
Interesses gerückt worden und hat in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von breit
und tief gehenden Anregungen auch für die philosophische Behandlung der ver-
schiedensten Probleme hervorgebracht. Freilich sind diese Anregungen noch
lange nicht reif, um zu einem System der „synthetischen^ Philosophie zusammen-
gearbeitet zu werden, wie es Herbert Spencer versucht hat, indem er die dialek-
tische Methode in das zeitgemässere Schema von Differentiation und Integration
der Erscheinungen umsetzte. Aber gerade dazu wird die Philosophie berufen
sein, die begrifflichen Grundlagen zu untersuchen, auf denen diejenige Form des
Princips der Entwicklung, welche sich jetzt auf einem begrenzteren Felde der
Naturwissenschaft fruchtbar erwiesen hat, im Stande sein würde, auf das historische
Wissen zurückzuwirken.
Die Erreichung dieses Ideals mag dem Einen näher, dem Anderen femer
scheinen: vorerst jedoch findet uns der Ausgang des Jahrhunderts noch überall
im Streite zwischen historischer und naturwissenschaftlicher Bildung.
504
Namen-Register.
Es sind diejenigen Stellen registrirt, an welchen einerseits die Schriften und Lehren der
Philosophen, andrerseits ihre Wirkungen auf andere behandelt werden.
Abaelard 214 216 232f.234ff.
242 flf.
Abbt352.
Abercrombie 493.
Abubacer 246 252 f.
Adelard v. Bath 216 235 238.
Aegydius v. Col, 250.
Aene8idemu8l25127 157 162,
8. auch Schulze.
Aerzte, spätere des Alter-
thums 161 263.
Agricola 280 284.
Agrippa 125 158.
— V. Nettesheim 282 295.
Akademie, ältere 77 79 124.
— jüngere 125 f. 162, s. auch
Karneadcs.
Alanus 216.
Albert 246 249 253 263 f. 269
272 384.
Alcuin 215.
d'Alembert 349 376.
Alexander Aphrod. 126 184
267 f.
Alexandristen 280 283 f.
Alexander v. Haies 248 272.
Alexandrinische Philo s. 166 if.
— Katechetenschule 170.
Alexinos 54 68.
Alfred de Sereshel 272.
Algazel 246.
Alhacen 272.
Alkidainas 57.
Alkraaion35 49f.
Althus 301 342.
Amalrich, Amalricaner 249
267.
AnimoniuB Saccas 170.
Anaxagoras 23 f. 31 ff. 39 41
46 48 146,
Aiiaximander 20 ff. 25 37.
Anaxinienes 20 22 24.
Ancillon 492.
Andronikos 80 124.
Annikeris 53 66 f.
Anselm. 214 216 230ff. 233f.
238 254 262 273 310.
Antiochos 126.
Antisthenes 53 f. 63 72, s.auch
Kyniker.
Apelles 203.
Apollodorus 127.
Apollonios 167 169.
Apologeten 170 175f. 181 f.
186.
Apuleius 169.
Arabische Philos. 211 244 ff.
266 f.
Archelaos 58.
Archytas 23 79.
Areios Didymos 126 169.
Aristarchos 127.
Aristeides 170.
Aristippos 53 f. 65 f. 72, s.
auch Kyrenaiker.
— der jüngere 54.
Aristobulos 170 173.
Aristophanes 62.
Aristoteles 76 f. 79ff. 102—120
150ff. 180 196 211 f. 229
238 245 f. 248 256 258 260
262 266 f. 279 282 ff. 288
s. auch Peripatetiker.
Aristoxenos 124 126.
Arkesilaos 125 f.
Amauld 300.
Amobius 168 170 176 359.
Arnold 351.
Arrianus 169.
Athenagoras 170 176.
Atomisten 22.
Augustinus 208f. 211 ff. 214f.
217—226 239 250 260 262
269 271 f. 279 287 309 311
329 368.
Austin 493.
Avempace 246.
Averroes u. AvciToisniu« 247
252 255 265 ff. 280 283 338.
Avicebron 247 262 267.
Avicenna 236 246 269 272.
Baader 446 486.
Bacon, Fr. 284 299 f. 302 ff.
316 f. 321 326 332 339 376
389 491.
Bacon, Rog. 250 252 270 272.
Bain 493.
Baley 493.
Ballanche 493 501.
Barbaro, Enn. 280.
Bardesanes 170 188.
Barthez 492 496.
Basedow 352 414.
Basileides 168 170 191 203f.
BasBO 280 293 321.
Batteux 360.
Baumgarten 351 381.
Bayle 346 349 374 ff. 389 ff.
Beattie 349.
Beck 448 455.
Becker 314.
Beda 215.
Bekker 316 f.
Bellarmin 302 337.
Belsham 493.
Beneke 450454 461 497.
Bentham 348 404 411.
Berengar 216 234.
Berigard 280.
Berkeley 346 f. 356 f. 362 370 ff.
374f.
Bernhard v. Chartres 214 216
232 239 282.
— V. Clairvaux 214 217 237
241.
Bertrand 492.
Bessarion 279 283.
Bias 19.
Bichat 492 496
Bilfinger 351.
Bodin 301 337 340 415.
Boerhave 358 f.
Boethius 213 215 234.
Boehme 279 282 290 ff. 295 f.
486.
Bolingbroke 348 412.
Bolzauo 495.
Bonald492f. 500f.
Bonaventura 248 263 f. 269.
Bonnet 349 361 495.
Bossuet 383 415.
BouiUee 281 291 294.
Bouterwek 450 461 f. 496.
Namen-BegiBter.
505
Boyle 300.
Broussais 492 495 499.
Brown, Pet. 347 358.
— Thom 348 858 874.
Brucker 351.
Bruno 279 281 284 290 ff. 293 f.
323 333 385 465.
Buchanan 342.
Buchez 493.
Büchner 495 499.
Buckle 503.
Budde 351.
Buffon 349 378.
Buisson 492.
Buridan 251 262 290.
Burke348 402. .
Butler 348 404f.
*)€abani8 349 361 492 495
499.
Calderwood 493.
Calvin 281 287.
Gampanella 281 292 f. 294 298
305 309 318 337 339f. 415.
Cardaillac 492.
Cardano 281 294 f. 340.
Carlyle 493 503.
Caesalpinus 280 284.
Cassiodor 213 215.
Chalmers 493.
Charron 280 286 297 309.
Chaseeboeuf s. Volney.
Chateaubriand 492.
Chesterfield 406.
Chri8tHche Philos. 167 185
198.
Chrysippos 125 127 147 152
154.
Chubb 348.
Cicero 126 128 138 f. 160 175
284f.
Clarke348d86 396f.
Clauberg 300 328.
Clemens Alex. 168 170 198
229.
Cogan 493.
Coleridge 493.
Collier 371 f.
Collins 348 371.
Combe 493 496.
Corate 490 493 502 f.
Condillac 347 349 360 f. 376 f.
495 502.
Condorcet 350 415.
Constantinus Afr. 238.
Contarini 280.
Cordemoy 300 328.
Comutus 169.
Comwall Lewis 493.
Cousin 492 501 f.
Cremonini 280.
Creuz 351.
Crousaz 351 376.
*) S. auch K.
Crusius 351 382.
Cudworth 302 31 7 344 354 396.
Cnmberland 299 302 344 395
404.
Cusanus, s. Nicolaus.
JOalgam 314.
Damaskios 168 171 187.
Dante 246 249 258 f. 336.
Darwin, Ch. 503.
— Er. 348 368.
Daube 492.
Daubenton 349.
David V. Diu, 249 267 324.
Degerando 492.
Demetrios 169.
Demokrit 76£ 78 80—90 101
279 294 306 317 f.
Demonax 167 169.
Derham 387.
Descartes 284 299 f. 307 ff.
314 3l6ff. 324ff 327 332
353 ff. 359 f. 363 368 370
396 452.
Destutt de Tracv 349 360
495 f.
Dexippos 171.
Diderot 349 361 386 389 391.
Didymos, s. Areios.
DikaiarchoB 124 126.
Diodorus Krön. 54 68.
Diogenes v. ApoUonia 42 53
146.
— v. Babylon 127.
— V. Sinope 53 f. 64 72.
Dionysidoros 68.
Dionysios Aeropag. 213 215
286.
Dippei 351.
Dominikaner 249 ff. 260 264.
Drobisch 494.
Duclos 349.
Dühring 495.
Dnns Scotus 236 248 250
254f. 256 f. 261 ff. 269 ff.
274 279 289 303 f. 311 315
332 334 336 382 384.
Eberhard 352.
Eckhart 246 249 261 263 ff.
289 292 296 458.
Ekphantos 35 45.
Eleaten 21 28 f. 33 39 91 230
459 481.
Elisch-eretrische Schule 53.
Empedokles 22 f. 30 f. 39.
Encyclopaedisten347 349 361
376 406.
Enfantin 493.
Engel 352.
Ephektiker 131.
