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Full text of "Geschichte der Philosophie"

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GESCHICHTE  DEB  PHHiOSOPHIE. 


GESCHICHTE 

DEK 

PHILOSOPHIE 


DE.  "W.  WINDELBAND 

PEOFBSSOB  Alt  DEB  DHITEB8ITÄT  STKASSBQBO. 


FBEIBüBe  LB.    189S. 

JlfADSmaCBJi  YSBLAOSBUCHHAJTDLnNO  VON  J.  C,  ?.  BfOBB 
(PAUI.  8 


Y      ^ 

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Das  Reeht  der  Ueberseteung  in  fremde  Spraehei 
behält  ricli  die  Yerlafpsbandltnig  vor. 


Druck  von  G.  A.  Wagner  in  Freibnrg  i.  B. 


» t» 


Vorwort. 


i. 


Nach  mancherlei  schmerzlich  empfundenen  Unterbrechungen  und  Ver- 
zögerungen bringe  ich  jetzt  endhch  den  Abschluss  des  WerkS;  dessen  erste 
Bogen  schon  vor  zwei  Jahren  in  die  Welt  gingen. 

Man  wird  diese  Arbeit  nicht  mit  den  Compendien  verwechseln^  wozu  wohl 
sonst  CoUegienhefte  über  die  allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  ausstaffirt 
worden  sind:  was  ich  biete,  ist  ein  ernsthaftes  Lehrbuch^  welches  die  Ent- 
wicklung der  Ideen  der  europäischen  Philosophie  in  tibersichtlicher  und  gedrängter 
Darstellung  schildern  soll;  um  zu  zeigen,  durch  welche  Denkantriebe  im  Laufe 
der  geschichtlichen  Bewegung  die  Principien  zum  Bewusstsein  gebracht  und 
herangebildet  worden  sind;  nach  denen  wir  heute  Welt  und  Menschenleben 
wissenschaftlich  begreifen  und  beurtheilen.  Es  soll  dazu  beitragen^  dass  dieOe-' 
2  schichte  der  Philosophie  ihre  wahre  Aufgabe  nicht  aus  den  Augen  verliert,  und 

verhüten,  dass  in  ihr  die  Philosophie  selbst  vergessen  wird. 

Dieser  Zweck  hat  die  gesammte  Gestaltung  meines  Buches  bestimmt. 
Die  litterarhistorische  Grundlage  der  Forschung,  das  biographische  und  biblio- 
graphische Material^  musste  deshalb  auf  den  engsten  Raum  und  auf  eine  Auswahl 
beschränkt  werden^  welche  dem  weiter  arbeitenden  Leser  die  Wege  zu  den  besten 
Quellen  eröffiiet.  Auch  auf  die  eigenen  Darlegungen  der  Philosophen  wurde 
wesentlich  nur  da  verwiesen,  wo  sie  dauernd  werthvolle  Formulirungen  und  Be- 
gründungen der  Gedanken  darbieten,  und  daneben  nur  hie  und  da  dasjenige 
angeführt,  worauf  sich  eine  von  der  üblichen  abweichende  Auffassung  des  Ver- 
fassers stützt.  Dabei  fiel  die  Auswahl  des  Stoffs  überall  nur  auf  dasjenige,  was 
die  einzelnen  Denker  an  Neuem  und  Fruchtbarem  geleistet  haben,  und  höchstens 
kurze  Erwähnung  fanden  die  rein  individueUen  Gedankenverschiebungen,  welche 
zwar  ein  willkommner  Gegenstand  für  gelehrte  Forschung  sein  mögen,  aber  kein 
philosophisches  Interesse  darbieten. 

Den  Schwerpunkt  legte  ich,  wie  schon  in  der  äusseren  Form  zu  Tage  tritt, 
auf  die  Entwicklung  desjenigen,  was  im  philosophischen  Betracht  das  Wichtigste 
ist:  die  Geschichte  der  Probleme  und  der  Begriffe.  Diese  als  ein 
zusammenhängendes  und  überall  in  einander  greifendes  Ganzes  zu  verstehen,  ist 
meine  hauptsächliche  Absicht  gewesen.  Die  historische  Verflechtung  der  ver- 
schiedenen Gedankengänge,  aus  denen  unsere  Welt-  und  Lebensansicht  erwachset^ 


/ 


ißt,  bildet  den  eigentlichsten  Gegenstand  meiner  Arbeit:  und  ich  bin  überzeugt, 
dass  diese  Aufgabe  nicht  durch  eine  begriffliche  Construction^  sondern  nur  durch 
eine  allseitige,  vorurtheilslose  Durchforschung  der  Thatsachen  zu  lösen  ist.  Wenn 
aber  dabei  —  schon  der  räumüchen  Oekonomie  nach  —  dem  Alterthum  ein  ver- 
hältnissmässig  grosser  Theil  des  Ganzen  gewidmet  erscheint,  so  beruht  das  auf 
der  üeberzeugung;  dass  für  ein  historisches  Yerständniss  unsres  intellectuellen 
Daseins  die  Ausschmiedung  der  Begriffe,  welche  der  griechische  Geist  dem  Wirk- 
hohen  in  Natur  und  Menschenleben  abgerungen  hat^  wichtiger  ist  als  alles  was 
seitdem  —  die  kantische  Philosophie  ausgenommen  —  gedacht  worden  igt. 

Die  so  gestellte  Aufgabe  verlangte  jedoch  einen  Verzicht,  den  Niemand 
mehr  bedauern  kann^  als  ich  selbst:  die  rein  sachUche  Behandlung  der 
historischen  Bewegung  der  Philosophie  erlaubte  nicht;  die  PersönUchkeit  der 
Philosophen  zu  eindrucksvoller  Geltung  zu  bringen.  Diese  konnte  nur  da  berührt 
werden^  wo  sie  als  causales  Moment  in  der  Verknüpfung  und  Umgestaltung  der 
Ideen  wirksam  wird.  Der  ästhetische  Zauber,  welcher  dem  individuellen  Eigen- 
wesen der  grossen  Träger  jener  Bewegung  innewohnt,  und  welcher  dem  aka- 
demischen Vortrage  wie  der  breiteren  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie 
seinen  besonderen  Reiz  verleiht,  musste  hier  zu  Gunsten  des  Einblicks  in  die 
pragmatische  Nothwendigkeit  des  geistigen  Geschehens  preisgegeben  werden. 

Lebhaften  Dank  spreche  ich  schUesslich  auch  an  dieser  Stelle  meinem 
Herrn  CoUegen  Dr.  Hensel  aus,  welcher  nicht  nur  bei  einem  Theile  der  Cor- 
rectur  mich  unterstützt,  sondern  auch  durch  Aufstellung  des  Sachregisters  die 
Brauchbarkeit  des  Buches  wesentUch  erhöht  hat. 


Strassburg,  im  November  1891. 


Wilhelm  Windelband. 


Inhalt« 

£jinleitang  S.  1 — 17. 

§  1.  Name  und  Begriff  der  Philosophie.  S.  1.  —  g  2.    Die  G-eschichte  der 
rhilosophie.  S.  6.  —  §  3.  Eintheilaiig  der  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  S.  15. 

I.  Theil.    Die  Philosophie  der  Griechen.    S.  18—120. 

1.  Kap.:  Die  kosmologische  Periode.    S.  20 — 60. 

I  4.  Begriffe  des  Seins.  S.  24  —  §  5.  Begriffe  des  Geschehens.  S.  36.  — 
§  6.  Begriffe  des  Erkennens.    S.  44. 

2.  Kap.:  Die  anthropologische.  Periode.    S.  50 — 75. 

§  7.  Das  Problem  der  Sittlichkeit.  S.  55.  —  §  8.  Das  Problem  der 
tVissenschaft.    S.  67. 

3.  Kap.:  Die  systematische  Periode.    S.  76 — 120. 

§  9.  Die  Neubegründung  der  Metaphysik  durch  Erkenntnisstheorie  und 
Ethik.  S.  80.  —  §  10.  Das  System  des  Materialismus.  S.  84.  —  §  11.  Das 
System  des  Idealismus.  S.  90.  —  §  12.  Die  aristotelische  Logik.  S.  102.  — 
§  13.  Das  System  der  Entwicklung.    S.  107. 

II.  Theil.  Die  hoHtnittioch-rdmioche  Philosophie.    S.  121—206. 

1.  Kap.:  Die  ethische  Periode.    S.  124 — 164. 

§  14.  Das  Ideal  des  'Weisen.  S.  128.  —  §  15.  Mechanismus  und 
Teleologie.  S.  139.  —  §  16.  Willensfreiheit  und  Weltvollkommenheit. 
S.  149.  —  §  17.  Die  Kriterien  der  Wahrheit.  B.  155. 

2.  Kap.:  Die  religiöse  Periode.    S.  164—206. 

§  18.  Autorität  und  Offenbarung.  S.  171.  —  §  19.  Geist  und  Materie. 
S.  180.  —  §  20.  Gott  und  Welt.  S.  185.  —  §  21.  Das  Problem  der 
Weltgeschichte.   S.  200. 

III.  Theil.  Die  mittelalterliehe  Philosophie.    S.  207—274. 

1.  Kap.:  Erste  Periode.    S.  212—244. 

§  22.  Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahrung.  S.  217.  —  §  23.  Der 
Üniversalienstreit.  0.227.  —  §24.  DerDualismus  von  Leib  und  Seele.  S.238. 

2.  Kap.:  Zweite  Periode.    S.  244—274. 

§  25.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Gnade.  S.  251.  — 
i$  26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes.  8.  259.  — 
§  27.  Das  Problem  der  Individualität.    S.  266. 

IV.  Theil.  Die  Philosophie  der  Renaissance.    S.  275—344. 

1.  Kap.:  Die  humanistische  Periode.     S.  278 — ^298. 

§  28.  Der  Kampf  der  Traditionen.  S.  282.  —  §  29.  Makrokosmus  und 
Mikrokosmus.  S.  289. 

2.  Kap.:  Die  naturwissenschaftliche  Periode.    S.  298 — 844. 

§  30.  Das  Problem  der  Methode.  S.  302.  —  §  31.  Substanz  und  Gausa- 
Utät.  S.  315.  —  §  82.  Das  Naturreoht.  S.  336. 

V.  Die  Phlloeophie  der  Aufklärung.    S.  345—416. 

1.  Kap.:    Die  theoretischen  Fragen.     S.  352—393. 

§  38.  Die  eingeborenen  Ideen.  S.  354.  —  §  24.  Die  Erkenntniss  der 
Anssenwelt.   S.  367.  —  §  35.  Die  natürliche  Religion.    S.  383. 

2.  Kap.:  Die  praktischen  Fragen.   S.  393 — 416. 

§  36.  Die  Principien  der  Moral.  S.  395.  —  §  37.  Das  Cultur- 
Problem.   S.  408. 

VI.  Die  deutsoho  Philosophie.    S.  417—489. 

L  Kap.:   Kant's  Kritik  der  Vernunft.    S.  418—446. 

§  38.  Der  Gegenstand  der  Erkenntniss.  S.  422.  —  §  39.  Der  kate- 
gorische Imperativ.  S.  433.  —  §  40.  Die  natürliche  Zweckmässigkeit  S.440. 

2.  Kap.:  Die  Entwicklung  des  Idealismus.    S.  416     489. 

§  41.  Das  Ding -an -sich.  S.  450.  —  §  42.  Das  System  der  Vernunft. 
S.  464.  —  §  43.  Die  Metaphysik  der  Irrationalen.    S.  484. 

VI.  Die  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts  (Schluss).    S.  490—508. 

§  44.  Der  Kampf  um  die  Seele.  S.  495.  —  §  45.  Natur  und  Ge- 
schichte.   S.  500. 

Namenregister  S.  604. 

Sachregister  8.  609. 


Berichtigungeii. 


Zu  der  allgemeiueD   Litteratur   auf  S.  13  ist  nachzutragen:   R.  Suokk)!, 
Die  Lebensanschauungen  der  grossen  Denker.  (Leipzig  1890.) 

S.  17  Z.  13  d.  Text.  Ues  v.  Chr.  statt  n.  Ohr. 

„  19  „     6  von  oben  lies  in  eigner  statt  durch  eigne. 

„  34  „  18  von  oben  lies  Seiendes  statt  Seindes. 

„  42  „  14  von  unten  lies  stehenden  statt  bewegten. 

„  49  „     8  von  oben  lies  dieser  statt  er. 

„  57  „  13  von  oben  lies  den  Unterworfen  statt  die  Unterworfhen. 

„  78  „     5  von  oben  lies  liess  statt  lies. 

^  86  M      9  von  unten  lies  geringeren  statt  geringen. 

„  87  „      9  von  oben  lies  vo;ia>  statt  vo^iüi. 

„  87  n  10  von  oben  lies  §  31  statt  c%p.  3. 

n  89  n      9  von  unten  lies  e68aifi.ovta  statt  eüSaificuvia. 

„  101  „  18  von  oben  lies  zugleich  statt  dabei. 

y,  104  „      3  d.  Anm.  lies  wilflcommen  statt  willkommene. 

yf  106  „  14  von  unten  lies  Grundsätze  statt  Grundsäzte. 

„  116  „      8  d.  Anm.  lies  Schlaf  statt  Sahlaf. 

„  122  „  20  von  oben  lies  in  statt  während. 

„  128  „      1  von  oben  lies  greek  statt  greec. 

„  168  „  19  von  oben  lies  unternahm  statt  versuchte. 

„  185  rt     5  von  oben  lies  Seele  statt  Sünde. 

«  185  „      3  von  unten  lies  unter  statt  in. 

„  197  „  22  von  unten  Ues  Exegese  statt  Einleitung. 

^  214  rt  14  von  oben  lies  Unbefangenheit  statt  Unmittelbarkeit. 

„  216  „  16  von  oben  lies  12  statt  21. 

„  216  „  24  von  oben  lies  Adelard  statt  Adelard. 

„  264  „     9  von  oben  lies  oberste  statt  höchste. 

„  264  r,  21  von  oben  lies  sah  statt  hat. 

f,  323  „  19  von  oben  lies  wiederholt  statt  widerholt. 

„  332  n     2  u.  3  von  unten  sind  am  Schluss  die  Zeichen  —  und  ,  zu 

vertauschen. 

„  334  n     ^  von  unten  lies  Intensität  statt  Intentisät. 

„  847  „     1  von  unten  lies  Home  statt  Mome. 

„  848  „  30  von  oben  lies  morals  statt  moral. 

„  360  „  19  von  oben  lies  Volney  statt  Volnay. 

„  351  „  11  von  oben  lies  Knutzen  statt  Kuntzen. 

„  352  „  4  von  oben  lies  1881  statt  1889. 

„  355  „  18  von  oben  lies  void  statt  voit. 

„  367  „      1  von  oben  lies  34,12  statt  34,9. 

„  372  „  23  von  oben  lies  widerspricht  statt  widerlegt. 

„  373  „     5  von  oben  lies  £Eu;ts  statt  faits. 

9  376  „  3  von  oben  lies  genügt  statt  ausreicht.   ' 


Einleitung, 


%  L  Name  und  Begriff  der  Philosophie. 

R.  Hatm,  Art.  Philosophie  in  Ersch  und  Gruber's  Encyclopadie.  III.  Abth.  Bd.  24, 
W.  WiNDKLBAND,  Praeludien  (Freiburg  i.  Br.   1884)  1  ff. 

Unter  Philosophie  versteht  der  heutige  Sprachgebrauch  die  wissenschaft- 
liche Behandlung  der  allgemeinen  Fragen  von  Welterkenn tniss  und  Lebensansicht. 
Diese  unbestimmte  Gesaramtvorstellung  haben  die  einzelnen  Philosophen  je  nach 
den  Voraussetzungen,  mit  denen  sie  in  die  Denkarbeit  eintraten^  und  den  Ergeb- 
nissen, die  sie  dabei  gewannen,  in  bestimmtere  Definitionen ')  zu  verwandeln  ge- 
sucht, welche  zum  Theil  so  weit  aus  einander  gehen,  dass  die  Gemeinsamkeit  des 
Begriffs  zwischen  ihnen  verloren  erscheinen  kann.  Aber  auch  jener  allgemeinere 
Sinn  ist  schon  eine  Einschränkung  und  Umgestaltung  der  ursprünglichen  Bedeu- 
tung, welche  die  Griechen  mit  dem  Namen  Philosophie  verbanden,  —  eine  Ein- 
schränkung und  Umgestaltung^  welche  durch  den  ganzen  Verlauf  des  abendlän- 
dischen Geisteslebens  herbeigeführt  worden  und  neben  demselben  hergelaufen  ist. 

1.  Während  das  erste  literarische  Auftreten  ^)  der  Wörter  ytXoao^siv  und 
^iXoGo^ia  noch  die  einfache  und  zugleich  unbestimmte  Bedeutung  des  ^Strebens 
nach  Weisheit"  erkennen  lässt,  hat  das  Wort  ^Philosophie"  in  der  auf  Sokrates 
folgenden  Literatur  und  insbesondere  in  der  platonisch-aristotelischen  Schule  den 
fest  ausgeprägten  Sinn  erhalten,  wonach  es  genau  dasselbe  bezeichnet,  wie  im 
Deutschen  „Wissenschaft"^).  Danach  ist  Philosophie  im  Allgemeinen*)  die 
methodische  Arbeit  des  Denkens,  durch  welche  das  „Seiende"  erkannt  werden 
soll,  danach  sind  die  einzelnen  „Philosophien"  die  besonderen  Wissenschafben, 
in  denen  einzelne  Gebiete  des  Seienden  untersucht  und  erkannt  werden  sollen'^). 

Mit  dieser  ersten,  theoretischen  Bedeutung  des  Wortes  Pliilosophie 
verband  sich  jedoch  sehr  früh  eine  zweite.  Die  Entwicklung  der  griechischen 
Wissenschaft  fiel  in  die  Zeit  der  Auflösung  des  unmittelbaren  religiösen  und  sitt- 
lichen Bewusstseins  und  liess  nicht  nur  die  Fragen  nach  der  Bestimmung  und 
den  Aufgaben  des  Menschen   mit   der  Zeit  immer  wichtiger   für  die  wissen- 

1)  Im  Einzelnen  auff^efiihrt  auch  bei  Urberwbo-Heinzk,  Grundriss  der  Geschichte  der 
Philosophie  I,  §  1.  —  2)  Herodot  I,  30  und  50.  Thukydides  II,  40;  und  vielfach  auch  noch  bei 
Piaton,  z.  B.  Apol.  29.  Lysis  218  a.  Syrap.  202e  ff.  —  3)  Ein  Betriff  bekanntlich  von  viel 
grösserem  Umfange  als  das  englische  und  französische  „science**.  —  4)  Piaton,  Rep.  480  b. 
Aristoteles,  Met.  VI  1, 1026a  18.  —  5)  Piaton,  Theaet.  143  d.  Aristoteles  stellt  die  Lehre  ,vom 
Sein  als  solchem"  (die  später  sog.  Metaphysik)  als  „erste  Philosoi)hie'*  den  übrigen  „Philo- 
sophien** gegenüber,  unterscheidet  ferner  theoretische  und  praktische  „Philosophie".  An 
einer  Stelle  (Met.  I  6,  987  a  29)  wendet  er  auch  den  I*lural  (ptXtwo^tai  für  die  verschiedenen 
historisch  aufeinanderfolgenden  Systeme  der  Wissenschaft  an,  wie  etwa  wir  von  den  Philo- 
Sophien  Kant's,  Fichte's,  Hbgel^s  etc.  reden  würden. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  i 


Einleitansf. 


»■ 


schaftliche  Untersuchung  werden  (vgl.  unten  Thl.  I,  Cap.  2),  sondern  auch  die 
Belehrung  über  die  rechte  Lebensftihrung  als  einen  wesentüchen  Zweck,  schliess- 
lich als  den  Hauptinhalt  der  Wissenschaft  erscheinen.  So  erhielt  die  Philosophie 
in  der  hellenistischen  Zeit  die  schon  früher  (bei  den  Sophisten  und  Sokrates)  an- 
gebahnte praktische  Bedeutung  einer  Lebenskunst  auf  wissenschaft- 
licher Grundlage"). 

In  Folge  dieser  Wandlung  ging  das  rein  theoretische  Interesse  auf  die  be- 
sonderen „Philosophien"  über,  welche  nun  zuniTheil  die  Namen  ihrer  besonderen, 
sei  es  liistorischen,  sei  es  naturwissenschaftlichen  Gegenstände  annahmen,  wäh- 
rend Mathematik  und  Medicin  weiterhin  die  Selbständigkeit,  welche  sie  von  An- 
fang an  der  Gesammtwissenschaft  gegenüber  besessen  hatten^),  um  so  energischer 
bewahrten.  Der  Name  der  Philosophie  aber  blieb  an  denjenigen  wissenschaft- 
lichen Bestrebungen  haften,  welche  aus  den  allgemeinsten  Ergebnissen  mensch- 
licher Erkenntniss  eine  das  Leben  bestimmende  Ueberzeugung  zu  gewinnen  hoff- 
ten und  welche  schliessUch  in  dem  Vei-suche  (des  Neuplatonismus)  gipfelten,  aus 
solcher  Philosophie  heraus  eine  neue  Keligion  an  Stelle  der  alten  verloren  gehen- 
den zu  erzeugen'*). 

An  diesen  Verhältnissen  änderte  sich  zunächst  wenig,  als  die  Reste  der 
antiken  Wissenschaft  in  die  Bildung  der  heutigen  Völker  Europas  als  die  intel- 
lectuell  bestimmenden  Mächte  übergingen.  Inhalt  und  Aufgabe  desjenigen,  was 
das  Mittelalter  Philosophie  nannte,  deckte  sich  durchaus  mit  dem,  was  das  spä- 
tere Alterthura  darunter  verstanden  hatte  *).  Jedoch  erfuhr  die  Bedeutung  der 
Philosophie  eine  wesentUche  Veränderung  durch  den  Umstand,  dass  sie  ihre  Auf- 
gaben durch  die  positive  Religion  in  gewissem  Sinne  bereits  gelöst  fand.  Denn 
auch  diese  gewährte  nicht  nur  eine  sichere  Ueberzeugung  als  Regel  der  persön- 
lichen Lebensftihrung,  sondeni  auch  im  Zusammenhange  damit  eine  allgemeine 
theoretische  Ansicht  über  das  Seiende,  welche  um  so  mehr  philosophischen 
Charakters  war,  als  die  Dogmen  des  Christenthums  ihre  Pormulirung  durchgängig 
unter  dem  Einflüsse  der  antiken  Wissenschaft  erhalten  hatten.  Unter  diesen  Um- 
ständen blieb  während  der  ungebrochenen  HeiTSchaft  der  kirchlichen  Lehre  der 
Philosophie  in  der  Hauptsache  nur  die  dienende  Stellung  einer  wissenschaft- 
lichen Begründung,  Ausbildung  und  Vertheidigung  des  Dogmas 
übrig.  Aber  eben  dadurch  trat  sie  in  einen  gewissen  methodischen  Gegensatz  zur 
Theologie,  indem  sie  dasselbe,  was  diese  auf  Grund  göttlicher  Offenbarung  lehrte, 
ihrerseits  aus  den  Mitteln  menschlicher  Erkenntniss  gewinnen  und  darstellen 
sollte  % 

Die  unausbleibliche  Folge  dieses  Verhältnisses  aber  war,  dass  die  Philo- 
sophie, je  freier  das  individuelle  Denken  der  Kirche  gegenüber  wurde,  um  so  selb- 
ständiger auch  die  ihr  mit  der  Religion  gemeinsame  Aufgabe  zu  lösen  begann,  von 
der  Darstellung  und  Vertheidigung  zur  Kritik  des  Dogmas  überging  und  schliess- 


1)  Vgl.  die  Definition  Epikur'»  bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  XI,  169,  und  andrerseits 
diejenige  Sencca's,  Epist.  89.  —  2)  Vgl.  unten  Tbl.  I.  —  3)  Daher  denn  z.  B.  Proklos  die 
Philosophie  lieber  Thcolop^e  genannt  wissen  wollte.  —  4)  Vgl.  z.  B.  Augustinus,  Soliloq.  T,  7, 
Conf.  V,  7.  Scotus  Erigena,  De  div.  praedest.  I,  1  (Migne  358).  Anseimus,  Proslog.  cap.  1 
(Mtgne  I,  227);  Abaelard,  Introd.  in  theol.  II,  3.  Raymundus  Lulhis,  De  quinque  sap.  8.  — 
5)  Thomas  Aquin.  Summa  theol.  I,  32,  1.  Contr.  gent.  I,  8  f.,  II,  1  if.  Duns  Scotus,  Op.  Ox.  I. 
3  qu.  4.  Durand  de  Pourgaln,  In  sent.  prol.  qu.  8.  Raymundus  von  Sabunde,  Theol.  natur. 
prooem. 


§  1.    Name  und  Begriff  der  Philosophie.  3 

lieh  ihre  Lehre  völlig  unabhängig  von  den  religiösen  Interessen  lediglich  aus  den 
Quellen  herzuleiten  suchte,  die  sie  dafür  durch  das  „natürliche  Licht"  der 
menschlichen  Vernunft  und  Erfahrung  *)  zu  besitzen  meinte.  Der  methodische 
Gegensatz  zur  Theologie  wuchs  auf  diese  Weise  zu  einem  sachlichen  aus,  und  die 
moderne  Philosophie  stellte  sich  als  „Weltweisheit"  dem  Dogma  gegenüber^). 
So  mannig&ch  die  von  anschmiegender  Zustimmung  bis  zu  leidenschaftlicher  Be- 
kämpfung wechselnden  Abschattirungen  waren,  welche  dies  Verhältniss  annahm, 
so  bUeb  doch  dabei  die  Bestimmung  der  „Philosophie"  immer  diejenige,  welche 
ihr  das  Alterthum  gegeben  hatte:  aus  wissenschaftlicher  Einsicht  eine  Welt- 
erkenntniss  und  eine  Lebensansicht  da  zu  begründen,  wo  die  Religion  dies  Be- 
dürfniss  nicht  mehr  oder  wenigstens  nicht  mehr  aUein  zu  erfüllen  vermochte.  In 
der  Ueberzeugung,  dieser  Aufgabe  gewachsen  zu  sein,  sah  es  die  Philosophie  des 
18.  Jahrhunderts,  wie  einst  die  der  Griechen,  für  Recht  und  Pflicht  an,  die  Men- 
schen über  den  Zusammenhang  der  Dinge  aufzuklären  und  von  dieser  Einsicht 
aus  das  Leben  des  Individuums  wie  der  Gesellschaft  zu  regeln. 

In  dieser  selbstgewissen  Stellung  wurde  die  Philosophie  durch  Kant  er- 
schüttert, welcher  die  UnmögUchkeit  einer  „philosophischen"  (metaphysischen) 
Welterkenntniss  neben  oder  über  den  einzelnen  Wissenschaften  nachwies  und  da- 
durch Begriff  und  Aufgabe  der  Philosophie  abermals  einschränkte  und  veränderte. 
Denn  nach  diesem  Verzicht  engte  sich  das  Gebiet  der  Philosophie  als  be- 
sonderer Wissenschaft  auf  eben  jene  kritische  Selbstbesinnung  der 
Vernunft  ein,  aus  welcher  Kant  die  entscheidende  Einsicht  gewonnen  hatte 
und  welche  nur  noch  systematisch  auf  die  übrigen  Thätigkeiten  neben  dem  Wissen 
ausgedehnt  werden  sollte.  Vereinbar  bUeb  damit  das,  was  Kant^)  den  Weltbe- 
gi-iff  der  Philosophie  nannte,  ihr  Beruf  zur  praktischen  Lebensbestimmung. 

Freilich  fehlt  viel,  dass  dieser  neue  und  wie  es  scheint  abschliessende  Be- 
griff der  Philosophie  sogleich  zu  allgemeiner  Geltung  gekommen  wäre ;  vielmehr 
hat  die  grosse  Mannigfaltigkeit  der  philosophischen  Bewegungen  des  19.  Jahr- 
hunderts keine  der  früheren  Formen  der  Philosophie  unwiederholt  gelassen,  und 
eine  üppige  Entfaltung  des  „metaphysischen  Bedürfnisses"  *)  hat  sogar  zeitweilig 
zu  der  Neigung  zurückgeführt,  alles  menschliche  Wissen  in  die  Philosophie  zu- 
rückzuschUngen  und  dieselbe  wieder  als  Gesaramtwissenschaft  auszubilden. 

2*  Angesichts  dieses  Wechsels,  welchen  die  Bedeutung  des  Wortes  Philo- 
sophie im  Laufe  der  Zeiten  durchgemacht  hat,  erscheint  es  unthunlich,  aus 
historischer  Vergleichung  einen  allgemeinen  Begriff  der  Philo- 
sophie gewinnen  zu  wollen:  keiner  von  denen,  die  man  zu  diesem  Zwecke 
aufgestellt  hat  *),  trifft  auf  alle  diejenigen  Gebilde  der  Geistesthätigkeit,  welche 

1)  Laur.  Valla,  Dialect.  disp.  ITI,  9-,  B.  Telesio,  De  nat.  rer.  prooem;  Fr.  Bacon,  Do  au^m. 
III,  1  (Op.  Spedding  I,  539  =  III,  336);  Taurellus,  Philos.  triumph.  I,  1;  Paracelsus,  Paraj^. 
(ed.  Huskr)  II,  23  f.  ;  G.  Bruno,  Della  causa  etc.  IV,  107  (Laoarde  I,  272);  Hobbes,  De  cor- 
por.  I  ( Ws.  MoLESWORTH  I,  2  und  6  f.).  —  2)  Charakteristische  Definitionen  einerseits  bei  Gott- 
sched, Erste  Gründe  der  gesammten  Weltweisheit  (Leipzig  1756),  p.  97  ff.,  andrerseits  in  dem 
Artikel  Philosophie  der  Encyclopedie  (Bd.  XXV,  p.  632  ff.).  —  3)  Kr.  der  reinen  Vernunft. 
R.  646.-4)  A.  Schopenhauer,  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Bd.  II,  cap.  17.  —  5)  Statt  der 
Kritik  der  einzelnen  genüge  hier  der  Hinweis  auf  die  so  weit  aus  einander  gebenden  Formeln, 
in  denen  man  trotzdem  dies  Unmögliche  zu  leisten  versucht  hat:  man  vergleiche  z.  B.  nur  die 
Einleitungen  zu  Werken  wie  Erdmann,  IJerbrweo,  Kuno  Fischer,  Zeller  etc.  All'  diese 
Begriffsbestimmungen  treffen  nur  insofern  zu,  als  die  Geschichte  der  Philosophie  den  darin  aus- 
gedrückten Erfolg  hat,  aber  nicht  hinsichtlich  der  von  den  Philosophen  selbst  geäusserten 
Absichten. 


4  Einleitung. 

auf  den  Namen  Anspruch  erheben,  zu.  Schon  die  Unterordnung  der  Philosophie 
unter  den  allgemeineren  Begriff  der  Wissenschaft  wird  bei  solchen  Lehren,  welche 
einseitig  die  praktische  Bedeutung  im  Auge  haben,  bedenklich ') :  noch  weniger 
aber  lässt  sich  allgemeingiltig  bestimmen,  was  Gegenstand  und  Form  der  Philo- 
sophie als  besonderer  Wissenschaft  heissen  soll.  Denn  selbst  abgesehen  von  dem 
Standpunkte,  für  welchen  die  Philosophie  noch  oder  wieder  die  Gesammtwissen- 
schaft  ist  *),  findet  man  die  Versuche  der  Beschränkung  äusserst  mannigfach.  Die 
Aufgaben  der  Naturforschung  füllen  Anfangs  das  Interesse  der  Philosophie  fast 
allein  aus,  fallen  dann  lange  Zeit  in  den  Umfang  derselben  und  scheiden  erst  in 
neuerer  Zeit  aus.  Die  Geschichte  umgekehrt  ist  dem  grössten  Theile  der  philo- 
sophischen Systeme  gleichgiltig  geblieben,  um  erst  verhältnissmässig  spät  und  ver- 
einzelt als  Objekt  philosophischer  Untersuchung  aufzutreten.  Die  metaphysischen 
Lehren  wiederum,  in  denen  meist  der  Schwerpunkt  der  Philosophie  gesucht  wird, 
sehen  wir  an  bedeutsamen  Wendepunkten  derselben  entweder  beiseitegeschoben 
oder  gar  für  unmöglich  erklärt^)  5  und  wenn  zeitweilig  die  praktische  Bestimmungs- 
fiihigkeit  der  Pliilosophie  auf  Individuum  und  Gesellschaft  als  ihr  wahres  Wesen 
betont  wird,  so  verzichtet  andrerseits  ein  stolzer  Standpunkt  der  reinen  Theorie 
auf  solche  gemeinnützige  Geschäftigkeit*). 

Andrerseits  ist  behauptet  worden,  die  Philosophie  behandle  zwar  dieselben 
Gegenstände,  wie  die  übrigen  Wissenschaften,  aber  in  anderem  Sinne  und  nach 
anderer  Methode:  aber  auch  dies  specifische  Merkmal  der  Form  hat  keine  histo- 
rische Allgemeingiltigkeit.  Dass  es  eine  solche  anerkannte  philosophische  Methode 
nicht  giebt,  würde  freilich  kein  Einwurf  sein,  wenn  nur  das  Streben  nach  einer 
solchen  ein  constantes  Merkmal  aller  Philosophien  wäre.  Dies  ist  jedoch  so  wenig 
der  Fall,  dass  manche  Philosophen  ihrer  Wissenschaft  den  methodischen  Charakter 
anderer  Disciplinen,  z.  B.  der  Mathematik  oder  der  Naturforschung '^)  aufdrücken, 
andere  aber  von  methodischer  Behandlung  ihrer  Probleme  überhaupt  nichts  wissen 
wollen  und  die  Thätigkeit  der  Philosophie  in  Analogie  zu  den  genialen  Concep- 
tionen  der  Kunst  setzen. 

3.  Aus  diesen  Umständen  erklärt  es  sich  auch,  dass  es  kein  festes,  allgemein 
historisch  bestimmbares  Verb ältni SS  der  Philosophie  zu  den  übrigen 
Wissenschaften  giebt.  Wo  die  Philosophie  als  Gesammtwissenschaft  auftritt, 
da  erscheinen  die  letzteren  nur  als  ihre  mehr  oder  minder  deutlich  gesonderten 
Theile^) :  wo  dagegen  der  Philosophie  die  Aufgabe  zugewiesen  wird,  die  Ergeb- 
nisse der  besonderen  Wissenschaften  in  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  zusammen- 
zufassen und  zu  einer  umfassenden  Welterkenntniss  zu  harmonisiren,  da  ergeben 
sich  eigenthümlich  Zusammengesetze  Verhältnisse:  zunächst  eine  Abhängigkeit 
der  Philosophie  von  dem  jeweiligen  Stande  der  Einsicht,  die  in  den  besonderen 
Disciplinen  erreicht  ist,  eine  Abhängigkeit,  welche  sich  hauptsächlich  in  der  För- 
derung der  Philosophie  durch  hervorragende  Fortschritte  der  Einzel  Wissenschaften 
ausspricht^);  sodann  aber  umgekehrt  auch  ein  Eingriff  der  ersteren  in  die  Arbeit 

1)  So  bei  der  Mehrzahl  der  Philosophen  des  spateren  Alterthums.  —  2)  "Wie  für  Chr. 
WoLFF;  vgl.  dessen  Logrica,  §  29  ft'. —  3)  Das  ist  namentlich  der  Fall,  wo  die  Philosophie  ledig- 
lich als  „"Wissenschaft  der  Erkenntniss"  gilt.  Vgl.  z.B.  "W.HAMn.TON  in  den  Anmerkungen  zu 
Reid's  "Werken  II,  808.  Bei  den  Franzosen  ist  Ende  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
Philosophie  =:=r  Analyse  de  Tentendement  huniain.  —  4)  z.  B.  bei  Plotin.  —  5)  So  Descartes 
und  Bacon.  —  0)  So  z.  B.  im  HEGEL^schen  System.  —  7)  Wie  der  Eiufluss  der  Astronomie  auf 
die  Anfange  der  griechischen  oder  der  der  Mechanik  auf  diejenigen  der  neueren  Philosophie. 


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§  1.   Name  und  Begriff  der  Philosophie.  5 

der  letzteren,  der  von  diesen  bald  als  Befruchtung,  bald  als  Hemmung  empfun- 
den wird,  insofern  als  die  philosophische  Behandlung  der  den  besonderen  Dis- 
ciplinen  unterstehenden  Fragen  bald  vermöge  ihres  weiteren  Gesichtspunktes  und 
ihrer  combinativen  Richtung  werthvolle  Momente  zu  ihrer  Lösung  beibringt'), 
bald  aber  sich  nur  als  eine  Verdopplung  darstellt,  welche,  wenn  sie  zu  gleichen 
Resultaten  fuhrt,  unnütz,  wenn  sie  aber  andere  Ergebnisse  gewähren  will,  gefähr- 
lich erscheint^). 

AusdemGesagtenerklärtsichferner,dass  die  Beziehungen  der  Philo- 
sophie zu  den  sonstigen  Culturthätigkeiten  nicht  minder  nahe  sind  als 
zu  den  Einzel  Wissenschaften.  Denn  in  das  Weltbild,  auf  dessen  Entwurf  die  meta- 
physisch gerichtete  Philosophie  hinzielt,  drängen  sich  neben  den  Errungenschaften 
wissenschaftlicher  Untersuchung  überall  auch  die  Auffassungen  hinein,  welche 
dem  rehgiösen  und  sittlichen,  dem  staatlichen  und  gesellschaftUchen,  dem  künst- 
lerischen Leben  entstammen;  und  gerade  die  Werthbestimmungen  und  Urtheils- 
normen  der  Vernunft  verlangen  in  jenem  Weltbilde  ihren  Platz  um  so  lebhafter, 
je  mehr  dasselbe  die  Grundlage  für  die  praktische  Bedeutung  der  Philosophie 
werden  soll.  Auf  diese  Weise  finden  in  der  Philosophie  neben  den  Einsichten 
auch  die  üeberzeugungen  und  die  Ideale  der  Menschheit  ihren  Ausdruck:  uad 
wenn  die  letzteren  dabei,  ob  auch  oft  irriger  Weise,  die  Form  wissenschaftlicher 
Einsichten  gewinnen  sollen,  so  kann  ihnen  daraus  unter  Umständen  werthvolle 
Klärung  und  Umgestaltung  erwachsen.  So  ist  auch  dies  Verhältniss  der  Philo- 
sophie zur  allgemeinen  Cultur  nicht  nui*  dasjenige  des  Empfangens,  sondern  auch 
das  des  Gebens. 

Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  auch  den  Wechsel  der  äusseren  Stellung  und  der 
socialen  Verhältnisse  zu  betrachten,  den  die  Philosophie  erlebt  hat.  Man  darf  annehmen, 
dass  der  Betrieb  der  Wissenschaft  in  Griechenland  sich  mit  vielleicht  wenigen  Ausnahmen 
(Sokrates)  schon  von  Anfang  an  in  geschlossenen  Schulen  gestaltet  hat  *).  Dass  diese  auch  in 
der  späteren  Zeit  die  Form  sacralrechtlicher  Genossenschatten  hatten  *),  würde  an  sich  allein, 
bei  dem  religiösen  Charakter  aller  griecliischen  Rechtsinstitute,  noch  nicht  einen  religiösen 
Ursprung  dieser  Schulen  beweisen :  aber  der  Umstand,  dass  die  griechische  Wissenschaft  sich 
inhaltlich  direct  aus  religiösen  Yorstellungskreisen  herausgearbeitet  hat  und  dass  in  einer  An- 
zahl von  Richtungen  derselben  gewisse  Beziehungen  zu  religiösen  Gülten  unverkennbar  hervor- 
treten ^),  macht  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  wissenschaftlichen  Genossenschaften  ur- 
sprünglich aus  religiösen  Verbänden  (Mysterien)  hervorgegangen  und  mit  denselben  in  einer 
gewissen  Beziehung  geblieben  sind.  Als  aber  sodann  das  wissenschaftliche  Leben  sich  zu  voller 
Selbständigkeit  entwickelt  hatte,  fielen  einerseits  diese  Beziehungen  ab  und  vollzog  sich  anderer- 
seits die  Gründung  rein  wissenschaftlicher  Schulen,  als  freier  Vereinigungen  von  Männern, 
welche  unter  Leitung  bedeutender  Per8Önlichkeit43n  die  Arbeit  der  Forschung,  Darstellung, 
Vertheidigung  und  Polemik  unter  sich  theilten  •)  und  zugleich  in  einem  gemeinsamen  Ideal 
der  Lebensführung  einen  sittlichen  Verband  unter  einander  besassen. 

Mit  den  grösseren  Verhältnissen  des  Lebens  in  der  hellenistischen  und  römischen  Zeit 
lockerten  sich  naturgemäss  diese  Verbände,  und  w^ir  begegnen,  namentlich  unter  den  Römern, 
häufiger  Schriftstellern,  welche  ohne  jeden  Schulzusammenhang  oder  Lehrberuf  in  rein  indi- 


1)  Die  protestantische  Theologie  des  19.  Jahrhunderts  steht  so  zur  deutschen  Philo- 
sophie. —  2)  Vgl.  die  Opposition  der  Naturwissenschaft  gegen  die  ScHELLiNo'sche  Natur})hilo- 
sophie.  —  3)  H.  Diels,  „Ueber  die  ältesten  Philosophenschulen  der  Griechen**  in  Philos.  Aufsätze 
zum  Jubiläum  E.  ZeÜer's,  Leipzig  1887,  p.  241  ff.  —  4)  v.  Wilämowitz-Möllendorf,  Anti- 
gonos  von  Karystos  (Philol.  Stud.  IV,  Berlin  1881,  p.  263  ff.).  —  5)  Ein  hervorragendes  Bei- 
spiel bieten  bekanntlich  die  Pythagoreer;  aber  auch  in  der  platonischen  Akademie  sind  An- 
klänge an  den  ApoUocult  deutlich  genug.  Den  scheinbar  vereinsamten  Heraklit  hat  jüngst 
Pflbiderer  in  einen  Mysterienzusammenhang  zu  bringen  gesucht  (E.  Pfleiderbr,  Heraklit  von 
Ephesus  (Berlin  1886).  —  6)  Vgl.  H.  Usener,  Ueber  die  Organisation  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  im  Alterthum  (Preuss.  Jahrb.,  Jahrg.  LIIL  1884.  p.  1  ff.)  und  E.  Heitz,  Die  Philo- 
sophenschulen Athens  (Deutsche  Revue  1884,  p.  326  fi'.). 