Epiktet 167 169 180.
Epikur u. Epikureismus 124 f.
127 ff. 143ff. 148 152f. lo9ft:
318 341 408 411.
Eratosthenes 127.
Erdmann 494.
Eric V. Aux. 215 234.
Erigena, Scot. 213 215 228 f.
265 331 487.
Eschenmayer 485.
Essener 181.
Eubulides 54 68.
Eudemos 126 155.
Eudoros 169.
Eudoxos 79.
EuemeroB 53 f. 66.
Eukleides 53 68.
Euthydemos 58.
Feam 493.
Fechner 495 499 f.
Feder 352.
Ferguson 348 402.
Ferrari 494.
Feuerbach 494 498.
Fichte, J. G. 341 447 f. 455 ff.
464-469 472 476f. 480f.
485f.488 494 498.
— J. H. 494 498.
Ficino 279 283.
Fischer, Kuno 494 499.
Fludd 282.
Fontenelle 324.
de la Forge 300 329.
Fortlage 497.
Foucher, Sim. 280.
Franck, Seb. 281 289 291.
Francke 351 384 458.
Francki 494.
Franz v. Mayron 250 270.
Franziskaner 249 260.
Frayssinous 492.
Fredegisus 215.
Friedrich II. v. Sicilien 252.
— V. Preussen 352 406.
Fries 450 452.
Fnlbert 217 238 f.
Gabler 497.
Galenos 169 184.
Galüei 299 f. 306 f. 309 314 ff
317 f. 324 332 377.
Gall 492 496.
Galluppi 494.
Garat 350 410.
Garve 352.
Gassendi 280 308.
Gaunilo 216 231.
Gaza, Theod. 280.
Gennadios 283.
Gentilis 301 340.
Georgios v. Trap. 280 283.
Gerbert 214 217 238.
Gerson 251 255.
Gersonides 247.
Geulincx 299 301 312 324
328 f. 335.
Gibieuf 301 329.
Gilbert 216 235 f. 265.
606
Namen- Raster.
Gioberti 494.
Gioia 494.
Glanvü 374.
Gnoßtiker 167 170 174 186
188ff. 191 200ff. 487.
Godwin 411.
Gorgias 52 54 68 f.
Göschel 497.
Goethe 417 470 f.
Gottfried v. Font. 261.
Gottsched 351.
Gregor v. Nyssa 200 206.
Grimm 349.
Grotius 302 337 340 f. 344 415.
Gundling 409.
Günther 496.
Hamann 402 448 453 466.
Hamilton 490 493 497.
Hansch 351.
Hardenberg s. Novalis.
Hartley 347 358 f. 861 f. 378
390 404 496.
Hartmann 488.
Harvey 318.
Hedoniker s. Eyrenaiker.
Hegel 8 f. 447 449 465 f. 481
—485 487 494 497 f. 501 f.
Hegesias 53 67.
Heinrich v. Gent 250 261 269
272.
Helmont 282.
Helvetius 349 405 f.
Hemming 302.
Hemsterhuys 401.
Hentsch 351.
Herakleides 79.
— Lembos 126.
Heraklit 21 23 27 f. 38 f. 44 f.
48f. 146 481.
Herbart 447 449 f. 454 468 ff.
465 475 494.
Herbert v. Cherb. 299 302
344 354 390.
Herder 347 352 366 393 399
415 f. 440 448 453 466 470.
Hcrennios (Pseudo-) 219.
Hermes 495.
Hermetische Schriften 169
186.
Hermippos 126.
Herschel 493.
Hierokles 171.
Hildebert v. Lavard. 217.
Hinrichs 497.
Hippias 52 54 56.
Hippodamas 57.
Hippokrates 50.
Hippolytos 168.
Hippon 53.
Hobbes 299f. 306f. 314 3l6f.
319 f. 324 ff. 332 341 ff. 353 f.
369 f. 377 395 404 f. 407 f.
460.
Holbach 349 379 389 406.
Home 348 402.
Huet 312.
Hugo V. St. Victor 217 240 fl
264.
Humanisten 277 ff.
Humboldt, W. v. 410 474.
Hume 346 348 353 357 362
372ff. 377 390 392 406 419
422f. 429 450 454f. 502.
Hutcheson 348 401 f.
Huyghens 300 332.
Jacobi 447 f. 450 ff. 463 467
-474.
Jamblichos 168 171 173f. 177
179 186 196.
Jansenisten 300.
Jaucourt 349.
Indische Weisheit 489.
Joachim v. Floris 252.
Johannes v. Damaskus 213
215.
— V. Salisbury 217 242f.
Johann v. Rochelle 272.
Jouffroy 492.
Irenaeus 168 174 176 178 182
203 206.
Irwing 351.
Iselin 415.
Isidor V. Sev. 213 215.
Jüdische'Phüos. 167 170 244
247.
Julian 171.
Jung 301 313 f.
Justinus 167 170 175 186 203.
* )Kabbala 247.
Eallikles 57 f.
Kant 8 11 334 351 364 366 f.
374 376 378 381 ff. 386 403
417—447 450ff.468ff. 462ff.
469 472 f. 481 485 493 497 ff.
Kantianer 448 452.
Karneades 125f. 152f. 158 162.
Karpokrates 170 203.
Kelsos 169.
Kepler 299 306.
Kerdon 203.
Kerinthos 202 f.
Kircher 314.
Kleanthes 125 ff.
Kleidemos 53.
Kleitomachos 126.
Knutzen 351 421.
Komenius 304.
Kopemicus291f. 317f.
Koppen 447.
Krantor 79 128.
Krates v. Theb. 54.
— V. Athen 79.
Kratylos 53.
Krause 449 480.
Kritias 58.
*) S. auch C.
Krug 450 457.
Krüger 451.
Kyniker 53 f. 63 72 167 169.
Kyrenaiker 53 55 65 ff. 72.
liabruy&re 406.
Lactantius 170.
Lamarck 378.
Lambert 351 364 367 378.
Lamennais 493 501.
Lamettrie 349 359 361 378
405 f.
Lancelin 411.
Lanöfranc 216.
Lange 499.
Lanffuet 842.
Lapkce 378.
Larochefoucauld 406.
Laromiguiere 492 495 f.
Lazarus 494 501.
Leechman 494.
Lefövre 280.
Leibniz 299 301 313 ff. 317
828 332 347 360 863 ff. 367
380ff. 383f. 886ff. d97ff.
402 f. 408 415 421 423 446
453 f. 466 494.
Leroux 493.
Lessing 347 362 366 392 f.
Leukippos 22f. 32 f.d9 ff. 45 85.
Lewes 493.
Liberatore 494.
Lionardo da Vinci 306.
Lips 280.
Locke 309 319 346 f. 352 ff.
363 ff. 368 383 395 L 404f.
408 414.
Longinos i70 183,
Lossius 351 363.
Lotze 490 495 499.
Lowudes 494.
Lucretius 125 127 148 293.
Lullus 251 264.
Luther 281 287.
Lykophron 57.
Mably 360 412.
MacchiavelU 301 336 f.
Mackintosh 493.
Magnenus 280.
Maignanus 280.
Maimon 448 464 f.
Maimonides 247 252 254.
Maine de Siran 492 496.
Maisüe, Jos. de 492 500.
Malebranche 299 301 311 321
324 329 371 383.
Mamiani 494.
Mandeville 348 405 413.
Mani u. Manichäismus 188.
Mansel 493.
Marcianus Capella 213 215
233.
Marcion 173 203.
Marcus Aurelius 167 169 181.
Namen-Register.
507
Mariana 802 337.
Marsilius y. Inghen 251.
— V. Padua 269 272 336 341.
Martineau 493.
Maupertuis 349 376 386.
Maximus v. Tyr. 169.
— Conf. 215.
M*c Cosh 494.
Megariker 53 68.
Meiners 352.
Melanchtbon 280 288 302 336.
Melissos 23 34.
Meliton 170.
Mendebsohn 352 380 399 403
410 447.
Menedemos 54.
Metrodoros 58.
— d. Epikureer 127.
Michael Fsellos 270.
Milesier 20ff.
Mill, James 493.
— J. St. 493 496.
Milton 342.
Minucius Felix 167 170 176.
Moderatus 169.
Moleschott 495.
Montaigne 280 286 297 318.
Montesquieu 350 406 408.
Moore (Thomas Monis) 301
337 ff.
More, Henry 302 317 344 355
396.
MoreU 493.
Morelly 350 412.
Morgan 348.
Moritz 351.
Mnsonius 169.
Mystik 180 209.
— deutsche 249f. 264ff. 281
288 ff.
Hausiphanes 129.
Nekkam, Alex. 272.
Neuplatonismus 168 170f.
173 ff. 177 ff. 183 ff. 186 ff.
192 ff. 199 201 209 211 221
226 228 265 f. 278 f. 282 f.
290ff. 302 306 317 843
480.
Neupythagoreismus 166 169
172 181 183 186 294.
Newton 300 306 314 318 324
332 f. 386.
Nicolai 352 380 399 410.
Nicolaus d'Autricuria 272.
— Cusanus 248 251 265 f. 271
273f. 291 293 317 323 331
432 465.
— d'Oresme 272.
Nicole 300.
Nifo 280 283.
Nigidius Figulus 168.
Nikomachos 167 169 183 186.
Nizolius280 284f. 297.
Norris 371.
Novalis (Fr. v. Hardenberg)
448471.
Numenios 167 169 171 f. 175
182.
Occam 248 250 f. 255 ff. 259
261 263 270ff. 297 319 336
341 356 369.
Occasionalismus 299 ff. 328 ff.
374.
Odo V. Cambr. 233.
Oinomaos 169.
Oken 449 471 478.
Oldendorf 302.
Ophiten 203.
Oratorianer 301.
Origenes 168 170 174 183 185
199 ff. 202 220 252.
— 170.
Osiander 281 288.
Oswald 349.
Paley 348 404 f.
Panaitios 126 f.
Paracelsus 282 291 ff. 295 f.
Parker 347.
Parmenides 21 f. 28 44 f. 49.
Pascal 300 312.
Patristik 167 ff.
Patrizzi 279 283 290.
Peregrinus Proteus 169.
Peripatetiker 126 140 155 180
85 278 280 325.
Persius 169.
Peter v. Poitiers 216.
Petrus Hispanus 250 270.
Petrus Lombardus 216
Phaidon 54.
Phaidros 127.
Phaleas 57.
Pherekydes 19 26.
Philippos V. Opus 79.
Philolaos 22f. 34f.
Philodemos 127 156 161 270.
Philon V. Larissa 126.
— V. Alex. 167 170 173 178
181 186 189 f. 229 252.
Phumutus, s. Cornutus.
Pico279 294 f.
Pierre d'Ailly 251 263 272.
Pinel 492.
Pittakos 19.
Piaton 54 76 f. 78 f. 81ff. 90-
102 150 180 191 193 278
321 333 338.
Piatonismus 166 f. 169 175
183 188 200 216 238 278ff.
282 f. 459 480 489, s. auch
Neuplatonismus.
Platner 351.
Plethon 279 283.
Plotinos 168 171 179 183 ff.
186 192 ff. 220 265 273 283
290.
Ploucquet 351.
Plutarch v. Chair. 167 169 177
182 188.
— V. Athen 168 171.
Poiret 300 312.
Polemon 79.
Polos 57.
Pomponazzi 280 283 f.
Pope 352 400.
Porphyrios 168 171 183 f.
196 f. 213 227.
Porta 280.
Poseidonios 126 f.
Prantl 494.
Prevost 492.
Price 348 396.
Priestley 347 f. 359 378 390
404.
Prodikos 52 54 58.
Proklos 168 171 173 f. 177 179
186 196 ff. 283 481.
Protagoras 52 f. 56 ff. 66 69 ff.
80 f.
Pufendorf 801 313 341.
Pyrrhon 125 127 130f. 157f.
286.
Pythagoras 23.
Pytbagoreer 22 ff. 34 f. 43 f. 46
82 95 166 168 191 306.
Quesnay 350.
Ramus 280 284f. 297.
Haymundus LuUus, s. JjuIIus.
— V. Sabunde 251 254.
Reid 348 f. 362 380.
Reimarus 351 386 391 f.
Reinhold 448 452f. 472.
Remigius 217.
Reuchlin 282 294f.
Rhabanus Maurus 215.
Richard v. St. Victor 217 241.
— v.Middletown 250 261 263.
Robert PuUeyn 216.
Robinet 849 379 386.
Romagnosi 494.
Romantiker 418 474 476 480 f.
Roscellin 214 216 284.
Rosenkranz, K. 494.
Rosenkran tz, W. 495.
Rosmini 490 494.
Rousseau 841 347 849 f. 361 f.
395 401 409f. 413 420 440
475.
Royer-Ck)llard 492.
Rüdiger 351 868 882.
Rüge 494 498.
Saadjah Fajjumi 247.
Sallustius 171.
St. Lambert 850 411 415.
St. Martin 362 486 500.
8t. Simon 493 502.
Sanchez 280 286 297 318.
Satuminus 168 170 188 203.
Satyros 126.
508
Namen-Register.
Scaliger 280.
SchelÜDg 341 447 ff. 457 465
469 ff. 477-480 484—489
501.
Schiller 386 399 416 f. 447 f.
472—476 489.
Schlegel, Fr. 449 465 474 476
486 488 496.
Schleiermacher 447 449 457 f.
474 f. 479.
Schmid, Erh. 448.
Schmidt, J.or. 361 393.
Scholastik 180 209 ff.
Schopenhauer 330 447 450
462 ff. 472 488f.
Schoppe 280.
Sehottische Schule 346 348 f.
362 380 401 f. 493 497.
Schubert 449 471.
Schulze (Aenesidemus) 448
453 f.
Schwenckfeld 282 288.
Scotismus, 8. Duns.
Scotus Erigena, s. Erigcna.
Search 347.
Semler 851 393 412.
Seneca 167 169 180.
Sennert 280 293 321.
Sextier 126 128 169.
Sextus Empiricus 125 127.
Shaftcsbury 348 361 385 ff.
392 395 400 ff. 405 f 412
415 473.
Sidney 342,
Sieben Weisen 19.
Siniplicius 171 268.
Skeptiker 127 f. 130 f. 157 f.
311318, B.Pyrrhon.
Sraith 348 406 413.
Socinian Ismus 281 384.
Sokratcs 53 f. 58 ff. 72 ff. 150.
Sokratiker 53 f.
Solger 449 481.
Solon 19 26.
Sophisten 51 55ff. 61 ff.
Sorbiöre 280.
Sotiou 126 128 169.
Sozziui (Leliü u. Fausto) 281.
Spencer 493 503.
Spener 351 884 458.
Speusippos 79 191.
Spinoza 299 301 308 312 317
322 ff. 325 ff. 330 f. 335 337
341 ff. 357 360 393 398 432
447 456 ff. 460 462 470 478 f.
Sp\irzheim 492.
Steffens 449 471.
Stciuthal 494 501.
Stewart, Dug. 348 462.
Stilpon 54 69.
Stoiker 124 127 129 ff. 145—
164 167 169 175 177 18()f.
185 189 220 290 311 317.
Straten 124 126 140 185.
Strauss 494 f. 499.
Strümpell 494.
Sturm, Joh. 286.
— J. Chr. 314.
Suarez 280 287 302.
Sulzer 351 403.
Summisten 216.
Suso 250.
Süssmilch 415.
Swift 406.
Syrianus 171.
Systeme de la nature, s. Hol-
bach.
TappareUi 494.
Tatian 168 170 176 199.
Tauler 230.
Taurellas 281 296.
Teles 169.
Telesio 281 297.
Tertullian 168 170 174 176 f.
204.
Tetens 351 367 403.
Thaies 19 f. 22 24,
Themistios 171.
Theodorich v. Chartres 232
239.
Theodoros 53 66.
Theophilos 170.
Theophrastos 124 126 128 140
155.
Thomaeus 283.
Thomas Aqu. 236 246 249 254
256 ff. 260 262 ff. 269 279
287 329 332 340 382 384.
Thomasius 341 350 398 f. 409 f.
Thrasyllos 126 169.
Thrasvmachos 57 f.
Thurot 492.
Tiedemann 349 f.
Timon 125 127 157.
Tindal348 391f.
Toland 348 385 412.
Tooke 347.
Trendelenburg 494.
Tschirnhausen 301 309 331.
Turgot 340 f.
Ulrici 494 498.
Valentinos 168 170 188 191 f.
200.
f Valla, Laur. 280 284,
Vanini 291.
Varro 126 128.
le Vayer 280.
Veitsch 493.
Ventura 494.
Vemias 280.
Vico 414 f.
Victoriner 214 241 255 f. 327.
Yincenz y. Beauvais 248 272.
Viecher 494.
Vives 280 284f. 297 318.
Vogt, C. 496 498.
Volney 360 411.
Voltaire 346 349 359 386 389
391 397 410 412 421.
l¥agner, R. 496 498.
Walter v. Mortagne 216 232 f.
~ V. St. Victor 217.
Wedgwood 493.
Weigel Erh. 301 313.
— Val. 280 289 292 296.
Weisen, die sieben 19.
Weiss 361 403.
Weisse 494 498.
Whewell 493.
Wilhelm v. Auvergne 250 262
269.
— V. Champaux 214 216 232
235.
— V. Conches 216 239 f. 282.
Winkler 302.
Wolff 313 347 350 f. 363 380
883 386 398 f. 409 f.
— Pancr. 368.
Wollaston 348 396.
Woolston 391.
Wordsworth 493.
X.eniade8 65.
XcnokratcB 79 191.
Xenophanes 21 f. 36.
Xenophon 54.
Zabarella 280.
Zeller 494.