5  EinleituDg. 

vidueller  Weise  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  thätig  sind  (Cicero,  Seneca,  Marc  Aurel). 
Erst  die  späteste  Zeit  des  Alterthums  zeigt  anter  dem  Einflüsse  religiöser  Interessen  wieder 
eine  straffere  Verknüpfung  genossenschaftlicher  Schulverbände,  wie  im  Neupythagoreismus 
und  Neuplatonismus. 

Bei  den  romanischen  und  germanischen  Völkern  ist  der  Verlauf  der  Sache  nicht  so  un- 
ähnlich gewesen.  Im  Gefolge  der  kirclilichen  Civilisation  erscheint  auch  die  Wissenschaft  des 
Mittelalters:  sie  hat  ihre  Stätten  in  den  Klosterschulen  und  empfangt  ihre  Am*egungen  zu 
selbständiger  Gestaltung  zunächst  aus  Fragen  des  religiösen  Interesses.  Auch  in  ihr  machen 
sich  Gegensätze  verschiedener  religiöser  Genossenschaften  (Dominikaner  und  Franziskaner) 
zeitweilig  geltend,  und  selbst  die  freieren  wissenschaftlichen  Vereinigungen,  aus  welchen  sich 
allmählich  die  Universitäten  entwickelten,  hatten  ursprünglich  religiösen  Hintergrund  und  kirch- 
liches Gepräge  *).  Deshalb  blieb  auch  in  dieser  zünftigen  Philosophie  der  Universitäten  der 
Grad  der  Selbständigkeit  gegenüber  der  Kirchenlehre  immer  gering,  und  es  gilt  dies  bis  in 
das  18.  Jahrhundert  hinein  auch  für  die  protestantischen  Universitäten,  bei  deren  Errichtung 
und  Ausbildung  ebenfalls  kirchliche  und  religiöse  Interessen  im  Vordergrunde  standen. 

Dagegen  ist  es  für  die  mit  dem  Beginn  der  neueren  Zeit  sich  verselbständigende  „Welt- 
weislieit*  charakteristisch,  dass  ihre  Träger  durchweg  nicht  Männer  der  Schule,  sondern 
Männer  der  Welt  und  des  Lebens  sind.  Ein  entlaufener  Mönch,  ein  Staatskanzlcr,  ein  Schuster, 
ein  Edelmann,  ein  gebannter  Jude,  ein  gelehrter  Diplomat,  unabhängige  Literaten  und  Jour- 
nalisten —  das  sind  die  Begründer  der  modernen  Philosophie,  und  dementsprechend  ist  deren 
äussere  Gestalt  nicht  das  Lehrbuch  oder  der  Niederschlag  akademischer  Disputationen,  son- 
dern die  freie  schriftstellerische  That,  der  Essay. 

Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  ist  die  Philosophie  wieder  zünftig 
und  an  den  Universitäten  heimisch  geworden.  Es  geschah  dies  zuerst  in  Deutschland,  wo 
in  der  steigenden  Selbständigkeit  der  Universitäten  die  Bedingungen  dafür  in  glücklichster 
Weise  gegeben  waren  und  wo  em  fiiichtbaresWechselverhältniss  zwischen  Lehrern  und  Schülern 
der  Universität  auch  der  Philosophie  zu  Gute  kam  *).  Aus  Deutschland  hat  sich  dies  nach 
Schottland,  England,  Frankreich  und  Italien  übertragen,  und  im  Allgemeinen  darf  man  sagen, 
dass  im  19.  Jahrhundert  der  Sitz  der  Philosophie  wesentlich  auf  den  Universitäten  zu  suchen  ist'). 

Eine  kurzeErwähnung  verdient  endlich  nochdieBetheiligung  der  verschiedenen 
Völker  an  der  Ausbildung  der  Philosophie.  Wie  alle  Entfaltungen  der  europäischen  Cultur, 
so  haben  auch  die  Wissenschaft  die  Griechen  geschaffen,  und  ihre  schöpferische  Erstgestaltung 
der  Philosophie  ist  noch  heute  eine  wesentliche  Grundlage  derselben:  was  im  Alterthum  von 
den  hellenistischen  Mischvölkem  und  von  den  Kömem  hinzugefügt  worden  ist,  erhebt  sich  im 
Allgemeinen  nicht  über  eine  Sündergestaltung  und  praktische  Anpassung  der  gi'iechischen 
Philosophie :  nur  in  der  religiösen  Wendung,  welche  diese  Ausfuhrung  genommen  hat  (vgl. 
unten,  Thl.  II,  cap.  2)  ist  ein  wesentlich  Neues  zu  sehen,  was  der  Ausgleichung  der  nationalen 
Unterschiede  im  römischen  Weltreich  entsprungen  ist.  International  ist,  wie  sich  schon  in 
der  durchgängigen  Anwendung  der  lateinischen  Sprachform  bekundet,  auch  die  wissenschaft- 
liche Bildung  des  Mittelalters.  Erst  mit  der  neueren  Philosophie  treten  die  besonderen  Charaktere 
der  einzelnen  Nationen  massgebend  hervor:  während  sich  die  Traditionen  der  mittelalterlichen 
Scholastik  am  kräftigsten  und  selbständigsten  in  Spanien  und  Portugal  erhalten,  liefern  Italiener, 
Deutsche,  Engländer  und  Franzosen  die  Anfangsbewegungen  der  neueren  Wissenschaft,  welche 
ihren  Höhepunkt  in  der  klassischen  Periode  der  deutschen  Philosophie  gefunden  hat.  Diesen 
vier  Nationen  gegenüber  verhalten  sich  die  übrigen  fast  nur  empfangend :  eine  gewisse  Selb- 
ständigkeit ist,  wenn  irgendwo,  in  neuerer  Zeit  bei  den  Schweden  zu  bemerken. 

§  2.  Die  Geschichte  der  Philosophie. 

Je  verschiedener  im  Laufe  der  Zeiten  Aufgabe  und  Inhalt  der  Philosophie 
bestimmt  worden  sind,  um  so  mehr  ei'hebt  sich  die  Frage,  welchen  Sinn  es  haben 
kann,  so  nicht  nur  mannigfache,  sondern  auch  verschiedenartige  Vorstellungs- 
gebilde, zwischen  denen  es  schUesslich  keine  andere  Gemeinsamkeit  als  diejenige  des 
Namens  zu  geben  scheint,  in  historischer  Forschung  und  Darstellung  zu  vereinigen. 


1)  Vgl.  G.  Kaufmann.  Greschichte  der  deutschen  Universitäten  I,  p.  98  ff.  (Stuttg.  1888). 

—  2)  Der  idealen  Auffassung  der  "Wissenschaft  in  der  Thätigkeit  der  deutschen  Universitäten 
hat  wohl  das  schönste  Denkmal  Sohelling  gesetzt  in  seinen  „Vorlesungen  über  die  Methode 
des  akademischen  Studiums"  (2.  und  3.  Vorlesung.   Ges.  Werke.  I.  Abth.,  5.  Bd.,  p.  223  ff.). 

—  3)  Dies  Verhältniss  ist  so  massgebend,  dass  die  giftigen  Angriffe,  welche  Schopenhauer 
dagegen  gelichtet  hat,  sich  doch  schliesslich  nur  als  solche  eines  durch  Erfolglosigkeit  gereizten 
Privatdocenten  herausstellen« 


§  2.   Die  Geschichto  der  Philosophie.  7 

Denn  das  anekdotenhafte  Interesse  an  dieser  buntscheckigen  Mannigfaltigkeit 
verschiedener  Meinungen  über  verschiedene  Dinge,  welches  wohl  früher,  gereizt 
auch  durch  die  Merkwürdigkeit  und  Wunderlichkeit  mancher  dieser  Ansichten, 
das  Hauptmotiv  einer  „Geschichte  der  Philosophie^  gewesen  ist,  kann  doch  un- 
möglich auf  die  Dauer  als  Keimpunkt  einer  eigenen  wissenschaftlichen  Disciplin 
gelten. 

1*  Jedenfalls  aber  ist  klar,  dass  es  mit  der  Geschichte  der  Philosophie  eine 
andere  Bewandtniss  hat,  als  mit  der  Gescliichte  irgend  einer  anderen  Wissenschaft. 
Denn  bei  jeder  derselben  steht  doch  das  Forschungsgebiet  wenigstens  im  All- 
gemeinen fest,  wenn  auch  seine  Ausdehnung,  seine  Herauslösung  aus  einem  all- 
gemeineren und  seine  Abgrenzung  gegen  die  benachbarten  Gebiete  noch  so  vielen 
Schwankungen  in  der  Geschichte  unterlegen  sein  mag.  In  solchem  Falle  macht 
es  also  keine  Schwierigkeit,  die  Entwicklung  der  Erkenntnisse  auf  einem  derartig 
bestimmbaren  Gebiete  zu  verfolgen  und  dabei  eventuell  eben  jene  Schwankungen 
als  die  natürlichen  Folgen  dieser  Entwicklung  der  Einsichten  begreiflich  zu  machen. 

Ganz  anders  aber  bei  der  Philosophie,  der  es  an  solch^  einem  allen  Zeiten 
gemeinsamen  Gegenstande  gebricht,  und  deren  „Geschichte"  daher  auchnicht einen 
stetigen  Fortschritt  oder  eine  allmähliche  Annäherung  zu  der  Erkenntniss  desselben 
darstellt.  Vielmehr  ist  von  je  an  hervorgehoben  worden,  dass,  während  in  andern 
Wissenschaften,  sobald  sie  nach  den  rhapsodischen  Anfangen  erst  eine  methodische 
Sicherheit  gewonnen  haben,  ein  ruhiger  Aufbau  der  Erkenntnisse  die  Regel  ist, 
welche  nur  von  Zeit  zu  Zeit  durch  ruckweisen  Neuanfang  unterbrochen  wird, 
umgekehrt  in  der  Philosophie  ein  dankbares  Fortentwickeln  des  Errungenen  durch 
die  Nachfolger  die  Ausnahme  ist  und  jedes  der  grossen  Systeme  der  Philosophie 
die  neu  formulirte  Aufgabe  ab  ovo  zu  lösen  beginnt,  als  ob  die  andern  kaum 
dagewesen  wären. 

2.  Wenn  trotz  alledem  von  einer  „Geschichte  der  Philosophie"  soll  die 
Rede  sein  können,  so  kann  der  einheitliche  Zusammenhang,  den  wir  weder  in  den 
Gegenständen  finden,  mit  welchen  sich  die  Philosophen  beschäftigen,  noch  in  den 
Aufgaben,  die  sie  sich  setzen,  schliesslich  nur  in  der  gemeinsamen  Leistung 
gefunden  werden,  welche  sie  trotz  aller  Verschiedenheit  des  Inhalts  und  der  Absicht 
ihrer  Beschäftigung  der  Natur  der  Sache  nach  herbeigeführt  haben. 

Dieser  gemeinsame  Ertrag  aber,  der  den  Sinn  der  Geschichte  der  Philosophie 
ausmacht,  beruht  gerade  auf  den  wechselnden  Beziehungen,  in  denen  sich  die  Arbeit 
der  Philosophen  nicht  nur  zu  den  reifsten  Erzeugnissen  der  Wissenschaft  über- 
haupt und  der  einzelnen  Wissenschaften,  sondern  auch  zu  den  übrigen  Cultur- 
thätigkeiten  der  europäischen  Menschheit  im  Laufe  der  Geschichte  befunden  hat. 
Denn  mochte  nun  die  Philosophie  auf  den  Entwurf  einer  allgemeinen  Welt- 
erkenntniss  ausgehen,  die  sie,  sei  es  als  Gesammtwissenschaft,  sei  es  als  verall- 
gemeinernde Zusammenfassung  der  Resultate  der  Sonderwissenschaften  gewinnen 
wollte,  oder  mochte  sie  eine  Lebensansicht  suchen,  welche  den  höchsten  Werthen 
des  Wollens  und  Fühlens  einen  geschlossenen  Ausdruck  geben  sollte,  oder  mochte 
sie  endlich  mit  klarer  Beschränkung  die  Selbsterkenntniss  der  Vernunft  zu  ihrem 
Ziele  machen,  —  immer  war  der  Erfolg  der,  dass  sie  daran  arbeitete,  die  noth- 
wendigen  Formen  und  Inhaltsbestimmungen  menschlicher  Vemunftbethätigung 
zum  bewussten  Ausdruck  zu  bringen,  und  dieselben  aus  der  ursprünglichen  Gestalt 
von  Anschauungen,  Gefühlen  und  Trieben  in  diejenige  der  Begriffe  umzusetzen. 


B  Einleitung. 

In  irgend  einer  Richtung  und  in  irgend  einer  Weise  hat  jede  Philosophie  sich 
darum  bemüht^  auf  mehr  oder  minder  umfangreichem  Gebiete  zu  begrifflichen 
FormuUrungen  des  in  Welt  und  Leben  unmittelbar  Gegebenen  zu  gelangen, 
und  so  ist  in  dem  historischen  Verlaufe  dieser  Bemühungen  Schritt  für  Schritt 
der  Grundriss  des  geistigen  Lebens  bloss  gelegt  worden.  Die  Geschichte 
der  Philosophie  ist  der  Process,  in  welchem  die  europäische 
Menschheit  ihre  Weltauffassung  und  Lebensbeurtheilung  in  wissen- 
schaftlichen Begriffen  niedergelegt  hat. 

Dieser  Gesammtertrag  aller  der  geistigen  Gebilde,  welche  sich  als  „Philo- 
sophie" darstellen,  ist  es  allein,  welcher  der  Geschichte  der  Philosophie  als 
einer  eigenen  Wissenschaft  ihren  Inhalt,  ihre  Aufgabe  und  ihre  Berechtigung 
giebt:  er  ist  es  aber  auch,  um  dessen  willen  die  Kenntniss  der  Geschichte  der 
Philosophie  ein  nothwendiges  Erfordemiss  nicht  nur  für  jede  gelehrte  Erziehung, 
sondern  für  jede  Bildung  überhaupt  ist;  denn  sie  lehrt,  wie  die  begrifflichen 
Formen  ausgeprägt  worden  sind,  in  denen  wir  alle,  im  alltäglichen  Leben  wie 
in  den  besonderen  Wissenschaften,  die  Welt  unserer  Erfahrung  denken  und 

beurtheilen. 

Die  Anlange  der  Geschichte  der  Philosophie  sind  in  den  (zum  weitaus  grÖssten  Theil 
verloren  gegangenen)  historischen  Arbeiten  der  ^^rossen  Schulen  des  Alterthums,  insbesondere 
der  peripatetischen,  zu  suchen,  welche  wohl  meist  in  der  Art,  wie  Aristoteles  ^)  selbst  schon 
Beispiele  giebt,  den  kritischen  Zweck  hatten,  durch  diabetische  Prüfung  der  früher  auf- 
gestellten Ansichten  die  Entwicklung  der  eigenen  vorzubereiten.  Solche  historische  Mate- 
rialiensammlungen wurden  für  die  verschiedenen  Gebiete  der  Wissenschaft  angelegt,  und  es 
entstanden  auf  diese  Weise  neben  Geschichten  der  einzelnen  Disciplinen,  wie  der  Mathematik, 
der  Astronomie,  der  Physik  u.  s.  w.  auch  die  philosophischen  Doxographien ').  Je  mehr  in- 
dessen später  Neigung  und  Kraft  zum  selbständigen  Philosophiren  abnahmen,  um  so  mehr  artete 
diese  Literatur  in  einen  gelehrten  Xotizenkram  aus,  in  welchem  sich  Anekdoten  aus  den 
Lebensumständen  der  Philosophen,  einzelne  epigrammatisch  zugespitzte  Aussprüche  der- 
selben mit  abgerissenen  Berichten  über  ihre  Lehren  mischten. 

Den  gleichen  Charakter  von  Curiositätensammlungen  trugen  zunächst  die  auf  den 
Resten  der  antiken  Ucberlieferung  beruhenden  Darstellungen  der  neueren  Zeit,  wie  Stanley's ') 
Reproduction  des  Diogenes  vonLaerte  oder  Brucker's  Werke*).  Erst  mit  der  Zeit  traten  kri- 
tische Besonnenheit  in  der  Verwerthung  der  Quellen  (Buhle  ^,  Fülleborn*]),  vorurtheilsfreiere 
Auffassung  der  historischen  Bedeutung  der  einzelnen  Lehren  (Tiedemanm  'J,  Deg^rando  *])  und 
systematische  Kritik  derselben  auf  Grund  der  neuen  Standpunkte  (Tennemann  ®],  Fries  **], 
ScHiiEiERHACHER^^])  in  Kraft. 

Zu  einer  selbständigen  Wissenschaft  aber  ist  die  Geschichte  der  Philosophie  erst  durch 
Hegkl  ")  gemacht  worden,  welcher  den  wesentlichen  Punkt  aufdeckte,  dass  die  Geschichte  der 

1)  Z.  B.  im  Anfang  der  Metaphysik.  —  2)  Näheres  über  dieselben  unten.  —  3)  Th.  Stan- 
ley, The  history  of  philosophy.  London  1685.  —  4)  J.  J.  Brucker,  Historia  critica  philoso- 
phiae.  5  Bde.  Leipzig  1742  ff.  Institutiones  historiae  philosophiae.  Leipzig  1747.  —  5)  J.  G. 
Buhle,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie.  8  Bde.  Göttingen  1796  ff.  —  6)  G.  G.  Fülle- 
born, Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie.  12  Studien.  ZüUichau  1791  ff.  —  7)  D.  Tibde- 
MANN,  Geist  der  speculativen  Philosophie.  7  Bde.  Marburg  1791  ff.  —  8)  de  Gärando,  Histoire 
comparee  des  systömes  de  philosophie :  zweite  vierbändige  Ausgabe.  Paris  1822  f.  —  9)  W.  G. 
Tennemann,  Geschichte  der  Philosophie.  11  Bde.  Leipzig  1798  ff.;  Grundriss  der  Geschichte 
der  Philosophie  für  den  akademischen  Unterricht.  Leipzig  1812.  —  10)  J.  Fr.  Fries,  Ge- 
schichte der  Philosophie.  2  Bde.  Halle  1837  ff.  —  1 1)  Fr.  Schleiermaöher,  Geschichte  der  Philo- 
sophie, aus  dem  Nachlass  herausg.  in  Ges.  Werke.  III.  Abth.  4.  Bd.  1.  Thl.  Berlin  1839.  — 
12)  Zu  vergleichen  sind  die  Einleitungen  in  die  Phänomenologie  des  Geistes,  in  die  Vor- 
lesungen über  Philosophie  der  Geschichte  und  in  diejenigen  über  Geschichte  der  Philosophie. 
(4es.  Werke  Bd.  II,  p.  62  ff.  IX,  p.  11  ff.  XIII,  p.  11—134.  In  Hbgel's  Werken  nimmt  die 
Geschichte  der  Philosophie,  nach  seinen  Vorlesungen  herausgegeben  von  Michelet,  Bd.  13 — 15, 
Berlin  1833 — 36,  ein.  Auf  seinem  Standpunkte  stehen  G.  O.Marbach,  Lehrbuch  der  Geschichte 
der  Philosophie.  2  Abth.  Leipzig  1838  ff.  C.  Hermann,  Geschichte  der  Philosophie  in  prag- 
matischer Behandlung,  Leipzig  1867,  und  zum  Theil  auch  die  Uebersicht  über  die  gesammte 
Geschichte  der  Philosophie,  welche  J,  Braniss  als  ersten  (einzigen)  Band  einer  Geschichte  der 


§  2.   Die  Geschichte  der  Philosophie.  9 

Philosophie  weder  eine  bunte  Sammlung  von  Meinungen  verschiedener  gelehrter  Herren  „de 
Omnibus  rebus  et  de  quibusdum  aliis'',  noch  eine  stetig  sich  erweiternde  und  vervollkomm- 
nende Bearbeitung  desselben  Gegenstandes,  sondern  vielmehr  nur  den  vielverschränkten  Pro- 
cess  darstellen  kann,  in  welchem  successive  die  „Kategorien''  der  Vernunft  zum  gesonderten 
Bewusstsein  und  zur  begrifflichen  Ausgestaltung  gelangt  sind. 

Diese  werthvolle  Einsicht  wurde  jedoch  bei  Hegel  durch  eine  Nebenannahme  verdun- 
kelt und  in  ihrer  Wirkung  beeinträchtigt,  indem  er  überzeugt  war,  dass  die  zeitliche  Keihen- 
folge,  in  welcher  jene  „Kategorien"  in  den  historischen  Systemen  der  Philosophie  aufgetreten 
sind,  sich  mit  der  sachlichen  und  systematischen  Reihenfolge  decken  müsste,  in  welcher  die- 
selben Kategorien  als  „Elemente  der  Wahrheit*'  in  dem  begrifHichen  Aufbau  des  abschliessen- 
den Systems  der  Philosophie  (wofür  Hegel  das  seinige  ansah)  erscheinen  sollten.  So  führte 
der  an  sich  richtige  Grundgedanke  zu  dem  Irrthum  einer  philosophisch  systematisirendeu 
Construction  der  Philosophiegeschichte  und  damit  vielfach  zu  einer  Vergew^altigung  des  histo- 
rischen Thatbestandes.  Dieser  Irrthum,  den  die  Entwicklung  der  wissenschaftlichen  Geschichte 
der  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts  zu  Gunsten  der  historischen  Kichtigkeit  und  Genauigkeit 
beseitigt  hat,  entsprang  aber  der  unrichtigen  (wenn  auch  mit  den  Principien  der  HEOEL^schen 
Philosophie  selbst  folgerichtig  zusammenhangenden)  Vorstellung,  als  ob  der  geschichtliche 
Fortschritt  der  philosophischen  Gedanken  lediglich  oder  wenigstens  wesentlich  einer  ideellen 
Nothwendigkeit  entspränge,  mit  der  eine  „Kategorie*'  die  andere  im  dialectischen  Fortgange 
hervortriebe.  In  Wahrheit  ist  das  Bild  der  historischen  Bewegung  der  Philosophie  ein  ganz 
anderes:  es  handelt  sich  dabei  nicht  lediglich  um  das  Denken  „der  Menschheit"  oder  gar 
„des  Weltgeistes",  sondern  ebenso  auch  um  die  Ueberlegungen,  die  Gemüthsbedürfnisse,  die 
Ahnungen  und  Einfalle  der  philosophirenden  Individuen. 

3.  Jenes  Gesammtresultat  der  Geschichte  der  Philosophie,  wonach  in  der- 
selben die  Grundbegriffe  menschUcher  Weltauffassung  und  Lebensbeurtheüung 
niedergelegt  worden  sind,  ist  das  Erzeugniss  einer  grossen  Mannigfaltigkeit  von 
Einzelbewegungen  des  Denkens,  als  deren  thatsächliche  Motive  sowohl  bei  der 
Aufstellung  der  Probleme,  als  auch  bei  den  Versuchen  ihrer  begrifflichen  Lösung 
verschiedene  Factoren  zu  unterscheiden  sind. 

Bedeutsam  genug  ist  allerdings  der  sachliche,  pragmatische  Factor. 
Denn  die  Probleme  der  Philosophie  sind  der  Hauptsache  nach  gegeben,  und  es 
erweist  sich  dies  darin,  dass  sie  im  historischen  Verlaufe  des  Denkens  als  die 
^uralten  Räthsel  des  Daseins"  immer  wieder  kommen  und  gebieterisch  immer 
von  Neuem  die  nie  vollständig  gelungene  Lösimg  verlangen.  Gegeben  aber  sind 
sie  durch  die  ünzulängUchkeit  und  widerspruchsvolle  ünausgeglichenheit  des  der 
philosophischen  Besinnung  zu  Grunde  hegenden  Vorstellungsmaterials  *).  Aber 
eben  deshalb  enthält  auch  das  letztere  die  sachlichen  Voraussetzungen  und  die 
logischen  Nöthigungen  für  jedes  vernünftige  Nachdenken  darüber,  und  weil  sich 
diese  der  Natur  der  Sache  nach  immer  wieder  in  derselben  Weise  geltend  machen, 
so  wiederholen  sich  in  der  Geschichte  der  Philosophie  nicht  nur  die  Hauptpro- 
bleme, sondern  auch  die  Hauptrichtungen  ihrer  Lösung.  Eben  diese  Constanz  in 
allem  Wechsel,  welche,  von  aussen  betrachtet,  den  Eindruck  macht,  als  sei  die 
Philosophie  erfolglos  in  stets  wiederholten  Kreisen  um  ein  nie  erreichtes  Ziel  be- 

Phüosophie  seit  Kant,  Breslau  1842,  herausgegeben  hat.  In  Frankreich  ist  diese  Richtung 
vertreten  durch  V.  Cousin,  Introduction  ä  Thistoire  de  la  philosophie.  Paris  1828  (7.  Aufl.  1872); 
Histoire  generale  de  la  philosophie,  12.  Aufl.  Paris  1884. 

1)  Des  Näheren  besteht  diese  Unzulänglichkeit,  wie  hier  nicht  genauer  entwickelt  und 
nur  in  einem  System  der  Erkenntnisstheoric  ausgeführt  werden  kann,  in  dem  Umstände,  dass 
das  erfahrungsmässig  Gegebene  niemals  den  begrifflichen  Anforderungen  genügt,  welche  wir 
bei  der  gedanklichen  Verarbeitung  desselben  dem  inneren  Wesen  der  Vernunft  gemäss  zuerst 
naiv  und  unmittelbar,  später  aber  mit  refloctirtem  Bewusstsein  stellen.  Diesen  Antinomismus 
kann  nicht  nur  das  gewöhnliche  Leben,  sondern  auch  die  Erfahrungswissenschaft  dadurch  um- 
gehen, dass  sie  mit  Hilfsbegriffen  arbeiten,  die  zwar  in  sich  problematisch  bleiben,  aber  inncrlialb 
gewisser  Grenzen  zu  einer  dem  praktischen  Bedürfniss  genügenden  Verarbeitung  des  Erfahrungs- 
materials  ausreichen.  Aber  gerade  in  diesen  Hilfsbegriffen  stecken  dann  die  Probleme  der 
Philosophie. 


10  Einleitong. 

müht,  beweist  doch  nur^  dass  ihre  Probleme  unentfliehbare  Aufgaben  für  den 
menschlichen  Geist  sind'),  und  ebenso  begreift  sich,  dass  dieselbe  sachhche 
Nothwendigkeit  eventuell  zu  wiederholten  Malen  aus  einer  Lehre  eine  andere 
hervortreibt.  Deshalb  ist  der  Portschritt  in  der  Geschichte  der  Philosophie  in 
der  That  streckenweise  durchaus  pragmatisch,  d.  h.  durch  die  innere  Nothwen- 
digkeit der  Gedanken  und  durch  die  ;,Logik  der  Dinge"  zu  verstehen. 

Der  oben  erwähnte  Fehler  Hboel's  besteht  also  nur  darin,  dass  er  ein  in  gewissen 
Grenzen  wirksames  Moment  zu  dem  einzigen  oder  wenigstens  zu  dem  hauptsächlichsten  machen 
wollte.  Der  umgekehrte  Fehler  wäre  es,  wollte  man  diese  „Vernunft  in  der  Geschichte"  über- 
haupt leugnen  und  in  den  auf  einander  folgenden  Lehren  der  Philosophen  nur  wirre  Einfälle 
der  Individuen  sehen.  Vielmehr  erklärt  sich  der  Gesammtinhalt  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie eben  nur  dadurch,  dass  sich  im  Denken  der  Einzelnen,  so  zufällig  dasselbe  bedingt  sein 
mag,  doch  immer  wieder  jene  sachlichen  Nothwendigkeiten  geltend  machen.  —  Auf  diesen 
Verhältnissen  beruhen  die  Versuche,  die  man  gemacht  hat,  alle  philosophischen  Lehren  unter 
gewisse  Typen  zu  rubricircn  und  zwischen  denselben  in  der  geschichtlichen  Entwicklung  eine 
Art  von  rhythmischer  Wiederholung  zu  constatiren.  So  hat  v.  Coüsm*)  seine  Lehre  von  den 
vier  Systemem  (Idealismus,  Sensualismus,  Skepticismus,  Mysticismus),  so  Aug.  Comtb')  die 
scinigo  von  den  drei  Stadien  (dem  theologischen,  metaphysischen  und  positiven)  aufgestellt. 
Eine  interessante  und  vielfach  instructive  Gruppirung  der  philosophischen  Lehren  um  die  ein- 
zelnen Hauptprobleme  bietet  auch  A.  Rengdvier,  Esquisse  d'uue  Classification  systematique 
des  doctrines  philosophiques.  2  Bde.  Paris  1885/86.  Ein  Schulbuch,  welches  die  philosophischen 
Lehren  nach  Problemen  und  Schulen  ordnet,  haben  Paul  Jaket  und  S^AUiLEs  herausgegeben: 
Uistoire  de  la  philosophie;  les  probl^mes  et  les  ecolcs.  Paris  1887. 

4*  Allein  der  pragmatische  Faden  reisst  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie sehr  häufig  ah.  Insbesondere  fehlt  es  der  historischen  Reihenfolge,  in 
der  die  Probleme  aufgetreten  sind,  fast  durchgängig  an  einer  solchen  immanenten 
sachlichen  Nothwendigkeit;  dagegen  macht  sich  darin  ein  anderer  Factor  geltend, 
den  man  am  besten  als  den  culturgeschichtlichen  bezeichnet.  Denn  aus  den 
Vorstellungen  des  allgemeinen  Zeitbewusstseius  und  aus  den  Bedürfnissen  der 
Gesellschaft  empfangt  die  Philosophie  ihre  Probleme,  wie  die  Materialien  zu 
deren  Lösung.  Die  grossen  Errungenschaften  und  die  neu  auftauchenden  Fragen 
der  besonderen  Wissenschaften,  die  Bewegungen  des  religiösen  ßewusstseins,  die 
Anschauungen  der  Kunst,  die  Umwälzungen  des  gesellschaftlichen  und  des  staat- 
lichen Lebens  geben  der  Philosophie  ruckweise  neue  Impulse  und  bedingen  die 
Richtungen  des  Interesses,  welches  bald  diese,  bald  jene  Probleme  in  den  Vorder- 
grund drängt  und  andere  zeitweilig  bei  Seite  schiebt,  nicht  minder  aber  auch  die 
Wandlungen,  welche  Fragestellung  und  Antwort  im  Laufe  der  Zeit  erfahren. 
Wo  diese  Abhängigkeit  sich  besonders  deutlich  erweist,  da  erscheint  unter  Um- 
ständen ein  philosophisches  System  geradezu  als  die  Selbsterkenntniss  eines  be- 
stimmten Zeitalters,  oder  es  prägen  sich  die  Culturgegensätze,  in  denen  das  letz- 
tere ringt,  in  dem  Streit  der  philosophischen  Systeme  aus.  So  waltet  in  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  neben  der  pragmatischen  und  bleibenden  Sachgemäss- 
heit  auch  eine  culturgeschichthche  Nothwendigkeit,  welche  auch  den  in  sich  nicht 
haltbaren  Begiifisgebilden  ein  historisches  Daseinsrecht  gewährleistet. 

Auch  auf  dies  Verhaltniss  hat  zuerst  in  grösserem  Masse  Hegel  aufmerksam  gemacht, 
obwohl  die  „relative  Wahrheit",  welche  er  mit  Hinweis  darauf  den  einzelnen  Systemen  zu- 
schreibt, bei  ihm  zugleich  (vermöge  seines  dialectischen  Grrundgedankeus)  einen  systematischen 

1)  In  dieser  Weise  dürfte  das  Ergebniss  von  Kant's  Untersuchungen  über  „die  Antinomie 
der  reinen  Vernunft"  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  trausscendentale  Dialectik,  zweites  Haupt- 
stück) historisch  und  systematisch  zu  erweitern  sein;  vgl.  W.  Windelband,  Cxeschichto  der 
neueren  Philosophie  II,  95  f.  -  -  2)  Vgl.  die  Anm.  12  auf  S.  8f.  —  3)  A.  Comte,  Cours  de  Philo- 
sophie positive  I,  9,  wozu  als  Ausfuhrung  der  5.  und  6.  Band  zu  vergleichen.  Uebrigens  Anden 
sich  ähnliche  Gedanken  auch  in  d'ALEMBERT^s  Discours  preliminaii'e  zur  Encyclopedie. 


§  2.   Die  Geschichte  der  Philosophie.  11 

Sinn  hat.  Dagegen  ist  das  culturgeschichtliche  Moment  unter  seinen  Nachfolgern  von  Kund 
Fischer  am  besten  formulirt^)  und  in  der  Darstellung  selbst  zur  glänzendsten  Geltung  gebracht 
worden.  Er  betrachtet  die  Philosopliie  in  ihrer  historischen  Entfaltung  als  die  fortschreitende 
Selbsterkenntniss  des  menschlichen  Geistes  und  lässt  ihre  Entwicklung  als  stetig  bedingt  durch 
die  Entwicklung  des  in  ihr  zur  Selbsterkenntniss  gelangenden  Objects  erscheinen.  So  sehr 
aber  dies  gerade  für  eine  Beihe  der  bedeutendsten  Systeme  zutrifft,  so  ist  es  doch  auch  wieder- 
um nur  einer  der  Factoren. ' 

Aus  den  culturhistorischen  Anlässen,  welche  die  philosophische  Problemstellung  und 
Problemlösung  bedingen,  erklärt  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  höchst  interessante  und 
fiir  das  Verst^dniss  der  historischen  Entwicklung  bedeutsame  Erscheinung:  die  Problem- 
vcrschlingung.  Denn  es  ist  unausbleiblich ,  dass  zwischen  verschiedenen  Gedankenmassen 
durch  die  Gleichzeitigkeit  eines  vorwiegend  auf  beide  gerichteten  Interesses  nach  psychologischer 
Gesetzmässigkeit  Associationen  erzeugt  werden,  welche  sachlich  nicht  begründet  sind,  dass 
in  Folge  dessen  Fragen,  die  an  sich  nichts  mit  einander  zu  thun  haben,  vermischt  und  iii  ihrer 
Lösung  von  einander  abhängig  gemacht  werden.  Ein  äusserst  wichtiges  und  häufig  wieder- 
kehrendes Hauptbeispiel  davon  ist  die  Einmischung  ethischer  und  ästhetischer  Interessen  in 
die  Behandlung  theoretischer  Probleme:  die  schon  aus  dem  täglichen  Leben  bekannte  Er- 
scheinung, dass  die  Ansichten  der  Menschen  durch  ihre  Wünsche,  Hofhungen,  Befürchtungen 
und  Neigungen  bestimmt,  dass  ihre  Urtheile  durch  ihre  Beurtheilungen  bedingt  sind,  wieder- 
holt sich  in  grosserem  Massstabe  auch  in  den  Weltanschauungen,  und  sie  hat  sich  in  der  Philo- 
sophie sogar  dazu  steigern  können,  dass  das  sonst  unwillkürlich  Geübte  zu  einem  erkenntniss- 
theoretischen Postulat  proclamirt  wurde  (Kant). 

5*  Indessen  verdankt  nun  der  philosophiegeschichtliche  Process  seine  ganze 
Mannigfaltigkeit  und  Yielgestaltigkeit  erst  dem  Umstände,  dass  die  Entwicklung 
der  Ideen  und  die  begriffliche  Ausprägung  allgemeiner  üeberzeugungen  sich  nur 
durch  das  Denken  der  einzelnen  Persönlichkeiten  voUzieht,  die,  wenn  sie 
auch  mit  ihrem  Denken  noch  so  sehr  in  dem  sachlichen  Zusammenhange  und  in 
dem  Vorstellungskreise  einer  historischen  Gesammtheit  wurzeln,  doch  durch  In- 
dividualität und  Lebensführung  stets  noch  ein  Besonderes  hinzufügen.  Dieser 
individuelle  Factor  der  philosophiegeschichtlichen  Entwicklung  verdient 
deshalb  so  grosse  Beachtung,  weil  die  Hauptträger  derselben  sich  als  ausgeprägte, 
selbständige  Persönlichkeiten  erweisen,  deren  eigenartige  Natur  nicht  bloss  für  die 
Auswahl  und  Verknüpfung  der  Probleme,  sondern  auch  für  die  Ausschleifung  der 
Lösungsbegriffe  in  den  eigenen  Lehren,  wie  in  denjenigen  der  Nachfolger  mass- 
gebend gewesen  ist.  Dass  die  Geschichte  das  Reich  der  Individualitäten,  der  un- 
wiederholbaren  und  in  sich  werthbestimmten  Einzelheiten  ist,  erweist  sich  auch 
in  der  Geschichte  der  Philosophie:  auch  hier  haben  grosse  Persönhchkeiten lang 
liinreichende  und  auch  hier  nicht  ausschliesslich  fordernde  Wirkungen  ausgeübt. 

Es  leuchtet  ein,  dass  die  oben  besprochene  Problemverschlingung  durch  die  subjectiven 
Verhältnisse,  unter  denen  die  einzelnen  philosopliirenden  Persönlichkeiten  stehen,  noch  in  viel 
höhcrem  Masse  herbeigeführt  \vird,  als  durch  die  in  dem  allgemeinen  Bewusstsein  einer  Zeit, 
eines  Volkes  u.  s.  w.  gegebenen  Anlässe.  Es  giebt  kein  })liilosophi8ches  System,  welches  von 
diesem  Einflüsse  der  Persönlichkeit  seines  Urhebers  frei  wäre.  Deshalb  sind  alle  philosophischen 
Systeme  Schöpfungen  der  Individualität,  die  in  dieser  Hinsicht  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit 
Kunstwerken  haben,  und  als  solche  aus  der  Persönlichkeit  ihres  Urhebers  begriflen  sein  wollen. 
Jedem  Philosophen  wachsen  die  Elemente  seiner  Weltanschauung  aus  den  ewig  gleichen  Pro- 
blemen der  Wirklichkeit  und  der  auf  ihre  Lösung  gerichteten  Vernunft,  ausserdem  aber  aus 
den  Anschauungen  und  den  Idealen  seines  Volkes  wie  seiner  Zeit  zu :  die  Gestalt  aber  und  die 
Ordnung,  der  Zusammenhang  und  die  Werthung,  welche  sie  in  seinem  Systeme  finden,  sind 
durch  seine  Geburt  und  Erziehung,  seine  That  und  sein  Schicksal,  seinen  Charakter  und  seine 
Lebenserfahrung  bedingt.  Hier  fehlt  somit  oft  die  Allgemeingiltigkcit,  welche  den  beiden 
andern  Factoren  beiwohnt.  Bei  diesen  rein  individuellen  Bildungen  muss  der  ästhetische  Reiz 
an  Stelle  des  Werthes  bleibender  Erkenntniss  treten,,  und  das  Eindrucksvolle  vieler  Erschei- 
nungen der  Philosophiegeschichte  berulit  in  der  That  nur  auf  dem  Zauber  der  „Begrifl'sdichtung'* . 

Zu  den  Problemverschlingungen  und  den  durch  Phantasie  und  Gefühl  bestimmten  Vor- 
stellungen, welche  schon  das  allgemeine  Bewusstsein  in  die  Irre  zu  führen  vermögen,  treten 


1)  Ktjno  Fischer,  Geschichte  der  neueren  Philosophie  I,  1.  Einleitimg  I — V. 


12  Einleitimg. 

somit  bei  den  Individuen  noch  ähnliche,  aber  rein  persönliche  Vorgänge  hinzu,  um  der  Problem- 
bildung und -Lösung  noch  mehr  den  Charakter  der  Künstlichkeit  zu  verleihen.  Es  ist 
nicht  zu  verkennen,  dass  vielfach  sich  die  Philosophen  auch  mit  Fragen  herumgeschlagen  haben, 
denen  es  an  der  natürlichen  Begründung  fehlte,  sodass- alle  darauf  verwendete  Denkmühe  ver- 
gebens war,  und  dass  andrerseits  auch  bei  der  Lösung  realer  Probleme  unglückliche  Versuche 
von  Begrifisconstructionen  mit  untergelaufen  sind,  welche  mehr  Hindernisse  als  Förderungen 
für  den  Austrag  der  Sache  gebildet  haben. 

Das  Bewunderungswürdige  in  der  Geschichte  der  Philosophie  bleibt  eben  dies,  dass  aus 
solcher  Fülle  individueller  und  allgemeiner  Verwirrungen  sich  doch  im  Ganzen  der  Grundriss 
allgeroeingiltiger  Begriffe  der  Weltauffassung  und  Lebensbeurtheilung  niedergeschlagen  hat, 
der  den  wissenschaftlichen  Sinn  dieser  Entwicklung  darstellt. 

6.  Hiernach  hat  die  philosophiegeschichtliche  Forschung  fol- 
gende Aufgaben  zuei-fiillen:  1)  genau  festzustellen,  was  sich  über  die 
Lebensumstände,  die  geistige  Entwicklung  und  die  Lehren  der  einzelnen  Philo- 
sophen aus  den  vorliegenden  Quellen  ermitteln  lässt ;  2)  aus  diesen  Thatbeständen 
den  genetischen  Process  in  der  Weise  zu  reconstruiren,  dass  bei  jedem  Philo- 
sophen die  Abhängigkeit  seiner  Lehren  theils  von  denjenigen  der  Vorgänger, 
theils  von  den  allgemeinen  Zeitideen,  theils  von  seiner  eigenen  Natur  und  seinem 
Bildungsgange  begreiflich  wird;  3)  aus  der  Betrachtung  des  Ganzen  heraus  zu 
beurtheilen,  welchen  Werth  die  so  festgestellten  und  ihrem  Ursprünge  nach 
erklärten  Lehren  in  Rücksicht  auf  den  Gesammtertrag  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie besitzen. 

HinsichtUch  der  beiden  ersten  Punkte  ist  die  Geschichte  der  Philosophie 
eine  philologisch-historische,  hinsichtlich  des  dritten  Moments  ist  sie  eine 
kritisch- philosophische  Wissenschaft. 

a)  In  Bezug  auf  die  Feststellung  des  Thatsächlichen  ist  die  Geschichte  der  Philosophie 
auf  eine  sorgfältige  und  umfassende  Durchforschung  der  Quellen  angewiesen.  Dieselben 
fliessen  aber  fiir  die  verschiedenen  Zeiten  mit  sehr  verschiedener  Durchsichtigkeit  und  Voll- 
ständigkeit. 