Zenon v. Elea 22 33 f. 42 ff.
46 f. 68.
— V. Kittion 124 126.
-- V. Sidon 127.
Ziller 494.
Zimara 280.
Zimmermann 494
Zorzi 282.
Zwingli 281.
Sach-Register.
509
Aberglauben, von den
Stoikern geschützt 149,
Kriterium für ihn nolh-
wendig 177, systematisirt
294.
Absolute 478.
Activität des Bewusstseius
bei Aug. 221, cf. Synthesis.
' A 0 1 d <p 0 p a , der Stoiker 132.
A e o n 192, Demiurg als A. 202.
Aesthetik, Anlage bei Ar.
119, physische Plotins 195,
der Aufklärung 351, Baum-
garten's 381, Diderot's 389,
mit Ethik verschmolzen
402, im Vordergrund des
Interesses 418, Kantus 440ff.,
Schopenhauer 472, Schiller
ib. u. ff., Schelling 478 480,
Solger 481, HegeTs 482.
A ff ect, Freiheit von 129 132,
bei Spinoza 325.
Altruismus 344, ursprüng-
lich 400, auf Egoismus ba-
sirt 405.
A u a I o g i e der Erfahrung 429.
Analyse bei Descartes 308,
de 1 entendement 353.
Analytik, cf. Logik.
W votjjLVfjai^ 91.
Anschauung, Formen der
424ff., intellectuelle446 456.
Anthropologie, Wendung
der Wissenschaft zur 52,
metaphysische 292, Bacon's
304.
Anthropologismus 206.
Antinomismus zwischen
Gegebenem und Begriff 9,
d. reinen Vernunft 433.
''Aiteipov, cf. Unendlichkeit.
Apologeten 167.
Apperception,definirt365,
transscendentale 4d0f., Her-
bart 461.
Apriori bei Kant 424ff.
' A p )^7j , cf. Weltstoff, Materie.
Askese, cf. Weltflucht.
Associationspsycho-
1 ogi e, cf. Psychologie.
Astronomie als Motiv zur
Annahme der Naturord-
nung 43. Galilei 317 f.
Ataraxie, cf. Affect.
Atheismus der Aufklärung
389.
Atom bei Leukipp 32 39, bei
DemokritSöff., Epikur 144,
Bruno 293, A. — complex
= Molekül 378.
Attribut 320, Unendlichkeit
d. 322, Parallelismus 331,
subordinirt 333 Anm.
Aufklärung 345 ff., deutsche
363 f., Kant's Stellung zur
A. 419.
Autonomie der Vernunft
435.
Autorität, Verlangen nach
171, gleich Vernunft 174.
edürfnisslosigkeit der
Kyniker 64, Epikur's 130,
Stoa 131.
Begriff, Bedeutung bei So -
krates 73, Verhältciss zur
Idee 93, bei Ar. 107, Stoa
160, Epikur 161, cf. Idee.
Begriffsdichtung statt
Philosophie 11.
Bewegung, das Princip der
Vermittlungsversuche zwi-
schen Denken und Wirklich-
keit30,Eigenschaft d. Atome
33, Beweise gegen von
Zeno 42, = Wahrnehmung
70, ewig 112, der Materie
durch Gott 186 ff., mathe-
matische Erkenn tniss 307,
Summe sich gleichbleibend
324, bei Kant 429.
Beweis, d. Dasein Gottes,
ontölogischer 230, bestritten
231 382, Descartes 310,
Spinoza 322, Kant 432,
physico - theologischer 385,
Kant 387, erschüttert 389,
Hume 390, Kaut kritisirt
433.
Bewusstsein, definirt 184,
Selbstgewissheit 207, der
Sünde als Ausgangspunkt
243, Gewissheit 308, Diffe-
rentiale des 454, Abschluas
der Naturreihe 471, Activi-
tät d.B. 496, überhaupt 429
443, Ding-an-sich 455, wird
Ich 458.
Causalität, skeptisch be-
handelt 161, Grundform d.
C. 324, physische und logi-
sche 329, Grund u. Folge
330, kritisirt von Hume 374,
Kant 429, u. Freiheit 436,
wechselseitige 445, Scho-
penhauer 462.
C h a r a k t e r , intelligibler 437.
Christenthum, seine Vor-
aussetzungen 166, mit Phi-
los. von Origenes vereint
174, Gegensatz zur Ph. 176,
bei Abaelard 237, u. Refor-
mation 287 , begründet
durch Philosophie 384 ff,
Schelling 487.
Coincidentia opposito-
rum 273 291, bei Schelling
465.
Communi8mu8beiPlato98.
Conceptualismus214 235.
Consensus gentium bei
Stoa 160, Inhalt des Ge-
wissens 244, Cudworth 354.
Correlativität von Sein u.
Bewusstsein, fonnulirt von
Parmenides 28.
Cultur, ihr Werth in Frage
gestellt 64, bejaht bei den
Cyrenaikem 67 , durch
Kirche vermittelt 207, der
Neuzeit 305, Problem d. C.
408 ff., als Privileg 412, Kant
440, Fichte 477.
Darwinismus, geahnt bei
Emped. 40, Zukunftspro-
blem 503.
510
Sach-Register.
Deductiou der Verstandes- '
begriffe 428.
D e f i n i t i 0 n , cf. Begriff.
Deismus, Annäherung des
Christenthums an 176, deut-
scher 351, metaphysischer
englischer 385, bekämpft
durch Bayle 389, morali-
scher 390.
Denken, reines, Gegensatz
zur Erfahrung 44, aus er-
kenntnisstheoretischer
Werthschätzung entstanden
47, sensualistische Erfah-
rung 48, bei Demokrit 88,
begriffliches 103, psycho-
logische Eintheilung 403
Anm. 420.
Determinismus der Stoa
151, bestritten 152, intellec-
tualistischer 261, Buridan
262, Spinoza's u. Hobbes'
326.
Dialektik des Zeno 34, be-
nützt von Sophisten 52» bei
Plato 93, Aristoteles 102
106, Proklos 197, als Ele-
mentarstufe . 213, durch
Mystik bekämpft 2 14, Abae-
lard's 236, Verdrängung
284, Ramus 285, trsnsscen-
dentale 431, Fichte's 457f.
464ff., Hegers 481.
Dialog bei Sokrates 74, bei
Plato 78, Schelüng 480,
Ding, anders als Vorstellung
257, Ding-an-sich 426 ff.,
Grenzbegnff431, Streit um
D.-a.-s. 450 ff.
Dogmatismus, formulirt
380, bei Kant 420.
D u a 1 i 8 m u s , Plato's 93, über-
wunden bei Ar. 103,e thischer
der Stoa 149, religiöser Be-
wegung günstig 165 180,
als Ausgangspunkt 188,
Ueberwindung 189, der gei-
stigen Welt 224, anthro-
pologischer 240, psycholo-
gischer Occam's 257, der
Substanzen 31 8 f., der Er-
fahrungsquellen 368, Kant's
438.
Dynamismus, Leibniz 332,
Kant 430. Schelling 469.
Eclecticismu8,cf. Skepsis.
Egoismus, Sophisten 57,
Epikur 138, Grund des
Staatsvertrags 342, = Sol-
ipsismus 372.
K 1 0 u> X a bei Demokrit87, Epi-
kur 159, Lockp 269.
Einheit des Menschen- |
geschlechts 205, der Apper-
ception 430.
Einbildungskraft, cf.
Phantasie.
Einzelding, Nothwendig-
keit seines Untergangs 38.
Ekstase des Neuplat. 179
196, cf. Vergottung.
Elementarphilosophie,
Reinhold 452.
Elemente als zertheiltes
„Sein** 30, als Homöome-
rien 31, bei Ar. 102.
Emanationssystem 191ff.,
Proklos 197.
Empirismus aus Xominalis-
mus 271 297, Unsicherheit
ib., Bacon's 303, geschult
durch Mathematik 307,
Hume^s375, metaphysischer
ScheUing^s 487.
Empfindung, Zusammen-
hang mit Bewegung 827,
Quantificirungbei Bentham
404, Fichte 467.
Entelechie bei Ai\ 109,
Leibniz 332.
Enthusiasmus = Religion
385.
Entwicklung, Central-
begriff bei Aristoteles 78
, ,107 ff.
■Etco)^yj der Skeptiker 158,
Descartes 311.
Erfahrung definirt durch
Stoa 159, innere 217ff. 239 f.,
die sicherste 272, bei Locke
überwiegend 368, Maine
de Biran 497, Theorie bei
Bacon 302.
Eristik der Sophisten 68.
Erkenntnisstheorie 16,
sittlichesBewusstsein alsPo-
stulat für 72, Plato's 91ff.,
skeptische Epikur's 161,
Aug. 221, Occam's 257 261,
nominalistische 270, Des-
cartes' 31 1, Leibmz'334 364,
abhängig von Psychologie
352 f, macht Wissen von
Aussenwelt problematisch
368f, Hume 373, Kant
422 ff., Jacobi 451, Rein-
hold 453, „Aenesidem**
454, Fichte 456.