Die  Hauptquellen  für  die  philosophiegeschichtliche  Forschung  sind  selbstvertÄudllch 
die  Werke  der  Philosophen  selbst.  Hinsichtlich  der  neueren  Zeit  stehen  wir  in  dieser 
Hinsicht  auf  verhaltnissmässig  sicherem  Boden.  Seit  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  ist  die 
literarische  Tradition  so  fest  und  deutlich  geworden,  dass  sie  im  Allgemeinen  keinerlei  Schwie- 
rigkeiten macht.  Die  Schrifteu,  welche  die  Philosophen  seit  der  Renaissance  herausgegeben 
haben,  sind  für  die  heutige  Forschung  durchgängig  zugänglich :  die  Fälle,  in  denen  Fragen  der 
Echtheit,  der  Entstehungszeit  u.  s.  w.  zu  Controverscn  Anlass  gäben,  sind  äusserst  selten ;  eine 
philologische  Kritik  hat  hier  nur  geringen  Spielraum,  und  wo  sie  (wie  theilweise  bei  den  ver- 
schiedenen Auflagen  der  Kantischen  Werke)  eintreten  kann,  bctriffl  sie  lediglich  untergeord- 
nete und  in  letzter  Instanz  gleichgiltige  Punkte.  Auch  sind  w^ir  hier  der  Vollständigkeit  des 
Materials  leidlich  sicher:  dass  Wichtiges  verloren  oder  noch  von  späterer  Publication  zu 
erwarten  wäre,  ist  kaum  anzunehmen;  wenn  die  geschärfte  philologische  Aufmerksamkeit  der 
letzten  Jahrzehnte  uns  über  Spinoza,  Leibntz,  Kant,  Maine  de  Biran  Neues  gebracht  hat, 
so  ist  der  philosophische  Ertrag  davon  doch  nur  verschwindend  gegenüber  dem  Werthe  des 
schon  Bekannten  gewesen.  Höchstens  hat  es  sich  —  und  kann  es  sich  femer  handeln  —  um 
Ergänzungen  gehandelt;  insbesondere  tritt  dabei  die  Wichtigkeit  gelegentlicher  brieflicher 
Aeusserungen  in  Kraft,  welche  über  den  individuellen  Factor  der  philosophiegeschichtlichen 
Entwicklung  mehr  Licht  zu  verbreiten  geeignet  sind. 

Weniger  günstig  schon  steht  es  um  die  Quellen  der  mittelalterlichen  Philosophie, 
welche  zu  einem  (freilich  geringen)  Theile  noch  eine  nur  handschriftliche  Existenz  führen. 
V.  Cousin  und  seine  Schule  haben  sich  um  die  Publication  der  Texte  sehr  verdient  gemacht, 
und  im  Allgemeinen  dürfen  wir  überzeugt  sein,  auch  für  diese  Zeit  ein,  zwar  lückenhaftes,  aber 
doch  im  Allgemeinen  zutreffendes  Material  zu  besitzen.  Dagegen  ist  unsere  Kennt niss  der 
arabischen  und  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters  und  damit  auch  ihres  Einflusses  auf  den 
Gang  des  abendländischen  Denkens  im  Einzelnen  noch  sehr  problematisch;  und  es  dürfte  dies 
die  empfindlichste  Lücke  in  der  Quellenforschung  der  Geschichte  der  Philosophie  sein. 

Viel  schlimmer  noch  ist  es  um  den  directen  Quelleiibefund  der  antiken  Philosophie 
bestellt.  Erhalten  ist  von  Originalwerken  uns  allerdings  die  Hauptsache :  der  Grundstock  der 
Werke  von  Piaton  und  Aristoteles,  auch  dieser  freilich  nur  in  vielfach  zweifelhafter  Form,  und 
daneben  nur  die  Schriften  späterer  Zeit,  wie  diejenigen  Cicero's,  Seneca's,  Plutarch's,  der 


§  2.    Die  Geschichte  der  Philosophie.  13 

KircheDväter  und  der  Neuplatoniker.  Der  weitaus  grösste  Theil  der  philosophischen  Schrillen 
des  Alterthmns  ist  verloren.  Statt  ihrer  müssen  wir  uns  mit  den  Fragmenten  begnügen, 
welche  der  Zufall  gelegentlicher  Erwähnung  bei  den  erhaltenen  Schriftstellern,  auch  hier  viel- 
fach in  fragwürdiger  Form  übrig  gelassen  hat'). 

Wenn  es  trotzdem  gelungen  ist,  ein  bis  in  das  Einzelne  hinein  durchgeführtes  und  wissen- 
schafUich  gesichertes  Bild  von  derEntwicklung  der  alten  Philosophie  (deutlicher  als  von  dem  der 
mittelalterlichen)  zu  gewinnen,  so  ist  dies  nicht  nur  den  unausgesetzten  Mühen  philologischer  und 
philosophischer  Durcharbeitung  dieses  Materials  zu  danken,  sondern  auch  dem  Umstände,  dass 
ans  neben  den  Resten  der  Originalwerke  der  Philosophen  auch  diejenigen  der  historischen 
Berichte  des  Alterthums  als  secundare  Quellen  erhalten  sind.  Das  Beste  freilich  auch 
daraus  ist  verloren,  die  historischen  Werke  nämlich,  welche  der  gelehrten  Sammlung  der  peri- 
patetischen  und  der  stoischen  Schule  zu  Ende  des  vierten  und  im  dritten  Jahrhundert  v.  Chr. 
entsprangen.  Diese  Arbeiten  sind  dann  später  durch  mehrfache  Hände  gegangen,  ehe  sie  sich 
in  den  uns  noch  aus  der  Römerzeit  vorliegenden  Compilationen  erhalten  haben,  wie  in  den 
uoter  dem  Namen  Plutarch's  gehenden  Placita  philosophorum '),  in  den  Schriften  des  Sextus 
Empiricus'),  in  den  Deipnosophistae  des  Athenaeus^),  in  der  Schrift  des  Diogenes  Laertius 
Kc^l  ^(ov  2of[idTcuv  xal  dmotp^'di.ötxoiv  xu>v  iv  (ptXoao(ptqc  e&$oxi{jLY)advT(uv^),  in  den  Zusammen- 
stellungen der  Kirchenväter  und  in  den  Notizen  der  Commentatoren  der  spätesten  Zeit«  wie 
Alexander  von  Aphrodisias,  Themistius  und  Simplicius.  Eine  vorzügliche  Durcharbeitung 
dieser  sccundären  Quellen  der  antiken  Philosophie  hat  H.  Diels,  Doxographi  Graeci  (Berlin 
1879)  gegeben. 

Wo,  wie  auf  dem  ganzen  Gebiet  der  alten  Philosophie,  der  Quellenbefund  ein  so  zweifel- 
hafter ist,  da  muss  die  kritische  Feststellung  des  Thatsächlichen  mit  der  Erforschung  des 
pragmatischen  und  genetischen  Zusammenhanges  Hand  in  Hand  gehen.  Denn  wo  die  Ueber- 
iieferung  selbst  zweifelhaft  ist,  da  kann  die  Entscheidung  nur  durch  die  Auflassung  eines  ver- 
nünftigen, der  psychologischen  Erfahrung  entsprechenden  Zusammenhanges  gewonnen  werden : 
in  diesen  Fällen  ist  also  die  Geschichte  der  Philosophie,  wie  alle  Geschichte,  darauf  ange- 
wiesen, mit  Zugrundelegung  des  quellenmässig  Gesicherten  sich  auch  in  denjenigen  Regionen 
zu  orientiren,  mit  denen  die  Ueberlieferung  eine  directe  und  gesicherte  Fühlung  verloren  hat. 
Die  philosophiegeschichtliche  Forschung  des  19.  Jahrhunderts  darf  sich  rühmen,  diese  Aufgabe 
nach  den  Anregungen  Schleiermachbr's  durch  die  Arbeiten  von  H.  Ritter,  dessen  Geschichte 
der  Philosophie  (12  Bde.  Hamburg  1829— 53)  jetzt  freilich  veraltet  ist,  von  Brandts  und  Zkller 
über  die  antike,  von  J.  E.  Erdmann  und  Kuno  Fischer  über  die  neuere  Philosophie  gelöst  zu 
haben.  Unter  den  zahlreichen  Gesammtdarstellungen  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  in 
diesen  Hinsichten  die  bei  weitem  zuverlässigste  J.  E.  Erdmann's  Grundriss  der  Geschichte 
der  Philosophie,  2  Bde.  (3.  Aufl.)  Beriin  1878. 

Eine  vortreffliche,  die  Literatur  in  erschöpfender  Vollständigkeit  und  guter  Ordnung 
sammelnde  Bibliographie  der  gesammten  Geschichte  der  Philosophie  findet  man  in  Ubber- 
WKO*s  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie,  3  Bde.  7.  Aufl.,  herausgegeben  von  M.  Heinze 
(Berlin  1886—88). 

b)  Die  Erklärung  des  Thatsächlichen  in  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  entweder 
pragmatisch  oder  culturhistorisch  oder  psychologisch,  den  drei  Factoren  entsprechend,  welche 
als  die  die  Bewegung  des  Denkens  bestimmenden  oben  aus  einander  gelegt  wurden.  Welche 
dieser  drei  Erklärungsarten  im  einzelnen  Falle  anzuwenden  ist,  hängt  lediglich  von  dem  That- 
bestände  der  Ueberlieferung  ab :  daher  ist  es  unrichtig,  die  eine  oder  die  andere  zum  alleinigen 
Princip  der  Behandlung  zu  machen.  Die  pragmatische  Erklärungsart  wiegt  bei  Denjenigen 
vor,  welche  in  der  ganzen  Geschichte  der  Philosophie  die  Vorbereitung  für  ein  bestimmtes 
System  der  Philosophie  sehen,  so  bei  Hegel  und  seinen  Schülern  (s.  oben  S.  8),  so  vom 
HsRBART^schen  Standpunkte  bei  Chr.  A.  Thilo,  Kurze  pragmatische  Geschichte  der  Philos. 
2  Thie.  (Coethen  1876 — 80).  Die  culturgeschichtliche  Betrachtung  und  die  Bezugnahme  auf 
die  Probleme  der  Einzel  Wissenschaften  haben  in  der  Auflassung  der  neueren  Philosophie 
besonders  KuKO  Fischer  und  W.  Windelband  betont. 

(lanz  unzulänglich  als  wissenschaftliche  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie 
ist  die  rein  biographische,  welche  nur  eine  der  Persönlichkeiten  nach  der  andern  behandelt. 
In  neuerer  Zeit  ist  sie  durch  die  Schrift  von  G.  H.  Lewes,  The  history  of  philosophy  from 
Thaies  to  the  present  day  (2  vs.  London  1871)  vertreten,  ein  Buch  ohne  alle  historische  Auf- 


1 )  Die  besonderen  Fragmentsammlungen  sind  unten  bei  den  einzelnen  Philosophen  er- 
wähnt. Es  wäre  wünschenswerth,  dass  sie  überall  so  vortrefflich  wären,  wie  Usener's  „Epi- 
curea".  —  Von  den  Fragmenten  der  Vorsokratiker  hat  F.  W.  A.  Mullach  (Fragmenta  philo- 
sophorum Graecorum,  3  Bde.  Paris  1860 — 81)  eine  sorgfältige,  aber  dem  heutigen  Stande  der 
Forschung  nicht  mehr  ganz  genügende  Sammlung  herausgegeben.  —  2)  Plut.  Moralia,  ed. 
DCbker,  Paris  1841.  Diels,  Dox.  p.  272  ff.  —  3)  Ed.  Bekker,  Beriin  1847.  —  4)  Ed.  Meineke, 
Leipzig  1857—69.  ~  5)  Ed.  Cobbt,  Paris  1850. 


14  Einleitung. 

Fassung  und  zugleich  eine  Parteischrift  im  Sinne  des  CoMTK'schen  Positivismus.  Auch  die 
Arbeiten  der  französischen  Historiker  (Damiron,  Ferraz)  haben  gern  diese  Form  der  ge- 
trennten, essayartigen  Behandlung  einzelner  Philosophen,  verlieren  aber  darüber  nicht  den 
Entwicklungsgang  des  Ganzen  aus  den  Augen  *). 

c)  Am  schwierigsten  ist  es  die  Principien  festzustellen,  nach  denen  die  philosophisch- 
kritische Beurtheilung  der  einzelnen  Lehren  stattzufinden  hat.  Wie  jede  Geschichte,  so  ist 
auch  die  der  Philosophie  eine  kritische  Wissenschaft :  sie  hat  nicht  nur  zu  berichten  und  zu 
erklären,  sondern  auch  zu  beurtheilen,  was  in  der  historischen  Bewegung,  wenn  sie  erkannt 
und  begriffen  ist,  als  Fortschritt,  als  Ertrag  zu  gelten  hat.  Es  giebt  keine  Geschichte  ohne 
diesen  Gesichtspunkt  der  Beurtheilung,  und  das  Zeugniss  der  Reife  für  den  Historiker  ist,  dass 
er  sich  dieses  seines  Gesichtspunktes  der  Kritik  klar  bewusst  ist ;  denn  wo  dies  nicht  der  Fall 
ist,  da  verfahrt  er  in  der  Auswahl  seines  Berichts  und  in  der  Charakterisirung  des  Einzelnen 
nur  instinctiv  und  ohne  klare  Nonn "). 

Dabei  versteht  es  sich  von  sich  selbst,  dass  dieser  Massstab  der  Beurtheilung  nicht  eine 
Privatansicht  des  Historikers,  auch  nicht  eine  philosophische  Ueberzeugung  desselben  sein 
darf ;  w^euigstens  raubt  die  Anwendung  einer  solchen  der  danach  geübten  Kritik  den  Werth 
wissenschaftlicher  Allgemeingiltigeit.  Wer  sich  dem  Glauben  hingiebt,  die  alleinige  philo- 
sophische Wahrheit  zu  besitzen  oder  wer  von  den  Gewohnheiten  der  Specialwissenschaften 
herkommt,  in  welchen  allerdings  ein  sicheres  Ergebniss  die  Beurtheilung  der  Versuche,  die 
dazu  geführt  haben,  sehr  einfach  macht*),  der  mag  wohl  in  Versuchung  sein,  air  die  vorüber- 
wandelnden Gestalten  auf  das  Prokrustesbett  seines  Systems  zu  spannen :  wer  aber  mit  offenem 
historischen  Blick  die  Arbeit  des  Denkens  in  der  Geschichte  betrachtet,  den  wird  respektvolle 
Scheu  zurückhalten,  die  Heroen  der  Philosophie  wegen  ihrer  Unkenntniss  der  Weisheit  eines 
Epigonen  abzukanzeln^). 

Dem  äusserlichen  Absprechen  gegenüber  hat  die  wissenschaftliche  Geschichte  der  Philo- 
sophie sich  auf  den  Standpunkt  der  immanenten  Kritik  zu  stellen,  und  deren  Principien 
sind  zwei:  die  formal  logische  Consequenz  und  die  intellectuelleFruchtbarkeit. 

Das  Denken  eines  jeden  Philosophen  ist  an  den  Vorstollungszustand  gebunden,  in  den 
er  hineinwächst,  und  unterliegt  in  seiner  Entwicklung  der  psychologischen  Nothwendigkeit : 
die  kritische  Untersuchung  hat  festzustellen,  wie  weit  es  ihm  möglich  geworden  ist,  die  ver- 
schiedenen Elemente  seines  Denkens  in  üebereinstimmung  mit  einander  zu  bringen.  Der 
Widerspruch  tritt  in  der  intellectuellen  Wirklichkeit  fast  nie  direct  so  auf,  dass  ausdrücklich 
dasselbe  behauptet  und  auch  verneint  würde,  sondern  stets  so,  dass  verschiedene  Behauptungen 
aufgestellt  werden,  die  erst  vermöge  ihrer  logischen  Consequenzen  auf  directen  Widerspruch 
und  sachliche  Unvereinbarkeit  füliren.  Die  Aufdeckung  dieser  Unzulänglichkeiten  ist  die 
formale  Kritik ;  sie  fallt  häufig  mit  der  pragmatischen  Erklärung  zusammen,  weil  diese  Kritik 
schon  in  der  Geschichte  selbst  von  den  Nachfolgern  vollzogen  worden  ist  und  deren  Probleme 
bestimmt  hat. 

Doch  genügt  dieser  Gesichtspunkt  nicht  allein :  er  trifft  als  rein  formal  alle  Ansichten, 
die  hinsichtlich  eines  Philosophen  bezeugt  sind,  ausnahmslos,  aber  er  giebt  kein  Kriterium  der 
Entscheidung  darüber,  worin  die  philosophische  Bedeutung  einer  Lehre  sachlich  besteht:  denn 
es  zeigt  sich  vielfach,  dass  die  Wirkung  der  Philosophie  gerade  in  Begriffen  sich  vollzogen  hat, 
die  durchaus  nicht  als  in  sich  fertig  und  widerspruchslos  gelten  dürfen,  während  eine  Menge  ein- 
zelner Behauptungen,  die  zu  beanstanden  kein  Anlass  ist,  für  die  geschichtliche  Betrachtung 
unbeachtet  in  der  Ecke  bleiben  müssen.  Grosse  Irrthümer  sind  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie wichtiger  als  kleine  Wahrheiten. 

Denn  darauf  kommt  es  vor  Allem  an,  was  einen  Beitrag  geliefert  hat  zur  Ausbildung 
der  menschlichen  Weltanschauung  undLebensbeurtheilung;  diejenigen  Begriffsbildungen  sind 
der  Gegenstand  der  Geschichte  der  Philosophie,  welche  als  Auffassungsformen  und  Urtheils- 
normen  sich  dauernd  lebendig  erhalten  haben  und  in  denen  damit  die  bleibende  innere  Structur 
des  menschlichen  Geistes  zu  klarer  Erkenntniss  gekommen  ist. 

1)  Als  ein  gutes  Lehrbuch  ist  zu  empfehlen  A.  Weber,  Histoire  de  la  philosophie  euro- 
peenne.  3.  Aufl.  Paris  1883.  —  2)  Dies  gilt  für  jedes  Gebiet  der  Geschichte,  für  die  (1er  Politik 
und  der  Literatur  gerade  so  wie  für  die  der  Philosophie.  —  3)  Als  Beispiel  möge  darauf  hin- 
gewiesen werden,  dass  der  verdiente  Verfasser  einer  ausgezeichneten  Geschichte  der  Princi- 
pien der  Mechanik,  Ed.  Dühring,  in  seiner  „Kritischen  Geschichte  der  Philosophie"  (3.  Aufl. 
Berlin  1878)  die  ganze  Willkür  einer  einseitigen  Beurtheilung  entfaltet  hat.  Aehnliches  gilt 
von  der  confessionellen  Kritik,  welche  A.  Stöckl,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie 
(2  Bde.  3.  Aufl.  Mainz  1889)  ausübt.  —  4)  Es  kann  nicht  genug  gegen  die  knabenhafte  Ueber- 
hebung  protestirt  Verden,  mit  der  es  eine  Zeit  lang  in  Deutschland  Mode  war,  von  den  „Er- 
rungenschaften der  Jetztzeit"  her  auf  die  grossen  Männer  der  griechischen  und  der  deutschen 
Philosophie  herabzulächeln  oder  zu  schimpfen;  es  war  meist  der  Hochmuth  der  Unwissenheit, 
welche  keine  Ahnung  davon  hatte,  dass  sie  zuletzt  doch  nur  von  den  Gedanken  derjenigen 
lebte,  die  sie  schalt  und  höhnte. 


§  3.    Eintheilung  der  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  15 

Dies  ist  denn  auch  der  Massstafo,  nach  dem  allein  entschieden  werden  kann,  welche 
unter  den  oft  sehr  Yerschiedenartige  Dinge  betreffenden  Lehren  der  Philosophen  als  die  eigent- 
lich philosophischen  anzusehen  sind,  und  welche  andrerseits  aus  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie auszuscheiden  sind.  Die  Quellenforschung  freilich  hat  die  Pflicht,  alle  Lehren  der 
Philosophen  sorgfaltig  und  vollständig  zu  sammeln,  und  damit  der  Erklärung  das  ganze  Ma- 
terial für  die  pragmatische,  culturhistorische  und  psychologische  Genesis  derselben  zu  geben : 
sber  der  Zweck  dieser  mühsamen  Arbeit  ist  doch  nur  der,  dass  schliesslich  das  philosophisch 
(Tieichgiltige  als  solches  erkannt  und  dieser  Ballast  über  Bord  geworfen  werde. 

Insbesondere  ist  dieser  Gesichtspunkt  der  wesentlich  bestimmende  für  Auswahl  und 
IHirstellung  in  einem  Lehrbuch,  welches  nicht  die  Forschung  selbst  geben,  sondern  ihre 
Ergebnisse  zusammenfassen  soll. 

§  3.  Eintheilung  der  Philosophie  nnd  ihrer  Geschichte. 

Es  kann  hier  nicht  die  Absicht  sein,  eine  systematische  Eintheilung  der 
Philosophie  vorzutragen,  denn  dieselbe  würde  doch  in  keinem  Falle  historische 
Allgemeingiltigkeit  besitzen  können.  Die  Verschiedenheiten,  welche  in  der  Be- 
stimmung des  Begriffs,  der  Aufgabe  und  der  Gegenstände  der  Philosophie  im 
Läufe  der  geschichtlichen  Entwicklung  obwalten,  ziehen  einen  Wechsel  auch  der 
Eintheilungen  so  nothwendig  und  selbstverständlich  nach  sich,  dass  dies  keiner 
besonderen  Erläuterungen  bedarf.  Die  älteste  Philosophie  kannte  überhaupt 
noch  keine  Gliederung.  Dem  späteren  Alterthum  war  eine  Eintheilung  der  Phi- 
losophie in  Logik,  Physik  und  Ethik  geläufig.  Im  Mittelalter  und  noch  mehr  in 
der  neueren  Zeit  werden  vielfach  die  beiden  ersten  als  theoretische  Philosophie 
zusammengefasst  und  der  praktischen  gegenübergestellt.  Seit  Kant  beginnt  sich 
eme  neue  Dreitheilung  in  logische,  ethische  und  ästhetische  Philosophie  durch- 
zusetzen. Doch  hangen  diese  verschiedenen  Eintheilungen  viel  zu  sehr  von  dem 
saeUichen  Gange  der  Philosophie  selbst  ab,  als  dass  es  sich  verlohnte,  dieselben 
hier  im  Einzelnen  au&uzählen. 

Dagegen  empfiehlt  es  sich,  der  historischen  Darstellung  wenigstens  eine 
lieb  ersieht  über  den  gesammten  Umfang  derjenigen  Probleme  voranzuschicken, 
welche  überhaupt,  wenn  auch  in  noch  so  verschiedenem  Masse  und  verschiedener 
Werthung,  Gegenstand  der  Philosophie  gewesen  sind,  —  eine  Uebersicht  also, 
för  welche  keine  systematische  Geltung  in  Anspruch  genommen  wird,  sondern 
nur  der  Zweck  vorläufiger  Orientirung  massgebend  ist. 

!•  Theoretische  Probleme  nennen  wir  alle  diejenigen,  welche  sich 
theils  auf  die  Erkenntniss  der  Wirklichkeit,  theils  auf  die  Untersuchung  des  Er- 
kennens  selbst  beziehen.  In  der  Erkenntniss  der  Wirklichkeit  aber  werden  die 
allgemeinen  Fragen,  welche  die  Gesammtheit  des  Wirklichen  betrefifen,  von  den- 
jenigen unterschieden,  die  nur  einzelne  Gebiete  der  Wirklichkeit  angehen.  Mit 
den  ersteren,  den  höchsten  Principien  der  Welterklärung  und  der  auf  ihnen  be- 
ruhenden allgemeinen  Weltansicht  beschäftigt  sich  die  Metaphysik,  von 
Aristoteles  erste,  d.  h.  grundlegende  Wissenschaft  genannt,  und  mit  dem  jetzt 
üblichen  Namen  nur  wegen  der  Stellung  bezeichnet,  welche  sie  in  der  antiken 
Sammlung  der  aristotelischen  Werke  „nach  der  Physik"  einnahm.  Vermöge 
seiner  monotheistischen  Weltanschauung  nannte  Aristoteles  diesen  Wissenszweig 
auch  Theologie.  Spätere  haben  die  rationale  oder  natürliche  Theologie 
auch  als  Zweig  der  Metaphysik  behandelt. 

Die  besonderen  Gebiete  der  Wh-klichkeit  sind  die  Natur  und  die  Ge- 
schichte. In  der  ersteren  sind  äussere  und  innere  Natur  zu  unterscheiden :  die 
Probleme,  welche  die  äussere  Natur  der  Erkenntniss  darbietet,  bezeichnet  man 


16  Einleitung. 

als  kosmologische  oder  speciell  als  naturphilosophische,  auch  wohl  als 
physische.  Die  Erforschung  der  innei*en  Natur,  d.h.  des  Bewusstseins  und 
seiner  Zustände  und  Thätigkeiten  ist  Sache  der  Psychologie.  Die  philo- 
sophische Betrachtung  der  Geschichte  bleibt  im  Rahmen  der  theoretischen  Phi- 
losophie nur,  wenn  sie  sich  auf  Erforschung  der  im  historischen  Leben  der  Völker 
obwaltenden  Gesetze  beschränkt:  da  aber  die  Geschichte  das  Reich  zweck- 
mässiger Handlungen  der  Menschen  ist,  so  fallen  die  Fragen  der  Geschichts- 
philosophie, sofern  sich  dieselbe  mit  dem  Gesammtzweck  der  historischen 
Bewegung  und  seiner  Erfüllung  beschäftigen  will,  unter  die  praktischen  Probleme. 
Die  auf  die  Erkenntniss  selbst  gerichtete  Untersuchung  wird  (im  allge- 
meinen Sinne  des  Wortes)  Logik,  auch  wohl  Noetik  genannt.  Beschäftigt 
sich  dieselbe  mit  der  Art,  wie  das  Wissen  thatsächlich  zu  Stande  kommt,  so  fallt 
diese  psychogene  tische  Betrachtung  in  den  Bereich  der  Psychologie.  Stellt 
man  dagegen  die  Normen  auf,  nach  denen  der  VVahrheitswerth  der  Vorstellungen 
beurtheilt  werden  soll,  so  nennt  man  diese  die  logischen  Gesetze  und  bezeich- 
net die  daraufgerichtete  Untersuchung  als  Logik  im  engeren  Sinne.  Die  An- 
wendung derselben  ergiebt  die  Methodologie,  welche  die  Vorschriften  für  die 
planmässige  Einrichtung  der  wissenschaftlichen  Thätigkeit  mit  Rücksicht  auf 
die  verschiedenen  Erkenntnisszwecke  entwickelt.  Die  Probleme  endlich,  welche 
sich  aus  den  Fragen  über  die  Tragweite  und  die  Grenze  der  menschlichen  Er- 
kenntnissfahigkeit  und  ihr  Verhältniss  zu  der  zu  erkennenden  Wirklichkeit  erheben, 
bilden  den  Gegenstand  der  Erkenntnisstheorie. 

H.  SiBBECK,  Geschichte  der  Psychologie,  l.Bd.  in  zwei  Abtheilungen  (Gotha  1880 — 84), 
unvollendet,  bis  in  die  Scholastik  hineinreichend. 

K.  Praktl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande,  4  Bde.  (Leipz.)  1855—1870,  nur  bis 
zur  Renaissance  fortgeführt. 

FR.HARMS,Die  Philosophie  in  ihrer  Geschichte  I.  Psychologie,  II.  Logik  (Berlin  1877  u.81). 

2.  Praktische  Probleme  heissen  im  Allgemeinen  diejenigen,  welche  aus 
der  Untersuchung  der  zweckbestimmten  Thätigkeit  des  Menschen  erwachsen. 
Auch  hier  ist  eine  psychogenetische  Behandlung  möglich,  welche  Sache  der  Psy- 
chologie ist.  Dagegen  ist  diejenige  Disciplin,  welche  das  Handeln  des  Menschen 
unter  dem  Gesichtspunkte  der  sittUchen  Normbestimmung  betrachtet,  die  Ethik 
oder  Moralphilosophie.  Dabei  pflegt  man  unter  Moral  im  engeren  Sinne 
die  Aufstellung  und  Begründung  der  sittUchcn  Vorschriften  zu  verstehen.  Da 
sich  aber  alles  sittUche  Handeln  auf  die  Gemeinschaft  bezieht,  so  schhesst  sich 
an  die  Moral  die  Philosophie  der  Gesellschaft  (für  welche  sich  der 
unglückliche  Name  Sociologie  auf  die  Dauer  doch  durchzusetzen  scheint)  und 
die  Rechtsphilosophie.  Insofern  weiterhin  das  Ideal  menschlicher  Gemein- 
schaft den  letzten  Sinn  der  Gescliichte  ausmacht,  ei-scheint,  wie  schon  erwähnt, 
auch  die  Geschichtsphilosophie  in  diesem  Zusammenhange. 

Zu  den  praktischen  Problemen  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  gehören  endlich 
auch  diejenigen,  welche  sich  auf  die  Kunst  und  die  Religion  beziehen.  Für  die 
philosophische  Untersuchung  über  das  Wesen  des  Schönen  und  der  Kunst  ist  seit 
dem  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  der  Name  Aesthetik  eingeführt:  wenn 
die  Philosopliie  sich  das  religiöse  Leben  nicht  in  dem  Sinne  zum  Vorwurf  nimmt, 
dass  sie  selbst  eine  Lehre  vom  Wesen  der  Gottheit  geben  mll,  sondern  in  dem 
Sinne  einer  Untersuchung  über  das  religiöse  Verhalten  des  Menschen,  so  bezeichnet 
man  diese  DiscipUnals  Religionsphilosophie. 


§  3.    Eintheilung  der  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  17 

Fr.  Scm^BiERMACHBRi  Grandlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre  (Ges.  W.  III, 
Bd.  I,  Berlin  18B4).  L.  v.  Hennino,  Die  Principien  der  Ethik  in  historischer  Entwicklung 
(Berlin  1835).  Fr.  v.  Raumer,  Die  geschichtliche  Entwicklung  der  Begriflfe  von  Staat,  Recht 
und  Politik  (Leipz.,  3.  Aufl.  1861).  E.  Feuerlein,  Die  philos.  Sittenlehre  in  ihren  geschicht- 
lichen Hauptformen.  2  Bde.  (Tübingen  1857 — 59).  P.  Janet,  Histoire  de  la  philosophie  morale 
ft  politique  (Paris  1858).  W.  Whewell,  Histoiy  of  moral  science  (Edinburg  1863).  H.  Sid- 
r.wicK,  The  methods  of  ethics  (London  1879).  T^.  Ziegler,  Geschichte  der  Ethik,  2  Bde.  (der 
dritte  steht  noch  aus;  Strassburg  1881-86).  K.  Köstlin,  Geschichte  der  Ethik  (erst  be- 
j^nnen.  L  Bd.  Tübingen  1887). 

R.  Zimmermann,  Geschichte  der  Aesthetik  (Wien  1858).  —  M.  Schasler,  Kritische 
Geschichte  der  Aesthetik  (Berlin  1871). 

J.  Bkrger,  Geschichte  der  Religionsphilosophie  (Berlin  1800). 


Die  Eintheilung  der  Geschichte  der  Philosophie  pflegt  sich  an 
die  fiir  die  politische  Geschichte  übliche  derart  anzuschliessen,  dass  drei  grosse 
Perioden,  antike,  mittelalterliche  und  neuere  Pliilosophie,  unterschieden  werden. 
Doch  liegen  die  Einschnitte,  welche  auf  diese  Weise  gemacht  werden,  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  nicht  so  günstig,  wie  vielleicht  für  die  politische. 
Einerseits  müssen  noch  andere,  dem  Wesen  der  Entwicklung  nach  ebenso  wichtige 
Gliederungen  gemacht  werden,  andrerseits  beansprucht  dieUebergangszeit  zwischen 
Mittelalter  und  Neuzeit  eine  Verschiebung  der  Eintheilung  nach  beiden  Seiten. 

In  Folge  dessen  wird  hier  die  gesammte  Geschichte  der  Philosophie  in  einer 
durch  die  Darstellung  selbst  im  Einzelnen  näher  zu  erläuternden  und  zu  be- 
gründenden Weise  nach  folgender  Eintheilung  behandelt  werden: 

1)  Die  Philosophie  der  Griechen:  von  den  Anfiingen  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  bis  zum  Tode  des  Aristoteles,  etwa  600  v.  Chr.  bis  322  n'  Chr. 

2)  Diehellenistisch-römischePhilosophie:  vom  Tode  des  Aristoteles 
bis  zu  den  Ausgängen  des  Neuplatonismus,  322  v.  Chr.  bis  etwa  500  n.  Chr. 

3)  Die  mittelalterliche  Philosophie:  von  Augustinus  bis  Nicolaus 
(^isanus:  vom  5.  bis  zum  15.  Jahrhundert. 

4)  Die   Philosophie   der  Renaissance:  vom  15. bis  17.  Jahrhundert. 

5)  Die  Philosophie  der  Aufklärung:  von  Locke  bis  zum  Tode 
Lessing's,  1689—1781. 

6)  Die  deutsche  Philosophie:  von  Kant  bis  Hegel  und  Herbakt, 
1781-1820. 

7)  Die  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts. 


Windel  band,  Geschichte  der  Philosophie. 


18 


I  TheiL 
Die  Philosophie  der  Griechen. 

Ohr.  A.  Brandis,  Handbuch  der  Geschichte  der  griechisch-römischen  Philosophie, 
3  Thl.  in  6  Bänden.  Berlin  1835—66. 

Dcrs,,  Geschichte  der  Entwiekelun^en  der  griechischen  Philosophie  und  ihrer  Nach- 
wirkungen im  römischen  Reiche,  2  Abth.  Berlin  1862 — 66. 

Ed.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen.  3  Thl.  in  6  Bänden,  1.  u.  2.  Bd.  in  4, 
3.-5.  Bd.  in  3  Aufl.  Leipzig  1879—89. 

A.  ScuwEQLER,  Gescliichte  der  griechischen  Philosophie,  herausg.  von  K.  Köstlin, 
3.  Aufl.  Freiburg  i.  Br.  1882. 

L.  Strümpell,  Die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie.  2.  Abth.  Leipzig  1854 — 61. 

W.  Windelband,  Geschichte  der  alten  Philosophie.  Nördlingen  1888. 

Ritter  et  Preller,  Historia  philosophiae  graeco-romanae  (Graccae),  in  7.  Aufl.  heraus- 
gegeben von  ScHüLTESS  und  Wellmann  (Gotha  1886—88),  eine  vorzügliche  Zusammenstellung 
der  wichtigsten  Quellen. 

Wenn  man  unter  Wissenschaft  die  selbständige  und  selbstbewusste  Erkennt- 
nissarbeit versteht,  welche  das  Wissen  um  seiner  selbst  willen  methodisch  sucht, 
so  kann  von  einer  solchen  —  abgesehen  von  einigen  erst  der  neueren  Kenntniss 
sich  erschliessenden  Ansätzen  bei  den  Völkern  des  Orients,  insbesondere  den 
Chinesen  und  Indern  *)  —  erst  bei  den  Griechen  und  bei  diesen  etwa  seit  dem 
Anfange  des  6.  Jahrhunderts  v.  Chr.  G.  gesprochen  werden.  Zwar  fehlte  es  den 
grossen  Culturvölkern  des  früheren  Alterthums  weder  an  einer  Fülle  einzelner 
Kenntnisse,  noch  an  allgemeinen  Anschauungen  des  Universums;  aber  mo  jene 
an  der  Hand  der  praktischen  Bedürfnisse  gewonnen  und  diese  aus  der  mythischen 
Phantasie  erwachsen  waren,  so  blieben  sie  unter  der  Herrschaft  theils  der  täg- 
lichen Noth  theils  der  religiösen  Dichtung,  und  beider  eigenthümlichen  Gebunden- 
heit des  orientahschen  Geistes  fehlte  ihnen  zu  fruchtbarer  und  selbständiger  Ent- 
wicklung die  Initiative  der  Individuen. 

Auch  bei  den  Griechen  lagen  die  Verhältnisse  ähnlich,  bis  um  die  erwähnte 
Zeit  der  mächtige  Aufschwung  des  nationalen  Lebens  die  geistigen  Kräfte  dieses 
begabtesten  aller  Völker  entfesselte.  Mehr  noch  als  die  Verfeinerung  und  Ver- 
geistigung des  Lebens,  welche  der  aus  dem  Handel  erwachsende  Reichthum  mit 
sich  fiihrte,  erwies  sich  dabei  die  demokratische  Entwicklung  der  Verfassungen 
günstig,  wodurch  in  leidenschaftlichen  Parteikämpfen  die  Selbständigkeit  indi- 
vidueller Meinungen  und  Urtheile  herangezogen  und  die  Bedeutung  der  Persön- 

1)  Selbst  wenn  man  zugiebt,  dass  die  Anfange  der  Moralphilosophie  bei  den  Chinesen 
sich  über  das  Moralisiren  und  besonders  diejenigen  <lor  Logik  bei  den  Indem  sich  über  ge- 
legentliche Reflexionen  zu  wissenschaftlicher  Begriffsbildung  erheben  —  worüber  hier  nicht 
abgesprochen  werden  soll  — ,  so  bleiben  dieselben  dem  in  sich  einheitlichen  und  geschlossenen 
Verlaufe  der  europäischen  Philosophie  so  fern,  dass  ein  Lehrbucli  keine  Veranlassung  hat, 
darauf  einzugehen.   Die  Literatur  ist  bei  Ueberweo  I,  §  6  zusammengestellt. 


I.  Philosophie  der  Griechen.  lö 

lichkeit  entwickelt  wurde.  Je  mehr  die  üppige  Entfaltung  des  Individualismus  die 
alten  Bande  des  Gesammtbewusstseins,  des  Glaubens  und  der  Sitte,  lockerte  und 
die  junge  Cultur  Griechenlands  mit  der  Gefahr  der  Anarchie  bedrohte,  um  so 
mehr  trat  an  die  einzelnen,  durch  Lebensstellung,  Einsicht  und  Charakter  hervor- 
ragenden Männer  die  Pflicht  heran,  durch  eigene  Besinnung  das  verloren  gehende 
Mass  wieder  zu  gewinnen:  diese  ethische  Reflexion  fand  in  den  lyrischen  und 
gnomischen  Dichtern,  besonders  aber  in  den  sog.  sieben  Weisen')  ihre  Ver- 
treter. Auch  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  eine  ähnliche  Bewegung  sich  ver- 
selbständigender Individualmeinungen  auf  das  schon  vorher  so  vielgestaltige 
religiöse  Leben  übergriff,  in  welchem  der  Gegensatz  der  alten  Mysterienculte 
und  der  aesthetischen  Nationalmythologie  so  vielfache  Anregungen  zu  besonderen 
Gestaltungen  gab.  Schon  in  der  kosmogonischen  Dichtung^)  wagte  sich  die 
individuelle  Phantasie  des  Dichters  an  eine  eigene  Ausmalung  des  Mythenhimmels, 
(las  Zeitalter  der  sieben  Weisen  begann  seine  ethischen  Ideale  in  die  Götterbilder 
der  homerischen  Dichtung  hinein  zu  deuten,  und  in  der  sittlich-religiösen  Refor- 
mation, welche  Pythagoras')  versuchte,  trat  in  der  äusseren  Form  einer  Rückkehr 
zn  der  alten  Strenge  des  Lebens  doch  der  neue  Inhalt,  welchen  dasselbe  gewonnen 
hatte,  um  so  deutlicher  hervor. 

Aus  so  gährenden  Zuständen  ist  die  Wissenschaft  der  Griechen  geboren 
worden,  der  sie  den  Namen  der  Philosophie  gaben.  Das  selbständige  Nachdenken 
der  Individuen  dehnte  sich  von  den  Fragen  des  praktischen  Lebens,  unterstützt 
durch  die  Wogungen  der  religiösen  Phantasie,  auf  die  Erkenntniss  der  Natur 
aus  und  gewann  erst  in  ihr  jene  Freiheit  von  äusseren  Zwecken,  jene  Beschrän- 
kung des  Wissens  in  sich  selbst,  welche  das  Wesen  der  Wissenschaft  ausmacht.' 

Alle  diese  Vorgänge  aber  spielten  sich  hauptsächlich  in  den  peripherischen 
Theilen  des  griechischen  Culturlebens,  den  Colonien,  ab,  welche  dem  sog.  Mutter- 
lande in  der  geistigen,  wie  in  der  materiellen  Entwicklung  voraus  waren.  In 
Jonien,  in  Grossgriechenland,  in  Thrakien  standen  die  Wiegen  der  Wissenschaft. 
Erst  nachdem  in  den  Perserkriegen  Athen  mit  der  politischen  auch  die  geistige 
Hegemonie  übernommen  hatte,  die  es  so  viel  länger  bewahren  sollte,  als  jene, 
da  zog  (zur  Zeit  der  Sophisten)  der  allen  Musen  geweihte  Boden  Attika's  auch 
die  Wissenschaft  an  sich,  die  sich  hier  in  der  Lehre  und  Schule  des  Aristoteles 
ToUendete. 

Die  Art  und  Weise,  wie  sich  das  Nachdenken  zuerst  an  zweckfreier  Be- 
trachtung der  Natur  zu  wissenschaftlicher  Begriffsbildung  erhob,  brachte  es  mit 
sich,  dass  die  griechische  Wissenschaft  die  ganze  Frische  jugendUcher  Erkennt- 
nissfreudigkeit zunächst  den  Problemen  der  Naturforschung  zuwandte  und  dabei 
begriffliche  Grundformen  für  die  Auffassung  der  äusseren  Welt  ausprfigte.  Es 
bedurfte  erst  theils  der  nachkommenden  Reflexion  auf  das  damit  Geleistete  und 
nicht  Geleistete,  theils  der  gebieterischen  Anforderungen,  welche  das  öffentUchc 


1)  Die  „sieben  Weisen",  unter  denen  am  meisten  Thaies,  Blas,  Pittakos  und  Solon 
{genannt  werden,  während  über  die  anderen  die  Tradition  nicht  einig  ist,  dürfen,  Thaies  aus- 
t^enommen,  noch  nicht  als  Vertreter  der  Wissenschaft  angesehen  werden:  Diog.  Laert.  I,  40; 
Piaton,  Protag.  343.  —  2)  Als  der  bedeutendste  dieser  kosmogonischen  Dichter  ist  Ph  e  r  c  - 
kydes  von  Syros  anzusehen,  der  bereits  zur  Zeit  der  ersten  Philosophen  in  Prosa  schrieb : 
doch  ist  auch  seine  Yorstellungsweise  noch  durchweg  mythisch,  nicht  wissenscliaftlich.  Seine 
Fragmente  hat  Stürz  (Leipzig  1834)  gesammelt.  —  3)  Vgl.  unten  ii^  Eingang  des  I.  Kapitels 
diese«  Theils. 

2* 


20  I.  Philosophie  der  Griechen. 

Leben  an  die  zum  socialen  Factor  herangereifte  Wissenschaft  stellte,  um  den  Blick 
der  Philosophie  nach  innen  zu  wenden  und  das  menschUche  Thun  zu  ihrem  Gegen- 
stande zu  machen.  Konnte  damit  zeitweihg  der  reine  Forschungstrieb  der  An- 
fange gehemmt  erscheinen,  so  entfaltete  sich  derselbe,  nachdem  es  erst  zu  positiven 
Resultaten  auch  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntniss  menschlicher  InnerUchkeit 
gekommen  war,  um  so  lebhafter  und  führte  nun  zu  den  grossen  Systembildungen, 
mit  denen  die  rein  griechische  Philosophie  abschloss. 

Deshalb  theilt  sich  die  Philosophie  der  Griechen  in  drei  Perioden:  ei^e 
kosmologische,  welche  von  etwa  600  bis  etwa  450  reicht,  —  eine  anthro- 
pologische, welche  etwa  die  zweite  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts  (450—400)  aus- 
füllt, —  und  eine  systematische,  welche  die  Entwicklung  der  drei  grossen 
Systeme  der  griechischen  Wissenschaft,  derjenigen  von  Demokrit,  Piaton  und 
Aristoteles  enthält  (400—322). 

Die  Philosophie  der  Griechen  bildet  den  theoretisch  instructivsten  Tlieil  der  gesammten 
Geschichte  der  Philosophie,  nicht  nur  deshalb,  weil  die  in  ihr  erzeugten  Gioindbegriffe  blei- 
bende Grundlagen  aller  ferneren  Entwicklung  des  Denkens  geworden  sind  und  zu  bleiben  ver- 
sprechen, sondern  auch  deshalb,  weil  in  ihr  gegenüber  der,  zumal  anfangs,  noch  Verhältnisse 
massig  sehr  geringen  Menge  des  Kenntnissmaterials  die  in  den  Postulaten  der  denkenden 
Vernunft  selbst  enthaltenen  formalen  Voraussetzungen  zur  scharfen  Formulirung  gelangen. 
Darin  besitzt  die  griechische  Philosophie  ihren  typischen  Werth  und  ihre  didaktische 
Bedeutung. 

Diese  Vorzüge  treten  schon  in  der  Durchsichtigkeit  und  Einfachheit  der  Gesammtent- 
wicklung  hervor,  welche  den  forschenden  Geist  zuerst  nach  aussen  gezogen,  dann  auf  sich 
selbst  zurückgeworfen  und  erst  von  hier  aus  zu  tieferer  Erfassung  der  gesammten  Wirklichkeit 
zurückkehrend  erscheinen  lässt. 

Ueber  diesen  Gang  der  allgemeinen  Entwicklung  der  griechischen  Philosophie  besteht 
daher  auch  kaum  irgend  eine  Controverse,  wenn  auch  die  verschiedenen  Darstellungen  die 
'Periodeneinschnitte  an  verschiedene  Stellen  verlegt  haben.  Ob  man  mit  Sokrates  eine  neue  Pe- 
riode beginnen  lassen  will  oder  ihn  mit  den  Sophisten  zusammen  in  diejenige  der  griechischen 
Aufklärung  einstellt,  hängt  schliesslich  nur  daran,  ob  man  für  die  Eintheilung  das  (negative 
oder  positive)  .Resultat  oder  die  Gegenstünde  des  Philosophirens  für  massgebend  ansehen  will. 
Dass  aber  Demokrit  unter  allen  Umständen  aus  den  „Vorsokratikern"  ausgeschieden  und  der 
grossen  systematischen  Zeit  der  griechischen  Philosoj)hie  zugerechnet  werden  muss,  hat  Verf. 
in  seiner  Uebersicht  über  die  „Geschichte  der  alten  Philosophie"  Kap.  5  begründet. 

1.  Kapitel.  Die  kosmologisclie  Periode. 

S.  A.  BvK,  Die  vorsokratische  Philosophie  der  Griechen  in  ihrer  organischen  Gliederung. 
2.  Thl.   Leipzig  1875-77. 

Den  nächsten  Hintergrund  für  die  Anfänge  der  griechischen  Philosophie 
haben  die  kosmogonischen  Dichtungen  gebildet,  welche  die  Vorgeschichte  des 
gegebenen  Weltzustandes  in  mythischer  Einkleidung  vortragen  wollten  und  dabei 
die  herrschenden  Vorstellungen  über  die  stetigen  Wandlungen  der  Dinge  in  der 
Form  von  Erzählungen  der  Weltentstehung  zur  Geltung  brachten.  Je  freier  sich 
dabei  die  individuellen  Ansichten  entwickelten,  um  so  mehr  trat  zu  Gunsten  der 
Betonung  dieser  bleibenden  Verhältnisse  das  zeitliche  Moment  des  Mythos  zurück, 
und  es  schälte  sich  schliesslich  die  Frage  heraus,  was  denn  nun  der  allen  zeit- 
lichen Wechsel  überdauernde  Urgrund  der  Dinge  sei  und  wie  er  sich  in  diese 
einzelnen  Dinge  verwandle  oder  dieselben  in  sich  zurückverwandle. 

An  der  Lösung  dieser  Frage  hat  zunächst  die  milesische  Schule  der 
Naturforschung  im  6.  Jalirhundert  geiirbeitet,  aus  der  uns  als  die  drei  Haupt- 
vertreter Thaies,  Anaximander  und  Anaximenes  bekannt  sind.  Mancherlei 
offenbar  seit  lange  in  der  Praxis  der  seefahrenden  Jonier  angesammelte  Kennt- 
nisse und  viele  eigene,  eft  feinsinnige  Beobachtungen  standen  ihnen  dabei  zu  Gebote, 


1.  Kosmologische  Periode.  21 

auch  haben  sie  sich  gewiss  an  die  Erfahrung  der  orientalischen  Völker,  insbesondere 
der  Aegypter  gehalten;  mit  denen  sie  in  so  nahen  Beziehungen  standen  *).  Mit 
jugendlichem  Eifer  wurden  diese  Kenntnisse  zusammengetragen.  Das  Haupt- 
interesse fiel  dabei  auf  die  physicalischen  Fragen,  insbesondere  auf  die  grossen 
Elementarerscheinungen;  fiir  deren  Erklärung  viele  Hypothesen  ersonnen  wurden, 
daneben  aber  hauptsächlich  auf  geographische  und  astronomische  Probleme,  wie 
die  Gestalt  der  Erde,  ihr  Verhältniss  zum  Gestirnhimmel,  das  Wesen  von  Sonne, 
Mond  und  Planeten  und  Art  wie  Ursache  ihrer  Bewegung.  Dagegen  finden  sich, 
nur  schwache  Zeichen  eines  der  organischen  Welt  und  dem  Menschen  zugewen- 
deten Erkenntnisstriebes. 

Solcher  Art  waren  die  Erfahrangsgegenstände  der  ersten  „Philosophie **.  Ganz  fern 
stand  sie  dem  ärztlichen  Wissen,  das  sich  allerdings  nur  auf  technische  Kenntnisse  und 
Kunstfertigkeiten  beschränkte  und  als  priesterlich  gehütete  Geheimlehre  in  Orden  und  Schulen^ 
wie  dei\jenigen  von  Rhodos,  Kyrene,  Kroton,  Kos  und  Knidos,  überliefert  wurde.  Die  antike 
Medio  in,  die  ausdrücklich  eine  Kunst,  aber  keine  Wissenschaft  sein  wollte  (Hippokrates), 
ist  erst  spät  und  nur  ganz  vorübergehend  mit  der  philosophischen  Gesammtwissenschafb  in 
Berührung  gekommen.  Vgl.  Häser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medicin  I,  2.  Aufl. 
Jena  1875. 

Ebenso  selbständig  gehen  neben  den  Anfängen  der  antiken  Philosophie  diejenigen  der 
Mathematik  einher.  Die  Sätze,  welche  den  Milesiem  zugeschrieben  werden,  machen  mehr 
den  Eindruck  einzeln  aufgerafiler  Kenntnisse,  als  eigener  Forschungsergebnisse  und  sind 
ganz  ausser  Beziehung  zu  ihren  naturwissenschaftlichen  und  philosophischen  Lehren.  Auch  in 
den  Kreisen  der  Pythagoreer  sind  offenbar  die  mathematischen  Studien  zunächst  für  sich 
selbst  betrieben  worden,  um  dann  freilich  um  so  energischer  in  die  Behandlung  der  allgemeiner 
Probleme  hineingezogen  zu  werden.  Vgl.G.  Cantor,  Geschichte  der  Mathematik  I  (Leipz.  1880). 

Die  Bemühungen  der  Milesier,  den  einheitlichen  Weltgrund  zu  bestimmen, 
führten  aber  schon  beiAnaximander  über  die  Erfahrung  hinaus  zur  Construc- 
tion  eines  metaphysischen  Erklärungsbegriffs,  des  ä;rstpov,  und  lenkten  damit  die 
Wissenschaft  von  der  Untersuchung  der  Thatsachenauf  begriffliche Ueberlegungen 
ab.  Während Xenophanes,  der  Begründer  der  eleatischen  Schule,  die 
Folgerungen  zog,  welche  sich  aus  dem  philosophischen  Begriffe  der  Welteinheit 
für  das  religiöse  Bewusstsein  ergeben,  zersetzte  Heraklitim  schweren  Ringen 
mit  dunklen,  religiös  gefärbten  Anschauungen  die  Voraussetzung  einer  bleiben- 
den Substanz  und  liess  nur  ein  Gesetz  des  Wechsels  als  letzten  Inhalt  der  Er- 
kenntniss  bestehen.  Um  so  schärfer  aber  bildete  auf  der  anderen  Seite  die  elea- 
tische  Schule  in  ihrem  grossen  Vertreter  Parmenides  den  Begriff  des  Seins  zu 
der  rücksichtslosen  Schroffheit  aus,  welche  in  der  folgenden  Generation  der  Schule 
durchZenon  vertheidigt  undnur  durchMelissos  einigermassen  abgeschwächt  wurde. 

Sehr  bald  aber  traten  nun  eine  Reihe  von  Bestrebungen  hervor,  welche  das 
durch  diese  Entfaltung  der  ersten  metaphysischen  Gegensätze  bei  Seite  geschobene 
Interesse  der  erklärenden  Naturwissenschaft  von  Neuem  in  den  Vordergrund 
rückten.  Sie  gingen  zu  diesem  Behufe  wieder  in  umfassenderer  Weise  auf  eine 
Bereicherung  der  Kenntnisse  aus,  wobei  sie  mehr  als  vorher  Beobachtungen, 
Fragen  und  Hypothesen  aus  dem  Bereiche  des  Organischen  und  Physiologischen 
in's  Auge  fassten,  und  sie  suchten  mit  ihren  erklärenden  Theorien  zwischen  den 
begrifflichen  Gegensätzen  von  Heraldit  und  Parmenides  zu  vermitteln. 


1)  Den  Einfluss  des  Orients  auf  die  Anfönge  der  griechischen  Philosophie  haben  Gla- 
DiscH  (Die  Religion  und  die  Philosophie  in  ihrer  weltgeschichtlichen  Entwicklung.  Breslau 
1852)  und  Roth  (Geschichte  unserer  abendländischen  Philosophie.  2  Bde.  Mannheim  1858  ff.) 
überschätzt:  in  den  einzelnen  Kenntnissen  sind  sie  gewiss  nicht  zu  verkennen;  dagegen  sind 
die  wissenschaftlichen  Begriffe  durchaus  selbständige  Thaten  des  griechischen  Denkens. 


22  !•  Philosophie  der  Griechen. 

Aus  diesen  Bedürfhissen  entstanden  gegen  die  Mitte  des  5.  Jahrhunderts 
neben  einander  und  mit  mancherlei  positiven  und  polemischen  Beziehungen  zu 
einander  die  Lehren  Yon  EmpedokleSy  Anaxagoras  und  Leukippos,  dem 
Begründer  der  atomistischen  Schule  von  Abdera.  Die  Mannigfaltigkeit  dieser 
Theorien  und  die  offenkundige  Abhängigkeit  derselben  von  einander  beweist  bei 
der  räumUchen  Entfemimg,  in  der  die  einzelnen  Männer  und  Schulen  sich  von 
einander  befanden,  bereits  eine  grosse  Lebhaftigkeit  des  Austausches  und  des 
literarischen  Betriebes,  dessen  Bild  sich  um  so  reicher  gestaltet,  je  mehr  man 
bedenkt,  dass  die  sichtende  Ueberlieferung  offenbar  nur  die  Erinnerung  an  das 
Bedeutendste  aufbewahrt  hat  und  dass  jeder  der  uns  bekannt  gebliebenen  Namen 
in  Wahrheit  einen  ganzen  Kreis  wissenschaftlicher  Arbeit  bedeutet. 

Eine  eigenthümhche  Nebenstellung  hatten  während  der  gleichen  Zeit  die 
Pythagoreer,  welche  das  durch  den  Gegensatz  von  Heraklit  und  den  Eleaten 
gegebene  metaphysische  Problem  gleichfalls  aufnahmen,  die  Lösung  desselben 
aber  mit  Hilfe  der  Mathematik  zu  finden  hofften,  und  durch  die  Zahlenlehre, 
als  deren  erster  hterarischer  Vertreter  Philolaos  bekannt  ist,  der  weiteren  Be- 
wegung des  Denkens  eine  Reihe  der  wichtigsten  Motive  hinzufügten.  Auch  machte 
sich  die  ursprüngliche  Tendenz  ihres  Bundes  in  ihren  Lehren  in  der  Weise  fülil- 
bar,  dass  sie  den  Werthbestimmungen  schon  einen  grösseren  Einfluss  auf  diesel- 
ben einräumten.  Zwar  haben  sie  so  wenig,  wie  die  ganze  Philosophie  dieser  Pe- 
riode, eine  wissenschaftliche  Behandlung  ethischer  Fragen  versucht,  aber  die 
Kosmologie,  welche  sie  auf  ihre  mit  Hilfe  der  Mathematik  bereits  sehr  weit  ent- 
wickelten astronomischen  Vorstellungen  gründeten,  ist  doch  zugleich  von  ästhe- 
tischen und  ethischen  Motiven  durchdrungen. 

Aus  der  milesischeu  Schule  sind  uns  nur  die  drei  Namen  Thaies,  Auaximander, 
Anaximeues  überliefert.  Danach  scheint  diese  Schule  in  der  damaligen  Hauptstadt  Joniens 
während  des  ganzen  6.  Jahrhunderts  geblüht  zu  haben  und  mit  der  Stadt  selbst,  welche 
494  nach  der  Schlacht  von  Lade  durch  die  Perser  verwüstet  wurde,  zu  Grunde  gegangen 
zu  sein. 

Thaies,  aus  altem  Handelsgeschlechte,  soll  die  Sonnenfinstemiss  585  vorausgesagt 
haben  und  hat  die  Invasion  der  Perser  in  der  Mitte  des  6.  Jahrh.  überlebt.  Vielleicht  hatte  er 
Acgypten  gesehen;  an  mathematischen  imd  physicalischen  Kenntnissen  fehlte  es  ihm  nicht. 
Schriften  von  ihm  hat  schon  Aristoteles  nicht  gekannt. 

Anaximander  scheint  wenig  jünger  gewesen  zu  sein:  von  seiner  Schrift  itspl  (puosio^ 
ist  nur  ein  seltsames  Bruchstück  erhalten.  Vgl.  NeuhXusbe  (Bonn  1883).  —  Büsoen,  Ueber 
das  aicstpov  des  A.  (Wiesbaden  1867). 

Die  Lebenszeit  des  Anaximenesist  schwierig  zu  bestimmen,  sie  fällt  wahrscheinlich 
etwa  560 — 500.    Auch  aus  seiner  Schrift  icept  (pooetoi;  ist  fast  nichts  erhalten. 

Die  spärlichen  Nachrichten  über  die  Theorien  der  Milesier  verdanken  wir  ausser  Ari- 
stoteles (im  Anfang  der  Metaphysik)  hauptsächlich  dem  Oommentar  des  Simplicius.  Vgl. 
H.  Ritter,  Geschichte  der  jonischen  Philosophie.  Berlin  1821.  —  R.  Skydel,  Der  Fortschritt 
der  Metaphysik  unter  den  ältesten  jonischen  Philosophen.  Leipzig  186L 

An  die  Spitze  der  eleatischen  Schule  pflegt  Xenophanes  gesetzt  zu  werden,  der 
jedenfalls  an  ihrer  Begründung  betheiligt  war.  (leboren  um  570  in  Kolophon,  floh  er  546  bei 
der  persischen  Eroberung  Joniens  und  fand  als  wandernder  Rhapsode  seinen  Unterhalt  und 
zuletzt  in  dem  von  flüchtigen  Joniern  in  Grossgriechenland  gegründeten  Elea  eine  bleibende 
Stätte.  Er  ist  nach  480  gestorben.  Die  Fragmente  seiner  theils  gnomischen,  theils  philo- 
sophischen Dichtungen  hat  Karsten  (Amsterdam  1835)  gesammelt.  Ueber  ihn  Fr.  Kern 
(Naumburg  1864,  Oldenburg  1867,  Danzig  1871,  Stettin  1874  und  77).  —  J.  Frbudenthal 
(Breslau  1886). 

Parmenides  (etwa  515  geb.)  ein  Eleat  aus  vornehmer  Familie,  bedeutende  Persön- 
lichkeit, dem  Pythagoreerbunde  nicht  femstehend,  schrieb  um  470.  Die  Fragmente  seines 
Lehrgedichts  haben  Peyron  (Leipzig  1810)  und  H.  Stein  (Leipzig  1864)  gesammelt. 

Zenon's  (etwa  490 — 430)  verlorene  Schrift  war,  vermuthlich  die  erste,  in  Kapitel  ein- 
getheilt  und  dialectisch  geordnet.   Auch  er  stammte  aus  Elea. 


1.  Kosmologischc  Periode.  23 

Meli 88 08  dagegen  war  der  8amische  Feldherr,  der  442  über  die  Athener  siegte.  Ueber 
seinen  persönlichen  Zusammenhang  mit  der  eleatischen  Schule  ist  nichts  bekannt. 

Die  geringen  Schriftfragmente  der  Eleaten  werden  durch  Berichte  des  Aristoteles, 
Simplicius  u.  A.  einigcrmassen  ergänzt.  Die  sehr  vorsichtig  zu  benutzende  pseudoaristo- 
telische  Schrift  De  Xenophane  Zenone  Gorgia  (Arist.  Berl.  Ausg.  974  ff.)  berichtet  im  ersten 
Kap.  vcrmuthlich  über  Melissos,  im  zweiten  aus  sehr  durch  einander  gewürfelten  Quellen  über 
Zenon,  im  dritten  über  Gorgias. 

Herakleitos  von  Ephesos,  „der  Dunkle" ,  etwa  536—470,  gab  die  hohe  Stellung,  welche 
er  seiner  Geburt  verdankte,  aus  Widerwillen  gegen  die  immer  mehr  zur  Herrschaft  gelangende 
Demokratie  auf  und  schrieb  in  grollender  Müsse  während  des  letzten  Jalirzehnts  seines  Lebens 
eine  Schrift,  deren  Verständniss  schon  die  Alten  für  schwierig  erklärten  und  von  der  uns  nur 
Bruchstücke  von  oft  sehr  grosser  Vieldeutigkeit  erhalten  sind.  Gesammelt  und  gesichtet 
von  P.  ScHUSTKR  (Leipzig  1873)  und  J.  Bywateb  (Oxford  1877).  —  Vgl.  Fr.  Schleiermachbr 
(Ges.  W.  m.  Abth.  Bd.  2,  S.  1-146).  —  J.  Bernays  (Ges.  Abhandlungen  Bd.  I,  1885).  — 
F.  Lassalle  (2  Bde.  Berlin  1858).  —  £.  Pkleiderer  (Berlin  1886). 

Der  erste  Dorier  in  der  Geschichte  der  Philosophie  istEmpedokles  von  Agrigent,  etwa 
490—430,  als  Staatsmann,  Arzt  und  Wunderthäter  eine  priesterlich  und  sehcrhafb  angesehene 
Persönlichkeit,  auch  wohl  nicht  ohne  Beziehungen  zu  der  sicilischcn  Rednerscbulc,  aus  der  die 
Namen  Korax  und  Tisias  bekannt  sind,  hat  ausser  seinen  Katharmen  ein  Lehrgedicht  hinter- 
lassen, dessen  Fragmente  von  Sturz  (Leipzig  1805),  Karsten  (Amsterdam  1838)  und  Stein 
(Bonn  1852)  herausgegeben  wurden. 

Anaxagoras  aus  Klazomenae  (500  bis  nach  430)  ist  gegen  die  Mitte  des  5.  Jahr- 
hunderts in  Athen  ansässig  geworden,  wo  er  mit  Perikles  befreundet  wurde.  Im  Jahre  434 
musste  er,  der  Asebie  angeklagt,  die  Stadt  verlassen  und  gründete  eine  Schule  in  Lampsakos. 
Die  Fragmente  seiner  Schrift  icepl  cpuseiu^  haben  Schaubach  (Leipzig  1827)  und  Schorn  (Bonn 
1829)  gesammelt  Vgl.  Breier  (Berlin  1840),  Zevort  (Paris  1843). 

Von  der  Persönlichkeit  des  Leukippos  ist  so  wenig  bekannt,  dass  schon  im  Alterthum 
selbst  seine  Existenz  bezweifelt  wurde.  Die  grosse  Ausführung  der  atomistischen  Lehre  durch 
Demokrit  (s.  cap.  III)  hatte  ihren  Urheber  völlig  verdunkelt.  Doch  sind  die  Spuren  des 
Atomismus  in  der  gesammten  Gcdankenbildung  nach  Parmcnidcs  sicher  zu  erkennen.  Leu- 
kippos, in  Abdera,  wenn  nicht  geboren,  so  doch  als  Haupt  der  Schule  thätig,  aus  der  später 
Protagoras  und  Demokrit  hervorgingen,  muss  ein,  vielleicht  sogar  etwas  älterer  Zeitgenosse 
von  Empedokles  und  Anaxagoras  gewesen  sein.  Ob  er  etwas  geschrieben  hat,  bleibt  unsicher. 
Vgl.  DiELS,  Verh.  der  Stett.  rhilol.  Vers.  1886.  —  A.  Brieger,  Die  Urbewegung  der  Atome 
(Halle  1884).  —  H.  Liepmann,  Die  Mechanik  der  leucipp-demokritischen  Atome  (Leipzig  1885). 

Der  pythagoreische  Bund  ist  gegen  Ende  des  6.  Jahrhunderts  zuerst  in  den 
Städten  Grossgrieohenlands  als  eine  religiös-politische  Genossenschaft  hervorgetreten.  Sein 
Gründer  war  Pythagoras  aus  Samos,  der,  etwa  580  geboren,  nach  langen  Reisen,  die  ihn  vcr- 
muthlich auch  nach  Aegypten  führten»  die  aristokratische  Stadt  Kroton  zum  Ausgangspunkte 
eines  Reformationsversuchs  machte,  welcher  eine  Läuterung  des  sittlichen  und  religiösen 
Lebens  zum  Ziele  hatte.  Von  den  inneren  Verhältnissen  des  Bundes  sind  wir  erst  durch  späte 
Erzählungen  (Jamblichus,  de  vita  Pythagorica  und  Porphyrius,  de  vita  Pythagorac,  herausg. 
von  KiESLiNO,  Leipzig  1815 — 16)  unterrichtet,  deren  Glaubwürdigkeit  bedenklich  ist:  sicher 
aber  scheint  zu  sein,  dass  schon  der  alte  Bund  seinen  Mitgliedern  bestimmte  Verpflichtungen 
auch  für  das  Privatleben  auferlegte  und  eine  gemeinsame  Beschäftigung  mit  geistigen  Dingen, 
insbesondere  mit  Musik  und  Mathematik  einführte.  Die  äusseren  Verhältnisse  des  Bundes 
gestalteten  sich  in  Folge  seiner  politischen  Stellung  (worüber  B.  Krischk,  Göttingen  1830)  zwar 
anfangs  sehr  günstig,  indem  nach  Eroberung  des  demokratischen  Sybaris  509  Kroton  eine  Art 
liegemonischer  Bedeutung  in  Grossgriechenland  gewann ;  mit  der  Zeit  aber  zogen  die  Pytha- 
goreer  in  den  leidenschaftlichen  Parteikämpfen  dieser  Städte  den  Kürzeren  und  erlitten  mehr- 
lach heftige  Verfolgungen,  die  den  Bund  während  des  4.  Jahrhunderts  schliesslich  zersprengten. 

Auf  Pythagoras  selbst,  der  etwa  500  starb,  sind  philosophische  Lehren  nicht  zurück- 
zuführen, so  sehr  auch  spätere  Mythenbildung  ihn  zum  Ideal  aller  hellenischen  Weisheit  zu 
machen  suchte  (E.  Zeller  in  Vortr.  u.  Abhandl.  I,  Leipzig  1865).  Piaton  und  Aristoteles 
wissen  nur  von  einer  Philosophie  der  Pythagoreer.  Als  Haux)tvertreter  derselben  erscheint 
Philolaos,  der  etwas  jünger  als  Empedokles  und  Anaxagoras  gewesen  zu  sein  scheint:  über 
seine  Lebensumstände  ist  fast  nichts  bekannt;  auch  die  Fragmente  seiner  Schrift  (ges.  von 
Bokckh,  Berlin  1819,  vgl.  C.  Schaarschmidt,  Bonn  1864)  nutcrliegen  vielfachen  Zweifeln. 

Von  sonstigen  Anhängern  des  Bundes  sind  nur  die  Namen  bekannt;  die  spätesten 
Vertreter  geriethen  in  ein  so  nahes  Verhältniss  zur  platonischen  Akademie,  dass  sie  in  philo- 
sophischer Hinsicht  fast  ganz  derselben  angehörten.  Unter  ihnen  ist  Archytas  von 
Tarent,  der  bekamite  Gelehrte  und  Staatsmann,  zu  nennen.  Ueber  dessen  ebenfalls  sehr 
zweifelhafte  Frwnente  vgl.  G.  Hartenstein  (Leipzig  1833),  Fr.  Petersen  (Zeitschr.  f.  Alter - 
thumsk.  1836),  0.  Gruppe  (Berlin  1840).   Fr.  Beckmann  (Beriin  1844). 


24  I-  Philosophie  der  Griechen.    1.  Kosmologische  Periode. 

Die  Nachrichten  über  die  Lehre  der  Pythaf^oreer  sind,  zumal  in  den  späteni  Berichten, 
durch  so  viel  fremde  Zusätze  getrübt,  dass  vielleicht  au  keinem  Punkte  der  antiken  Philosophie 
die  Feststellung  des  Thatsächlichen  so  vielen  Schwierigkeiten  begegnet  wie  hier.  Selbst  wenn 
man  jedoch  das  Zuverlässigste  (Aristoteles  und  seine  best  unterrichteten  Erklärer,  besonders 
Simplicius)  herausschält,  so  bleiben,  namentlich  im  Einzelnen,  viele  dunkle  Punkte  und  wider- 
spruchsvolle Angaben  übrig.  Der  Grund  davon  liegt  vermuthlich  darin,  dass  in  der  zeitweilig 
sehr  ausgebreiteten  Schule  verschiedene  Richtungen  neben  einander  herliefen,  und  dass  in 
diesen  der  allgemeine  Grundgedanke,  dessen  Urheberschaft  bei  Philolaos  zu  suchen  sein  dürfte, 
verschiedene  Ausführung  fand.  Es  wäre  verdienstvoll,  eine  solche  Sonderung  zu  versuchen. 

H.  RiTTEB,  Geschichte  der  pythagoreischen  Philosophie,  Hamburg  1Ö2Ü.  —  Rothen- 
BücHEii,  Das  System  der  Pythagoreer  nach  Aristoteles,  Berlin  1867.  —  E.  Oüaignet,  Pythagorc 
et  la  Philosophie  pythagoricienne.  2  Bde.  Paris  1873. 

%  4.  Die  Begriffe  des  Seins. 

Die  Thatsache  der  Verwandlung  der  Erfahrungsdinge  in  einander  ist  der 
Stachel  für  die  ersten  philosophischen  Ueherlegungeu  gewesen,  und  die  Verwun- 
derung *)  darüber  musste  in  der  That  einem  Volke  von  der  Beweglichkeit  und 
der  vielseitigen  Naturerfahrung  der  Jonier  früh  aufsteigen.  Die  jonische  Philo- 
sophie hat  dieser  Thatsache,  der  das  Grundmotiv  ihres  Nachdenkens  entsprang, 
den  lebhaftesten  Ausdruck  gegeben  in  Heraklit,  der  nicht  müde  geworden  zu  sein 
scheint^),  für  diese  Unbeständigkeit  ausnahmslos  aller  Dinge  und  namentlich  für 
das  Umschlagen  der  Gegensätze  in  einander  die  zugespitztesten  Formulirungen 
zu' suchen.  Wo  aber  der  Mythos  dieser  Anschauung  das  Gewand  eines  fabuliren- 
den  Berichtes  über  die  Weltbildung  gab,  da  fragte  die  Wissenschaft  nach  dem 
bleibenden  Grunde  aller  dieser  Veränderungen  und  tixirte  diese  Frage  in  dem 
Begriffe  des  Weltstoffs,  der  diese  Verwandlungen  erleide,  dem  alle  einzelnen 
Dinge  entsprängen  und  in  den  sie  sich  wieder  zurückverwandelten  (af/xi]).  Still- 
schweigend war  in  diesem  Begriffe^)  die  Voraussetzung  der  Einheitlich- 
keit der  Welt  enthalten :  ob  die  Milesier*)  schon  dieselbe  zu  rechtfertigen  such- 
ten, wissen  wir  nicht.  Erst  ein  späterer  eklektischer  Nachzügler '^)  hat  diesen 
Monismus  durch  die  Umsetzung  aller  Dinge  in  einander,  durch  den  ausnahms- 
losen Zusammenhang  aller  Dinge  mit  einander  zu  rechtfertigen  gesucht. 

1.  Dass  aber  dem  ganzen  Naturprocess  ein  einheitUcher  Weif  stoff  zu  Grunde 
hege,  erscheint  in  der  alten  Ueberlieferung  als  eine  selbstverständliche  Voraus- 
setzung der  jonischen  Philosophie:  es  handelte  sich  für  diese  nur  darum,  zu  be- 
stimmen, was  dieser  Grundstoff  sei.  Da  lag  es  denn  am  nächsten,  ihn  unter  den 
erfahrungsmässig  gegebenen  zu  suchen,  und  so  erklärte  Thaies  dafür  das 
AVasser,  Anaximene  s  die  Luft,  Massgebend  war  bei  dieser  Wahl  vermuth- 
lich nur  die  Beweglichkeit,  Verwandelbarkeit  und  scheinbar  innere  Lebendig- 
keit ^)  von  Wasser  und  Luft,  auch  dachten  die  Milesier  dabei  offenbar  weniger 
an  die  chemischen  Eigenthümhchkeiten  des  Wassers  und  der  Luft,  sondern  nur 
an  die  betreffenden  Aggregatzustände '').    Während  das  Feste  als  das  an  sich 

1)  Vgl.  über  den  philosophischen  Werth  des  ^aoadCeiv  Arist.  Met.  I  2,  982  b  12.  — 
2)  Fragm.  (Schust.)  41—44,  60,  63,  67.—  3)  Den  Aristoteles  Met.  I  3,  983  b  8  nicht  ohne  Bei- 
mischung eigener  Kategorien  definirt  hat. —  4)  Den  Ausdruck  apX"'!»  der  übrigens  die  Erinnerung 
an  die  zeitlichen  Phantasien  der  Kosmologen  an  sich  trägt,  soll  nach  Simplicius  zuerst  Auaxi- 
mander  gebraucht  haben.  —  5)  Diogenes  von  ApoUonia,  vgl.  Simpl.  phys.  (D.)  32«"  151,  30 
und  Arist.  Gen.  et  Corr.  I  6,  322b  13.  —  6)  Schol.  in  Arist.  514a  33.  —  7)  Für  58ü>p  wird 
häufig  ü-ypov  substituirt.  Ueber  den  orf]p  des  Anaximenes  lauton  die  Berichte  so,  dass  man  ver- 
sucht hat,  seine  metaphysische  „Lufb**  von  der  empirischen  zu  unterscheiden:  Ritter  T,  217*, 
Bbaxdis  I,  144. 


§  4.   Begriffe  des  Seine.  (Thaies,  Anaximander,  Anaximenes.)  25 

Todte  nur  von  aussen  Bewegte  erscheint,  macht  das  Flüssige  und  Flüchtige  den 
Eindruck  selbständiger  Beweglichkeit  und  Lebendigkeit:  und  die  monistische 
Voreingenommenheit  dieses  ersten  Philosophirens  war  so  gross,  dass  die  Milesier 
gar  nicht  daran  dachten,  nach  einem  Grunde  der  unaufhörlichen  Verwandlung 
des  Weltstoffs  zu  fragen,  sondeni  diese,  wie  das  Geschehen  überhaupt,  als  eine 
selbstverständliche  Thatsache  hinnahmen,  deren  einzelne  Formen  sie  höchstens 
beschrieben.  Der  Weltstoff  galt  ihnen  als  ein  in  sich  Lebendiges,  sie  dachten  ihn 
sich  so  selbstbelebt,  wie  im  Einzelnen  die  Organismen  sich  darstellen  ^),  und  des- 
halb pflegt  ihre  Lehre  vom  Standpunkt  der  späteren  Begriffsscheidung  aus  als 
Hylozoismus  charakterisirt  zu  werden. 

2.  Fragen  wir  aber,  weshalb  Anaximenes,  dessen  Lehre  sich,  wie  die  des 
Thaies,  in  den  Grenzen  der  Erfahrung  gehalten  zu  haben  scheint,  an  die  Stelle 
des  Wassers  die  Luft  setzte,  so  erfahren  wir'^),  dass  er  in  ihr  ein  Merkmal  zu 
finden  glaubte,  das  dem  Wasser  abging,  das  aber  sein  Vorgänger  Anaximander 
für  den  Begriff  des  Urstoffs  als  unerlässUch  postulirt  hatte:  dasjenige  der  Un- 
endlichkeit. Als  Motiv  dieses  Postulats  des  Anaximander  wird  das  Argu- 
ment berichtet,  dass  ein  endlicher  Weltstoff  sich  in  der  unablässigen  Reihenfolge 
von  Eraeugungen  erschöpfen  würde  ^).  Anaximander  aber  hatte  auch  eingesehen, 
dass  diese  Anforderung  des  Begriffs  der  ap/nj  von  keinem  der  wahrnehmbaren 
Stoffe  ei-fiillt  werden  könne,  und  er  hatte  deshalb  den  Weltstoff  über  alle  Er- 
fahrung hinausgesetzt.  Er  behauptete  kühnlich  die  Realität  eines  Urgrundes  der 
Dinge,  welcher  alle  Eigenschaften  besässe,  die  nothweudig  seien,  wenn  man  den 
Wechsel  der  Erfahrungswelt  aus  einem  Bleibenden,  selbst  allem  Wechsel  Ueber- 
hobenen  ableiten  wolle,  auch  wenn  man  einen  solchen  unter  den  erfahrenen  nicht 
fände.  Er  zog  aus  dem  Begriffe  der  apyTj  die  Consequenz,  dass,  wenn  demselben 
kein  Gegenstand  der  Erfahrung  entsprach,  er  trotzdem  zur  Erklärung  der  Er- 
fahrung als  liinter  derselben  wirkUch  und  sie  bedingend  angenommen  werden 
niüsste.  Er  nannte  darum  den  Weltstoff  „das  Unendliche"  {t6  äiustpov)  und 
schrieb  ihm  alle  die  begrifflich  postulirten  Merkmale  der  äp-pi  zu :  Unentstanden- 
heit  und  Unvergänghchkeit,  Unerschöpflichkeit  und  Unzerstörbarkeit. 

Der  in  dieser  Weise  von  Anaximander  construirte  Begriff  der  Materie 
ist  jedoch  nur  in  der  Hinsicht  klar,  dass  er  die  räumliche  Unendlichkeit  und  die 
zeitliche  Anfangs-  und  Endlosigkeit  in  sich  enthalten  und  damit  das  Merkmal 
des  Allumfiassens  und  Allbestimmens  *)  vereinigen  soll:  dagegen  ist  er  unauf hell- 
bar hinsichtlich  der  qualitativen  Bestimmung,  welche  der  Philosoph  etwa 
darunter  hatte  verstanden  Avissen  wollen.  Sj)ätere  Nachrichten  legen  die  Deutung 
nahe,  er  habe  ausdinicklich  eine  qualitative  Unbestimmtheit  des  Urstoffs  behaup- 
tet (aöptotoc)^),  während  die  Angaben  des  Aristoteles  *)  mehr  für  die  Annahme 
einer  durchweg  ausgeglichenen  und  deshalb  im  Ganzen  indifferenten  Mischung 
aller  empirischen  Stoffe  sprechen.  Das  Wahrscheinliche  ist  hier  noch,  dass  Ana- 
ximander die  unklare  Vorstellung  des  mythischen  Chaos,  welches  Eins  und  doch 

1)  Plut.  plac.  I,  3  (Doxogr.  D.  278).  Vielleicht  ist  auch  dies  bei  der  Vermuthung  des 
Aristoteles,  Met.  I  3,  983b  22  gemeint.  —  2)  Simpl.  phys.  (D.)  6r  24,  26.  —  3)  Plut.  Plac.  I  3 
(Doxogr.  D.  277).  Aristot.  Phys.  III  8,  208  a  8.  —  4)  Arist.  phys.  III  4,  203 b  7.  —  5)  Schol. 
in  Arist.  514  a  33.  Herbart,  Einleitung  in  die  Philosopliie.  Ges.  W.  I,  196.  —  6)  Met.  XII 2, 
1069  b  18  und  besonders  Phys.  1  4,  187  a  20.  Vgl.  auch  Simpl.  phys.  (D.)  33r  154,  14  (nach 
Theophrast).  Näheres  über  diese  viel  verhandelte  Controverse  wird  noch  unten  (§  6)  aur 
Sprache  kommen. 


26  !•  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

auch  Alles  ist,  begrifflich  reproducirt  hat,  indem  er  als  den  Weltstoff  eine  unend- 
liche Körpermasse  annahm,  in  der  die  verschiedenen  empirischen  Stoffe  so 
gemischt  seien,  dass  ihr  im  Ganzen  keine  bestimmte  Qualität  mehr  zugeschrieben 
werden  dürfe,  dass  aber  deshalb  auch  die  Ausscheidung  der  EinzelquaUtäten  aus 
dieser  selbstbewegten  Materie  nicht  mehr  als  eigentliche  quaUtative  Veränderung 
derselben  angesehen  werden  könnte.  Damit  wäre  allerdings  der  Begriff  der 
Welteinhcit  in  qualitativer  Hinsicht  aufgegeben  und  der  späteren  Entwicklung 
wesentlich  vorgearbeitet  gewesen. 

3.  Noch  ein  weiteres  Prädikat  gab  Anaximander  dem  Unendliclien :  tö 
ö-stov.  Als  eine  letzte  Erinnerung  an  den  religiösen  Vorstellungsheerd,  dem  das 
wissenschaftliche  Nachdenken  entsprang,  zeigt  es  zum  ersten  Mal  die  in  der  Ge- 
schichte stetig  wiederkehrende  Neigung  der  Philosophen,  den  höchsten  Welt- 
erkläruugsbegriff,  zu  dem  sie  die  Theorie  geführt  hat,  als  „Gottheit"  anzuschauen 
und  ihm  damit  zugleich  eine  Weihe  für  das  rehgiöse  Bewusstsein  zu  geben. 
Anaximauder's  Materie  ist  der  erste  philosophische  Gottesbegriff,  der  erste,  noch 
ganz  im  Physischen  stecken  bleibende  Versuch,  die  Gottesvorstellung  aller 
mytliischen  Form  zu  entkleiden. 

Indem  sich  aber  so  das  religiöse  Bedürfniss  in  der  metaphysischen 
Begriffsbestimmung  aufrecht  erhielt,  wurde  die  MögUchkeit  einer  Einwirkung  der 
Resultate  der  Wissenschaft  auf  das  religiöse  Leben  um  so  näher  gelegt,  je  mehr 
dieselben  einem  darin  bisher  nur  dunkel  und  unsicher  waltenden  Triebe  ent- 
gegenkamen. Die  Umwandlung,  welche  die  griechischen  Mythen  sowohl  im  Sinne 
der  kosmogonischen  Phantasie,  als  auch  in  demjenigen  der  ethischen  Deutung 
erfahren  hatten,  drängte  überall  auf  eine  monotheistische  Zuspitzung  hin  (Phe- 
rekydes,  Solon) :  und  dieser  Bewegung  wurde  nun  ilir  Schluss^rgebniss,  der  klar 
ausgesprochene  Monismus,  von  der  Wissenschaft  dargeboten. 

Dies  Verhältniss  hat  Xenophanes  zum  Ausdruck  gebracht,  kein  Denker 
und  Forscher,  aber  ein  phantasievoller  und  überzeugungsstarker  Jünger  der 
Wissenschaft,  der  die  neue  Lehre  von  Ost  nach  West  trug  und  ihr  eine  durchweg 
religiöse  Färbung  gab.  Seine  Behauptung  des  Monotheismus,  die  er  als 
begeisteile  Anschauung  dahin  aussprach  ^),  dass,  wohin  er  auch  blicke.  Alles 
ihm  immer  in  das  eine  Wesen  ([ttav  etc  ^ootv)  zusammenfliese,  nahm  nun  aber 
gleich  die  scharf  polemische  Wendung  gegen  den  Volksglauben,  welche  ihn  haupt- 
sächlich literarisch  charakterisirt.  Der  Spott,  welchen  er  geistvoll  über  den 
Anthropomorphismus  der  Mythologie  ausgoss  ^),  der  Zorn,  womit  er  die  Dichter 
als  die  Bildner  dieser  mit  allen  Schwächen  und  Lastern  der  Menschennatur  aus- 
gestatteten Göttergestalten  verfolgte*),  —  sie  beruhen  auf  einer  Gottesvorstellung, 
welche  das  höchste  Wesen  in  leibhcher  wie  in  geistiger  Hinsicht  als  unvergleich- 
lich mit  dem  Menschen  betrachtet  haben  will.  Dunkler  wird  Xenophanes,  wenn 
er  zu  positiven  Bestimmungen  übergeht.  Einerseits  wird  die  Gottheit  als  iv  xal 
Tuav  mit  dem  Weltall  identificirt  und  diesem  Weltgott  dann  die  Gesammtheit 
der  Prädikate  der  milesischen  ipyri  (Ewigkeit,  Ungewordenheit,  Unvergänglich- 
keit)  zugeschrieben,  andrerseits  werden  der  Gottheit  theils  räumliche  Eigen- 
schaften wie  die  Kugelgestalt,  theils  aber  psychische  Functionen  zugeschrieben, 
in  denen  die  Allgegenwart  des  Wissens  und  vernünftigen  Leitens  der  Dinge  aus- 

1)  Timon  bei  Scxt.  Enip.  Pyrrh.  hyp.1, 224.  -  2)  Clem.  Alex.  Strom.  V,  601.  -  3)  Sext. 
Enip.  adv.  raath.  IX,  193. 