Eros bei Empedokles 30, bei
Sokrates 60, bei Plato 92.
Erscheinung und Ding-an-
sich 425 f., nicht vom D.-a -s.
verursacht 463
Erziehung zur Cultur 208.
Eschatologie204.
Ethik 15 16, erste Frage-
stellung analog der Physik
56, Gegensatz von „Natur"
und „Satzung" ib., rein con-
ventioncll58, neubegründet
59, individual 60 = Wissen-
schaft 75, bei Demokrit 89,
Plato 97, Aristoteles 117,
allein angebaut 123, Indi-
vidualethik 128,Plotin'8l96,
Abaelard's 243, Verhält-
niss zu Gottes G^bot 263,
Spinoza's 312, natürliche
Moral 344f., Behandlung
der Grundfragen 394 f., auf
Logik basirt 396, auf Ge-
wissen 397, auf Vollkom-
menheit 397 und Utilität
399, auf Gefühl 401, mit
Aesthetik verbunden 402,
als Weltklugheit 406, des
kateg.Imp.433, Fichte's 468,
Romantiker 474, Schleier-
macher ib., ästhetische Her-
bart's 475, Schopenhauer
488, cf. Weltflucht.
Eudämonismus, cf. Utili-
tarismus.
Evidenz, Descartes 307, cf.
Kriterium.
Evolutionssystem 191.
Existenz Gottes = Essenz
230, Kant 432 438, noth-
wendige und zo&llige 335,
= Wahrnehmung 371.
Experiment bei Bacon 303,
bei GaUlei 306.
Form bei Ar. 109, Bacon
303, bei Lambert 364, bei
Kant 425f., Reinhold 452,
cf. Idee, Gattungsbegriff.
Freiheit, Sokr. 150 = Ur-
sachlosigkeit 153, vieldeutig
angewendet 224, ein Ge-
heimniss 322, Gottes 326,
bei Leibniz 335, Kant 436
439, Schelling 486, cf.
WiUensfreiheit.
Gattungsbegriff, meta-
physische Bedeutung 213
227 ff., nicht Substanzen
233 ff., cf. Idee, Kategorie.
Gefühl, Seele entfaltet sich
aus 241, mit Wahrnehmung
verbunden 360, Rousseau
361, Herder 366, Kant 403,
Anm. 420, apriori 441,
ästhetisches 443, Jaoobi
451.
Genie, definirt 444, Central-
punkt 474, ScheUing 478.
Geschehen 36 ff., Welt als
Geschehen 38, durch leeren
Raum ermöglicht 89, als
Wirbelbewegung 40, als
nothwendiges 41, gesetx-
Sach-Regiater.
511
massiges, cf. Astronomie.
Nach Analogie des Künst-
lers 112.
Geschichte der Philo-
sophie BfT., Def. 8, Glassi-
Rcirunff 12, Eintheilung
15 ff., der griechischen 20,
der hellenistisch-römischen
124, der mittelalterlichen
212, der Renaissance 277,
der Aufklärung 345 f„ der
deutschen 417, Hegel 482.
Geschichtsphilosophie
16, angelegt bei Ar. 119,
Neuheit des Problems 200,
bei Au|^. 225, Thomas 258,
pessimistische Rousseau's
418, Vico's 414, Bossuet,
Herder's 415, Eant's 440,
Schiller's 475, Fichte's 476,
HegeFs 482, Comtess 502,
Buckle Oarlyle 503.
Gesetzmässigkeit, zuerst
postulirt von Heraklit 28,
logische bei Zeno 46.
Gewissen, nicht das daipio-
vtov 75, Problem 184, Norm
der Moral 243, als Erkennt-
niss Gottes 263, Princip der
Moral 397, A. Smith 408,
Kant 437, Eichte 468.
Glauben, Gnostiker woUen
ihn auf Erkennen basiren
167, Erkennen ihm unter-
geordnet 208, vermittelt
Vemunftwahrheiten 222,
Kant 436, Jacobi 451 =
belief 875 390.
Glückseligkeit, nicht mit
Tugend identisch 57, ihr
gleichgesetzt 62, zu er-
reichen 218, im Anschauen
der Wahrheit 226, als Welt-
zweck 386 und Oultur 413,
kein Monüprincip 435.
Gnostiker 167 ff, und Schel-
ling 487.
Gott, von Gottheit unter-
schieden 266, Unendlich-
keit 273, transsoendent. 290,
Selbstgebämng 296, Be-
weise für Dasein 310, voll-
kommene Substanz 320,
Ort der Geister 321, sive
natura 323, des Occasiona- j
lismus 380, Centralmonade
335, Berkeley's 371, als
Hypothese 378, muss Uebel
zulassen 388, sanctionirt
ütiUtarismus 405, Kant 432
438, Identität von Denken
und Sein 457, Fichte 468,
Schelling (Absolutes) 479
= Geist 481, Theosophie
Schelling's 485 f., Streit um
Persönlichkeit 497 f., im
Traditionalismus 501.
Gottheit. Die Materie als
G. 26, Glaube an G..von De-
mokrit erklärt 89, bei Plato
99,Demiurg 101, bei Ar. als
reine Form 113, als Pneu-
ma 146, bei Epikur 148,
doppelte Offenbarung 175,
Aufgehen in 1 78, rein geistig
182, denkt die Ideen 183,
im Verhältniss zur Welt
185 ff., offenbart sich suces-
sive 204, Wahrheit in G.
220, = Allgemeinstes 229,
bei Thomas 256, Verhältniss
zu Wille und Verstand
262, der Mystiker 265, als
Materie und Form 267, cf.
Gott.
Grenzbegriff und Ding-an-
sich 431, der Naturerklä-
rung 445.
Grund, zureichender, formu-
lirt 142, für Determinismus
verwendet 151, für aposte-
riorische Wahrheiten 315,
bei Wolff 380.
Gut, höchstes 128 ff., Kant
437.
Alarmonie des Geschehens
bei Heraklit 28, Pythago-
reer 35, Bruno 290, praesta-
bilirte 232f. 365, bei Kant
883 423.
Hedonismus, cf. Lust.
Sv %a\ ic&y, Eleaten 28,
Schopenhauer 464, cf« Pan-
theismus.
Hlomöomerien des Anaxa-
goras 31, suchen Sein mit
Werden zu vereinigen 39,
cf Qualität.
Humanismus, erste Peri-
ode der Renaissance 277 ff.,
ästhetischer 473.
Humanität, Ideal der 416.
Hylozoismus 25, Stellung
znmGeschehen 36, in Frank-
reich 379.
Ich bei Kant 429 f., Fichte
457 f. 466 ff., Schelling 478.
Ideal, ästhetisches 444.
Idealismus als System bei
Plato 77, erkenntnisstheo-
retischer Occam's 257, Ber-
keley's 371, deutscher 418ff.,
Jacobi451, Fichte455 464ff.,
ästhetischer 472 f. , logi-
scher Hemers 481, teleo-
logischer Lotze's 499.
Idealität bei Kant 425 f.
Idee bei Plato 84 90 ff., Ver-
hältniss zur Erscheinung 93
= Gattungsbegriff ib., des
Guten 94, als Zweck 99,
identificirt mit Zahl 95, Um-
bildung bei Ar. 108, als Ge-
danken Gottes 183, vermit-
teln zwischen Gott und Welt
189, der Ideen 190, bei den
Gnostikem 192, als Kraft
193, logisches Verhältniss
zu Gott 197, bei Aug. 220,
als Realien 229, Welt der I.
232, Descartes' 309, Geist
die I. des Körpers 331, ein-
geborne 354 ff. 365, Locke
355, abstrakte, geleugnet
357, Hume ib., Wolff 363,
Leibniz 364, Körper ledig-
lich I. 870, bei Kant 432 f.,
SchelUug 480, Hegel 481,
Abfall von G.485, Schopen-
hauer 489.
Identität, Satz der, betont
von den Sophisten 68, des
Theiles mit Ganzem 333, cf.
Seinsproblem.
Identitätssystem 478.
I d e o 1 o g i e in FranJu-eich 360
377 495.
Idole Bacon's 302.
Imperativ, kategorischer
434.
Indeterminismus, cf.
Willensfreiheit.
Individualismus und No-
minalismus 234, Occam's
259.
Individualität 266ff.,
Rousseau 362, cf. Persön-
lichkeit.
Individuum als Mikrokos-
mus 274, die Monade ist I.
334, Grund öffentlichen Le-
bens 341, im Vordergrund
394 , Ausgangspunkt für
Staatslehre 409, cf. Persön-
lichkeit.
Induction bei Sokrates 74,
bei Ar. 106, bei Bacon
303.
Innerlichkeit, Princip
d. aug. Philos. 212 218.
Inspiration, cf. Oilen-
barung.
Intellectualismus 396.
Interesse, interesselos 448.
Ironie bei Sokrates 74, Ro-
mantiker 476.
Irrationalismus Schel-
ling's 484, Schopenhauer's
488.
Irrthum erklärt 311.
Jurisjurudenz, cf. Recht.
512
Sach-Begister.
Kanonik, cf. Logik.
Kategorie bei Ar. 110, Stoa
166, Plotin 193, Aug. ent-
ficheidet sich fiir Plot. 221,
Ar. als Ausgangspunkt des
Universalienstreites 227,
Kant 427 f., des Zwecks 434,
Fichte 466, Hegel 481.
Kirche 205, bewahrt antike
Cultur 207, Stellung bei
Aug. 217, als Erlösungs-
anstalt 223, Stellung zu Ar.
249, dem Staat übergeord-
net 254, coordinirt 259 und
Renaissance 279 f. und Staat
336, „freie" 383.
Körper, Gegensatz zur Seele
238 ff.
Korpuskulartheorie 293.
Kosmopolitismus der
Kyn. 65, der Stoal38,cf.477.
Kriterium der Wahrheit
159, Evidenz 160 354,
Uebereinstimmung mit Lo-
gos 163, der 0£^nbarung
noth wendig 177, der Moral
394 f. 404.
Kritik, historische 338,
System d. 418 f. und Jacobi
451.
Kunst, grosse des Lullus 254,
Leibniz 314, cf. Aesthetik.
fieben als Grenzbegriff 445,
(/entralbegriff der Natur-
philosophie 470, als Kunst-
werk 473.
Logik 15 16, des Ar. 102ff.,
Eintheilung 104 f. , ihre
Grenzen 106, des Feripatos
1 55, beherrschende Stellung
im Mittelalter 213, „neue"
245, Vereinfachung 284, als
Methode 313 = Grammatik
377, bei Kant 428 ff., trans-
soendentale gegen formale
465, Hegel 484.
Logos bei Heraklit 48 =
avocYv.'T] bei Demokrit 86,
Stoa 141 146, als Kriterium
163, oicftpjjLatixog 175, Idee
der Ideen 190, Sohn Gottes
200.
Lust bei Aristipp 65, Epikur
133,£entham404, Schopen-
hauer 488.
akrokosmus 147 289ff.
Materialismus als System
bei Demokrit 77 ff. 84, Stel-
lung der Stoa 142, Epikur
143 , anthropologischer von
Hobbes 326 , Lamettrie's
359, metaphysischer 377,
19. Jahrhundert 492, M.-
streit 495 ff., französischer
495, Feuerbach's 498, Oe-
schichte d. M. 499.
Materie, ihre Construction
bei Anaximander 25, bei Ar.
109 111, mit Form identiR-
cirt 141, Stoa 156, Grand
des Bösen 181 195, ethisch
indifferent 182, als End-
product des Guten 193,
körperlos 194, nicht an sich
böse 198, mangelhafte Be-
alitat 221, quantitativ be-
stimmt 296, niederste Mo-
nade 335, mchtexistirend
370, dynamische Theorie
430, Herbart 461, cf. Atom,
Weltstoff, Substanz.
Materie der Erfahrung. Lam-
bert 364, Kant 425 f.. Rein-
hold 452.
Mathematik 43, Bedeutung
für Plato 91, zur Weltbü-
dung verwendet 102, in der
Benaissance 294 , Galilei
306, Hobbes 307, Hume 373,
von Philosophie getrennt
382, Kant 423 ff.
Mechanismus , ungewiss^bei
Emped., durchgeführt bei
Leukipp 40, des Lebens 318.
Metaphysik 15, Begrün-
dung 80 ff., teleologische 99,
enge Verbindung mit Logik
103, bei Theophrast 140, der
Stoa 141, religiöse 166, welt-
geschichtliche 201, der Gat-
tungsbegriffe 213, der in-
neren Erfahrung 217 ff., rein
logisch 228, des Nominalis-
mus 234, der Psychologie
256, der Anthropologie 292,
Boehme's 297 = math.
Physik 310, Beziehung zur
Theologie 316, Spinozas
330 f., Leibniz 332 f., „gesun-
den Menschenverstands"
346f., Woir8363 380, spiri-
tualistische 37 1 , = Erkennt-
nisstheorie 375, naturalisti-
sche 394 f., soll Moral be-
gründen 396, Stellung
Kant's zur M. 422 f., der
Natur 429, der intellectuel-
len Anschauung 465 ff., des
Irrationalen 484 ff. , des
Materialismus 498, Lotze's,
Fechner s 499.
Methode, Besinnung auf
299 ff., Problem 302 ff., com-
positive 306, mathematische
311, geometrische 313, un-
möglich 382, Woirs 363,
psycliologische für Kant un-
zulänglich 419, transsceii-
dentale 420 f., dialektiBche
464ff., Hegers 481 ff.
Methodologie 16.
Mikrokosmus 289ff.
Modus 320f., unendlicher
323.
Möglichkeit bei Ar. 108.
Monade, Bruno 8 293, Leib-
niz 334.
Monismus, stillschweigend
vorausgesetzt 24,aaBge8pro-
chen 26, Parmenides 28,
Stoa 142, von späterer St.
vernachlässigt 180 , des
Geistes 185, als Zielpunkt
189, als Ausgangspunkt 199,
desThomismuB 256, der Re-
naissance 290, Fichte 469.
Monotheismus des Xeno-
phanes 26, des Geistes bei
Ar. 113, Endform der Rcl.
392.
Moral, cf. Ethik.
Moral Sense 401 407.
Mo ralphilosophie, cf.
Ethik.
Motiv der Moral 394.
Mystik wurzelt im Neuplat.
178, die Scholastik ergän-
zend 209, psychologische
Studien 240, vertritt Ver-
standesprimat 260, deutsche
264 ff. u. Reformation 288,
der Zahl 294, Boehme's 295,
Spinoza's 323, der Trans-
scendentalphilos. 458,Schel-
Ung's 480 486.
Mythos bei Plato 96 101,
der Gnostiker 188 192, von
Hume verwendet 392.
H a t u r , Uebereinstimmung
mit 134, ins Geistige ge-
deutet 196 , verringerte
Wichtigkeit im Christen -
thum 20 1 , für den Menschen
da 206, Studium d.N. em-
pfohlen 238, genaturte 265,
mathematische Erkenntnis»
307, = Gott 323, mensch-
liche 340, ein Kunstwerk
385 f., bei Kant 426 f., als
zweckmässig 442, N. und
Genie 444, „werdendes Ich**
469, Schelling469ff'.486.
Naturale setz, geahnt bei
HeraKlit28, durch Astrono-
mie 43, bei GaUlei 306, Ber-
keley 371, besondere 446.
Naturphilosophie der Re-
naissance 290, des Telesius
297, Schelling 469, Hegel
483.
Naturwissenschaft, zweite
Periode der Renaissance
I-
D-
i
Tl.
1
iH
vi
Kant 423ff., gegen Philo-
sophie 471, augenblickliche
Herrschaft 491, u. Geistes-
wissenschaft 500 ü*.
Naturzustand, Ideal der
Kyniker 64, Renaissance
343, Rousseau 414, Kant
440.
Negation bei Fichte 465.
Neuplatonismus 168 ff.,
läuft in Mystik aus 209, Re-
naissance 2278 f., ßoehme's
296, Locke polemisirt gegen
N.355, Schelling's idealisti-
scher X. 480
Neupyt hagoreismuB
166, wie zu erklären 172,
Renaissance 278 290.
Nihilismus , Resultat der
Sophistik 69.
Noetik, cf. Logik.
Nominalismus 214fF., Ur-
sprung 233, Stellung Abae-
lard's 235, erneut 248 250, [
und Mystik 255, siegreich :
270, idealistischer 271, \
humanistisch. 284, Locke,
Berkeley 356.
No th wen digk ei t, mechani-
sche bei Leukipp 41, bei
Plato 101, logische bei Ar.
104, Stoa 142, Epikur 145,
zwei Arten 315, Gottes allein
335, subiectivische 367, des
Uebels 387, Gefühl d. 455.
Nous, cf. Vernunft.
Objectivation des Willens '
463.
Occasionalismus 329f. i
Offenbarung, höchste Er-
kenntnissquelle 172, Philos.
Umdeutung 174. Jesus als
O. göttlicher Vernunft 175,
Gegensatz zur Vem. 176,
Plan der O. 204, vermittelt
Vemunftwahrheiten 222,
übervemünftig254, d. Gott-
heit bei Mystik 265, = Ver-
nunft 384 ff., ursprüngliche
392, nothwendig fiir Rel.
393.
Optimismus 198, der Re-
naissance 290, kosmologi-
scher 385, Leibniz' 388.
Orient, Beziehungen des
griech. Denkens zum 18 21,
Versuche, es auf O. zurück-
zufuhren 172, Berührung
mit 244.
06a i« beiPlato 95, Aristoteles
108, Plotin 193, Origenes
199, cf. Substanz.