§  4.    Begriffe  des  Seins,   (Xenophanes,  Heraklit.)  27 

gedrückt  wird.  In  dieser  Hinsicht  erscheint  der  Weltgott  des  Xenophanes  nur 
als  der  höchste  unter  den  übrigen  „Göttern  und  Menschen". 

OfiFenbart  sich  schon  darin  eine  vorwaltend  theologische  Wendung  der 
Philosophie,  so  zeigt  sich  der  Austausch  des  metaphysisch-naturwissenschafthcheu 
gegen  den  religiösen  Gesichtspunkt  von  Anaximander  zu  Xenophanes  in  zwei 
wesentlichen  Abweichungen.  Der  Begriff  des  Weltgottes  ist  für  den  letzteren 
Gegenstand  reUgiöser  Verehrung  und  kaum  noch  Mittel  des  Naturverständnisses. 
Der  Sinn  für  die  Naturerkenntniss  ist  bei  dem  Kolophonier  gering,  seine  Vor- 
stellungen zum  Theil  selir  kindhch  und  den  Milesiem  gegenüber  zurückgeblieben. 
Und  so  war  ihm  das  Merkmal  der  Unendlichkeit;  dessen  die  milesische  Wissen- 
schaft in  dem  Weltstoff  zu  bedürfen  meinte,  entbelirlich ;  dagegen  schien  es  ihm 
der  Würde  des  göttlichen  Wesens  angemessener  *),  dasselbe  in  sich  begrenzt,  ganz 
in  sich  geschlossen,  folghch  in  räumHcher  Hinsicht  kugelgestaltig  zu  denken.  Und 
während  die  Milesier  den  Urgrund  der  Dinge  als  von  sich  aus  ewig  bewegt  und 
in  sich  zu  lebendiger  Mannigfaltigkeit  gestaltet  dachten,  strich  Xenophanes  dies 
Postulat  der  Naturerklärung  und  erklärte  den  Weltgott  für  unbewegKch  und  in 
allen  seinen  Theilen  vollkommen  gleichartig.  Wie  er  sich  freihch  damit  verein- 
bar die  Mannigfaltigkeit  der  Einzeldinge  gedacht  hat,  an  deren  Bealität  er  nicht 
zweifelte,  das  muss  daliingestellt  bleiben. 

4.  Der  milesische  Begriff  der  Weltsubstanz  hatte,  wie  es  der  Begriff  der 
Veränderung  verlangt,  die  Momente  des  Sich-selbst-gleichbleibens  und  der  selb- 
ständigen Veränderlichkeit  ohne  klare  Abgrenzung  mit  einander  vereinigt :  bei 
Xenophanes  wurde  das  erste  Moment  isolirt ;  hinsichthch  des  zweiten  geschah 
dasselbe  durch  Heraklit.  Seine  Lehre  setzt  die  Arbeit  der  Milesier,  von  deren 
Abschluss  sie  aber  durch  eine  Generation  getrennt  ist,  in  der  Weise  voraus,  dass 
das  Bestreben  derselben,  zur  Begriffsbestimmung  eines  bleibenden  Weltgrundes 
zu  gelangen,  als  aussichtslos  erkannt  worden  ist.  Es  giebt  nichts  Bleibendes 
weder  in  der  Welt  noch  in  ihrem  Gesammtbestande.  Nicht  nur  die  einzelnen 
Dinge,  sondern  auch  das  Weltall  als  Ganzes  ist  in  ewiger,  unablässiger  Umwälzung 
begriffen:  Alles  fliesst  und  Nichts  bleibt.  Man  kann  von  den  Dingen  nicht 
sagen,  dass  sie  sind;  sie  werden  nur  und  vergehen  in  dem  ewig  wechselnden  Spiele 
der  Weltbewegung.  Was  also  bleibt  und  den  Namen  der  Gottheit  verdient,  das  ist 
kein  Ding  und  kein  Stoff,  sondern  die  Bewegung,  das  Geschehen,  dasWe  r  d  e  n  selbst. 

Der  starken  Zumuthung,  welche  mit  dieser  Wendung  an  die  Abstraction 
gemacht  zu  sein  scheint,  kam  aber  bei  Heraklit  die  sinnliche  Anschauung  ent- 
gegen, in  welcher  sich  ihm  diese  Bewegung  darstellte:  diejenige  des  Feuers. 
Die  Mitwirkung  desselben  bei  der  Umsetzung  der  Naturdinge  in  einander  war 
schon  den  Milesiem  nicht  entgangen;  dazu  mochten  altorientalische  mythische 
Voratellungen  hinzutreten ,  die  der  Contact  mit  den  Persern  den  Joniern  jener 
Tage  besonders  nahe  brachte.  Wenn  aber  Heraklit  die  Welt  für  ein  ewig  leben- 
diges Feuer,  das  Feuer  also  für  das  Wesen  aller  Dinge  erklärte,  so  versteht  er 
unter  dieser  apx^  nicht  einen  alle  seine  Verwandlungen  überdauernden  Stoff,  son- 
dern eben  die  züngelnde  Verwandlung  selbst,  das  Auf-  und  Abschweben  des 
Werdens  und  Vergehens  *). 

1)  Hippol.  Ref.  I,  14.  (Doxogr.  [DJ  565).  An  andern  Stellen  heisst  es  wieder,  er  habe 
die  Gottheit  weder  begrenzt  noch  unbegrenzt  gedacht  haben  wollen  (?).  —  2)  Die  Schwierig- 
keit, einer  solchen  substratlosen  Bewegung,  einem  blossen  Werden  die  höchste  Bealität  und 


28  I.  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

Dabei  aber  nimmt  diese  Vorstellung  doch  zugleich  noch  festere  Gestalt  an, 
indem  Heraklit  viel  energischer  als  die  Milesier  hervorhob,  dass  dieser  Wechsel 
nach  bestimmten  Verhältnissen  und  in  einer  immer  sich  gleich  bleibenden  Reihen- 
folge sich  vollzieht  *).  Dieser  Rhythmus  des  Geschehens  (das,  was  spätere  Zeiten 
die  Gesetzmässigkeit  der  Natur  genannt  haben)  ist  also  das  einzig  Dauernde;  er 
wird  von  Heraklit  als  das  Geschick  (sijiapijiivTj),  als  die  Ordnung  (StxYj),  als  die 
Vernunft  (Xö^oc)  der  Welt  bezeichnet.  Diese  Bestimmungen,  wonach  physische, 
ethische  und  logische  Weltordnung  noch  als  identisch  erscheinen,  beweisen  nur 
den  unentwickelten  Zustand  des  Denkens,  welches  die  verschiedenen  Motive  noch 
nicht  zu  sondern  weiss :  der  Begriff  aber,  den  HerakUt  mit  voller  Klarheit  er- 
fasst  und  mit  der  ganzen  Strenge  seiner  herben  Persönlichkeit  durchgeführt  hat, 
ist  derjenige  der  Ordnung,  ein  Begriff  jedoch,  dessen  Geltung  für  ihn  ebenso 
Sache  der  Ueberzeugung,  wie  der  Erkenntniss  wai\ 

5.  In  sichtUchem  Gegensatz  zu  dieser  Lehre  des  Ephesiers  ist  nun  von 
Parmenides,  dem  Haupte  dereleatischen  Schule  und  dem  bedeutendsten  Denker 
dieser  Periode,  der  Begriff  des  Seins  herausgearbeitet  worden.  Doch  ist  es  nicht 
leicht,  die  Formulirung  desselben  aus  den  wenigen  Fragmenten  seines  Lehr- 
gedichts zu  reconstruiren ,  dessen  ganz  einziger  Charakter  in  der  Verbindung 
trockenster  Abstraction  mit  grossartiger,  bilderreicher  Phantasie  besteht.  Dass 
es  ein  Sein  giebt  ßozi  ^dp  sivat),  ist  für  den  Eleaten  ein  begriffliches  Postulat  von 
so  zwingender  Evidenz,  dass  er  diese  Behauptung  nur  Iiinstellt,  ohne  sie  zu  be- 
weisen, und  dass  er  sie  nur  durch  eine  negative  Wendung  erläutert,  welche  uns 
erst  über  den  Sinn  seines  Hauptgedankens  völligen  Aufschluss  giebt.  Das  „Nicht- 
sein'^ ((i-Yj  eivat),  fügt  er  nämlich  hinzu,  oder  das  Nichtseiende  (tö  (iy)  iöv)  könne 
nicht  sein  und  könne  nicht  gedacht  werden.  Denn  alles  Denken  bezieht  sich  auf 
ein  Seiendes,  das  seinen  Inhalt  bildet  ^).  Diese  Auffassung  der  Correlativität  von 
Sein  und  Bewusstsein  führt  bei  Parmenides  so  weit,  dass  beides.  Denken  und  Sein, 
fiir  völhg  identisch  erklärt  wird.  Kein  Denken,  dessen  Inhalt  nicht  das  Sein  zu- 
käme —  kein  Sein,  das  nicht  gedacht  würde:  Denken  und  Sein  sind  dasselbe. 

Diese  Sätze,  welche,  wörtlich  bedachtet,  so  abstract  ontologisch  aussehen, 
nehmen  nun  aber  eine  ganz  andere  Bedeutung  an,  wenn  man  beachtet,  dass  die 
Fragmente  des  grossen  Eleaten  keinen  Zweifel  darüber  lassen,  was  er  als  das 
„Sein"  oder  das  „Seiende"  hat  angesehen  wissen  wollen:  nämlich  die  Körper- 
lichkeit, die  Materiahtät  (tö  wXdov).  Für  ihn  sind  „Sein"  und  „Raumerfullen" 
dasselbe.  Dies  „Sein",  diese  Fimction  der  Raumerfüllung  ist  aber  bei  allem 
„Seienden"  genau  die  gleiche;  daher  giebt  es  nur  das  Eine,  einheitliche,  unter- 
schiedslose Sein.  Andrerseits  bedeutet  somit  das  „Nichtsein"  oder  das  „Nicht- 
seiende" die  Körperlosigkeit,  den  leeren  Raum  (tö  tcevöv).  Dieser  von  Par- 
menides durchgeführte  Doppelsinn  des  sivat,  wonach  dasselbe  einmal  „das  Volle'* 
und  das  andere  Mal  „Realität"  bedeutet,  führt  also  zu  dem  Satze,  dass  der 
leere  Raum  nicht  sein  kann. 

die  Erzeugungsfähigkeit  für  die  Dinge  zuzuschreiben,  ist  fiir  das  unentfaltete,  seinex*  eigenen 
Kategorien  noch  nicht  bewusste  Denken  offenbar  sehr  viel  geringer  gewesen,  als  für  die  spatere 
Auffassung.  Die  zwischen  symbolischer  und  realer  Bedeutung  schwebende  Anschauung  des 
Werdens  als  Feuer  wird  durch  den  sprachlichen  Ausdruck  unterstützt,  welchewiuch  Functionen 
und  Verhältnisse  als  Substantive  behandelt.  Ebenso  aber  verschmäht  es  Heraklit  auch  nicht, 
im  bildlichen  Ausdruck  (vom  immer  neu  gekneteten  Thon,  vom  inmier  neu  umgerührten  Misch- 
trank)  die  dunkle  Vorstellung  einer  Weltsubstanz  im  Hintei'gnmde  bestehen  zu  lassen.  — 
1)  Das  Nähere  darüber  im  folgenden  Paragraphen.  —  2)  Fr.  ed.  Karsten  v.  94ff. 


§  4.    Begriffe  des  Seins.   (Parmenides.)  29 

Nun  besteht  aber  für  die  naiv-sinnliche  Auflfassung,  die  ja  auch  in  diesen 
principiellen  Bestimmungen  des  Parmenides  steckt,  die  Gesondertheit  der  Dinge, 
vermöge  deren  sie  sich  in  ihrer  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  darstellen,  in  ihrer 
Trennung  durch  den  leeren  Raum,  und  andrerseits  besteht  alles  körperliche  Ge- 
schehen, d.  h.  alle  Bewegung  in  der  Ortsveränderung,  welche  das  „Volle"  im 
„Leeren"  erleidet.  Ist  daher  das  Leere  nicht  wirkUch,  so  können  auch  die  Viel- 
heit und  die  Bewegung  der  Einzeldinge  nicht  wirklich  sein. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge,  welche  die  Erfahrung  in  Coexistenz  und 
Succession  darbietet,  war  den  MQesiem  Anlass  gewesen,  nach  dem  gemeinsamen 
bleibenden  Grunde  zu  fragen,  dessen  Verwandlungen  sie  alle  seien.  Mit  dem 
Begriffe  des  Seins,  zu  welchem  Parmenides  den  des  Weltstoflfs  zuspitzt,  erscheinen 
diese  Einzeldinge  so  wenig  vereinbar,  dass  ihnen  die  Realität  abgesprochen  wird, 
und  jenes  eine,  einheitliche  Sein  auch  als  das  einzige  übrig  bleibt^).  Der  Er- 
klärungsbegrifiF  hat  sich  so  in  sich  selber  ausgebildet,  dass  seine  Behauptung  die 
Leugnung  des  durch  ihn  zu  Erklärenden  einschliesst.  In  diesem  Sinne  ist  der 
Eleatismus  Akosmismus:  in  dem  Alleinen  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge 
untergegangen ;  jenes  allein  „ist",  diese  sind  Trug  und  Schein. 

DemEinenaberkommennachParmenides  Ewigkeit,  Ungewordenheit,  Unver- 
gängUchkeit,  besonders  aber  auch  (wie  schon  Xenophanes  behauptet  hatte)  vöUige 
Einerleiheit,  unterschiedslose  Sich-selbst-gleichheit,  d.  h.  durchgängige  Homo- 
geneität  und  absolute  Unveränderiichkeit  zu :  und  auch  darin  folgt  er  Xenophanes, 
dass  er  dasselbe  als  in  sich  begrenzt,  fertig  und  abgeschlossen  betrachtet  haben 
will.  Das  Sein  ist  also  eine  wohl  gerundete,  in  sich  vollkommen  gleichartige 
Kugel,  und  dieser  einzige  und  einheitliche  Weltkörper  ist  zugleich  der  einfache, 
alle  Besonderheiten  von  sich  ausschliessendeW  eltgedanke.'TÖ  ^ap  äX§ov  iazl  vör^jia. 

6.  Aller  dieser  zum  Theil  phantastischen,  zum  Theil  rücksichtslos  abstrakten 
Versuche  hat  es  bedurft,  um  die  Voraussetzungen  für  die  Entwicklung  der  ersten 
brauchbaren  Begrifle  der  Naturauffassung  zu  gewaliren.  Denn,  so  wichtige 
Denkmotive  darin  zur  Geltung  gekommen  waren,  —  verwendbar  für  die  Natur- 
erklärung waren  weder  der  Weltstoff  der  Milesier,  noch  das  Feuer- Werden 
Heraklit's,  noch  das  Sein  des  Parmenides.  Nun  war  die  Unfertigkeit  des  ersteren 
durch  den  klaffenden  Gegensatz  der  beiden  letzteren  klar  geworden  und  damit 
der  Anlass  dafür  gegeben,  dass  die  selbständigeren  Forscher  der  nächsten  Zeit 
beide  Motive  von  einander  begrifflich  sondern  und  aus  der  Gegenüberstellung 
neue  Beziehungsformen  erdenken  konnten,  aus  denen  dauernd  werthvoUe  Kate- 
gorien der  Naturerkenntniss  sich  ergaben. 

Gemeinsam  ist  diesen  Vermittlungsversuchen  einerseits  die  Aner- 
kennung des  eleatischen  Postulats,  dass  das  „Seiende"  durchaus  nicht  nur  als 
ewig,  ungeworden  und  unvergänglich,  sondern  auch  als  in  sich  gleichartig  und 
seinen  Eigenschaften  nach  unveränderlich  gedacht  werden  müsse,  andrerseits 
aber  auch  die  Zustimmung  zu  dem  heraklitischen  Gedanken,  dass  dem  Werden 
und  Geschehen,  damit  aber  auch  der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  eine  unleugbare 

1)  Die  sprachlichen  Zweideutigkeiten,  wonach  einestheils  das  sv  sowohl  das  numerisch 
Einzige  als  auch  das  pradicativ  Einheitliche  (Einfache)  bedeutet,  andern theils  das  Yerbum 
slvat  nicht  nur  die  Function  der  Copula,  sondern  auch  den  Sinn  der  „Realität**  hat,  spielen  in 
diesen  Ueberlegungen  des  Eleaten  offenbar  eine  grosse  Rolle.  —  2)  Bezeichnungen,  wie 
Materialismus  und  Idealismus,  treffen  daher  für  diese  naive  Identification  des  Bewusstseins 
und  seines  Objects,  der  Körperwelt,  nicht  zu. 


30  I-  Philosophie  der  Griechen.    1.  Kosmologische  Periode. 

Kealltät  zukomme :  und  gemeinsam  ist  ihnen  in  der  Vermittlung  dieser  beiden  Denk- 
bedürfnisse der  Versuch,  eine  Mehrheit  von  Seienden  anzunelimeii,  von  denen 
zwar  jedes  einzelne  für  sich  dem  Postulat  des  Parmenides  genüge,  die  aber  andrer- 
seits durch  den  Wechsel  ihrer  räumlichen  Beziehungen  die  veränderliche  Mannig- 
faltigkeit der  Einzeldinge,  welche  die  Erfahrung  zeigt,  herbeifuhren  sollten.  Hatten 
die  Milesier  von  den  eigenschaftlichen  (qualitativen)  Veränderungen  des  Welt- 
stoffs gesprochen,  so  schloss  das  eleatische  Princip  die  Möglichkeit  derselben  aus; 
sollte  trotzdem  mit  Heraklit  das  Geschehen  anerkannt  und  dem  Sein  selbst 
zuerkannt  werden,  so  musste  es  auf  eine  Art  der  Veränderung  reducirt  werden, 
welche  die  Eigenschaften  des  Seienden  unberührt  Hess :  eine  solche  war  aber  nur 
als  Ortsveränderung,  d.  h.  als  Bewegung  denkbai*.  Die  Naturforscher  des 
5.  Jahrhunderts  haben  daher  mit  den  Eleaten  die  (qualitative)  ünveränderHchkeit 
des  Seienden,  aber  gegen  die  Eleaten  diePluralität  und  die  Bewegung  desselben*), 
sie  haben  mit  Heraklit  die  ReaUtät  des  Geschehens  und  gegen  Heraklit  das  Sein 
dauernder  und  unveränderlicher  Träger  desselben  behauptet.  Ihre  gemeinsame 
Ansicht  ist  die :  es  giebt  eine  Mehrheit  von  Seienden,  welche,  an  sich  unveränderlich, 
durch  ihre  Bewegung  den  Wechsel  und  die  Vielheit  der  Einzeldinge  begreiflich 
machen. 

7.  Zuerst  und  in  der  unvollkommensten,  wenn  auch  historisch  sehr  weithin 
wirkenden  Form  scheint  dies  Princip  von  Empedoklcs  geltend  gemacht  worden 
zu  sein.  Als  die  „Elemente"^)  stellte  er  die  der  populären  VorstcUungsweise 
noch  heute  geläufigen  vier  auf:  Erde,  Wasser,  Luft  und  Feuer*).  Jedes  derselben 
sei  ungeworden  und  unzerstörbar,  in  sich  gleichartig  und  unveränderlich,  dabei 
aber  theilbar  und  in  diesen  Theilen  verschiebbar.  Aus  der  Mischung  der  Elemente 
entstehen  die  einzelnen  Dinge,  mit  der  Entmischung  hören  sie  wieder  auf,  und 
von  der  Art  und  Weise  der  Mischung  sollen  die  mannigfachen,  von  den  Eigen- 
schaften der  Elemente  selbst  noch  wieder  verschiedenen  Quahtäten  der  Einzeldinge 
herrühren. 

Dabei  macht  sich  nun  das  Merkmal  der  Unverändcrlichkeit  und  die  Ab- 
wendung von  demmilesischenHylozoismus  beiEmpedokles  in  dem  Masse  geltend, 
dass  er  diesen  nur  wechselnde  Bewegungszustände  und  mechanische  Mischungen 
erleidenden  Stoffen  die  selbständige  Bewegungsfähigkeit  nicht  zusprechen  konnte 
und  deshalb  nach  einer  von  den  vier  Stoffen  selbst  unabhängigen  Ursache  der 
Bewegung  suchen  musste.  Als  solche  bezeichnete  er  Liebe  und  Hass.  Doch 
ist  dieser  erste  Versuch,  einer  todten,  jeglicher  Eigenbewegung  durch  die  Abstrac- 
tion  entkleideten  Materie  die  sie  bewegende  Kraft  als  etwas  metaphysisch 
Selbständiges  gegenüberzustellen,  noch  sehr  dunkel  ausgefallen :  Liebe  und  Hass 
sind  bei  Empedokles  nicht  bloss  Eigenschaften,  Functionen  oder  Beziehungen 
der  Elemente,  sondern  denselben  gegenüber  selbständige  Mächte :  wie  aber  die 
Realität  dieser  Bewegungskräfte  zu  denken  sei,  darüber  geben  die  Fragmente 


1)  In  der  späteren  Literatur  (Aristotoles)  werden  aXXotuiCi?  (qualitative  Veränderung) 
und  xivYjat^  (Ortsveränderung)  einander  gegenübergestellt:  sachlich  geschieht  das  schon  hier, 
wenn  auch  die  Termini  nocli  fehlen.  —  2)  Statt  des  späteren  Ausdrucks  axor/sra  findet  sich 
bei  Empedokles  die  mehr  poetische  Bezeichnung  „Stammwiirzcln  aller  Dinge"  (fjiCuuLfx.'zrx), 
—  8)  Die  Auswahl  entsprang  neben  der  Anlehnung  an  die  Vorgänger  oflcnbar  wieder  der 
Neigung,  die  verschiedenen  Aggregatzustände  als  das  ursprüngliche  Wesen  der  Dinge  zu  be- 
traciiten.  Der  Vierzahl  selbst  scheint  dabei  keine  Bedeutung  zuzukommen :  die  dialectische 
Construction,  welche  Piaton  und  Aristoteles  dafür  gegeben  haben,  liegt  dem  Agrigentiner  fem. 


§  4.   Begriffe  des  Seins.   (Erapedokles,  Anaxagoras.)  3 1 

keinen  irgendwie  genügenden  Aufschluss  *).  Nur  das  scheint  sicher  zu  sein,  dass 
bei  der  Dualität  des  Bewegungsprincips  auch  der  Gedanke  mitgewirkt  hat,  es 
seien  für  das  Gute  und  das  Schlechte  in  dem  Wechsel  der  Er£ahrungsdinge  in 
Liebe  und  Hass  zwei  gesonderte  Ursachen  erforderlich*),  —  ein  erstes  Zeichen 
beginnender  Einmischung  von  "Werthbestimmungen  in  die  Naturtheorie. 

8.  Wenn  Empedokles  es  für  möglich  erachtet  hat,  aus  der  Mischung  der 
vier  Elemente  die  Sonderqualitäten  der  Einzeldinge  herzuleiten  (ob  und  wie  er 
das  versuchte,  wissen  wir  freilich  nicht),  so  war  dieser  Schwierigkeit  Anaxago  ras 
überhoben,  welcher  aus  dem  eleatischen  Pnncip,  dass  nichts  Seiendes  entstehen 
oder  vergehen  könne,  den  Schluss  zog,  dass  so  viele  Elemente  ^)  angenommen 
werden  müssen,  als  sich  in  den  Erfahrungsdingen  einfache,  bei  der  Theilung 
immer  wieder  in  lauter  sich  selbst  quahtativ  gleiche  Theile  zerfallende  Stoffe 
vorfinden.  Solche  Stoffe  sind  seiner  Bestimmung  gemäss  später  H  o  m  ö  o  - 
merien  genannt  worden.  Dieser  (im  Princip  demjenigen  der  heutigen  Chemie 
durchaus  entsprechende)  Begriff  des  Elements  traf  aber  bei  dem  damaligen  Stande 
der  Kenntniss,  welche  nur  mechanische  Spaltung  oder  Temperaturveränderung 
als  üntersuchungsmittel  kannte,  auf  die  grösste. Anzahl  der  erfahrungsmässig 
gegebenen  Stoffe*)  zu,  und  deshalb  behauptete  Anaxagoras,  es  gäbe  unzählige 
Elemente,  verschieden  an  Gestalt,  Farbe  und  Geschmack.  Sie  seienin  unendlich 
feiner  Vertheilung  durch  das  ganze  Weltall  hindurch  gegeben;  ihr  Zusammentreten 
('3?')7xptotc)  mache  das  Entstehen,  ihr  Auseinandertreten  (Stdxpiotc)  das  Vergehen 
der  Einzeldinge  aus:  und  dabei  sei  in  jedem  Dinge  von  jedem  Stoff  etwas  vorhanden, 
nur  für  unsere  sinnliche  Auffassung  nähme  das  einzelne  Ding  die  Eigenschaften 
desjenigen  Stoffes  oder  derjenigen  Stoffe  an,  welche  darin  in  überwiegender 
Masse  enthalten  seien. 

Die  Elemente,  als  das  Seiende,  gelten  nun  auch  für  Anaxagoras  als  ewig, 
anfangs-  und  endlos,  unveränderlich  und  wenn  auch  im  Räume  bewegUch,  so  doch 
für  sich  selbst  unbewegt.  Es  muss  daher  auch  hier  nach  einer  Kraft  gefragt  wer- 
den, welche  Ursache  der  Bewegung  ist:  da  aber  doch  auch  diese  Kraft  als  ein 
Seiendes  angesehen  werden  muss,  so  verfiel  Anaxagoras  auf  den  Ausweg,  sie  einem 
besonderen  einzelnen  Stoffe  zuzuweisen.  Dies  Kraftelement  oder  dieser  Be- 
wegungsstoff soll  das  leichteste,  feinste,  bewegUchste  aller  Elemente  sein:  es 
ist  im  Unterschiede  von  allen  anderen  diejenige  Homöomerie,  welche  allein  von 
selbst  in  Bewegung  ist  und  diese  ihre  Eigenbewegung  den  übrigen  mittheilt:  sie 
bewegt  sich  und  die  übrigen.  Das  innere  Wesen  aber  dieses  Kraftstoffs  zu  be- 
stimmen, vereinigen  sich  zwei  Gedankenreihen :  Ursprünglichkeit  der  Bewegung 
ist  für  die  naive  Weltauffassung  das  sicherste  Kennzeichen  des  Beseelten;  dieser 
exceptionelle  Stoff  also,  der  von  sich  aus  bewegt  ist,  muss  der  Seelenstoff,  seine 
Qualität  muss  das  Seelische  sein.  Und  zweitens:  eine  Kraft  wird  durch  ihre 
Wirkung  erkannt;  wenn  nun  dieser  Bewegungsstoff  die  Ursache  der  Weltgestal- 
tung ist,  zu  der  er  die  übrigen  trägen  Elemente  entmischt  hat,  so  wird  man  aus 


1)  Wenn  «ptXta  und  velxo^  gelep^entlich  von  den  späteren  Berichterstattern  als  fiinfle 
und  sechste  cip-j/fy  des  Empedokles  gezählt  werden,  so  darf  man  daraus  wohl  nicht  schliessen, 
dass  er  sie  auch  fiir  Stoffe  gehalten  hatte.  Seine  dunkle,  fast  mythische  Bezeichnungsweise 
beruht  zum  gross ten  Theil  auf  der  sprachlichen  Substantivirung  der  Functionsbegriffe.  — 
2)  Arist.Met.!  4,  984  b  32.  —  3)  Er  nannte  sie  a^cspjjLaxa  (Samen  der  Dinge),  oder  auch  einfach 
vp'fjji.aTa  (Substanzen).  —  4)  Nach  den  Fragmenten  des  Anaxagoras  z.  B.  auch  Knochen, 
Fleisch,  Mark;  andrerseits  die  Metalle. 


32  !•  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologischc  Periode. 

dieser  seiner  Leistung  sein  Wesen  erkennen  müssen.  Nun  macht  aber  das  Welt- 
all, insbesondere  der  gleichmässige  Umschwung  der  Gestirne,  den  Eindruck 
schöner  und  zweckmässiger  Ordnung  (xd(3(io<;).  Eine  solche  harmonische 
Bewältigung  riesiger  Massen,  dieser  ungestörte  Kreislauf  zahlloser  Weltkörper, 
denen  Anaxagoras  seine  bewundernde  Betrachtung  zuwandte,  schien  ihm  nur  das 
Ergebniss  eines  zweckmässig  anordnenden  und  die  Bewegungen  beherrschenden 
Geist  es  sein  zu  können.  Deshalb  charakterisirte  er  den  KraftstoflF  als  Vernunft 
(voö<;)  oder  als  Denkstoff. 

Der  voüc  des  Anaxagoras  ist  also  ein  StofiF,  ein  körperliches  Element,  in  sich 
gleichartig,  unerzeugt  und  unvergänglich,  in  feiner  Vertheilung  durch  die  ganze 
Welt  ergossen,  aber  von  allen  anderen  StoflFen  nicht  nur  graduell  als  der  feinste, 
leichteste,  beweglichste,  sondern  auch  wesentHch  darin  verschieden,  dass  er  allein 
von  sich  selbst  aus  bewegt  ist  und  vermöge  dieser  Eigenbewegung  auch  die  an- 
deren Elemente  in  der  zweckmässigen  Weise  bewegt,  welche  sich  in  der  Ordnung 
der  Welt  zu  erkennen  giebt.  Diese  Betonung  der  Ordnung  im  Weltall  ist  ein 
heralditisches  Moment  in  der  Lehre  des  Anaxagoras,  und  der  Schluss  von  den 
geordneten  Bewegungen  auf  eine  vernünftige,  zweckthätige  Ursache  derselben  ist 
das  erste  Beispiel  der  teleologischen  Naturerklärung*).  Mit  ihm  wird  aus- 
drücklich der  WerthbegrifF  der  Schönheit  und  Vollkommenheit  auch  theoretisch 
zum  Erklärungsprincip  gemacht. 

9.  In  entgegengesetzter  Richtung  hat  sich  aus  dem  eleatischen  Seinsbegriffe 
der  Atomismus  Leukipp's  entwickelt.  Während  Empedokles  die  meta- 
physische Ursprünglichkeit  einiger  und  Anaxagoras  diejenige  aUef  Qualitäten 
behaupteten,  blieb  der  Gründer  der  abderitischen  Schule  bei  der  Ansicht  des  Par- 
menides  stehen ,  dass  der  ganzen  Mannigfaltigkeit  quaUtativer  Bestimmungen, 
welche  die  Erfahrung  aufweist,  kein  „Sein'^  zukomme,  dass  vielmehr  die  einzige 
Eigenschaft  des  Seienden  die  Raumei'füllung,  die  Körperlichkeit,  tö  ttXsov, 
sei.  Sollte  nun  aber  trotzdem  die  Vielheit  der  Dinge  und  der  Wechsel  des  zwischen 
denselben  stattfindenden  Geschehens  begreiflich  gemacht  werden,  so  musste  an 
die  Stelle  des  einzigen  imd  in  sich  unterschiedslosen  Weltkörpers,  den  Parmenides 
gelehrt  hatte,  eine  Vielheit  solcher  Seienden  treten,  die  von  einander  nicht  wieder 
durch  Seiendes,  sondern  nur  durch  Nichtseiendes,  d.  h.  durch  UnköriJerliches, 
durch  den  leeren  Raum  gesondert  wurden.  Diesem  Nichtseienden  musste  daher 
doch  wieder  eine  Art  von  Sein,  von  metaphysischer  Reahtät  zugeschrieben  wer- 
den*), und  Leukipp  betrachtete  ihn  im  Gegensätze  zu  der  Begrenztheit,  welche 
das  eigentUche  Sein  nach  Parmenides  besitzt,  als  das  Unbegrenzte :  das  a;rstpov. 
Leukipp  zertrümmert  daher  den  Weltkörper  des  Parmenides  und  zerstreut  seine 
Theile  durch  den  unendhchen  Raum:  jeder  dieser  Theile  aber  ist,  wie  das  absolute 
Sein  des  Parmenides  ewig  und  unveränderlich,  ungeworden  und  unzerstörbar,  in 
sich  durchaus  gleichartig,  begrenzt  und  untheilbar.  Daher  heissen  diese  Stücke 
des  Seins  Atome,  aTOjjLOt:  und  aus  den  Gründen,  welche  Anaximander  zu  seinem 

1)  Als  solcher  ist  er  von  Piaton  (Phaed.  97  b)  gefeiert  und  schon  von  Aristoteles  (Met.  I 
3,  984  b)  überschätzt  worden :  vgl,  jedoch  §  5.  Die  Neueren  (HEaKL)  haben  die  weitere  Ueber- 
Rchätzung  lünzugcfügt,  den  voü(;  als  immaterielles  Princip  auffassen  zu  wollen.  Docli  lassen 
die  Fragmente  (Simpl.  phys.  [D.]  33v  156,  13)  keinen  Zweifel,  dass  auch  dieses  leichteste, 
reinste,  mit  den  übrigen  sich  nicht  mischende,  sondern  sie  nur  als  lebendige  Kraft  umsi>ielende 
und  bewegende  Element  doch  immer  ein  raumert'üllcnder  Stoff  blieb.  —  2)  Flut.  adv.  Col.  4, 
2,  1109. 


§  4.  Begriffe  des  Seins.  (LenkippoB,  Zenon.)  33 

Begriffe  des  Siceipov  geführt  hatten,  behauptete  Leukipp,  dass  solcher  Atome  un- 
zählige, Ton  unendlich  mannigfacher  Gestalt  seien.  Ihre  Grösse  musste  er,  da 
alle  empirischen  Dinge  theilbar  sind,  als  unwahrnehmbar  klein  bezeichnen.  Die 
Unterschiede  aber  zwischen  ihnen  konnten,  da  sie  alle  nur  die  eine,  gleiche  Qualität 
der  Raumerfiillung  besitzen,  nur  quantitativ  sein:  Unterschiede  der  Grösse,  Ge- 
stalt und  Lage. 

Aus  solchen  metaphysischen  Ueberlegungen  ist  der  Begriff  des  Atoms  er- 
wachsen, der  sich  für  die  theoretische  Naturwissenschaft  deshalb  so  fruchtbar 
erwiesen  hat,  weil  er,  wie  es  schon  bei  Leukipp  zu  Tage  tritt,  das  Postulat  ent- 
hält, alle  qualitativen  Unterschiede,  welche  die  Erfahrung  aufweist,  auf  quanti- 
tative zu  reduciren.  Die  Dinge,  welche  wir  wahrnehmen,  lehrte  Leukipp,  sind  Ver- 
bindungen von  Atomen;  sie  entstehen  durch  deren  Vereinigung,  sie  vergehen  durch 
deren  Trennung.4Die  Eigenschaften,  welche  wir  an  diesen  Complexen  wahrnehmen, 
sind  nur  Schein:  in  Wahrheit  bestehen  nur  die  Bestimmungen  der  Grösse,  Gestalt, 
Anordnung  und  Lagerung  der  einzelnen  Atome,  welche  das  Sein  ausmachen. 

Der  leere  Haum  ist  somit  die  Voraussetzung,  wie  fiir  die  Sonderung  und 
Gestaltung,  so  auch  für  die  Verbindung  und  Trennung  der  Atome.  Alles  Ge- 
schehen ist  seinem  Wesen  nach  Bewegung  der  Atome  im  Baum.  Fragt  man 
aber  nach  dem  Grunde  dieser  Bewegung  der  Atome  *),  so  kann  derselbe,  da  der 
eigentlich  nicht-seiende  Raum  nicht  Ursache  sein  darf  und  der  Atomismus  ausser 
dem  Raum  und  den  Atomen  nichts  Wirkliches  anerkennt,  nur  in  den  Atomen 
selbst  gesucht  werden,  d.  h.  die  Atome  sind  von  sich  aus  in  Bewegung,  und  diese 
ihre  selbständige  Bewegung  ist  ebenso  anfangs-  und  endlos  wie  ihr  Sein.  Und  so 
mannigfaltig  und  von  einander  unabhängig  die  Atome  an  Grösse  und  Gestalt 
sind,  so  verschieden  ist  auch  ihre  ursprüngliche  Bewegung.  Sie  fliegen  in  dem 
unendlichen  Räume,  der  kein  Oben  und  Unten,  kein  Innen  und  Aussen  kennt, 
jedes  für  sich,  wirr  durcheinander,  bis  ihr  Zusammentreffen  zur  Bildung  von 
Dingen  und  Welten  fuhrt.  Die  begriffliche  Trennung  also,  welche  Empedokles 
und  Anaxagoras  zwischen  Stoff  und  bewegender  Kraft,  jeder  in  seiner  Weise, 
versucht  hatten,  hoben  die  Atomisten  wieder  auf:  sie  schrieben  den  Stofftheilchen 
die  Fähigkeit  zwar  nicht  der  qualitativen  Veränderung  (oXXouikjk;),  aber  der  selb- 
ständigen Bewegung  (xivtjok;)  zu,  und  nahmen  in  diesem  durch  den  Eleatis- 
mus  eingeschränkten  Sinne  das  Princip  des  milesischen  Hylozoismus  wieder  auf. 

10.  Gegen  diese  pluralistischen  Systeme  hat  Zenon,  der  Freund  und 
Schüler  des  Parmenides,  die  eleatische  Lehre  zu  vertheidigen  gesucht,  indem  er 
die  Widersprüche  darlegte,  in  welche  sich  die  Annahme  einer  Vielheit  von  Seien- 
den verwickle.  Der  Grösse  nach,  zeigte  er,  ergiebt  sich  daraus,  dass  die  Gesammt- 
heit  des  Seins  einerseits  unendlich  klein,  andrerseits  unendlich  gross  sein  muss : 
unendlich  klein,  weil  die  Zusammensetzung  noch  so  vieler  Theile,  deren  jedes  un- 
endUch  klein  sein  soll,  doch  niemals  mehr  als  unendlich  Kleines  giebt*),  —  un- 
endUch  gross  hinwiederum,  weil  die  Grenze,  die  zwei  Theile  trennen  soll,  selbst 
ein  Seiendes,  d.  h.  räumliche  Grösse  sein  muss,  die  ihrerseits  wieder  von  beiden 
Theilen  durch  eine  Grenze  geschieden  ist,  von  der  dann  dasselbe  gilt  u.  s.  f.  in 


1)  Arist.  Phys.  VIU  1,  252a  32  sagt  von  den  Atomisieii)  sie  hätten  nach  dem  Ursprung 
der  Bewegung  nicht  gefragt  — ,  selbstverständlich,  denn  sie  erklärten  die  Bewegung  selbst  fiir 
ursachlos.  —  2)  Das  Argument  kann  nur  gegen  den  Atomismus  gerichtet  sein  und  trifil  auch 
diesen  nur  schwach. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  3 


34  !•  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosraologische  Periode. 

infinitum.  Aus  dem  letzteren  Argument,  welches  das  h,  St^oTOfttou;  genannt  wurde, 
folgerte  Zenon  auch,  dass  der  Zahl  nach  das  Seiende  unbegrenzt  sein  müsse, 
während  andrerseits  doch  dies  fertige,  nicht  im  Werden  begriffene  Sein  auch 
hinsichtlich  seiner  numerischen  Bestimmtheit  als  begrenzt  anzusehen  sei.  Und 
ebenso  wie  die  Annahme  des  Vielen  soll  sich  auch  die  Behauptung  der  Realität 
des  leeren  Raumes  durch  einen  regressus  in  infinitum  selbst  widerlegen:  ist  alles 
Seiende  im  Raum,  und  dieser  selber  ein  Seiendes,  so  muss  er  selbst  wieder  in  einem 
Raum  sein,  dieser  ebenfalls  u.  s.  w.  Mit  dem  Begriffe  des  Unendlichen,  dem  der 
Atomismus  eine  neue  Wendung  gegeben  hatte,  waren  alle  die  darin  für  den  Gegen- 
satz von  Verstand  und  Anschauung  enthaltenen  Räthsel  lebendig  geworden,  und 
Zenon  benutzte  sie,  um  damit  die  Gegner  der  Lehre  von  dem  Einen  in  sich  be- 
grenzten Sein  ad  absurdum  zu  führen. 

Doch  zeigte  sich  die  Zweischneidigkeit  dieser  Dialectik  an  der  eleatischen 
Schule  selbst,  indem  ein  Zeit- und  Gesinnungsgenosse  des  Zenon,  Melissos, 
sich  genöthigt  sah,  das  parmenideische  Sein  auch  räumlich  für  ebenso  unbegrenzt 
zu  erklären  wie  zeitlich.  Wie  das  Sein  nämlich  weder  aus  anderem  Seiendem  noch 
aus  Nichtseiendem  entstehen  und  wie  es  weder  in  das  eine  noch  in  das  andere 
vergehen  kann,  so  kann  es  auch  weder  durch  Seindes  (denn  das  müsste  ein  zweites 
Sein  sein)  noch  durch  Nichtseiendes  (denn  dann  müsste  dies  sein)  begrenzt  wer- 
den: eine  Argumentation,  die  rein  theoretisch  consequenter  war,  als  die  durch 
Werthbestimmungen  beeinfiusste  Behauptung  des  Meisters. 

11.  Eine  vermittelnde  Stellung  haben  in  diesen  Fragen  diePythagoreer 
eingenommen :  sie  waren  dazu,  wie  zu  ihren  übrigen  Lehren,  durch  ihre  Beschäf- 
tigung mit  der  Mathematik  und  durch  die  Art,  wie  sie  dieselbe  betrieben,  in  glück- 
licher Weise  befähigt.  Die  Hauptrichtung  derselben  scheint  arithmetisch  gewesen 
zu  sein ;  auch  die  geometrischen  Einsichten,  die  ihnen  zugeschrieben  werden  (wie 
der  bekannte  nach  Pythagoras  benannte  Satz)  laufen  auf  die  lineare  Darstellung 
einfacher  Zahlenverhältnisse  {3^  -\-  4*^  =  5^  m,  s,  w.)  hinaus.  Aber  nicht  nur  in 
den  allgemeinen  Verhältnissen  der  räumlichen  Gebilde  fanden  die  Pythagoreer 
die  Zahlen  als  massgebend,  sondern  auch  in  solchen  Erscheinungen  der  körper- 
lichen Welt,  mit  denen  sie  vorwiegend  beschäftigt  waren.  Ihre  theoretischen 
Unterauchungen  über  Musik  lehrten  sie,  dass  der  Wohlklang  auf  einfachen  Zahleu- 
verhältnissen  der  Saitenlänge  (Oktave,  Terz,  Quart)  beruht,  und  ihre  weitgefbr- 
derte  Kenntniss  der  Astronomie  führte  sie  auf  die  Ansicht,  dass  die  in  den  Be- 
wegungen der  Himmelskörper  waltende  Harmonie  (ähnlich  der  musikalischen)  ^) 
in  einer  Ordnung  begründet  sei,  wonach  die  verschiedenen  Sphären  des  Weltalls 
sich  in  zahlenmässig  fest  bestimmten  Abständen  um  einen  gemeinsamen  Mittel- 
punkt bewegten.  So  mannigfache  Anlässe  scheinen  sich  vei^eint  zu  haben,  um  in 
einem  Manne  wie  Philolaos  den  Gedanken  hervorzurufen,  dass  das  dauernde 
Sein,  welches  die  philosophische  Theorie  suchte,  in  den  Zahlen  zu  finden  sei. 
Den  wechselnden  Dingen  der  Erfahrung  gegenüber  besitzen  die  mathematischen 
Begriffsinhalte  die  Merkmale  zeitloser  Geltung;  sie  sind  ewig,  ungeworden,  unver- 
gänglich, unveränderlich  und  selbst  unbeweglich:  und  wenn  sie  damit  dem  ele- 
atischen Seinspostulat  genügen,  so  stellen  sie  andrerseits  die  festen  Verhältnisse, 
jene  rhythmische  Ordnung  dar,  die  Heraklit  verlangt  hatte.   So  fanden  denn  die 

1)  Aus  dieser  Analogie  erwuchs  die  phantastische  Vorstellung  der  Sphäreuharmonie. 


§  4.  Begriffe  des  Seins.  (Philolaos.)  35 

Pythagoreer  das  bleibende  Wesen  der  Welt  in  den  mathematischen  Verhältnissen 
und  insbesondere  in  den  Zahlen  —  eine  Lösung  des  Problems,  abstracter  als  die 
milesische^  anschaulicher  als  die  eleatische^  klarer  als  die  heraklitische;  schwie- 
rijrer  als  diejenige  der  zeitgenössischen  Vermittlungsversuche. 

Die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  schloss  sich  in  ihrer  Ausführung  theils 
an  die  vielfachen  Beobachtungen,  welche  sie  über  arithmetische  Verhältnisse  ge- 
macht hatten,  theils  an  Analogien^  welche  sie  zwischen  diesen  und  den  philo- 
sophischen Problemen  entdeckten  und  zum  Theil  recht  künstlich  herstellten.  Die 
Bestimmtheit  jeder  einzelnen  unter  den  Zahlen  und  die  Endlosigkeit  ihrer  Reihe 
mussten  wohl  zunächst  den  Gedanken  nahe  legen^  dass  sowohl  dem  Begrenzten 
als  auch  dem  Unbegrenzten  Realität  zukomme,  und  indem  dies  Motiv  in's  Geo- 
metrische übersetzt  wurde,  erkannten  die  Pythagoreer  neben  den  Elementen  als 
<lem  Begrenzten  auch  dem  Raum  als  dem  unbegrenzten  Leeren  Realität  zu;  die 
Elemente  aber  dachten  sie  sich  durch  die  einfachen  stereometrischen  Formen 
bestimmt:  das  Feuer  durch  das  Tetraeder,  die  Erde  durch  den  Kubus,  die  Luft 
<1urch  das  Oktaeder,  das  Wasser  durch  das  Ikosaeder,  und  einem  ftinften  Stoif, 
den  Aether,  welchen  sie  den  vier  terrestrischen,  von  Empedokles  übernommenen, 
als  den  himmUschen  hinzufügten,  durch  das  Dodekaeder*).  Dabei  waltete  die 
Vorstellung  ob;  Körperlichkeit  bestehe  in  der  mathematischen  Begrenzung 
des  Unbegrenzten,  in  der  Gestaltung  des  Raumes.  Die  mathematischen  For- 
men werden  zum  Wesen  der  physischen  Realität  gemacht. 

Weiterhin  glaubten  die  Pythagoreer  in  dem  Gegensatze  des  Begrenzten 
und  des  Unbegrenzten  den  Zahlengegensatz  des  Ungeraden  und  des  Geraden 
wiederzuerkenen^);  und  dieser  Gegensatz  identificirte  sich  ihnen  wieder  (nicht 
ohne  Mitwirkung  alter  Vorstellungen  des  Orakelglaubens)  mit  demjenigen  des 
Vollkommenen  und  des  Unvollkommenen,  des  Guten  und  des  Schlechten  ").  So 
wird  ihre  Weltanschauung  dualistisch:  dem  Begrenzten,  Ungeraden,  Vollkom- 
menen und  Guten  steht  das  Grenzenlose,  Gerade,  Unvollkommene  und  Schlechte 
gegenüber.  Wie  aber  in  der  Eins,  die  sowohl  als  gerade  wie  als  ungerade  Zahl 
silt  *),  beide  Principien  vereinigt  sind ,  so  sind  auch  in  der  ganzen  Welt  diese 
(iegensätze  zur  Harmonie  ausgeglichen.   Die  Welt  ist  Zahlenhamionie. 

Jenen  Grundgegensatz  aber,  in  dessen  Annahme  alle  Pythagoreer  einig 
waren,  haben  einige  von  ihnen  ^)  durch  die  verschiedenen  Gebiete  der  Erfahrung 
zu  verfolgen  gesucht,  und  so  ist  eine  Tafel  von  10  Gegensatzpaaren  zu  Stande 
gekommen:  begrenzt  und  unbegrenzt  —  ungerade  und  gerade  —  eins  und  viel  — 
rechts  und  links  —  männlich  und  weiblich  —  ruhend  und  bewegt  —  gerade  und 
krumm  —  hell  und  dunkel  —  gut  und  schlecht  —  quadratisch  und  ungleichseitig: 
offenbar  eine  systemlose  Zusammenstellung,  mit  der  nur  die  heilige  Zehnzahl 

1)  Während  die  Hauptrichtung  der  Pythagoreer  so  dem  Empedokles  folgte,  hat  ein 
^jÄterer,  Ekphantos,  diese  Raumbegrenzung  im  Sinne  des  Atomismus  aufgefasst.  —  2)  Die 
Begründung  davon,  dass  nämlich  die  geraden  Zahlen  eine  Zweitheilung  in's  Unendliche  (?)  er- 
lauben (8imp1.  phys.  D.  105>^  455,  20),  ist  freilich  sehr  bedenklich  und  künstlich.  —  3)  Auch 
darf  da1)ei  das  Moment  nicht  übersehen  werden,  welches  sich  schon  bei  XenopHanes  und  Par- 
nM»mde8  geltend  machte,  dass  nämlich  dem  Griechen  das  Mass  ein  hoher  ethischer  Werth  war, 
dass  somit  das  allen  Masses  spottende  Unendliche  ihm  als  unvollkommen,  das  in  sich  Hc- 
sliiimite  (weKff»aajjL8vov)  aber  als  werthvoller  gelten  musste.  —  4)  Arist.  Met.  I.  5,  986a  19.  — 
5|  Oder  dem  Pythagorismus  nahe  stehende  Männer  wie  der  Arzt  Alkmaion,  ein,  vielleicht 
etwas  älterer,  Zeitgenosse  des  Philolaos    Vgl.  Arist.  Met.  I  5,  986  a  22. 

3* 


J 


36  I.  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

vollgemacht  werden  sollte,  die  aber  doch  wenigstens  den  Versuch  einer  Gliede- 
rung erkennen  lässt. 

Nach  diesem  oder  einem  ähnlichen  Schema  haben  dann  die  Pythagoreer 
sich  abgemüht,  eine  Ordnung  der  Dinge  nach  dem  Zahlensystem  herzustellen, 
indem  sie  in  jedem  Erkenntnissgebiet  die  Grundbegriffe  verschiedenen  Zahlen 
zuwiesen  und  so  andrerseits  jeder  einzelnen  Zahl,  und  zwar  hauptsächlich  den- 
jenigen von  1 — 10,  eine  massgebende  Bedeutung  in  den  verschiedenen  Sphären 
der  Wirklichkeit  zuerkannten.  Die  Wunderlichkeiten  symbolischer  Deuterei,  der 
sie  damit  verfielen,  dürfen  doch  nicht  übersehen  lassen,  dass  damit  der  Versuch 
gemacht  wurde,  eine  bleibende,  begriffliche  Ordnung  der  Dinge  zuer- 
kennen und  den  letzten  Grund  derselben  in  mathematischen  Verhältnissen 
zu  finden. 

Auch  ist  es  den  Pythagoreern,  und  namentUch  den  späteren,  selbst  nicht 
entgangen,  dass  die  Zahlen  nicht  in  derselben  Weise  Principien  (ap^ai)  der  Dinge 
genannt  werden  konnten,  wie  etwa  die  Stofiie,  die  Elemente  u.  s.  w.,  dass  die  Dinge 
nicht  aus  ihnen  entstanden,  sondern  nach  ihnen  gebildet  sind,  und  sie  drückten 
ihren  Gedanken  vielleicht  am  besten  und  wirksamsten  damit  aus,  dass  sie  sagten, 
alle  Dinge  seien  Abbilder  oder  Nachahmungen  der  Zahlen.  Damit  war 
die  Welt  der  mathematischen  Formen  als  eine  höhere,  ursprünglichere  Wirklich- 
keit gedacht,  von  der  die  empirische  Wirklichkeit  nur  ein  Nachbild  sein  sollte : 
jener  gebührte  das  bleibende  Sein,  diese  war  die  gegensätzliche  Welt  des  Ge- 
schehens. 

%  5.  Die  BegrifFe  des  Geschehens. 

E.  Hardy,  Der  Begriff  der  Physis  in  der  griechischen  Philosophie.  I.   Berlin  1884. 

Wie  die  Thatsache  der  Veränderung,  d.  h.  das  Geschehen  den  nächsten 
Anlass  zur  Besinnung  auf  das  bleibende  Sein  gegeben  hat,  so  haben  die  ver- 
schiedenen Begriffe  vom  Sein  doch  in  letzter  Instanz  nur  den  Zweck,'  das  Ge- 
schehen verständlich  zu  machen.  Zwar  wurde  diese  Aufgabe  in  der  Entwicklung 
der  Seinsbegriffe  gelegentlich  vergessen  oder  bei  Seite  gesetzt  (Eleaten);  aber 
um  so  mehr  zeigte  sich  gerade  darauf  der  weitere  Fortschritt  des  Denkens  durch 
die  erneute  Rücksicht  auf  das  Geschehen  und  durch  das  Bedürfniss  bestimmt, 
das  Sein  so  zu  denken,  dass  das  Geschehen  nicht  nur  damit  vereinbar,  sondern 
auch  dadurch  begreiflich  würde.  Hand  in  Hand  also  mit  den  Vorstellungen  vom 
Sein  gehen  diejenigen  vom  Geschehen,  beide  in  stetiger  Beziehung  auf  einander. 

1.  Den  Joniern  war  die  Lebendigkeit  der  Welt  etwas  so  Selbstverständ- 
Uches,  dass  sie  nicht  daran  dachten,  nach  einer  Ursache  derselben  zu  fragen.  Der 
naive  Hylozoismus  konnte  vielmehr  nur  darauf  ausgehen,  das  einzelne  Ge- 
schehen zu  erklären.  Erklärung  aber  besteht  in  dem  Zurückführen  des  Auffal- 
lenden, nicht  Selbstvei-ständlichen  auf  solche  einfachere  Arten  des  Geschehens, 
welche  als  die  der  Anschauung  gewohntesten  einer  Erkläi-ung  selbst  nicht  zu  be- 
dürfen scheinen.  Dass  die  Dinge  ihre  Gestalt,  ihre  Eigenschaften,  ihre  Wirkung 
aufeinander  ändern,  erschien  den  Milesiern  erklärungsbedürftig:  sie  beruhig- 
ten sich  dabei,  diese  Veränderungen  als  Verdichtung  oder  Verdünnung  des  Welt- 
stoffs aufeufassen.  Für  diese  aber  scheinen  sie  eine  weitere  Erklärung  nicht 
nötliig  befunden  zu  haben;  nur  so  viel  setzte  wenigstens  Anaximenes  hinzu,  dass 
diese  Veränderungen  des  Aggregatzustandes  mit  Temperaturveränderung,  Ver- 


§  5.  Begriffe  des  Geschehens.  (Anaximander.)  37 

dichtung  mit  Abkühlung^  Verdünnung  mit  Erwärmung  verbunden  sei.  Dieser 
Gegensatz  ergab  die  Keihenfolge  der  Aggregatzustände^  welche  sich  als  Feuer^ 
Luft,  Wasser,  Erde  (oder  Gestein),  je  nach  der  Verdünnung  oder  Verdichtung 
des  Urstoffs^)  abstuften. 

Diese  Vorstellungen  benutzten  nun  aber  die  Miiesier  nicht  nur,  um  einzelne 
Naturerscheinungen  (insbesondere  die  für  ein  schiiffahrttreibendes  Volk  so  wich- 
tigen meteorologischen  Vorgänge),  sondern  auch  um  die  Entwicklung  des  gegen- 
wärtigen Weltzustandes  aus  dem  ürstoff  zu  erklären.  So  liess  Thaies  sich  das 
Wasber  theils  zu  Luft  und  Feuer  verdünnen,  theils  zu  Erde  und  Gestein  verdich- 
ten; Anaximenes  lehrte,  von  der  Luft  ausgehend,  einen  analogen  Process  der 
Weltbfldung.  Als  Resultat  derselben  wurde  angenommen,  dass  die  Erde,  auf 
Wasser  nach  dem  einen,  auf  Luft  nach  dem  andern  ruhend,  die  Mitte  der  um  sie 
schvringenden  Luftkugel  einnehme,  die  ihrerseits  noch  wieder  von  einem,  in  den 
Sternen  sei  es  durchbrechenden  sei  es  durchscheinenden  Feuerkreis  umgeben  sei. 

Mit  der  Darstellung  dieser  Weltentstehung,  welche  vielleicht  noch  bei 
Thaies  und  Anaximander  als  einmaliger  Process  galt,  schliessen  sich  die  Miiesier 
unmittelbar  an  die  kosmogonischen  Dichtungen  an ') :  erst  später  scheint  sich  die 
Ueberlegung  durchgesetzt  zu  haben,  dass,  wenn  der  Verwandlung  eine  Rückver- 
wandlung entsprechen,  dabei  aber  der  Stoff  nicht  nur  als  ewig,  sondern  auch  als 
ewig  lebendig  gelten  sollte,  ein  unablässiger  Process  von  Weltbildung  und  Welt- 
zeretörung,  eine  zahllose  Vielheit  successiver  Welten  angenommen  werden 
müsse  ^), 

2.  Obwohl  diese  Bestimmungen  für  die  physicaUschen  Theorien  auch  bei 
Anaximander  zutreffen,  so  führte  doch  diesen  der  metaphysische  Begriff  des 
xccCfov  darüberhinaus.  Die  unendliche,  selbstbewegte  Materie,  welche  mit  diesem 
dunkeln  Begriffe  gemeint  war,  sollte  zwar  als  Ganzes  keine  bestimmten  Eigen- 
schaften haben,  aber  doch  die  qualitativen  Gegensätze  in  sich  enthalten  und 
in  ihrem  Entwicklungsprocesse  aus  sich  zur  Sonderung  ausscheiden*).  Anaxi; 
mander  blieb  also  Hylozoist,  insofern  als  er  die  Materie  von  sich  selbst  aus  als 
bewegt  betrachtete;  aber  er  hatte  eingesehen,  dass  die  Verschiedenheiten  in  sie 
hinein  verlegt  werden  müssten,  wenn  sie  bei  der  Selbstbewegung  aus  ihr  hervor- 
gehen soUten.  Wenn  er  also  hinsichtlich  des  Seins  schon  dem  späteren  Plura- 
lismus sich  näherte  und  die  quaUtative  VeränderUchkeit  des  Urstoffs  strich,  so 
war  er  hinsichtlich  der  Ursachlosigkeit  des  Geschehens  durchaus  mit  den  andern 
Milesiem  einig,  und  aus  der  Verbindung  der  Gegensätze  des  Warmen  und  Kalten, 
die  er  zunächst  aus  dem  Siceipov  heraustreten  liess,  meinte  er  das  Wasser  erklären 
zu  können,  um  dann  mit  seiner  Kosmogonie  ganz  in  die  oceanische  Fahrstrasse 
lies  Thaies  einzulenken. 

Neben  diesen  physischen  und  metaphysischen  Bestimmungen  aber  bietet 
(las  einzige  von  ihm  wörtlich  erhaltene  Fragment  *),  welches  den  Untergang  der 


1)  Begreiflich  daher,  dass  es  auch  (uns  nicht  dem  Namen  nach  bekannte)  Physiker  gab- 
welcbc  den  Weltstoff  als  Zwischenstufe  zwischen  Luft  und  Wasser,  oder  Luft  und  Feuer  an, 
sehen  wollten.  —  2)  Daher  auch  die  Bezeichnung  des  Weltstoffs  als  apx*^  (Anfang).  —  3)  Diese 
Lehre  ist  von  Anaximander  wahrscheinlich,  von  Anaximenes  sicher  vertreten  worden;  sie 
wiederholt  sich  bei  Heraklit,  Empedokles  und  Lcukipp.  —  4)  Entscheidend  sind  in  dieser  sehr 
controversen  Frage  (Ritter,  Seydel,  Zeller)  die  Stellen:  Arist.  Phys  I  4, 187a  20  und  Simpl. 
phys.  (D.)  33'  154, 14(nachTheophrast).  Ebenso  die  Fortsetzung  der  Stelle  in  der  folgenden  An- 
merkung. —  5)  Simpl.  phys.  (D.)  6r  24,  18.  cf.  Th.  Zieglir,  ij-ch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  I,  16  ff. 


38  !•  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

Dinge  als  Sühne  des  Unrechts  darstellt,  den  ersten  duniden  Versuch,  das  Welt- 
geschehen als  sittliche  Nothwendigkeit  zu  begreifen  und  die  Schatten  der 
Vergänglichkeit,  welche  auf  dem  heitern  Bilde  auch  des  hellenischen  Lebens 
ruhen,  als  Vergeltung  der  Sünde  aufzufassen.  So  wenig  sicher  die  besondere 
Deutung  dieses  Ausspruchs  ist,  so  zweifellos  spricht  darin  das  Bedürfniss,  der 
physischen  Nothwendigkeit  den  Werth  einer  ethischen  Ordnung  zu  geben.  Hier 
erscheint  Anaximander  als  Vorgänger  Heraklit^s. 

3.  Die  Ordnung  des  Geschehens,  welche  der  Letztere  als  das  allein  Bleibende 
in  dem  Wechsel  der  Dinge  feststellen  zu  können  glaubte,  hatte  zwei  wesentliche 
Bestimmungen:  die  Harmonie  der  Gegensätze  und  den  Kreislauf  des 
Stoffwechsels  im  Universum.  Die  Beobachtung,  dass  Alles  in  der  Welt  in 
stetiger  Veränderung  begriffen  ist,  übertrieb  Heraklit  zu  der  Behauptung,  dass 
Alles  fortwährend  in  sein  Gegentheil  umschlage.  Das  „Andere"  war  ihm  eo  ipso 
das  Entgegengesetzte.  Der  „Fluss  der  Dinge"  verwandelte  sich  in  seiner  poeti- 
schen Rhetorik  in  einen  unaufhörlichen  Streit  der  Gegensätze,  und  diesen  Streit 
(TcöXsfioc)  erklärte  er  für  den  Vater  der  Dinge.  Alles,  was  für  eine  kürzere  oder 
längere  Zeit  zu  sein  scheint,  ist  das  Product  entgegengesetzter  Bewegungen  und 
Kräfte,  die  sich  in  ihrer  Wirkung  das  Gleichgewicht  halten.  So  ist  in  jedem  Augen- 
blicke das  Universum  eine  in  sich  gespaltene  und  wieder  versöhnte  Einheit,  ein 
Streit,  der  seine  Versöhnung,  ein  Mangel,  der  seine  Sättigung  tindet :  das  Wesen 
der  Welt  ist  die  unsichtbare  Hai*monie,  in  der  alle  Verschiedenheiten  und  Gegen- 
sätze aufgelöst  sind.  Die  Welt  ist  Werden,  und  Werden  ist  Einheit  der  Gegensätze. 

Insbesondere  aberstellen  sich  nach  der  Anschauung Heraklit's  diese  Gegen- 
sätze in  den  einander  zuwiderlaufenden  Processen  dar,  durch  welche  sich  einer- 
seits das  Feuer  in  alle  Dinge  verwandelt  und  andrerseits  alle  Dinge  sich  in  das 
Feuer  zurückverwandeln.  In  beiden  Processen  werden  dieselben  Stadien  durch- 
laufen: auf  dem  „Wege  abwärts"  geht  das  Feuer  (durch  Verdichtung)  in 
Wasser  und  Erde,  auf  dem  „  W  egeaufwärts"  gehen  Erde  und  Wasser  (durch 
Verdünnung)  in  Feuer  über;  und  diese  beiden  Wege  sind  gleich.  Verwandlung 
und  ßückverwandlung  laufen  neben  einander  her,  und  der  Schein  eines  dauernden 
Dinges  tritt  da  ein,  wo  eine  Zeit  lang  auf  dem  einen  Wege  ebensoviel  Rückver- 
wandlung wie  auf  dem  andern  Verwandlung  stattfindet.  Die  phantastischen  Formen, 
in  denen  Heraklit  diese  Ansichten  niederlegte,  umhüllen  den  principiellen  Ge- 
danken einer  gesetzmässigen  Abfolge  der  Verwandlungen  und  einer  foi-twährenden 
Ausgleichung  derselben.  In  immer  wiederholtem  Rhythmus  und  nach  festen  Zeit- 
massen erzeugt  sich  die  Welt  aus  dem  Feuer  und  lodert  in  demselben  wieder  auf, 
um,  ein  Phönix,  daraus  neu  zu  entstehen  *). 

In  dieser  unablässigen  Umsetzung  aller  Dinge  besteht  nichts  Einzelnes, 
sondern  nur  die  Ordnung,  nach  der  sich  der  Austausch  der  einander  entgegen- 
laufenden Bewegungen  vollzieht,  das  Gesetz  des  Wechsels,  welches  den  Sinn 
und  den  Werth  des  Ganzen  ausmacht.  Wenn  im  Kampf  der  Gegensätze  immer 
Neues  zu  entstehen  scheint,  so  ist  doch  dies  Neue  zugleich  immer  schon  ein  Unter- 
gehendes. Das  Werden  HerakUt's  erzeugt  kein  Sein  —  so  wenig  wie  das  Sein 
des  Parmenides  ein  Werden. 


1)  Im  Einzelnen  sind  die  physicalischen ,  zumal  die  astronomischen  Vorstellungen 
schwach;  das  metaphysische  Grübeln  ist  bei  ihm  wichtiger,  als  die  erklärende  Forschung. 
Er  theilt  dies  mit  seinem  Gegner  Parmenides. 


§  5.  Begrifife  des  Geschehens.  (Empedokles,  Anaxagoras,  Leukippos.)  39 

4.  In  der  That  scbloss  die  Seinslehre  der  Eleaten  mit  der  Vielheit 
und  der  Veränderung  auch  das  Geschehen  aus.  Nach  ihrer  Metaphysik  ist  das 
Geschehen  unbegreiflich,  es  ist  unmöglich.  Diese  Metaphysik  duldet  keine 
Physik.  Wie  dem  Raum,  so  spricht  Parmenides  auch  der  Zeit  die  selbständige 
Realität  (Skko  «dpeS  toö  sovxoc)  ab:  es  giebt  für  ihn  nur  das  unterachiedslose  und 
zeitlose  Sein.  Gleichwohl  hat  Parmenides  dem  ersten  Tlieile  seines  Lehrgedichts, 
welcher  die  Lehre  vom  Sein  vorträgt,  einen  zweiten  hinzugefugt,  der  die  physi- 
calischen  Probleme  behandelt;  doch  geschieht  dies  von  vornherein  mit  der  Ver- 
wahrung, dass  er  hier  nicht  mehr  Wahrheit,  sondern  die  „Meinungen  der  Sterb- 
lichen" vortrage ').  Allen  diesen  aber  liege  die  (vorher  zuiückgewiesene)  falsche 
Voraussetzung  zu  Grunde,  dass  neben  dem  Sein  noch  ein  anderes,  also  das  Nicht- 
sein sei.  Alles  Geschehen,  alle  Vielheit  und  Bewegung  beruht  auf  der  Wechsel- 
wirkung dieser  Gegensätze,  welche  dann  im  Weiteren  als  Licht  und  Finstemiss, 
als  das  Warme  und  Kalte  bezeichnet  werden.  In  poetischen  Bildern  wird  damit 
eine  Weltanschauung  geschildert,  nach  der  das  Feuer  den  dunklen,  leeren  Raum 
zu  körperlichen  Gebilden  gestaltet,  eine  Vorstellungs weise,  die  zum  Theil  an 
Heraklit  erinnert,  zum  Theil  an  die  astronomische  Lehre  der  Pythagoreer  an- 
klingt. Die  allbeherrschende  Feuermacht  (Sa^iwöv)  zwingt  als  unerbittliche  Noth- 
wendigkeit  (Sixi))  vom  Mittelpunkte  der  Welt  aus  mit  Hilfe  der  Liebe  (SpcDc)  das 
Verwandte  zu  einander.  Aneignung  und  Bekämpfung  der  fremden  Lehren  treten, 
dem  Zweck  des  Ganzen  gemäss,  in  buntem  Gemisch  auf;  über  ihrer  Verwebung 
liegt  ein  poetischer  Hauch  grossartig  plastischer  Gestaltungskraft,  aber  es  fehlt, 
wie  au  eigener  Forschung,  so  auch  an  dem  Ertrage  klarer  Begriffe. 

5  •  Bestimmtere  und  zur  Erklärung  des  Einzelnen  brauchbarere  Vorstellungen 
über  das  Geschehen  finden  sich  bei  den  Nachfolgern,  welche  den  Seinsbegriff 
der  fUeaten  eigens  zu  diesem  Zwecke  in  denjenigen  des  Elements,  der  Homöo- 
merie  und  des  Atoms  umbildeten.  Sie  alle  erklären,  dass  unter  Geschehen  nichts 
anderes  zu  verstehen  sei,  ab  Bewegung  unveränderlicher  Körpertheile^^Empe- 
dokles  und  Anaxagoras  schenien  noch  versucht  zu  haben,  damit  die  Leug- 
DUDg  des  leeren  Baums  zu  verbinden,  die  sie  von  Parmenides  übernahmen :  sie 
schrieben  ihren  Stoffen  durchgängige  Theilbai'keit  und  Verschiebbarkeit  der 
Theilchen  in  der  Weise  zu,  dass  bei  der  Mischmig  und  gegenseitigen  Durch- 
dringung der  Elemente  stets  aller  Baum  ausgefüllt  sein  sollte.  Die  Weltbewegung 
besteht  also  in  dieser  Verschiebung  der  Stofitheile,  von  denen  jedes  immer  das 
andere  drängt  und  verdrängt.  Von  einander  entfernte  Dinge  vermögen  nicht 
anders  auf  einander  zu  wirken,  als  indem  Theile  des  einen  ausfliessen  und  in  das 
andere  eindringen;  diese  Wirkung  ist  um  so  eher  möglich,  je  ähnUcher  ihrer 
räumlichen  Gestalt  nach  die  Ausflüsse  des  einen  Körpers  den  Spaltungen  (Poren) 
des  anderen  sind.  So  lehrte  wenigstens  Empedokles,  und  auch  bei  Anaxagoras 
ist  die  Annahme  einer  unendlichen  Theilbarkeit  der  Stoffe  bezeugt. 
Anders  und  der  heutigen  Vorstellungsweise  verwandter  ist  das  Bild  des  Ge- 
schehens bei  Leukippos.  Die  Atome,  welche  sich  im  leeren  Raum  treffen, 
wirken  auf  einander  durch  Druck  und  Stoss,  lagern  sich  an  einander  und  bilden 


1)  Die  byi>otheti8cbe  Darstellung,  wie  man  sich  nämlich  die  Welt  denken  müsste,  woim 
man  neben  dem  Sein  auch  Nichtsein,  Vielheit  und  Werden  für  real  ansähe,  hatte  einerseits 
polemischen  Zweck,  andrerseits  kam  sie  doch  dem  Bedürfmss  der  Schüler  eiitgegeu,  die  ver- 
muthlich  von  dem  Meister  (Joch  auch  einigen  Aufschluss  über  die  empirische  Welt  verlangten. 


40  L  Philosophie  der  Grriechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

SO  die  grösseren  oder  kleineren  Dinge  und  Dingmassen,  welche  erst  durch  einen 
von  aussen  kommenden  Stoss  oder  Druck  anderer  Massen  wieder  getrennt  und 
zerstreut  werden.  In  diesem  Wechsel  von  Bildung  und  Zertrümmerung  der 
Atomcomplexe  besteht  alles  Geschehen. 

Die  Grundform  der  Weltbewegung  ist  aber  in  allen  drei  Systemen  der 
Wii'bel,  der  kreisförmige  Umschwung  (SCvyj).  Nach  Empedokles  wird  er  durch 
die  zwischen  den  Elementen  thätigen  Kräfte  der  Liebe  und  des  Hasses  herbei- 
geführt, nach  Anaxagoras  wird  er  durch  den  zweckthätigen  Veraunftstoff  be- 
gonnen, um  sich  dann  mit  mechanischer  Consequenz  fortzusetzen,  nach  Leukipp 
ist  er  das  jedesmalige  Resultat  des  Zusammentreffens  mehrerer  Atome.  Das 
Princip  des  Mechanismus  ist  bei  Empedokles  noch  mythisch  verhüllt,  bei 
Anaxagoras  erst  halb  zum  Durchbruch  gelangt  und  nur  von  Leukipp  vollständig 
durchgeführt  worden.  Was  die  beiden  daran  hinderte,  war  die  Einmischung  von 
Werthbestimmungen  in  die  erklärende  Theorie:  der  Eine  wollte  das  Gute  und 
das  Schlechte  auf  entsprechende  Gemüthskräfte  zurückfuhren,  die  freilich  keinem 
Wesen  zugeschrieben,  sondern  mythisch  verselbständigt  wurden;  der  Andere 
glaubte  die  Ordnung  des  Ganzen  nur  aus  einem  zweckmässigen,  vernünftig  über- 
legten Anstoss  der  Bewegungen  erklären  zu  können.  Doch  ging  bei  beiden  die 
Annäherung  an  Leukipp  so  weit,  dass  sie  die  teleologische  Erklärung  nur 
für  den  Anfang  des  Wirbels  in  Anspruch  nahmen,  den  weiteren  Ablauf  der  Be- 
wegungen aber  und  damit  jedes  einzelne  Geschehen  rein  mechanisch, 
wie  Leukipp,  durch  das  Schieben  und  Drängen  der  einmal  nach  bestimmter  Weise 
in  Bewegung  befindlichen  Stofftheile  erklärten.  Sie  verfuhren  dabei  so  con- 
sequent,  dass  sie  auch  die  Entstehung  und  die  Functionen  der  Organismen,  unter 
denen  ihnen  übrigens  die  Pflanzen  für  ebenso  beseelt,  wie  die  Thiere  galten,  von 
dieser  rein  mechanischen  Erklärung  nicht  ausschlössen.  Dem  Anaxagoras  wird 
dies  von  Piaton  und  Aristoteles  zum  Vorwm'f  gemacht,  und  von  Empedokles  ist 
eine  Aeusserung  überUefert  *),  wonach  er  lehrte,  die  Thiere  seien  hie  und  da 
regellos,  in  wunderlichen  und  grotesken  Bildungen  entstanden,  und  es  hätten  sich 
im  Laufe  der  Zeit  nur  die  lebensfähigen  erhalten.  Das  Princip  des  Heberlebens 
des  Zweckmässigen,  das  in  der  heutigen  Biologie  (Darwinismus)  eine  so  grosse 
Rolle  spielt,  ist  hier  bereits  klar  formuhrt. 

Ein  interessanter  Gegensatz  zeigt  sich  aber  auf  Grund  dieser  Vorstellungen 
bei  den  drei  Forschern  hinsichtUch  ihrer  Stellung  zu  den  kosmogonischen  Lehren. 
Für  Empedokles  nämlich  und  Leukippos  ist  der  Process  der  Weltbildung  und 
Weltauflösung  ein  immerwährender,  filr  Anaxagoras  dagegen  ist  er  ein  einmaliger:* 
und  zwischen  den  beiden  ersten  ist  wieder  der  Unterschied,  dass  Empedokles 
eine  periodische  Abwechslung  von  Weltentstehung  und  Weltuntergang  nach  Art 
des  Heraklit  lehrt,  der  Atomismus  dagegen  eine  zahllose  Vielheit  von  Welten 
werden  und  vergehen  lässt.  Nach  den  Bestinmiungen  des  Empedokles  nämlich 
giebt  es  vier  verschiedene  Zustände  der  Elemente :  ihre  vollkommene  Mischung, 
in  der  nur  die  Liebe  herrscht  und  der  Hass  ausgeschlossen  ist,  nannte  er  ay ai- 


1)  Ai'iat.  Phys.  II  8,  198  b  29.  Uebrigens  wird  schou  dem  Anaximander  eine  Aeusse- 
rung zugeschrieben,  welche  eine  Umwandlung  der  Organismen  durch  Anpassung  an  veränderte 
Lebensbedingungen  lehrt:  Flut.  plac.  V,  19,  1  (Dox.  D.  430,  15).  Auch  für  den  Menschen 
nahmen  die  ältesten  Denker  keinen  anderen  Ursprung,  als  den  des  Herauswachsens  aus  der 
Thierwelt  in  Anspruch:  so  Empedokles  bei  Plut.  ström,  fr.  2  (Dox.  D.  579,  17). 


§  5.   BegrifTe  des  Geschehens.  (Leukippos,  Anaxagoras.)  41 

poc*);  durch  Eindringen  des  Hasses  sondert  sich  diese  homogene  Weltkugel  in 
die  einzelnen  Dinge,  bis  die  Elemente  vollkommen  getrennt  sind;  und  aus  dieser 
Scheidung  führt  sie  die  Liebe  wieder  zusammen,  bis  die  volle  Vereinigung  wieder 
erreicht  ist.  Weder  bei  völliger  Mischung  noch  bei  völliger  Trennung  giebt  es 
einzelne  Dinge;  in  beiden  Fällen  tritt  der  eleatische  Akosmismus  ein.  Eine  Welt 
bewegter  Einzeldinge  besteht  nur,  wo  Liebe  und  Hass  in  MisTchung  und  Ent- 
mischung mit  einander  ringen. 

Anders  bei  Leukipp.  Von  den  Atomen,  die  im  Weltall  regellos  fliegen, 
treflfen  hie  und  da  einige  zusammen.  Wo  solche  Anhäufungen  stattfinden,  da 
resultirt  nach  der  mechanischen  Nothwendigkeit  (ava7X7])  aus  den  ver- 
schiedenen Bewegungsantrieben,  welche  die  einzelnen  Theilchen  mitbringen,  eine 
drehende  Gesammtbewegung,  welche  benachbarte  Atome  und  Atomcomplexe 
oder  andere  zufliegende  Theilchen,  manchmal  auch  schon  ganze  „Welten"  in 
sich  hineinzieht  und  so  sich  mit  der  Zeit  ausbreitet.  Dabei  gUedert  sich  ein 
solches  im  Umschwung  begriffenes  System  in  sich  selbst,  indem  bei  der  Drehung 
die  feineren,  beweglicheren  Atome  in  die  Peripherie  getrieben,  die  trägeren, 
massigeren  in  der  Mitte  versammelt  werden  und  so  das  Gleiche  sich  zum  Gleichen 
findet,  nicht  durch  Neigung  oder  Liebe,  sondern  durch  die  gleiche  Gesetzmässig- 
keit des  Drucks  und  Stosses.  So  entstehen  zu  verschiedenen  Zeiten  an  ver- 
schiedenen Orten  im  unendlichen  Weltall  verschiedene  Welten,  von  denen  jede 
nach  mechanischem  Gesetz  sich  in  sich  weiter  bewegt,  bis  sie  vielleicht  durch 
einen  Zusammenstoss  mit  einer  anderen  Welt  zertriunmert  oder  auch  in  den  Um- 
schwung einer  grösseren  hineingerissen  wird.  So  seien,  haben  die  Atomisten 
behauptet,  dereinst  Sonne  und  Mond  eigene  Welten  gewesen,  die  dann  in  den 
grösseren  Wirbel,  dessen  Mitte  unsere  Erde  bilde,  hineingerathen  seien.  Wie 
nahe  diese  ganze  Vorstellung  principiell  an  diejenige  der  heutigen  Naturwissen- 
schaft reicht,  liegt  auf  der  Hand. 

Die  teleologische  Betrachtungsweise  des  Anaxagoras  dagegen 
schliesst  ebenso  die  zeitliche  wie  die  räumliche  Vielheit  von  Welten  aus.  Der 
ordnende  Geist,  der  die  zweckmässigste  Bewegung  der  Elemente  einleitet,  gestal- 
tet eben  nur  diese  Eine  Welt,  welche  die  vollkommenste  ist^).  Daher  schildert 
Anaxagoras  ganz  nach  Art  der  kosmogonischen  Dichtungen,  wie  dem  Weltanfang 
ein  chaotischer  Urzustand  voranging,  in  dem  die  Elemente  ohne  Ordnung,  un- 
bewegt, durch  einander  gemischt  waren:  da  kam  der  voö<;,  der  Vernunftstoff,  hinzu 
und  setzte  sie  in  geordnete  Bewegung.  Dieser  Wirbel  begann  an  Einem  Punkte, 
dem  Pol  des  Himmelsgewölbes,  und  breitete  sich  allmähg  über  die  ganze  Stoff- 
masse aus,  die  Elemente  scheidend  und  vertheilend,  so  dass  sie  nun  in  gleich- 
massig  harmonischer  Weise  ihren  gewaltigen  Umschwung  vollenden.  Das  teleo- 
logische Motiv  der  Lehre  des  Anaxagoras  erwächst  wesentlich  seiner  Bewun- 
derung der  Ordnung  in  der  Gestirn  weit,  die  sich,  nachdem  einmal  die  vom 
voöc  erregte  Drehung  sie  hergestellt  hat,  in  immer  gleichen  Geleisen  ohne  Stö- 
rung bewegt.  Nichts  lässt  annehmen,  dass  diese  teleologische  Kosmologie  auf 
die  Zweckmässigkeit  der  Lebewesen  oder  gar  auf  die  für  den  Menschen  erspriess- 


1)  Oflfenbar  nicht  ohne  Anlehnung  an  die  eleatische  Weltkugel,  der  diese  absolute, 
völlig  ausgeglichene  Mischung  aller  Elemente  des  Empedokles  sehr  ähnlich  sieht.  —  2)  Aus- 
geführt findet  sich  dies  Motiv  bei  Piaton,  Tim.  31  mit  unverkennbarer  Beziehung  auf  den  Gegen- 
satz zwischen  Anaxagoras  und  den  Atomisten. 


42  !•  Philosopliie  der  Griechen.    1.  Kosmologische  Periode. 

liehen  Zusammenhänge  der  Natur  hingewiesen  hätte :  ihr  Auge  hing  an  der  Schön- 
heit des  Sternenhimmels,  und  was  von  Ansichten  des  Anaxagoras  über  terrestri- 
sche Dinge,  über  Organismen,  über  den  Menschen  berichtet  wird,  hält  sich  ganz 
im  Rahmen  der  mechanistischen  Erklärungsweise  seiner  Zeitgenossen.  Auch  was 
er  über  die  Belebtheit  anderer  Weltkörper  als  der  Erde  gesagt  hat,  klingt  so, 
dass  es  ebenso  gut  von  den  Atoraisten  herrühren  könnte. 

Obwohl  somit  Anaxagoras  den  voö<;  auch  als  Princip  der  Beseelung  auffasste  und  die 
Theilchen  dieses  Stoftes  in  grösserer  oder  geringerer  Menge  den  organischen  Körpern  beige- 
mischt dachte,  so  fällt  doch  der  Schwerpunkt  dieses  Begriffs  bei  ihm  auf  die  Urheberschaft 
der  astronomischen  Weltordnung:  die  andere  Seite,  das  Moment  der  Beseelung,  dagegen  findet 
sich  viel  energischer  betont  in  der  Umbildung,  welche  ein  jüngerer  eklektischer  Naturphilosoph, 
Diogenes  von  Apollonia,  mitdemBegriif  des  Anaxagoras  vornahm,  indem  er  ihn  mit  dem 
hylozoistischcu  Princip  des  Anaximenes  verband.  Er  bezeichnete  nämlich  die  Luft  als  ^x**!» 
stattete  sie  aber  mit  den  Merkmalen  des  voö?,  der  Allwissenheit  und  der  zweckthätigen  K^raft 
aus,  nannte  diese  „vernünftige  Luft**  auch  das  nveu^a  und  fand,  dass  dasselbe,  wie  im  Weltall, 
so  auch  im  Menschen  und  anderen  Oi-ganismen  das  zweckmässig  gestaltende  Princip  sei.  Eine 
reiche  physiologische  Kenntniss  erlaubte  ihm,  diesen  Gedanken  an  dem  Bau  und  den  Functionen 
des  menschlichen  Leibes  im  Einzelnen  durchzuführen.  Bei  ihm  ist  die  Teleologic  zur  be- 
heiTschendeu  Auffassung  auch  für  die  organische  Welt  geworden. 

Seine  Fi*agmente  haben  Schorn  (Bonn  1829)  und  Panzkrbieter  (Leipzig  1830)  ge- 
sammelt.  Vgl.  K.  Steinhart,  in  der  Eucyklopädie  von  Ei-sch  und  Gruber. 

6.  Alle  diese  Lehren  aber  setzten  den  Begriff  der  Bewegung  als  einen 
selbstverständUchen  voraus:  sie  glaubten  die  quaUtative  Veränderung  erklärt  zu 
haben,  wenn  sie  als  deren  wahres  Wesen  Bewegungen,  sei  es  zwischen  den  con- 
tinuirlich  zusammenhangenden  Stofftheileu,  sei  es  im  leeren  Raum,  nachwiesen. 
Daher  richtete  sich  denn  auch  die  Gegnerschaft,  welche  die  eleatische  Schule 
allen  diesen  Lehren  entgegenbrachte,  in  erster  Linie  gegen  diesen  Begriff  der 
Bewegung,  undZenon  zeigte,  dass  derselbe  durchaus  nicht  so  einfach  hinzu- 
nehmen, sondern  voller  "Widersprüche  sei,  die  ihn  untäugUch  zum  Erklärungs- 
princip  machten. 