Windelband, Geschichte der
* U& tAX
theilt 249, Averroes 268,
Bruno 293.
Pantheismus, angelegt bei
Eleaten 28, Straton 140,
Stoa 141, verbunden mit
Polytheismus 149,yermittelt
mit Theismus 185, logischer
229, Averroes 249, derAmal-
ricaner 267 , Renaissance
290, nach Descartes 320f.,
Toland 388.
Hapoositt bei Plato 93.
Patristikl67ff. 200flr.
Perceptions petites 334
365.
Peripatos 140 ff., Renais-
sance 283 f.
Persönlichkeit wird etlii-
scher Centralbegriff 131,
steigt an Bedeutung 174,
•fesu 175, im geistigen Prin-
cip gefunden 183, Gottes
187, Bedeutung bei Plotin
196, endliche und unend-
liche 200, Ausgang für Ge-
Hchichtsphilosophie 201, als
Sünde 266, Problem 268,
Selbsterfahrung der 272,
Würde d. 436, cf. Innerlich-
keit.
Pe s 8 i m i s m u s des Erlösungs-
bcdürfnisses 198,Swift's 406,
Rousseau's 413, Schopen-
hauer's 488.
Pflicht, Stoa 135, Kant434f.,
Wirklichkeit als Material
für 467.
Phänomenalität = Ideali-
tät 425 f.
Phantasie bei Stoa 163, Aug.
221, Kant 428, productive
431, ästhetische 443, Fichte
466.
Philosophie, Def If. 15,
als Terminus 72, Herrscher
im Staat 98, Eintheilungbci
Ar. 102, Ausscheiden der
Special Wissenschaften 122,
skeptische Zersetzung 173,
Verhältniss zum Christen -
thnm 174, des Mittelalters
abhängig von antiker 209,
Ausgleich mit Rel. 246, =
natürliche Rel. 253, welt-
liche Wissenschaft 255 271,
der Renaissance 275 ff., =
Naturwissenschaft 279,
Lehre von Bewegung der
Körper 307, Üniversal-
mathematik ib., der Aufklä-
rung 345 ff., = Psychologie
353, von Mathematik ge-
trennt 382, deutsche 417 ff.,
als Vemnnftsystem 464 ff.,
Philosophie.
19. Jahrhunderts 490 fi'.
Phrenologie 496.
Physik 15, des Ar. 116, Peri-
patos 140, Galilei 306.
Phvsicotheologie d. Stoa
158.
Pneuma, Pneumatiker 174,
V. Seele unterschieden 181,.
' mit dem Gottesbegriff ver-
bunden 186, cf. Gottheit.
I Poren bei Empedokles 39.
Positivismus, nicht bei
Protagoras 81, Epikur's 161,
Hume's 375, Bayle, Con-
' dillac 376, Comtess 502.
' Praedestinatioä 224.
Praeexistenz der Seele 96-
196.
Primat, Verstand oder Wille
259 ff., praktische Vernunft
437.
Principium individua-
tionis266ff.
Probabilismus der Aka-
dem. 162.
Probleme, ihre Eintheilung
15, kosmologisches 20 ff.,
des Seins 24 ff., des Ge-
schehens 36 ff., des Er-
kennens 44 ff., anthropo-
logische 50 ff., der Sittlich-
keit 55 ff., der Wissenschaft
67 ff., der Metaphysik 80 ff.,
der Entwicklung 107 ff.,
Wiederauftreten früherer
122 ff., der Freiheit 150 ff.,
der Wahrheit 155 ff., reli-
gicise 164 ff., der Offen-
barung 171 ff., Geist und
Materie 180ff., Gott und
Welt 185 ff., der Welt-
geschichte 20'0 ff., der inne-
ren Erfahrung 217, der
Universalien 227 ff., Ver-
hältniss von Leib und Seele
238, Natur und Gnade 251,
des psychologischen Pri-
mats 259, der Lidividualität
266, Unendlichen und End-
lichen 273, ältere 282 ff.;
Makrokosmus und Mikro-
kosmus ä89ff., Substanz und
Causalität 315 ff., Natur -
recht 386 ff., theoretische
der Aufklärung 352 ff.. Er-
kenntniss der Aussenwelt
367 ff., der natürlichen Re-
ligion883, praktische 393 ff.,.
Principien der Moral 895 ff.,
der Cultur 408ff., der Ver-
nimftkritik 418 ff., des Ge-
genstandes der Erkenntniss-
422, des kate^rischen Im-
perativs 433 flf., der Zweck-
33
6U
Sach-Register.
mässigkeit 440 JBT., Ding-an-
sich 460 ff. , Vernunft Systems
464 £f., des Irrationalen 484,
Existenz der „Seele^ 495 ff.,
Natur und Geschichte 600 £f.
Ps y c h 0 1 0 g i e 16, anfangs rein
materialistisch 47, wissen-
schaftlich bearbeitet 52, der
Kyrenaiker 66, des Demo-
krit 87, Plato's 95, Einfuh-
rung des Begriffs der Syn-
•thesis 184, Aug. 218 f., eif-
riger Betrieb 239, meta-
physische 256, empirische
272 297, sprengt Sub-
stanzenlehre 826, steht im
Centrum des Interesses
^52fif., physiologische 357,
empirische und rationale
^63, Eintheilung durch
Tetens 403, sensualistische
P. und Ethik 405, keine
Wissenschaft 429, rationale
432 f., „mythologische" 454,
Herbart's 458 l, viel be-
arbeitet 492, Loslösung von
Philosophie 495 f, „ohne
^eele" 499, Socialps. 501.,
Associatiofisps, angelegt
242, Hobbes' 326, Aufklä-
rung 346 f., Terminus 358,
Hume 373, englische 493,
französische 495.
Psychophysik 500.
*4{ualität = Quantität 45,
Motiv für Homöomerie 46,
in Quantität aufgelöst 85,
Beziehung auf Entelechie
115, als Eigenschaft d. Dinge
142, Gott abgesprochen 186,
des ürtheils Kant 427, pri-
märe und secuudäre 87 318,
(tertiäre) 369, Kant 425.
Rationalismus, theore-
tischer bei Demokrit 83, der
Aufklärung 354, ethischer
bei Plato 83, religiöser 391,
cf. Realismus.
Haum, leerer, von Parme-
nides geleugnet 29, noth-
wendig für Atomismus 32,
dialektische Widerlegung
34, real bei d. Pythagoreem
-35, Grund der Leugnung bei
Emp. und Anax. 39, bei
Leukipp eingeführt 39, seine
Schwierigkeiten durch Zeno
dargestellt 43, angenommen
bei Plato 100, = Materie
194, bestritten bei Descartes
321, Kraftproduct 333, Kant
Inaug.-Diss. 367, Vemunft-
kritik 424 ff., Herbart 460,
Fichte 466.
Reale Herbart ^s 459.
Realismus 214 ff., Scotus
Erigena 228, tendirt zum
Pantheismus 233, gemäs-
sigter 234, bekämpft durch
Abaelard 235, ausklingend
bei Spinoza 324, naiver 353,
Stellung zur Aussenwelt 368
und Kant 460 f.
Realität des Bewusstseins
Aug. 218, Descartes 309,
des Ding-an-sich 436, des
höchsten Guts 437, gleich-
giltig für Aesthetik 443, der
Aussenwelt nicht beweisbar
372, empirische 425.
Recht, Naturrecht Stoa 139,
auf Gott zurückgeführt 258,
Renaissance 336 ff., Auf-
klärung 409 f., Kant 439,
Fichte 468, Hegel 482.
Receptivität 383.
Reflexion 365.
Relativität, cf. Skepsis,
Wahrnehmung.
Relativismus, cf. Ethik,
Wahrnehmung, Causalität.
Religion, Ausgangspunkt
der Ph. 5, Stellung der
Sophisten 52, Epikur^s 148,
Stoa 165. Verbindung mit
Philos. 164 ff., Kampf der
Rel. 202, in Gesinnung be-
stehend 338, Stellung zur
natürlichen 390, aus Betrug
entstanden 392, Genesis bei
Hume ib. , Kant 438 f.,
Schleiermacher 479, Hegel
482, Schelling 487, natür-
liche 148 263, Campanella
293, Problem 383 ff.
Religionsphil osophiel6,
jüdische 167, d. Aufklärung
384, Kant's 438, Hegel' s 482,
Schellings 485, Feuerbach's
498, cf. Religion.
Renaissance, Vorblüthe
238, Philos. d. 275 ff.
Revolution, Theorie 342,
vorbereite 1 410,Stra%ericht
Gottes 500.
Romantiker 418.
fi^anction, der Moral 394
404 f.
Sohluss, cf. Logik.
Schönheit, definirt 195, des
Universums 283 290, Quelle
der Religion 285, Burke 402,
Sulzer 403, Kant 441 ff.,
Schiller 472.
Scholastik 209ff., Methode
248, identificirt nicht Rel.
und Philos. 254, wird ge-
meinsamer AngriffspuiJct
278 f., Nachblüthe 287.