Unter  Z  en  o  n '  s  berühmten  Beweisen  von  der  Unmöglichkeit  der  Bewegung ') 
ist  der  schwächste  deqenige,  welcher  von  der  Relativität  der  Bewegung s - 
grosse  ausgeht,  indem  er  zeigt,  dass  die  Bewegung  eines  Wagens  verschieden 
geschätzt  wird,  wenn  sie  von  verschiedenen,  gleichfalls  in  Bewegung  befindlichen, 
aber  in  verschiedener  Richtung  und  Schnelligkeit  fahrenden  oder  von  einem 
fahrenden  und  einem  bewegten  Wagen  aus  beobachtet  wird.  Stärker  dagegen 
und  lange  Zeit  unüberwunden  waren  die  drei  anderen  Beweise,  welche  mit  der 
Zerlegung  des  Bewegungsraums  und  der  Bewegungszeit  in  unendlich  viele  und 
unendlich  kleine  diskrete  Theile  operii'ten.  Der  erste  bezog  sich  auf  die  Unmög- 
lichkeit, einen  festen  Raum  zu  durchlaufen,  welche  durch  die  unend- 
liche Theilbarkeit  der  Linie  begründet  werden  sollte,  indem  die  unendliche 
Anzahl  der  Punkte,  w^elche  vor  dem  Ziel  erreicht  werden  muss,  keinen  Anfang 
der  Bewegung  gestatte.  Etwas  variii't  erscheint  derselbe  Gedanke  in  dem  zweiten 
Beweise,  der  die  Unmöglichkeit,  einen  Raum  mit  beweglicher  Grenze 
zu  durch  laufen,  dadurch  erhärten  will,  da  ss,  da  der  Verfolger  in  j  edem  Moment 
erst  den  Punkt  erreichen  muss,  von  dem  zugleich  der  Verfolgte  aufbricht,  dem 
letzteren  stets  ein,  wenn  auch  immer  kleinerer,  minimaler  Vorsprung  bleiben 
müsse  (Achi Ileus  und  die  Schildkröte).  Der  dritte  Beweis  richtet  sich  auf  die 
unendliche  Kleinheit  der  momentanen  Bewegungsgrösse:  der  be- 

1 )  Arist.  phys.  VI  9,  239  b  9.  Vgl.  Ed.  "Wellmann,  Zenon's  Beweise  gegen  die  Be- 
wegung und  ihre  AViderlegungen  (Frankfurt  a.  0.  1870). 


§  5.  Begriflfe  des  Geschehens.  (Zcnon,  Pythagoreer.)  43 

wegte  Körper  ist  in  jedem  Momente  in  irgend  einem  Punkte  seiner  Bahn,  seine 
Bewegung  in  diesem  Momente  ist  gleich  Null;  aber  aus  noch  so  vielen  Null  ent- 
steht keine  reale  Grösse  (der  ruhende  Pfeil). 

Zusammen  mit  den  (oben  erwähnten)  Aporien  über  den  Raum  und  die  Vielheit 
stellen  diese  Argumentationen  Zenon's  ein  äusserst  geschickt  entworfenes  System 
einer  Widerlegung  der  mechanistischen  Lehren,  insbesondere  des  Atomismus  dar, 
welche  Widerlegung  zugleich  als  indirecter  Beweis  für  die  Richtigkeit  des  eleati- 
schen  Seinsbegriffs  gelten  sollte. 

7.  Auch  die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  war  insofern  eleatisch  bestimmt, 
als  sie  der  Hauptsache  nach  dai'auf  ausging,  mathematische  Formen  als  die 
(xrundverhältnisse  der  Wirklichkeit  nachzuweisen :  aber  wenn  sie  die  letztere  als 
Nachahmung  der  ersteren  bezeichnete,  so  schrieb  sie  doch  damit  den  Einzel- 
dingen und  dem  zwischen  ihnen  stattfindenden  Geschehen  eine,  wenn  auch 
abgeleitete  und  sccundäre  Wirklichkeit  zu,  und  die  Pythagoreer  entzogen  sich 
der  Beantwortung  der  kosmologischen  und  physicalischen  Fragen  um  so  weniger, 
als  sie  der  Philosophie  die  glänzenden  Ergebnisse  ihrer  astronomischen  For- 
schung zufuhren  konnten.  Sie  hatten  die  Kugelgestalt  der  Erde  und  der  übrigen 
Weltkörper  erkannt,  sie  wussten  auch,  dass  der  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  auf 
einer  Bewegung  der  Erde  selbst  beruht.  Zunächst  freilich  dachten  sie  diese 
Bewegung  als  Umkreisung  eines  Centralfeuers,  dem  die  Erdkugel  immer  dieselbe 
uns  unbekannte  Seite  zukehren  sollte  *) :  dagegen  nahmen  sie  an,  dass  um  das- 
selbe Centralfeuer  sich  ausserhalb  der  Erdbahn  in  concentrischen  Kreisen  der 
Ueihe  nach  Mond,  Sonne,  die  Planeten  und  zuletzt  der  Fixsternhimmel  bewegten. 
In  dieses  System  aber  trugen  sie  nun  den  metaphysischen  DuaUsmus,  welchen  sie 
zwischen  dem  Vollkommenen  und  dem  Unvollkommenen  statuirt  hatten,  derartig 
hinein,  dass  sie  den  Sternenhimmel  wegen  des  erhabenen  Gleichmasses  seiner 
Bewegungen  als  das  Reich  der  Vollkommenheit,  die  Welt  „unter  dem  Monde" 
dagegen  wegen  der  Unruhe  ihrer  wechselnden  Gestaltungen  und  Bewegungen  als 
das  der  Unvollkonnnenheit  betrachtete. 

Diese  Betrachtung  läuft  der  des  Anaxagoras  parallel  und  fuhrt,  wenn  auch 
in  anderer  Weise  zur  Verschlingung  der  Theorie  mit  Werthbestimmungen.  An 
der  Hand  seiner  astronomischen  Einsichten  ist  dem  griechischen 
Geiste  der  Gedanke  einer  gesetzmässigen  Naturordnung  in  klarer 
Erkenntniss  aufgegangen.  Anaxagoras  schliesst  daraus  auf  ein  ordnendes 
Princip,  der  Pythagoreismus  findet  am  Himmel  die  götthche  Ruhe  des  Sichgleich- 
bleibens, die  er  auf  der  Erde  vermisst.  Uralt  religiöse  Vorstellungen  begegnen 
sich  hier  mit  dem  sehr  verschiedenen  Erfolg,  den  die  wissenschaftliche  Arbeit 
der  Griechen  bis  hierher  gehabt  hat :  wenn  sie  ein  Bleibendes  im  Wechsel  des 
Geschehens  suchte,  so  hat  sie  dies  nur  in  den  gi'ossen,  einfachen  Verhältnissen, 
in  dem  ewig  gleichen  Umschwünge  der  Gestinie  gefunden.  In  der  irdischen  Welt, 
mit  dem  ganzen  Wechsel  mannigfaltiger,  sich  stetig  durchkreuzender  Bewe- 
gungen, ist  ihr  diese  Gesetzmässigkeit  noch  verborgen:  sie  gilt  ihr  als  ein  Gebiet 

1)  Schon  zur  Zeit  Platon's  wurde  von  jüngeren  Pythagoreem  (Ekphantos,  Hikctas  von 
Syrakus)  die  Hypothese  des  Centralfeuers  (und  damit  die  der  vorher  als  zwischen  diesem  und 
der  Erde  befindlich  angenommenen,  nur  zur  Füllung  der  Zehnzahl  erdachten  „Gegenerde")  auf- 
gegeben, dafür  aber  die  Erdkugel  in  die  Mitte  der  Welt  versetzt  und  mit  einer  Axendrehung 
ausgestattet,  mit  welcher  Annahme  dann  diejenige  eines  Stillstandes  des  Fixstemhimmels  ver- 
bunden war. 


44  I-  Philosophie  der  Grriechen.    1.  Eosmologische  Periode. 

des  Unvollkommenen,  Niederen,  das  jener  sicheren  Ordnung  entbehrt.  In 
gewissem  Sinne  kann  dies  als  das  für  die  Folgezeit  massgebende  Schlussresultat 
der  ersten  Periode  angesehen  werden. 

Wie  sich  die  Pythagorcer  zu  der  Frage  nach  einem  periodischen  Wechsel  von  Welt- 
entstehung und  Weltvernicntung  verhalten  haben ,  ist  nicht  sicher.  Eine  Vielheit  coexistirender 
Welten  ist  bei  ihnen  ausgeschlossen.  In  ihrer  Weltbildungstheorie  und  in  ihren  einzelnen 
physicalischen  Lehren  räumen  sie  dem  Feuer  eine  so  hervorragende  Bedeutung  ein,  dass  sie 
dem  Heraklit  sehr  nahe  kommen.  Schon  einen  der  Zeitgenossen  des  Philolaos,  Hippasos 
von  Metapont,  stellt  Aristoteles  (Met.  I,  B)  unmittelbar  mit  Heraklit  zusammen. 

Dass  sie  neben  die  vier  Elemente  des  Empedokles  als  fünftes  noch  den  Aethcr,  als  das 
Element  setzten,  aus  dem  die  Kugelschalen  des  Himmels  gebildet  seien,  hängt  zweifellos  mit 
der  Scheidung  zusammen,  die  sie  zwischen  Himmel  und  Erde  machten.  Ob  und  wie  sie  die 
Elemente  aus  einem  gemeinsamen  Grunde  herleiteten,  ist  nicht  minder  schwer  zu  entscheiden : 
nach  manchen  Stellen  scheint  es,  als  hätten  sie  von  einer  fortschreitenden  „Anziehung",  d.  h. 
in  diesem  Falle  (vgl.  oben  S.  35)  mathematischen  Gestaltung  des  leeren  Raums  durch  das  iv, 
die  über  Begrenzung  und  Unbegrenztes  erhabene  Urzahl,  gesprochen.  Doch  scheinen  auch 
in  diesen  Fragen  verschiedene  Ansichten  innerhalb  der  Schule  neben  einander  her  gegangen 
zu  sein. 

%  6.  Die  BegrifFe  des  Erkennens. 

M.  ScHNEiDEWiN,  Ucbcr  die  Keime  erkenntnisstheoretischer  und  ethischer  Philosopheme 
bei  den  vorsokratischen  Denkern,  Philos.  Monatshefte  11  (1869),  p.  257,  345,  429. 

B.  MOnz,  Die  Keime  der  Erkenntnisstheorie  in  der  vorsophistischen  Periode  der  grie- 
chischen Philosophie.   Wien  1880. 

Die  Frage,  was  die  Dinge  eigentlich  seien,  welche  schon  in  dem  milesischen 
Begriff  der  ipyii  enthalten  ist,  setzt,  ohne  dass  dies  ausdrücklich  gleich  zum 
Bewusstsein  kommt,  eine  Erschütterung  der  landläufigen,  ursprünghchen  und 
naiven  Vorstellungsweise  von  der  Welt  voraus;  sie  beweist,  dass  dem  Nachdenken 
die  vorgefundenen  Vorstellungen  nicht  mehr  genügen,  dass  es  die  Wahrheit  hinter 
oder  über  denselben  sucht.  Gegeben  aber  sind  jene  Vorstellungen  durch  die 
sinnHche  Wahrnehmung  und  deren  unwillkürliche  verstandesmässige  Verarbei- 
tung, wie  sie,  von  Generation  zu  Generation  fortgepflanzt,  verdichtet  und  fest- 
gesetzt, in  der  Sprache  niedergelegt  ist.  Wenn  der  Einzelne  mit  seinem  Nach- 
denken darüber  liinausgeht  —  und  darin  besteht  schliesslich  die  wissenschaftliche 
That  — ,  so  thut  er  es  auf  Grund  logischer  Bedürfnisse,  die  sich  in  ihm  bei  der 
Ueberlegung  über  das  Gegebene  geltend  machen.  Sein  Philosophiren  erwächst 
also,  auch  wenn  er  sich  daiüber  nicht  Rechenschaft  giebt,  aus  Unzuträghchkeiteu 
zwischen  seiner  Erfahrung  und  seinem  Denken  darüber,  aus  der  Unzulänglichkeit, 
welche  das  seiner  Vorstellung  Gebotene  den  Anforderungen  und  Voraussetzungen 
seines  Verstandes  gegenüber  aufweist.  So  wenig  anfanglich  das  naive  Philosophi- 
ren dieses  seines  inneren  Grundes  sich  bewusst  sein  mag,  so  kann  es  doch  nicht 
ausbleiben,  dass  es  mit  der  Zeit  auf  diesen  verschiedenen  Ursprung  der  in  ihm 
mit  einander  ringenden  Vorstellungsmassen  aufmerksam  wird. 

1.  Die  ersten  Beobachtungen,  welche  daher  die  griechischen  Philosophen 
über  die  menschhche  Erkenntniss  gemacht  haben,  betreffen  diesen  Gegensat  z 
zwischen  Erfahrung  und  Nachdenken.  Je  weiter  sich  die  erklärenden 
Theorien  der  Wissenschaft  von  der  Vorstellungsweise  des  täglichen  Lebens  ent- 
fernten, um  so  mehr  wurden  ihre  Urheber  sich  darüber  klar,  dass  sie  einem  andern 
Grunde  entstixmmten,  als  die  gewohntenMeinungen.  Viel  freihch  haben  sie  darüber 
noch  nicht  auszusagen.  Sie  stellen  der  Wahrheit  die  Meinung  (SöSa)  gegenüber, 
und  oft  besagt  das  eben  nur  dies,  dass  ihre  eigene  Lehre  wahr,  die  Meinungen 
der  Andern  dagegen  falsch  seien.  Nur  so  viel  ist  ihnen  gewiss,  dass  sie  ihre  eigene 


§  6.  Begriffe  des  Erkennens.  (Heraklit,  Farmenides,  Empedoklea,  Leukippos.)  45 

Ansicht  dem  Nachdenken  verdanken,  während  die  Masse  der  Menschen^  über 
deren  intellectuelle  Thätigkeit  sich  gerade  die  älteren  Philosophen,  Heraklit,  Par- 
menides,  Empedokles  höchst  abschätzig  äussern,  bei  dem  Sinnenschein  verharren. 
Nur  durch  das  Denken  also  (^ povetv,  vosiv,  Xö^oc)  wird  die  Wahrheit  gefunden^  die 
Sinne  allein  geben  Lug  und  Trug ').  So  weit  ist  das  Nachdenken  in  sich  erstarkt, 
dass  es  nicht  nur  zu  Folgerungen  schreitet,  welche  dem  gewöhnUchen  Meinen 
durchaus  paradox  geworden  sind,  sondern  auchausdrückhch  den  Meinungen  gegen- 
über sich  als  die  einzige  Quelle  der  Wahrheit  behauptet. 

Wunderlich  wirkt  es  dabei  freiUch,  wenn  man  bemerkt,  dass  diese  selbe  Be- 
hauptung dicht  hinter  einander  von  Heraklit  und  Parmenides  in  vöUig  ent- 
gegengesetzter Art  erläutert  wird.  Jener  nämhch  findet  den  Trug  der  Sinne  und 
den  Irrthum  der  Menge  darin,  dass  die  Wahrnehmung  dem  Menschen  das  Sein 
beharrender  Dinge  vorspiegelt;  der  Eleat  dagegen  eifert  gegen  die  Sinne  des- 
halb, weil  sie  uns  überreden  wollen,  es  gäbe  in  Wahrheit  Bewegung  und  Verän- 
derung, Werden  und  Entstehen,  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit.  Gerade  diese 
Doppelform,  in  welcher  dieselbe  Behauptung  auftritt,  erweist,  dass  dieselbe  nicht 
das  Ergebniss  einer  Untersuchung,  sondern  der  Ausdruck  einer  Anforderung  ist. 

üebrigens  fügte  sich  dieser  Satz  den  Weltanschauungen  der  beiden  grossen 
Metaphysiker  in  sehr  verschiedenem  Masse  ein.  Heraklit's  Fluss  aller  Dinge  mit 
dem  rastlosen  Wechsel  einzelner  Erscheinungen  liess  auch  die  Möglichkeit  des 
Auftauchens  falscher  Vorstellungen  leicht  begreiflich  erscheinen,  und  für  den 
Schein  des  Beharrens  und  Seins  war  noch  eine  besondere  Erklärung  in  dem  „  Gegen- 
lauf" (ivavTtotpoicta)  der  beiden  „Wege"  gegeben,  welcher  diesen  Schein  da  ent- 
stehen lässt,  wo  zugleich  ebenso  viel  verwandelt  wie  rückverwandelt  wird.  Dagegen 
ist  durchaus  nicht  abzusehen,  wo  in  der  Einen,  überall  gleichen  Weltkugel  des 
Parmenides,  die  daneben  der  Eine  wahre  Weltgedanke  sein  sollte,  der  Sitz  des 
Scheins  und  des  Irrthums  gesucht  werden  sollte:  das  konnte  doch  nur  bei  den 
Einzeldingen  und  deren  wechselnden  Thätigkeiten  geschehen,  die  selbst  für  Schein, 
für  nicht-seiend  erklärt  wurden.  Doch  ist  in  der  erhaltenen  Literatur  auch  nicht 
der  geringste  Anhalt  dafür  zu  finden,  dass  dieser  so  emfache  Gedanke^),  der  den 
ganzen  Eleatismus  über  den  Haufen  geworfen  hätte,  den  Forschem  jener  Zeit 
gekommen  wäre.  Jedenfalls  beruhigten  sich  die  Eleaten  selbst  bei  der  Behaup- 
tung, alle  Besonderung  und  Veränderung  sei  Trug  und  Schein. 

Dieselbe  naive  Leugnung  dessen,  was  man  nicht  erklären  konnte, 
scheinen  auch  die  Nachfolger  der  Eleaten  in  Betreff  der  qualitativen  Bestim- 
mungen der  Einzeldinge  angewendet  zu  haben.  Empedokles  wenigstens  be- 
hauptete zwar,  alle  Dinge  seien  Mischungen  der  Elemente:  aber  die  Aufgabe,  die 
ihm  daraus  hätte  erwachsen  müssen,  zu  zeigen,  wie  die  anderen  Qualitäten  aus  der 
Mischung  der  Eigenschaften  der  Elemente  entstehen,  hat  er  nicht  gelöst,  er  hat 
sie  sich,  soweitunsere  Kenntniss  reicht,  gar  nicht  gestellt;  er  hat  vermuthlich  diese 
Sonderqualitäten  ebenso  für  nicht-seiend  und  für  Sinnentrug  angesehen,  wie  Par- 
menides alle  Qualitäten  überhaupt.  Und  ebenso  dürfte  die  durch  Leukipp  ver- 
tretene älteste  Ansicht  des  Atomismus  eben  dahin  gegangen  sein,  dass  in  den 
Einzeldingen  nur  Gestalt,  Ordnung,  Lagerung  und  Bewegung  der  sie  zusammen- 


1)  Herakl.  Fragm.  (Schust.)  11,  123.  Pannen.  Fragm.  (Karsten;  54  ff.  —  2)  Zuerst  aus- 
geführt Platou,  Sophist.  237  a. 


46  !•  Pliilosophie  der  Griechen.    1.  Kosmologische  Periode. 

setzenden  Atome  real  wären,  die  anderen  Eigenschaften  aber  nur  einen  auch  hier 
nicht  weiter  erklärten  Sinnentrug  bildeten  *). 

Vielleicht  waren  diese  Schwierigkeiten  mitbestimmend  für  A  n  a  x  a  g  o  r  a  s , 
wenn  er  alle  Qualitäten  für  ungeworden  ansah  und  danach  zahllose  Elemente 
statuirte.  Ihm  erwuchs  nun  aber  die  entgegengesetzte  Schwierigkeit,  wie,  wenn 
Alles  in  Allem  enthalten  sein  sollte,  es  kommen  konnte,  dass  dem  einzelnen  Dingo 
nur  einige  von  diesen  Quahtäten  beizuwohnen  scheinen.  Zum  Theil  erklärte  er 
dies  daraus,  dass  viele  Bestandtheile  wegen  ihrer  Kleinheit  nicht  wahrnehmbar 
seien,  und  dass  daher  erst  das  Denken  uns  über  die  wahren  Qualitäten  der  Dinge 
belehren  könne *^);  daneben  aber  scheint  er  auch  den  Gedanken  verfolgt  zu  haben, 
der  schon  in  Anaximander^s  Vorstellung  vom  otTrstpov  sich  findet :  dass  nämlich 
eine  vollkommene  Mischung  bestimmter  Qualitäten  etwas  Unbestimmtes  ergebe. 
So  beschrieb  er  wenigstens  die  der  Weltbildung  vorangehende  Urmischung  aller 
Stoffe  als  völlig  qualitätlos  ^),  und  ein  ähnlicher  Gedanke  scheint  ilim  erlaubt  zu 
haben,  die  vier  empedokleischen  Elemente  nicht  als  Urstoffe  anzuerkennen,  son- 
dern bereits  für  Mischungen  zu  halten*). 

Der  gemeinsame  Rationalismus  der  vorsophistischen  Denker  nimmt  nun 
bei  den  Py  thagoreern  die  besondere  Form  an,  dass  für  sie  die  Erkenntniss  im 
mathematischen  Denken  besteht,  und  das  ist,  wenn  auch  an  sich  eine  Ver- 
engerung, so  doch  andrei'seits  ein  grosser  Fortschritt  insofern,  als  damit  zum 
ersten  Mal  eine  positive  Bestimmung  des  Denkens  im  Gegensätze  zur  Wahrneh- 
mung gegeben  wird.  Nur  durch  die  Zahl,  lehrte  Philolaos^),  ist  das  Wesen  der 
Dinge  zu  erkennen,  d.  h.  sie  sind  erst  begriffen,  wenn  die  ihnen  zu  Grunde  liegende 
mathematische  Bestimmtheit  erkannt  ist.  So  hatten  die  Pythagoroer  es  in  der 
Musik  und  in  der  Astronomie  erfahren,  und  so  verlangten  und  versuchten  sie  es 
für  alle  anderen  Gebiete.  Wenn  sie  dann  aber  schliesslich  zu  dem  Resultate  kamen, 
dass  diese  Anforderung  vollständig  nur  in  der  Erkenntniss  der  vollkommenen 
Welt  der  Gestirne  erfüllt  werden  kann,  so  folgerten  sie  daraus,  dass  die  Wissen- 
schaft (aoyia)  sich  nur  auf  das  Reich  der  Ordnung  und  der  Vollkommenheit,  d.  h. 
auf  den  Himmel  zu  beziehen  habe,  und  dass  in  dem  Reiche  des  Unvollkommenen, 
des  ungeordneten  Wechsels,  d.  h.  auf  Erden  nur  die  praktische  Tüchtigkeit 
(apsTTj)  gelte  *^). 

Eine  andere  positive  Bestimmung  des  Denkens,  das  die  Früheren  ohne 
nähere  Angabe  dem  Wahrnehmen  gegenübergest<;llt  hatten,  dämmeiii  in  den  Ar- 
gumentationen Zenon's  herauf:  die  logische  Gesetzmässigkeit.  Allen  seinen 
Angriffen  gegen  die  Vielheit  und  die  Bewegung  liegt,  wenn  auch  nicht  abstract 
ausgesprochen,  so  doch  sehr  klar  und  sicher  angewendet  der  Satz  des  AVider- 
spruchs  und  die  Voraussetzung  zu  Grunde,  dass  das  nicht  wirklich  sein  könne, 
wovon  dasselbe  bejaht  und  auch  verneint  werden  müsse.  Die  hochgradige  Paro- 
doxie  der  eleatischen  Weltansicht  zwang  ihre  Vertreter  mehr  als  andere  zur 
Polemik,  und  von  der  ausgebildeten  Technik  des  Widerlegens,  zu  der  es  die  Schule 
in  Folge  dessen  brachte,  bieten  die  Berichte  über  Zenon's,  wie  es  scheint,  auch 


1)  Es  ist  äusserst  unwahrscheiüli(;h,  dass  die  Lösung  des  Problems  durch  die  Subjectivitat 
der  Sinnesqualitäten,  welche  sich  bei  Dcmokrit  findet,  schon  von  Lcukipp,  also  vor  Protagoras, 
der  allgemein  als  Begründer  dieser  Theorie  nrilt,  vorgetragen  sein  sollte.  —  2)  Scxt.  Enip.  adv. 
matli.  VII,  90  1".  —  S)  Fr.  (Schorn)  4.  Von  dieser  Stelle  dürfte  auch  das  rechte  Licht  auf  den 
Sinn  fallen,  in  welchem  schon  Auaxiniander  das  ÄTtsipov  als  otopisxov  l)ezeichnet.  —  4)  Arist, 
de  gen.  et  corr.  I  1,  314  a  24.  —  5)  Fragm.  (Müll.)  13.  —  6)  Stob.  Ecl.  I,  488. 


§  6.  BegriflFe  des  Erkennens.  (Zenon.)  47 

logisch  wohlgeordnete  und  eingetheilte  Schrift  ein  rühmliches  Zeugniss.  Aller- 
dings scheint  diese  formale  Schulung,  welche  in  den  eleatischen  Kreisen  herrschte, 
zu  abstracter  Aufetellung  logischer  Gesetze  noch  nicht  geführt  zu  haben. 

2.  Die  Gegenüberstellung  von  Denken  und  Wahrnehmen  entsprang  also 
dem  Postulat  einer  erkenntnisstheoretischen  Werthbestimmung:  im 
entschiedenen  Widerspruche  damit  stehen  nun  aber  durchgängig  die  psycholo- 
gischen Bestimmungen,  mit  denen  dieselben  Forscher  den  Ursprung  und  den 
Process  des  Erkennens  aufzufassen  suchten.  Obwohl  nämlich  ihr  Denken  zunächst 
und  hauptsächlich  auf  die  Aussenwelt  gerichtet  war,  so  fiel  doch  auch  die  seeUsche 
Thätigkeit  des  Menschen  insofern  unter  ihre  Aufmerksamkeit,  als  sie  auch  darin 
eine  der  Gestaltungen  und  Verwandlungen  oder  eines  der  Bewegungserzeugnisse 
des  Universums  sehen  mussten.  Die  Seele  und  ihr  Thun  wird  also  in  dieser  Zeit 
nur  im  Zusammenhange  des  ganzen  Weltlaufs,  dessen  Product  sie  so 
gut  ist  wie  alle  anderen  Dinge,  wissenschaftlich  betrachtet,  und  da  die  all- 
gemeinen Erklärungsprincipien  überall  bei  diesen  Männern  noch  körperlich  ge- 
dacht werden,  so  begegnen  wir  auch  einer  durchgängig  materialistischen 
Psychologie*). 

Seele  ist  nun  zunächst  Bewegungskraft:  Thaies  schrieb  eine  solche  dem 
Magneten  zu  und  erklärte,  die  ganze  Welt  sei  voller  Seelen.  Das  Wesen  der 
Einzelseele  wurde  daher  zunächst  in  Demjenigen  gesucht,  was  als  das  bewegende 
Princip  im  Ganzen  erkannt  worden  war:  Anaximenes  fand  es  in  der  Luft,  Heraklit 
und  gleichfalls  Parmenides  (in  seiner  hypothetischen  Physik)  im  Eeuer,  ebenso  Leu- 
kipp in  den  Peueratomen  ^),  Anaxagoras  in  dem  weltbewegenden  Vernunftstoff,  dem 
voöc  Wo  ein  körperliches  Bewegungsprincip  fehlte,  wie  bei  Empedokles,  da  wurde 
der  Mischstoff,  der  den  lebendigen  Leib  durchströmt,  das  Blut,  als  Seele  angesehen : 
Diogenes  von  ApoUonia  fand  das  Wesen  der  Seele  in  der  dem  Blut  beigemischten 
Luft  ^).  Auch  bei  den  Pythagoreem  konnte  die  Einzelseele  nicht  mit  dem  iv, 
welches  sie  als  weltbewegendes  Princip  dachten,  gleichgesetzt  oder  als  Theil  davon 
angesehen  werden:  statt  dessen  lehrten  sie,  die  Seele  sei  eine  Zahl,  und  bestimmten 
diese  sehr  vage  Behauptung  näher  dahin,  sie  sei  eine  Harmonie,  ein  Ausdruck, 
den  man  ^)  nur  so  auffassen  kann,  dass  sie  darunter  eine  Harmonie  des  Leibes,  d.  h. 
das  lebendige  Zusammenspiel  der  Theile  desselben  verstanden. 

Wurden  nun  dieser  Bewegungskraft,  welche  im  Tode  den  Leib  verlässt, 
zugleich  diejenigen  Eigenschaften  beigelegt,  welche  wir  jetzt  als  „seelische" 
bezeichnen,  socharakterisirt  sich  das  specifisch  theoretische  Interesse,  von  dem  diese 
älteste  Wissenschaft  erfüllt  war,  sehr  deutlich  dadurch,  dass  unter  diesen  fast  aus- 
schliesslich das  Vorstellen,  das  „Wissen"  beachtet  wird^).  Von  Gefühlen  und 

1)  Neben  denjenigen  BeBtimmiingon  über  die  Seele,  welche  aus  der  allgemeinen  wissen- 
schaftlichen Ansicht  sich  ergaben,  finden  sich  in  der  Ucberlieferung  bei  mehreren  dieser 
Männer  (Heraklit,  Parmenides,  Empedokles  und  den  Pythagoreem) noch  andere  Lehren,  welche 
mit  jenen  nicht  nur  ohne  Zusammenhang,  sondern  im  directen  Widerspruche  sind.  Auffassung 
des  Leibes  als  Kerkers  der  Seele  (oajfxa  =  G^jJia),  persönliche  Unsterblichkeit,  Vergeltung 
nach  dem  Tode,  Seelenwanderung :  das  alles  sind  Vorstellungen,  welche  die  Philosophen  ihren 
Beziehungen  zu  den  Mysterien  entnahmen  und  in  ihrer  priesterlichen  Lehre  beibehielten,  so 
wenig  sie  mit  den  wissenschaftlichen  zusammen  stimmten.  Von  solchen  Aeusscrungen  ist 
oben  Abstand  genommen.  —  2)  Aehnlich  erklärten  einige  der  Pythagoreer  die  Sonnenstäub- 
chen in  der  Luft  für  Seelen.  —  3)  Da  er  mit  Hinblick  darauf  den  Unterschied  venösen  und 
arteriellen  Bluts  erkannte,  so  meinte  er  mit  seinem  TCV£U(jia  das,  was  die  heutige  Chemie  Sauer- 
stoff nennt.  —  4)  Nach  Piaton,  Phaed.  85  ff.  —  5)  Der  voü<;  des  Anaxagoras  ist  nur  Wissen, 
die  Luft  bei  Diogenes  von  Apollonia  ein  grosser,  kräftiger,  ewiger,  vieles  wissender  Körper, 


48  J«  Philosophie  der  Griechen.   1.  Kosmologische  Periode. 

Willensthätigkeiten  ist  kaum  gelegentlich  die  Rede  *).  Wie  aber  die  Einzelseele, 
sofern  sie  Bewegungskraft  ist,  ein  Theil  der  das  ganze  Weltall  bewegenden  Kraft 
sein  sollte,  so  konnte  auch  das  Wissen  des  Einzelnen  nur  als  ein  Theil  des  Welt- 
wissens ^)  aufgefasst  werden.  Am  deutlichsten  ist  diesbeiHeraklit  und  Anaxagoras : 
jeder  Einzelne  hat  so  viel  Wissen,  wie  in  ihm  von  der  allgemeinen  Weltvemunft, 
dem  Feuer  bei  Heraklit'),  dem  vof><;  bei  Anaxagoras,  enthalten  ist.  Auch  bei 
Leukipp  und  Diogenes  von  Apollonia  sind  die  Vorstellungen  ähnlich. 

Dieser  physicaUschen,  bei  Anaxagoras  besonders  rein  quantitativen  Auf- 
fassung hat  jedoch  Heraklit  eine  Wendung  gegeben,  bei  der  wieder  das  erkenntniss- 
theoretische Postulat  durchdringt  und  sich  als  verinnerlichende  und  vertiefende 
Kraft  geltend  macht.  Die  Weltvernunft,  an  der  der  Einzelne  in  seiner  Erkenntniss 
participirt,  ist  überall  dieselbe ;  der  XöYo<;des  Heraklit  *)  und  der  vofi<;  des  Anaxagoi*as 
sind  als  die  in  sich  gleichartige  Veniunft  durch  das  ganze  Weltall  als  bewegende 
Kraft  vertheilt.  Das  Wissen  also  ist  das  Allen  Gemeinsame.  Es  ist  deshalb 
das  Gesetz  und  die  Ordnung,  der  sich  Jeder  zu  fügen  hat.  Im  Traum,  in  der 
persönlichen  Meinung  hat  Jeder  seine  eigene  Welt :  das  Wissen  ist  Allen  gemein 
l^ovöv].  Vermöge  dieses  Merkmals  des  allgemein  geltenden  Gesetzes  erhält  der 
Begriflf  des  Wissens  einen  normativen  Sinn^),  und  die  Unterordnung  unter 
das  Gemeinsame,  das  Gesetz,  erscheint  als  Pflicht  auf  dem  intellectuellen  Gebiete 
ebenso  wie  auf  dem  politischen,  sittlichen  und  religiösen®). 

3.  Fragen  wir  nun  aber,  wie  man  unter  diesen  Voraussetzungen  sich  erklärte, 
dass  das  „Wissen"  in  den  einzelnen  Menschen,  d.  h.  in  seinen  Leib  hineinkommt, 
so  hat  auchHeraküt  und  die  ganze  Schaar  seiner  Nachfolger  keine  andere  Antwort, 
als  die:  durch  das  Thor  der  Sinne.  Beim  wachen  Menschen  strömt  durch  die 
geöffneten  Sinne  (Gesicht  und  Gehör  werden  natürlich  hauptsächlich  berück- 
sichtigt '')  die  Weltvemunft  in  den  Leib  ein,  und  darum  weiss  er.   Freilich  nur, 


das  Sein  bei  Parmeuides  zugleich  voetv  etc.  Nur  «fiXot-rj?  und  vstxog  bei  Empedoklcs  sind 
mythisch  hypostasirte  Triebe;  sie  haben  aber  auch  mit  seinen  psychologischen  Ansichten 
Nichts  zu  thun. 

1)  Es  hängt  damit  zusammen,  dass  im  Allgemeinen  nicht  einmal  von  Ansätzen  ethischer 
Untersuchung  in  dieser  Periode  gesprochen  werden  kann.  Denn  einzelne  moralisireude  Re- 
flexionen oder  Ermahnungen  können  nicht  als  Anlange  der  Ethik  gelten.  Ueber  die  einzige 
Ausnahme  vgl.  unten  Anm.  6.  -  2)  Den  Ausdruck  „Weltscele**  hat  zuerst  Piaton  oder 
frühestens  (in  dem  allerdings  gerade  auch  deshalb  angezweifelten  Fr.  [Mull.]  21)  Philolaos 
gebraucht.  Die  Vorstellung  ist  l)ei  Anaxiraeues,  Heraklit,  Anaxagoras  und  wohl  auch  bei  den 
Pythagoreem  sicher  vorhanden.  —  8)  Daher  der  paradoxe  Ausspruch,  die  trockenste  Seele 
sei  die  weiseste,  und  die  Mahnung,  die  Seele  vor  Nässe  (llausch)  zu  schützen.  ---  4)  Vgl. 
hier/u  und  weiter  M.  Heinze,  Die  Lehre  vom  Logos  in  der  griechischen  Philosophie 
(Oldenburg  1872).  —  5)  Fragm.  (Schüst.)  123.  —  ö)  Dies  ist  der  einzige  Begriff  in  der 
Entwicklung  des  vorsophistischen  Denkens,  bei  welchem  man  von  dem  Versuch  der  Auf- 
stellung eines  wissenschaftlichen  IVincips  der  Ethik  sprechen  kann.  Wenn  Heraklit  bei 
dieser  Unterordnung  unter  das  (Icsetz  einen  allgemeinen  Ausdruck  für  alle  moralischen 
Pflichten  im  Auge  hatte  oder  wenigstens  traf,  so  knüpfte  er  denselben  zugleich  an  den  Grund- 
gedanken seiner  Metaphysik,  wt^lche  dies  Gesetz  für  das  bleibende  AVesen  der  Welt  erklärte. 
Doch  ist  oben  (§  4)  darauf  hiugewiesen  worden,  dass  er  in  dem  Begriff  der  Weltordnung,  der 
ihm  vorschwebte,  die  verschiedenen  Motive  (namentlich  eben  das  physische  vom  ethischen) 
noch  nicht  bewusst  sonderte,  und  so  arbeitet  sich  auch  die  ethische  Untersuchung  noch  nicht 
klar  aus  der  physischen  zur  S«'lbständigkeit  heraus.  Dasselbe  gilt  von  den  Pythagoreem, 
welche  den  Begriff  der  Ordnung  durch  den  (übrigens  auch  von  Heraklit  zu  übernehmenden) 
Terminus  Harmonie  ausdrückten,  und  deshalb  auch  ihrei-seits  die  Tugend  als  „Harmonie"  be- 
zeichneten. Freilich  nannten  sie  eine  Harmonie  auch  die  Seele,  die  Gesundheit  und  vieles 
andere.  —  7)  Daneben  noch  Geruch  (Eui^iedokles)  und  Geschmack  (Anaxagoras).  Auf  den  Tast- 
sinn scheinen  nur  die  Atomisten,  insbesondere  aber  erst  Dcmokrit  Werth  gelegt  zu  haben. 


§  6.  Begriffe  des  Erkennens.  (Heraklit  —  Anaxagoras.)  49 

wenn  in  ihm  selbst  noch  so  viel  Vernunft  oder  Seele  ist,  dass  der  von  aussen 
kommenden  Bewegung  eine  innere  entgegenkommt  ^):  aber  auf  dieser  durch  die 
Sinne  bewirkten  Wechselwirkung  zwischen  der  äusseren  und  der  inneren  Vernunft 
beruht  das  Erkennen. 

Einen  psychologischen  Unterschied  also  zwischen  Wahrnehmen  und 
Denken,  die  in  ihren  erkenntnisstheoretischen  Werthen  so  schroflf  einander  gegen- 
übergestellt werden,  weiss  Herakht  nicht  anzugeben:  ebensowenig  aber  ist  dazu 
Parraenides^)  im  Stande  gewesen **).  Vielmehr  hat  er  die  Abhängigkeit,  in 
welcher  sich  das  Denken  des  einzelnen  Menschen  von  seinen  leiblichen  Ver- 
hältnissen befinde,  noch  viel  schärfer  ausgesprochen,  wenn  er  sagte,  dass  jeder  so 
denke,  wie  es  durch  die  Mischung  der  Stoffe  in  seinen  Leibesgliedern  bedingt 
würde,  und  wenn  er  darin  eine  Bestätigung  seines  allgemeinen  Gedankens  von 
der  Identität  der  Körperlichkeit  und  des  Denkens  überhaupt  fand*).  Noch  aus- 
drücklicher wird  von  Empedokles  bezeugt*),  dass  er  Denken  und  Wahrnehmen 
für  dasselbe  erklärt,  von  der  Veränderung  des  Leibes  diejenige  des  Denkens 
abhängig  gedacht  und  für  die  intellectuelle  Befähigung  des  Menschen  die  Mischung 
seines  Bluts  als  massgebend  angesehen  habe. 

Auch  zögerten  beide  nicht,  diese  Auffassung  durch  physiologische  Hypo- 
thesen anschauUcher  zu  machen.  Parmenides  lehrte  in  seiner  hypothetischen 
Physik,  das  Gleiche  werde  überall  durch  das  Gleiche,  das  Warme  aussen  durch 
das  Warme  im  Menschen,  das  Kalte  aussen  sogar  noch  durch  das  Kalte  imLeichnam 
wahrgenommen,  und  Empedokles  führte  den  Gedanken,  dass  jedes  Element  in 
in  unserem  Leibe  dasselbe  Element  in  der  Aussen  weit  wahrnehme,  unter  Benutzung 
seiner  Theorie  der  Ausflüsse  und  Poren  in  dem  Sinne  aus,  dass  danach  jedes 
Organ  nur  dem  Eindruck  derjenigen  Stoffe  zugänglich  wäre,  deren  Ausflüsse  in 
seine  Poren  hineinpassten :  d.h.  er  leitete  die  specifische Energie  der  Sinnesorgane 
aus  Aehnlichkeitsverhältnissen  zwischen  ihrer  äusseren  Gestalt  und  ihren  Gegen- 
ständen her,  und  er  hat  dies  für  das  Sehen,  Hören  und  Riechen  mit  theilweise 
recht  feinen  Beobachtungen  ausgeführt  *). 

Dieser  Ansicht,  dass  Gleiches  durch  Gleiches  aufgefasst  werde,  ist  Anaxa- 
goras —  man  sieht  nicht  sicher,  aus  welchem  Grunde^)  —  entgegengetreten, 
indem  er  lehrte,  es  werde  nur  Entgegengesetztes  durch  Entgegengesetztes,  das 
Warme  ausserhalb  durch  das  Kalte  im  Menschen  u.  s.  w.  wahrgenommen  ^) :  jeden- 


1)  Arist.  de  an.  I  2,  405  a  27.  —  2)  Theophr.  de  sens.  3  f.  —  3)  Ebenso  wird  zwar  von 
Alkmaion,  dem  pythagoreisirenden  Arzte,  berichtet  (Theoph.  de  sens.  25),  er  habe  das  Denken 
oder  das  Bewusstsein  (5ti  jjlovo?  5»  vtiq  oi)  für  das  unterscheidende  Merkmal  des  Menschen  den 
übrigen  Animalien  gegenül)er  erklärt.  Aber  eine  genauere  Bestimmung  fehlt  auch  hier,  wenn 
man  nicht  dem  Ausdruck  nach  an  etwas  ähnliches,  wie  das  aristotelische  xotviv  aiid^xr^piov 
denken  will.  Damit  würde  übereinstimmen,  dass  in  den  Kreisen  der  Pythagoreer  und  der 
ihnen  nahe  stehenden  Aerzte  die  ersten  Versuche  gemacht  worden  zu  sein  scheinen,  die  ein- 
zelnen seelischen  Thätigkeiten  an  einzelne  Theile  des  Leibes  zu  localisiren:  das  Denken  in  das 
Gehirn,  die  Wahrnehmung  an  die  einzelnen  Organe  und  das  Herz,  in  das  letztere  auch  die  Ge- 
müthsbewegimgen  u.  s.  w.  Von  hier  scheint  Diogenes  von  Apollonia  und  na(ih  ihm  Demokrit 
diese  Anfange  einer  physiologischen  Psychologie  übernommen  zu  haben.  —  4)  Fragm.  (Karst.) 
V.  146-149.  —  5)  Arist.  de  an.  I  2,  404  b  7.  Hl  3,  427  a  21.  Met.  ni  5,  1009  b  17.  Theophr. 
de  sens.  10  f.  --  6)  Theophr.  de  sens.  7.  —  7)  Vielleicht  liegt  eine  Erinnerung  an  Heraklit  vor, 
der  auch  die  Wahrnehmung  aus  der  evavTtoxpoicta — Bewegung  gegen  Bewegung  —  erklärte  und 
bei  dem  der  Gegensatz  das  Princip  aller  Bewegung  war.  —  8)  Theophr.  de  sens.  27  ff.  Inter- 
essant ist,  dass  Anaxagoras  daraus  den  Schluss  zog  (ibid.  29),  jede  Wahrnehmung  sei  mit 
Unlust  (XüicYj)  verbunden. 