S c h r i f t , heil., allegorisch
ausgelegt 173.
Seele = Bewegun^kraft 47,
äHssert sich nur im Wissen
47, besteht aus Atomen 87,
bei Plato nicht schöpferisch
92, Seelenvermögen 96,
Entelechie des Körpers 116,
Stoa 147, Epikur ib., dem
Fleisch entgegenge8etztl80,
bei Plotin 193, bei Aug. 219,
und Körper 238 ff., bei
Thomas, Duns, Occam 256,
Wille als Grundkraft 261,
göttlich 265, individualisirt
269, Wechselwirkung mit
Körper 327, Entstehung
354, Vermögen 355, Analyse
360, immateriell 361, Sub-
stanz unerkennbar 370 374,
Kant 432 f., Vermögen kriti-
sirt 453, Herbart 459,
„schöne'' 473, Streit um die
S. 495 ff., cf. Weltstoff, Per-
sönlichkeit, Ich.
Sein 24 ff'., = Körperlichkeit
28, Atom 32, Raumerfüllnng
28 86 146, Zahl 34, schliesst
Werden aus 39, skeptische
Behandlung 69, Nichtseien-
des real 100, reines = Gott
113220, unendliches=Gott
320, alsKateg. Ar. 108, Stoa
166, der Wahrheit 220, =
Allgemeines 228, = Einzel-
ding 234, = Erkenntniss
266, als Art des Bewusst-
seins 455ff.; cf. Wirklichkeit,
Realität.
Selbstbewu8stsein,cf.Be-
wusstsein.
Selbsterkenntniss, Aug.
217,=Welterkenntnis8 292,
Descartes 309, Locke 368.
Sensation 355 f.
Sensualismus der Sophi-
stik 70, der Stoa und £pi-
kiv's 159, für Orthodoxie
verwendet 176, Consequenz
des Nominalismus 234, Cam-
panella's 298, Aufklärung
346 ff., skeptischer 360, und
Ethik 405, supranaturaler
451.
Sinn, äusserer u. innerer 428.
Sinneswahrnehmung,
IJnzuverlässigkeit bei Hera-
klit, Parmenides 45, Sub-
jecüvität 70.
Sinnlichkeit bei Leibniz
365, als Vermögen 366, bei
Kant 426, rehabüitirt 453.
Skepsis, Besultat sophisti-
scher Lehren 52, wird zur
Schule 135 127, ethische
Consequenz 131, Erkennt-
nisstheoriel57, Renaissance
285 f., Agrippa'8296, mathe-
matische 312, d. Aufklärung
360 ff., nicht bei Hume 375,
deutscher Popularphilos.
376, „Aenesidem** 453, cf.
Sein, Zweifel.
Sociologie 16.
Solipsismus, extremer
Idealismus 372.
Sophisten, Aufkommen 51,
gelangen zur Skepsis 52,
' beeinflusst durch Sokrates
53, u. moderne Aufklärung
345.
Spinozismus, in Deutsch-
land 447 ff., poetischer Goe-
the's 470, idealistischer 478,
und Fichte 480.
Spiritualismus 496.
Spontaneität 383, Kant
427.
Sphärenharmonie, ihr
Ursprung bei den Pytha-
gorcern 34.
Sprache 415 501.
Staat, centrale Stellung bei
Plato 97, bei Ar. 118, Stoa
136, Epikur 137, Aug. 225,
Thomas 259, Dante 259,
Occam ib., modemer 336,
sanctionirt Moralität 405,
801^ für Wohlfahrt 409,
möglichst beschränkt 410,
Kant 439, Fichte 469 477,
Hegel 483, als Vertrag Epi-
kur 137, Benaissance 341,
Hobbes 408, Eousseau 409,
Kant 439.
Stoa 124 if.
Stoif, cf. Materie.
Substanz, bei Ar. 111, Stoa
156, nicht auf Gott anwend-
bar 220, = Gattungsbegriff
228, modificirt 232, erste u.
zweite 236, Anm., erste =
Ind. 270, zwei Substanzen
320, werden als Attribute
gedacht 322,wird Krafb332f,
kritisirt b. Locke 369, Hume
373, in welchem Sinn neffirt
durch Fichte 467, und Ab-
solutes 478, Hegel 481, cf.
Materie.
Subsumtion, bei Ar. 105.
S ü n d e = Irrthum 61, = Ma-
terie 181 195, Abkehr von
Gott 199, durch Gott gesetzt
199, benöthigt physisches
üebel 387, als radical Böses
400, X icnie 4 « 4 , ui. X nuu-
dicee
Sündenfall 182 296, Kant
440, Schelling 485.
Syllogistik, bei Carte-
sianem 313, cf. Logik.
Symbolik, Auslegung der
Schrift 173, Zahlens. 232.
Sympathie, bei Hume 407,
Schopenhauer 488.
Syntheresis, cf. Gewissen.
Synthesis =: Geist 183, bei
Descartes 308, Leibniz 333,
wird Centralbegriff bei Kant
423, praktische 433 f., zwi-
schen theor. und prakt.
Philos. 441 , productivo
465.
T c 1 e o 1 o g i e, bei Anaxagoras
32, bei Sokrates 75, Plato
99, durchgeführt bei Ar.
109, kleinlich in der Stoa
143, geleugnet v(m Epikur
ib., histerische205, Aug.221,
Kampf gegen 317, Shaftes-
bury 385, Aufklärung 386,
Kant's 433 f. 441 ff., Jaule"
445.
Terminismus 248 270,
siegreich 353, Ausklingen
368, cf. Nominalismus.
Theodicee, der Stoa 154,
Plotin's 194, Origenes 198,
Aug. 221, Leibniz 335 387 f.
und Bayle 389, cf. Teleo-
logie.
Theologie und Realismus
229, als praktisch eDisciplin
263, „deutsch" 288, negative
186, gestreift 220, Mystik
265, Bruno's 291, Spinoza's
323.
Traditionalismus 492500.
Transscendcntal, Logik
427 f., Schein 431 f.
Trausscendenz Gottesl85
190, vermittelt zur Imma-
nenz 1 92, in der Renaissance
290.
Trinität, bei Aug. 221, Rea-
lismus 233, Mystiker 265.
Tropen, der Skepis 157.
Tugend, inadäquater Aus-
druck lür apsrrj 59, Verbin-
dung zur Glückseligkeit 62,
Unabhängigkeit vom Ge-
schehen 64, = Genussfahig-
keit 65, erste Eintheilung
bei Plato 96, bei Ar. 118,
«B Wissen 129, des Skep-
tikers 131, entsteht durch
Xo-fo; 178, bei Plotin 196,
und Glückseligkeit 437, cf.
Ethik.
«jneuaiiciiKeii^, von^iJiaxi-
mander postulirt 25 37.
Unsterblichkeit, proble-
matisch bei Sokrates 60, ge-
lehrt bei Plato 96, Stoa 147,
als eingeborener B. 160,
Streit über U. 283, Bonnet
361, Streit über 497.
U r t h ei 1 , Stoa 1 63, als psychi-
sche Grundkraft 220, bei
Empfindung betheiligt 242,
bei Descartes 311, syntheti-
sches apriori 420 n., logi-
sches 427, cf Logik.
Urtheilskraft, Ramu8 285,
Kant 420 441 ff.
Utilitarismus bei den So-
phisten 57, bei Sokrates 69,
Cirkelbeweis 60, Stoa 143,
angewendet auf den Staat
137, Bacon's 305, deutsche
Aufklärung 386 399, als
System 395 f., Formel 404,
auf Staat angewendet 411.
Utopie 339f.
Vergottung der Neuplat.
179 197, Mystiker 241 266.
Vernunft als Denkstoff
(Nous) 32, als Beginn der
Bewegung 40, Princip des
Eudämonismus 62, Seelen-
theil bei Plato 96, = Gott
99 Zweitheilung bei Ar.
117, bei Theophrast 140, u.
Autorität 174, beginnender
Gegensatz 176, als höheres
Vermögen 219, Gattung- V.
268, V.-Erkcnntniss evident
310, =Chri8t«nthum385f.,
Identität der prakt. V. 397,
theoretische V. bei Kant
423 f., Jacobi 451, Fichte
465f.,V.-Instinct476, ästhe-
tische Schelling's 477, logi-
sche Hegers 483, cf Logos.
Vernunftkritik 418ff.
Ve r s t a n d , psychologischer
Primat 259 ff., bei Leibniz
365, Kant 426 f.
Vielheit, geleugnet von Par-
menides 29 45, Grund zur
Annahme der Atome 30.
Virtualismus widerlegt
Solipsismus 462.
Vorstellung 220, Entwick-
lung 242, verworrene u.
klare 261, an Stelle des
Dinges 271 , unbewusste 335
365.
IVahrheit, zweifache 253,
bei Bayle 389, ursprüng-
liche 362, ewige 366.