Wiudelband,  Geschichte  der  Philosophie.  4 


50  !•  Philosophie  der  kriechen. 

w 

falls  ist  auch  seine  Lehre  ein  Beweis  davon,  dass  diese  metaphysischen 
Rationalisten  in  ihrer  Psychologie  sämmtlich  einen  groben  Sensualis- 
mus vertraten. 

2.  Kapitel    Die  anthropologische  Periode. 

G.  Grote,  Hiatory  of  Greece.  VITI  (London  1850).  474^544. 

C.  F.Hermann,  Geschichte  und  System  der  platonischen  Philo8ophieI(Heidelbei*gl839). 
p.  179—231. 

Ela8s,  Die  attische  Eoredaamkcit  von  Gorgias  bis  zu  Lysias  (Jjeipzig  1868). 

H.  KöcHLY,  Sokrates  und  sein  Volk,  1855,  in ,,  Akad.  Vorträgen  und  Reden"  I  (Zürich  1859). 
p.  2fl9  ff. 

H.  SiBBECK,  Ueber  Sokrates'  Vcrhältniss  zur  Sophistik,  in  ^^Untersuchungen  zur  Philo- 
sophie der  Griechen"  1873.   2.  Aufl.  (Freiburg  i.  B.  1888). 

W.  Windelband,  „Sokrates"  in  ,Praeludien"  (Freiburg  i.  B.  1884).  p.  54  ff. 

Die  Weiterentwicklung  der  griechischen  Wissenschaft  ist  durch  den  Um- 
stand bestimmt  worden,  dass  dieselbe  in  dem  gewaltigen  allgemeinen  Aufschwung 
des  geistigen  Lebens,  den  die  Nation  nach  dem  siegreichen  Erfolge  der  Perser- 
kriege gewann,  aus  dem  stillen  Betriebe  eng  in  sich  geschlossener  Schulverbände 
auf  den  leidenschaftlich  bewegten  Boden  der  Oeffentlichkeit  hinausgerissen 
wurde. 

Die  Kreise,  in  denen  die  wissenschaftliche  Forschung  gepflegt  wurde, 
hatten  sich  von  Generation  zu  Generation  erweitert,  und  die  Lehren,  welche 
zunächst  im  kleineren  Verbände  vorgetragen  und  in  schwer  verständlichen 
Schriften  verbreitet  worden  waren,  hatten  angefangen,  in  das  allgemeine  Bewusst- 
sein  durchzusickern.  Schon  fingen  die  Dichter  (Euripides,  Epicharm)  an, 
wissenschaftliche  Begrifl'e  und  Ansichten  in  ihre  Sprache  zu  tibersetzen ;  schon 
wurden  die  Kenntnisse,  welche  die  Naturforschung  erworben  hatte,  zur  prak- 
tischen Verwerthung  (Hippodamos  und  seine  Bauten)  herangezogen.  Selbst 
die  Med i ein,  welche  früher  nur  eine  traditionell  geübte  Kunst  gewesen  war, 
wurde  mit  den  allgemeinen  Begriffen  der  Naturphilosophie  und  mit  den  beson- 
deren Lehren,  den  Erkenntnissen  und  den  Hypothesen  der  physiologischen  For- 
schung, die  im  Laufe  der  Zeit  einen  immer  breiteren  Raum  in  den  Systemen  der 
Wissenschaft  eingenommen  hatte,  deraitig  durchsetzt,  dass  sie  von  ätiologischen 
Theorien  über>vuchert  wurde  ^)  und  erst  in  Hippokrates  den  Reformator  fand, 
der  diese  Tendenz  auf  das  rechte  Mass  zurückführte  und  der  ärztlichen  Kunst 
ihren  alten  Charakter  im  Gegensatz  zur  wissenschaftlichen  Doctrin  zurückgab  *). 

Dazu  kam,  dass  die  griechische  Nation,  durch  schwere  innere  und 
äussere  Schicksale  gereift,  in  das  Alter  der  Männlichkeit  getreten  war.  Sie  hatte 
den  naiven  Glauben  an  das  Althergebrachte  verloren,  und  sie  hatte  den  Werth 
des  Könnens  und  Wissens  für  das  praktische  Leben  erfahren.  Sie  verlangte  jetzt 
von  der  Wissenschaft,  die  bisher  in  der  Stille  nur  dem  reinen  Triebe  des  For- 
schens,  der  edlen  Neugier  des  Wissens  um  seiner  selbst  willen  nachgegangen 
war,  Aufschluss  über  die  ITragen,  die  sie  bewegten,  Rath  und  Hilfe  in  den  Zwei- 

1)  Diese  Neuerung  in  der  Medicin  begann  bei  den  dem  Pythagoreismus  nahe  stehen- 
den Aerzten,  besonders  bei  Alkmaion.  Als  literarischer  Typus  davon  gilt  die  fälschlich 
unter  dem  Namen  de«  Hippokrates  gehende  Schrift  irspl  StatxT]? :  vgl.  H.  Siebeck,  Gesch.  der 
Psychol.  I  1,  94  &\  —  2)  Vgl.  hauptsächlich  seine  Schriflen  «epl  ap/atrji;  ifiTptxY]<;  und  Kspl 


2.  Anthropologische  Periode.  51 

fein,  in  welche  sie  die  üeberlebendigkeit  ihrer  eigenen  Cidturentwicklung  stürzte. 
Und  während  in  der  fieberhaften  Wetterregung  der  geistigen  Kräfte,  welche  diese 
grösste  Zeit  der  Weltgeschichte  mit  sich  fiihrte,  überall  die  Ansicht  zum  Durch- 
bruch kam,  dass  auf  jedem  Gebiet  des  Lebens  der  Wissende  der  Tüchtigste, 
Branchbarste  und  Erfolgreichste  sei,  während  in  allen  Sphären  praktischer  Thä- 
tigkeit  an  die  Stelle  alter  Gewöhnung  die  fruchtbare  Neuerung  selbständiger 
Ueberlegung  und  eigenen  ürtheils  trat,  wurde  die  Masse  des  Volkes  von 
dem  Drange  ergriffen,  sich  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft  zu 
eigen  zu  machen.  Besondere  aber  genügten  jetzt  für  denjenigen,  der  eine  poli- 
tische Rolle  spielen  wollte,  nicht  mehr  wie  früher  Familientradition,  Gewöhnung 
und  persönliche  Vorzüge  des  Charakters  und  der  Geschicklichkeit,  sondern  die 
Mannigfaltigkeit  und  Schwierigkeit  der  Dinge  sowohl  wie  der  intellectuelle  Zu- 
stand derjenigen,  mit  denen  und  auf  die  er  wirken  wollte,  machte  ihm  auch  eine 
theoretische  Vorbildung  für  die  politische  Laufbahn  unerlässlich. 
Nirgends  war  diese  Bewegung  so  mächtig  wie  in  Athen,  der  damaligen  Haupt- 
stadt Griechenlands,  und  hier  fand  denn  auch  dies  Drängen  seine  beste  Befrie- 
digung. 

Denn  der  Anfrage  folgte  das  Angebot.  Aus  den  Schulen  heraus  traten  die 
Männer  der  Wissenschaft,  die  Sophisten  (oo^wrat),  in  die  Oeffentlichkeit  und 
lehrten  das  Volk,  was  sie  selbst  gelernt  oder  in  eigener  Arbeit  erforscht  hatten. 
Sie  thaten  es  zum  Theil  gewiss  aus  dem  edlen  Triebe,  die  Mitbürger  zu  belehren ') ; 
aber  es  Wieb  nicht  aus,  dass  ihnen  diese  Belehrung  zum  Geschäft  wurde.  Aus 
allen  Theilen  Griechenlands  strömten  die  Männer  der  verschiedenen  Schulen 
nach  Athen  herbei,  um  ihre  Lehren  vortragen  und  aus  diesem  Vortrage  in  dem 
Centrum,  wie  in  den  geringeren  Städten,  Ruhm  und  Reichthum  zu  erwerben. 

Hierdurch  änderte  sich  in  kurzer  Zeit  nicht  nur  die  sociale  Stellung 
der  Wissenschaft,  sondern  auch  ihr  eigenes,  inneres  Wesen,  ihre  Tendenz 
und  ihre  Aufgabe  von  Grund  aus.  Sie  wurde  eine  sociale  Macht,  ein  bestim- 
mendes Moment  im  politischen  Leben  (Perikles);  aber  sie  kam  eben  dadurch  in 
Abhängigkeit  von  den  Anforderungen  des  praktischen  und  ins- 
besondere des  politischen  Lebens. 

Die  letzteren  zeigten  sich  hauptsächlich  darin,  dass  die  demokratische 
Staatsform  von  dem  Politiker  in  erster  Linie  die  Fähigkeit  der  Rede  verlangte, 
und  dass  daher  der  Unterricht  der  Sophisten  hauptsächlich  als  Vorbildung  dazu 
gesucht  wurde  und  sich  mehr  und  mehr  auf  diesen  Zweck  zuspitzte.  Die  Männer 
der  Wissenschaft  wurden  Lehrer  der  Beredsamkeit. 

Als  solche  aber  verloren  sie  das  Ziel  derNaturerkenntniss,  das  der  Wissen- 
schaft ursprünglich  vorgeschwebt  hatte,  aus  den  Augen :  sie  trugen  höchstens 
noch  die  überlieferten  Lehren  in  möglichst  anziehender  und  gieschmackvoUer 
Form  vor.  Ihre  eigenen  Untersuchungen  aber,  wenn  sie  sich  nicht  auf  formale 
Routine  beschränkten,  richteten  sich  nothwendig  auf  das  Denken  und  Wollen 
des  Menschen,  das  ja  durch  die  Rede  bestimmt  und  beherrscht  werden  sollte, 
auf  die  Art,  wie  Vorstellungen  und  Willensbestimmungen  entstehen,  wie  sie  mit 
einander  ringen  und  gegen  einander  ihr  Recht  geltend  machen.  So  nahm  die 
griechische  Wissenschaft  eine  wesentlich  anthropologische  oder  subjective, 


I)  Vgl.  Protagoras  bei  Piaton,  Prot.  316 d. 


52  I-  Pbilosophie  der  Griechen. 

auf  die  inneren  Thätigkeiten  des  Menschen,  sein  Vorstellen  und  Wollen  bezüg- 
liche Kichtung,  und  zugleich  verlor  sie  ihren  rein  theoretischen  Charakter  und 
bekam  eine  vorwiegend  praktische  Bedeutung*). 

Indem  nun  aber  so  die  Thätigkeit  der  Sophisten  sich  vor  die  Mannigfaltig- 
keit menschlichen  WoUens  und  Vorstellens  gestellt  sah,  indem  die  Lehrer  der 
Beredsamkeit  die  Kunst  des  Ueberredens  vortragen  und  den  Wegen  nachgehen 
sollten,  auf  denen  man  jeder  Ansicht  zum  Siege,  jeder  Absicht  zum  Erfolge  helfen 
könnte,  tauchte  vor  ihnen  die  Frage  auf,  ob  es  denn  überhaupt  über  diesen  indi- 
viduellen Ansichten  und  Absichten,  die  jeder  in  sich  als  ein  Nothwendiges  lühlt 
und  den  anderen  gegenüber  vertheidigen  kann,  etwas  an  sich  Rechtes  und  Wahres 
giebt.  Diese  Frage,  ob  es  etwas  AUgemeingiltiges  giebt,  ist  das  Problem 
der  anthropologischen  Periode  der  griechischen  Philosophie  oder  der  griechischen 
Aufklärung. 

Denn  es  ist  zugleich  das  Problem  der  Zeit,  —  einer  Zeit,  in  welclier  der 
religiöse  Glaube  und  die  alte  Sitte  in's  Schwanken  gerathen  war,  das  Ansehen 
der  Autorität  mehr  und  mehr  sank  und  Alles  einer  Anarchie  der  selbstherrhch 
gewordenen  Individuen  zutrieb.  Sehr  bald  kam  diese  innere  Zersetzung  des 
griechischen  Geistes  in  den  Wirren  des  peloponnesischen  Krieges  zum  offenen 
Ausbruch,  und  mit  dem  Sturz  der  athenischen  Vormacht  war  die  Blüthe  der 
griechischen  Cultur  geknickt. 

Die  Gefahren  dieser  Zustände  sind  durch  die  Philosophie  zunächst  ent- 
schieden gesteigert  worden.  Denn  indem  die  Sophisten  die  formale  Kunst  des 
Darstellens,  Begründens  und  Widerlegens,  welche  sie  zu  lehren  hatten,  wissen- 
schaftlich ausbildeten,  schufen  sie  zwar  mit  dieser  Rhetorik  zugleich  einerseits 
die  Anfänge  einer  selbständigen  Psychologie  und  hoben  diesen  Zweig  der 
Forschimg  aus  der  Nebenstellung,  welche  er  in  den  kosmologisclien  Systemen  ein- 
genommen hatte,  zur  Bedeutung  der  Grundwissenschaft  empor,  und  entwickelten 
sie  zwar  andrerseits  auch  die  Vorbereitungen  für  eine  systematische  Besinnung  auf 
die  logische  und  ethische  Norm :  aber  angesichts  der  Geschicklichkeit,  welche 
sie  übten  und  lehrten,  um  jede  beliebige  Ansicht  durchzusetzen  ^),  kam  ihnen 
die  Relativität  menschlicher  Vorstellungen  und  Absichten  mit  solcher  Deut- 
lichkeit und  mit  so  überwältigendem  Eindruck  zum  Bewusstsein,  dass  sie  die 
Frage  nach  dem  Bestehen  einer  allgemeingiltigen  Wahrheit  in  theoretischer  wie 
in  praktischer  Hinsicht  venieinten  und  damit  einen  Skepticismus  vertraten, 
der  anfangs  eine  eniste  wissenschaftliche  Theorie  war,  aber  bald  in  ein  frivoles 
Spiel  überging.  Mit  der  selbstgefälligen  Rabulistik  ihres  Advokatenthums  machten 
sich  die  Sophisten  zu  den  Sprechern  all*  der  zügellosen  Tendenzen,  welche  die 
Ordnung  des  öffentlichen  Lebens  untergruben. 

Das  geistige  Haupt  der  Sophistik  ist  Protagoras,  derjenige  wenigstens, 
von  welchem  allein  philosophisch  bedeutsame  und  fruchtbare  Begriffsbildungen 
ausgegangen  sind.  Ihm  gegenüber  erscheint  Gorgias,  den  man  ihm  zur 
Seite  zu  stellen  pflegt,  nur  als  ein  Rhetor,  der  sich  gelegentlich  auch  einmal  auf 
dem  Gebiete  der  Philosophie  versuchte  und  die  Kunststücke  der  eleatischen 
Dialectik  überbot.    H  i  p  p  i  a  s  vollends  und  P  r  o  d  i  k  o  s  sind  nur  der  eine  als 

1)  Cicero's  (Tusc.  V  4,  10)  bekannter  Ausspruch  ül)er  Sokrates  gilt  für  die  fi^auze  Philo- 
sophie dieser  Periode.  —  2)  Vgl.  das  bekannte  xbv  yjtxu)  Xo^ov  xpsitxco  irotelv,  Aristoph.  Nub. 
112  ff.  893  ff*.  Aristot.  Rhet.  H  24,  1402  a  23. 


2.  Anthropologische  Periode.  53 

Typus  popularisirender  Polyhistorie,  der  andere  als  Beispiel  seichten  Morali- 
sirens  zu  erwähnen. 

Dem  wüsten  Treiben  und  der  Ueberzeugungslosigkeit  der  jüngeren  Sophisten 
hat  Sokrates  den  Glauben  an  die  Vernunft  und  die  üeberzeugung  von  einer 
allgemeingiltigen  Wahrheit  gegenübergehalten.  Diese  Üeberzeugung  war  bei  ihm 
wesentUch  praktischer  Art,  sie  war  seine  sittlicheGesinnung:  aber  sie  führte 
ihn  auf  eine  Untersuchung  vom  Wissen,  das  er  von  Neuem  den  Meinungen 
gegenüberstellte  und  dessen  Wesen  er  im  begrifflichen  Denken  fand. 

Sokrates  und  die  Sophisten  stehen  somit  auf  dem  Boden  desselben  Zeit- 
bewusstseins  und  behandeln  dieselben  Probleme:  aber  wo  die  Sophisten  mit 
ihrer  Kunst  und  Gelehrsamkeit  im  Gewirr  der  Tagesmeinungen  stecken  bleiben 
und  mit  einem  negativen  Ergebniss  endigen,  da  findet  der  einfache,  gesunde  Sinn 
und  die  edle,  reine  Persönlichkeit  des  Sokrates  die  Ideale  der  Sittlichkeit  und 
der  Wissenschaft  wieder. 

Der  grosse  Eindruck,  den  die  Lehre  des  Sokrates  machte,  zwang  die 
Sophistik  in  neue  Bahnen :  sie  folgte  ihm  mit  dem  Versuch,  durch  wissenschaft- 
liche Einsicht  sichere  Principien  sittlicher  Lebensführung  zu  gewinnen,  und 
während  die  alten  Schulen  sich  zum  grösstenTheil  in  die  rhetorische  Lehrthätig- 
keit  verzettelt  hatten,  wurden  jetzt  von  Männern,  welche  den  Umgang  des  athe- 
nischen Weisen  genossen  hatten,  neue  Verbände  gestiftet,  in  deren  wissenschaft- 
licher Arbeit  sich  Sokratisches  und  Sophistisches  oft  wunderhch  genug  durch 
einander  mischte,  während  die  ledigUch  anthropologische  B.ichtung  der  Unter- 
suchung dieselbe  blieb. 

Unter  diesen,  nicht  ganz  richtig  meist  mit  dem  Namen  „Sokratiker" 
bezeichneten,  Schulen  ist  die  meg arische,  von  Eukleides  gegründet,  noch 
am  meisten  den  unfruchtbaren  Spitzfindigkeiten  der  späteren  Soß)iistik  ver- 
fallen: ihr  schhesst  sich  als  die  unbedeutendste  die  elisch-eretrisc he  Schule 
an.  Der  Grundgegensatz  aber  der  Lebensauffassung,  welcher  im  griechischen 
Leben  jener  Tage  obwaltete,  hat  seuien  wissenschaftlichen  Ausdruck  in  den  Lehren 
der  beiden  Schulen  gefunden,  deren  Gegensatz  sich  von  da  durch  die  ganze 
antike  Literatur  hindurchzieht:  der  kyni sehen  und  der  ky renaischen,  den 
Vorgängern  der  stoischen  und  der  epikureischen.  Erstere  zählt  neben  ihrem 
Gründer  Antisthenes  die  populäre  Gestalt  des  Diogenes  zu  ihren  Ver- 
tretern: in  letzterer,  die  auch  die  hedonische  Schule  heisst,  sind  auf  den 
Stifter  Aristippos  sein  gleichnamiger  Enkel,  später  Theodoros,  Anni- 
keris,  Hegesias  und  Euemeros  gefolgt. 

Die  sophistischen  Wanderlehrer  sind  zum  TheU  aus  den  früheren  Schulgcnossenschaften 
hervorgegangen;  diese  haben,  sich  dann  in  der  zweiten  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts  meist 
verloren  und  einem  freieren  Vertrieb  der  gewonnenen  Ansichten  Platz  gemacht,  welcher  der 
Detailforschung,  namentlich  der  physiologischen  (Hippon,  Kleidemos,  Diogenes  von 
Apollonia)nichtungünstig,  abermit  einer  Erlahmung  der  allgemeinen  Spcculation  verbunden 
war.  Nur  die  abderitische  und  die  pythagoreische  Schule  haben  diese  Zeit  der  Auflösung  über- 
dauert; eine  Gesellschaft  von  Herakliteern,  welche  in  Ephesos  sich  erhielt,  scheint  bald  in 
sophistisches  Treiben  ausgeartet  zu  sein  (Kratylos)  *). 

Aus  der  atomistischen Schule  erwuchs  Protagoras  von  Abdera (etwa 480—410),  einer 
der  ersten  und  der  mit  Recht  berühmteste  dieser  Wanderlehrer.  Zu  verschiedenen  Zeiten  in 
Athen  thatig,  soll  er,  nachdem  er  daselbst  wegen  Asebie  verurtheilt  war,  auf  der  Flucht  um- 
gekommen sein.  Von  den  zahlreichen  Schriften  grammatischen,  logischen,  ethischen,  politischen 
und  religiösen  Inhalts,  ist  sehr  wenig  erhalten. 


1)  Bei  Piaton  (Theaet.  181a)  heissen  sie  ol  ^eovxsc; :  vgl.  Aristot.  Met.  IV  5,  1010a  13. 


54  !•  PbiloBophie  der  Griechen.  3.  Anthropologische  Periode. 

Gorgias  von  Leontinoi  (483—375)  war  427  als  Gesandter  seiner  Vaterstadt  in  Athen, 
wo  er  grossen  literarischen  Einfluss  gewann ;  im  Alter  hat  er  zu  Larissa  in  Thessalien  gelebt. 
Er  war  aus  der  sicilischen  Rednerschule,  der  auch  Empedokles  nahe  gestanden  hatte,  hervor- 
gegangen*). ...  •     .    . 

Von  Hippias  von  Elisist  ausser  einigen  Ansichten  (worunter  wohl  auch  die  in  dem 
platonischen  Dialog  Hippias  major  kritisirten)  nur  bekannt,  dass  er  mit  seiner  Viclwisserei 
prunkte.  Von  Prodikos  aus  (Julis  aup  Keos  ist  die  bekannte  Allegorie  „Herakles  am 
Scheidewege"  bei  Xenophon,  Memor.  II  1,  21  erhalten.  Die  übrigen  Sophisten,  meist  nur 
aus  Piaton  bekannt,  sind  ohne  eigne  Bedeutung;  es  wird  nur  dem  einen  oder  dem  anderen  diese 
oder  jene  charakteristische  Behauptung  in  den  Mund  gelegt. 

Die  Auffassung  der  Sophistik  hat  mit  der  Schwierigkeit  zu  kämpfen,  dass  man  über  sie 
fast  ausschliesslich  durch  ihre  siegreichen  Gegner,  Platou  und  Aristoteles,  unterrichtet  ist. 
Ersterer  hat  im  Protagoras  noch  eine  aunmthig  lebendige,  von  feiner  Ironie  durchhauchte 
Schilderung  eines  Sophistencongresses,  im  Gorgias  schon  eine  ernstere,  im  Theaetet  eine 
schärfere  Kritik,  im  Kratylos  und  Euthydem  eine  übermüthige  Verhöhnung  der  Lehrweise 
der  Sophisten  gegeben.  In  dem  unter  Platon's  Namen  gehenden  Dialog  Sophistes  ist  sodann 
eine  überaus  hämische  Begriffsbestimmung  des  Sophisten  versucht  worden,  und  zu  dem  Resul- 
tat derselben  kommt  auch  Aristoteles  in  dem  Buch  über  die  sophistischen  Trugschlüsse  (cap.  1, 
I65a21). 

Die  Geschichte  der  Philosophie  hat  die  abschätzigen  Bcurtheilungen  der  Gegner  lange 
nachgesprochen  und  dem  Wort  GOffiarr^  (das  eigentlich  nur  einen  „Gelehrten",  wenn  mau 
will,  einen  Professor"  bedeutet)  den  tadelnden  Sinn  gelassen,  welchen  ihm  jene  gegeben  hatten. 
Heuel  hat  die  Sophisten  rehabilitirt;  und  darauf  ist,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  zeitweihg  eine 
Ueberschätzung  gefolgt  (Grote). 

M.  Schanz,  Die  Sophisten.   Göttingen  1867. 

Sokrates  von  Athen  (469 — 399)  macht  in  der  Geschichte  der  Philosophie  schon  ausser- 
lieh  durch  seine  originelle  Persönlichkeit  und  durch  seine  neue  Art  des  Philosophirens  Epoche. 
Er  war  weder  Gelehrter  noch  Wanderlehrer,  gehörte  keiner  Schule  an  und  hielt  sich  zu  keiner. 
Er  war  ein  einfacher  Mann  aus  dem  Volke,  der  Sohn  eines  Bildhauers  und  anfangs  selbst  mit 
dem  Meissel  beschäftigt.  Mit  tiefem  Wissensdrang  hatte  er  die  neuen  Lehren,  von  denen  die 
Strassen  seiner  Vaterstadt  wiederhallten,  in  sich  auigenommen,  aber  sich  durch  diese  glänzende 
Redeweisheit  nicht  blenden  lassen  und  sich  durch  sie  nicht  gefördert  gefunden.  Seinem  scharfen 
Denken  entgingen  die  Widersprüche  nicht,  und  sein  sittlicher  Ernst  nahm  au  der  Oberfläch- 
lichkeit und  Frivolität  dieses  Bildungsgetriebes  Anstoss.  Er  erachtete  es  für  seine  Pflicht, 
sich  selbst  und  seine  Mitbürger  über  die  Nichtigkeit  des  vermeintlichen  Wissens  aufzuklären 
und  durch  ernste  Prüfung  der  Wahrheit  nachzugehen.  So  hat  er,  ein  Philosoph  der  Gelegen- 
heit und  des  t%lichen  Lebens,  unablässig  unter  seinen  Mitbürgern  gewirkt,  bis  Missverstand 
und  persönliche  Intrigue  ihn  vor  das  Gericht  führte,  welches  ihn  zum  Tode  verurtheilte,  der 
sein  grösster  Ruhm  werden  soUte. 

Die  Berichte  über  ihn  liefern  ein  deutliches  und  zweifelloses  Bild  seiner  Persönlichkeit: 
hierin  ergänzen  sich  Platon's  feinere  und  Xenophon's  gröbere  Zeichnung  sehr  glücklich.  Der 
orstere  führt  den  verehrten  Lehrer  fast  in  allen  seinen  Schriften  mit  dramatischer  Lebendig- 
keit vor;  bei  dem  letzteren  kommen  die  Memorabilien  ('Airoji.vYj|i.ovsüji.axa  Xtt>xpdtou(;)  und  das 
Symposion  in  Betracht.  Schwieriger  steht  es  hinsichtlich  der  Lehre :  hierin  sind  Xenoplion's 
wie  Platon's  Darstellungen  Parteischriften,  von  denen  jede  den  berühmten  Namen  für  die  eigene 
Lehre  (bei  Xenophon  ein  gemildeter  Kynismus)  in  Anspruch  nimmt.  Massgebend  sind  wegen 
der  grösseren  historischen  Entfernung  und  des  freieren  Gesichtspunktes  in  allen  wesentlichen 
Punkten  die  Angaben  des  Aristoteles. 

E.  Alberti,  Sokrates  (Göttinnen  1869).  —  A.  Labbiola,  La  dottrina  di  Socrate 
(Napoli  1871).  —  A.  FouiLLfiE,  La  philosophie  de  Socrate  (Paris  1873). 

Eukleides  aus  Megara  gründete  seine  Schule  bald  nach  dem  Tode  des  Sokrates. 
Aus  derselben  sind  die  beiden  Eristiker  (s.  unten)  Eubulides  von  Milet  und  Alexinos 
aus  Elis,  femer  Diodoros  Kronos  aus  Karien  (gest.  307),  sowie  Stilpon  (380—300)  zu 
nennen.  Die  Schule  hatte  nur  kurzen  Bestand  und  lief  später  in  die  kyuischo  und  stoische  aus. 
Dasselbe  gilt  von  der  Genossenschaft,  welche  Phaidon,  der  Lieblingsschüler  des  Sokrates, 
in  seiner  Heimath  Elis  gründete  und  bald  darauf  Meuedemos  nach  Eretria  verpflanzte. 
Vgl.  E.  Mallet,  Histoire  de  Tecole  de  Megäre  et  des  ecoles  d'Elis  et  d'Erctrie  (Paris  1845). 
Der  Stifter  der  (nach  dem  Gymnasium  Kynosarges  benannten)  kynischen  Schule  ist 
Autisthenes  von  Athen,  wie  Euklid  ein  älterer  Freund  des  Sokrates.  Der  Sonderling 
Diogenes  von  Sinope  ist  mehr  eine  culturhistorisch  charakteristische  Nebcngestalt,  als 
ein  Mann  der  Wissenschaft.  Neben  ihm  sei  noch  Krates  von  Theben  genannt.  Später  ver- 
schmilzt die  Schule  mit  der  stoischen. 


1)  Vgl.  über  diese  Beziehungen  H.  Diels»  Berichte  der  Berl.  Akademie,  1884,  p.  343  ff. 


§7.  Problem  der  Sittlichkeit.  55 

F.  DüHMLER,  Antisthenica  (Halle  1882).  —  K.  W.  Göttling,  Diogenes  der  Kyniker, 
oder  die  Philosophie  des  griechischen  Proletariats  (Ges.  Abhandl.  I,  251  ff.). 

AristipposvonKyrene,  ein  sophistischer  "Wanderlehrer,  etwas  jünger  als  Euklid 
und  Antisthenes,  und  mit  dem  sokratischen  Kreise  nur  vorübergehend  verbunden,  hat  seine 
Schule  wohl  erst  im  Alter  gegründet  und  scheint  die  systematische  Ausbildung  der  Gedanken, 
die  ihm  selbst  mehr  ein  praktisches  Lebensprincip  waren,  seinem  Enkel  überlassen  zu  haben. 
Die  oben  genannten  Nachfolger  reichen  schon  in  das  3.  Jahrhundert  hinein  und  bilden  den 
Uebergang  zu  der  epikureischen  Schule,  welche  die  Reste  der  hedonischen  in  sich  aufnahm. 

A.  Wendt,  De  philosophia  Cyrenaica  (Göttingen  1841). 

§  7.  Das  Problem  der  Sittlichkeit. 

Wie  schon  die  Reflexionen  der  Gnomiker  und  die  Sentenzen  der  sog.  sieben 
Weisen  zu  ihrem  Mittelpunkte  die  Mahnung  zum  Masshalten  haben  ^  so  richten 
sich  auch  die  pessimistischen  Klagen,  denen  wir  bei  Dichtern,  Philosophen  und 
Moralisten  des  5.  Jahrhunderts  begegnen,  am  meisten  gegen  die  Zügellosigkeit 
der  Menschen,  den  Mangel  an  Zucht  und  Gesetzlichkeit.  Ernstere  Geister  durch- 
schauten die  Gefahr,  welche  das  leidenschaftUche  Aufschäumen  des  öflFentlichen 
Lebens  mit  sich  brachte,  und  die  poUtische  Erfahrung,  dass  der  Parteikampf  nur 
da  sittlich  erträglich  ist,  wo  er  die  gesetzliche  Ordnung  unangetastet  lässt,  liess 
die  Beugung  unter  das  Gesetz  als  oberste  Pflicht  erscheinen.  Heraklit  und  die 
Pythagoreer  haben  dies  mit  voller  Klarheit  ausgesprochen  und  an  die  Grund- 
begriffe ihrer  metaphysischen  Theorie  anzuknüpfen  gewusst*). 

Zweierlei  tritt  uns  dabei  als  selbstverständliche  Voraussetzung  auch  bei 
diesen  Denkern  entgegen.  Das  erste  ist  die  Geltung  der  Gesetze.  Der  Gehor- 
sam des  naiven  Bewusstseins  befolgt  das  Gebot,  ohne  zu  fragen,  woher  es  kommt 
und  wodurch  es  berechtigt  ist.  Die  Gesetze  sind  da,  die  der  Sitte  so  gut  wie  die 
des  Rechts:  sie  bestehen  einmal,  und  der  Einzelne  hat  sie  zu  befolgen.  Niemand 
hat  in  der  vorsophistischen  Zeit  daran  gedacht,  das  Gesetz  zu  prüfen  und  zu 
fragen,  worin  sein  Anspruch  auf  Geltung  besteht.  Das  zweiteist  eineUeberzeugung, 
welche  in  dem  Moralisiren  aller  Völker  und  aller  Zeiten  zu  Grunde  liegt,  diejenige 
nämlich,  dass  die  Befolgung  des  Gesetzes  Vortheil,  seine  Missachtung  Nach- 
theil bringt:  aus  diesem  Gedanken  heraus  nimmt  die  Mahnung  den  Charakter 
eines  überredenden  Rathes  an  *),  der  sich  an  die  Klugheit  des  Ermahnten  ebenso 
wie  an  die  in  ihm  schlummernden  Wünsche  richtet. 

Mit  der  griechischen  Aufklärung  gerathen  diese  beiden  Voraussetzungen  in's 
Schwanken,  und  damit  wird  ihr  die  Sittlichkeit  zum  Problem. 

1.  Der  Anstoss  dazu  ging  von  den  Erfahrungen  des  öffentlichen 
Lebens  aus.  Schon  der  häufige  und  rasche  Wechsel  der  Verfassungen  war 
geeignet,  die  Autorität  des  Gesetzes  zu  untergraben:  er  nahm  nicht  nur  dem 
einzelnen  Gesetze  den  Nimbus  unbedingter,  fragloser  Geltung,  sondern  er  gewöhnte 
zumal  den  Bürger  der  demokratischen  Repubhk,  in  Berathungen  und  Abstimmungen 
über  den  Grund  und  die  Geltung  der  Gesetze  nachzudenken  und  zu  entscheiden. 
Das  politische  Gesetz  wurde  discutirbar,  und  der  Einzelne  stellte  sich  mit  seinem 
Urtheil  darüber.  Beachtet  man  dann  ausser  diesem  zeitlichen  Wechsel  auch  noch 
die  Verschiedenheit,  welche  nicht  nur  die  politischen  Gesetze,  sondern  auch  die 
durch  die  Sitte  vorgeschriebenen  Gewohnheiten  in  den  verschiedenen  Staaten  und 

1)  Vgl.  oben  S.  48  Anm.  6.  —  2)  Ein  typisches  Beispiel  hierfür  ist  die  Allegorie  des 
Prodikos,  dessen  wählendem  Herakles  die  Tugend  ebenso  wie  das  Laster  goldene  Berge  ver- 
sprichty  für  den  Fall,  dass  er  sich  ihrer  Führung  anvertraut. 


56  !•  Philosophie  der  Griechen,  2.  Anthropologische  Periode. 

gar  bei  verschiedenen  Völkern  aufweisen^  so  folgt  daraus,  dass  den  Gesetzen  nicht 
mehr  der  Werth  allgemeiner  Geltung  für  alle  Menschen  zugeschrieben  werden 
kann^).  Wenigstens  gilt  das  zunächst  für  alle  Gesetze,  die  von  Menschen 
gemacht  sind;  jedenfalls  also  von  den  politischen. 

Erhob  sich  nun  diesen  Erfahrungen  gegenüber  die  Frage,  ob  es  denn  über- 
haupt etwas  überall  und  immer  Geltendes,  ein  von  der  Verschiedenheit  der  Völker, 
Staaten  und  Zeiten  unabhängiges  und  damit  für  Alle  massgebendes  Gesetz  gäbe, 
so  begann  die  griechische  Ethik  mit  einem  Problem,  welches  dem 
Anfangsproblem  der  Physik  völlig  parallel  lief.  Das  ewig  gleiche,  alle 
Veränderungen  überdauernde  Wesen  der  Dinge  hatten  die  Philosophen  der  ersten 
Periode  die  Natur  (yoatc)  genannt  *) :  jetzt  fragt  man,  ob  durch  diese  ewig  gleiche 
Natur  (<p6a6i)  auch  ein  über  allen  Wechsel  und  alle  Verschiedenheiten  erhabenes 
Gesetz  bestimmt  sei,  und  im  Gegensatz  dazu  weist  man  darauf  hin,  dass  alle  die 
bestehenden,  nur  zeitweiUg  und  in  beschränktem  Umfange  geltenden  Vorschriften 
durch  menschliche  Satzung  (^d?ei  oder  vöi^ij))  gegeben  und  begründet  sind. 

Der  Gegensatz  von  Natur  und  Satzung  ist  die  am  meisten  charakteristische 
Begriffsbildung  der  griechischen  Aufklärung :  er  beherrscht  ihre  ganze  Philosophie, 
und  er  hat  von  vorn  herein  nicht  etwa  nur  den  Sinneines  Princips  der  genetischen 
Erklärung,  sondern  die  Bedeutung  einer  Norm  der  Werthschätzung.  * 
Wenn  es  etwas  Allgemeingiltiges  giebt,  so  ist  es  das,  was  „von  Natur"  für  alle 
Menschen  ohne  Unterschied  des  Volkes  und  der  Zeit  gilt :  was  von  Menschen  im 
Lauf  der  Geschichte  festgesetzt  worden  ist,  das  hat  auch  nur  historischen,  einmaligen 
Werth.  Berechtigt  ist  nur,  was  die  Natur  bestimmt,  aber  die  Menschensatzung  geht 
darüber  hinaus.  Das  „Gesetz"  (vö{to<;)  tyrannisirt  den  Menschen  und  zwingt  ihn 
zu  vielem,  das  der  Natur  zuwiderläuft^).  Die  Philosophie  formulirte  begrifflich 
jenen  Gegensatz  eines  natürhchen,  „göttUchen"  Rechts  gegen  das  geschriebene 
Recht,  welcher  das  Thema  der  sophokleischen  Antigene  bildete. 

Hieraus  ergaben  sich  die  Aufgaben,  einerseits  festzustellen,  worin  dies 
überall  gleiche  Recht  der  Natur  bestehe,  andrerseits  aber  zu  begreifen,  wie  daneben 
die  Satzungen  des  historischen  Rechts  entstehen. 

Der  ersten  Aufgabe  hat  sich  Protagoras  nicht  entzogen.  In  der  mythischen 
Darstellung,  die  Piaton  von  ihm  aufbewalu:t  hat  *),  lehrte  er,  dass  die  Götter  allen 
Menschen  gleichmässig  Gerechtigkeitssinn  und  sittliche  Scheu  (StXTj  und 
aiSwc)  gegeben  hätten,  damit  sie  im  Kampf  des  Lebens  zu  gegenseitiger  Erhaltung 
dauernde  Verbindungen  schliessen  könnten.  Er  fand  also  die  y{)Oi<;  des  praktischen 
Lebens  in  sittlichen  Grundgefühlen,  welche  den  Menschen  zu  gesell- 
schaftlicher und  staatlicher  Vereinigung  treiben.  Die  nähere  Ausführung 
dieses  Gedankens  und  die  Abgrenzung  dieses  yoost  Geltenden  von  den  positiven 
Bestimmungen  der  historischen  Satzung  sind  uns  leider  nicht  erhalten. 

Dass  aber  von  solchen  Grundlagen  aus  die  Theorie  der  Sophisten  zu  einer 
weitgehenden  Kritik  der  gegebenen  Zustände  und  zur  Forderung 
tiefgreifender  Umwälzungen  des  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Lebens 


1)  Hippias  bei  Xenoph.  Memor.  IV  4,  14  ff.  —  2)  Ilepl  <p6ae(oq  ist  der  Titel,  den  die 
Schriften  aller  älteren  Philosophen  trugen.  Es  ist  hervorzuheben,  dass  das  constitutive  Merk- 
mal des  Begriffs  tpoat?  ursprünglich  nur  dasjenige  des  Ewig-sich-gleich-Bleibens  war.  Der 
Gegensatz  dazu  ist  also  das  Vorübergehende,  das  Einmalige.  —  3)  Hippias  bei  Piaton,  Prot. 
337  c.  —  4)  Plat.  Prot.  320  ff.    Vgl.  A.  Harpff,  Die  Ethik  des  Protagoras  (Heidelberg  1884). 


§  7.  Problem  der  Sittlichkeit.  (Sophisten.)  57 

schritt,  dafür  liegen  mancherlei  Anzeichen  vor.  Schon  damals  brach  sich  der 
Gedanke  Bahn^  dass  alle  rechtlichen  Unterschiede  zwischen  den  Menschen  nur 
auf  Satzung  beruhten  und  die  Natur  gleiches  Recht  für  Alle  verlange« 
Lykophron  begehrte  die  Abschaffung  des  Adels,  Alkidamas ^)  und  Andere^) 
bekämpften  aus  diesem  Gesichtspunkt  die  Sklaverei,  Phaleas  forderte  Gleichheit 
des  Besitzes  wie  der  Bildung  für  alle  Bürger,  und  Hippodamos  entwarf  als  der 
Erste  die  Grundzüge  eines  vernünftigen  Staatsideals  ^).  Selbst  der  Gedanke 
einer  politischen  Gleichstellung  der  Frauen  mit  den  Männern  ist  in  diesem 
Zusammenhange  aufgetaucht^). 

Weicht  nun  die  positive  Gesetzgebung  von  diesen  Anforderungen  der  Natur 
ab,  so  ist  ihre  Begründung  nur  in  den  Interessen  derjenigen  zu  suchen,  welche 
die  Gesetze  machen.  Sei  es  nun,  dass  dies,  wie  Thrasymachos*')  von  Chalkedon 
meinte,  die  Gewalthaber  sind,  welche  die  Unterworfenen  durch  das  Gesetz  zwingen, 
zu  thun,  wie  es  ihrem  Vortheil  entspricht,  sei  es  umgekehrt,  dass  nach  der  Aus- 
fuhrung des  Kallikles  ^)  die  Gesetze  von  der  grossen  Masse  der  Schwachen  als 
ein  Schutzwall  gegen  die  dem  Einzelnen  überlegene  Kraft  der  starken  Persön- 
lichkeiten errichtet  werden,  und  dass  damit  nach  der  Ansicht  Lykophron's^)  alle 
die,  welche  Anderen  kein  Leides  thun,  sich  gegenseitig  Leben  und  Besitz  ver- 
bürgen, —  immer  liegt  der  Grund  der  Gesetze  in  den  Literessen  derjenigen, 
welche  sie  machen. 

2.  Ist  also  das  persönhche  Interesse  der  Grund  für  die  Aufstellung  der 
Gesetze,  so  ist  es  auch  das  einzige  Motiv  ihrer  Befolgung.  Auch  der  Mora 
hst  will  ja  den  Menschen  davon  überzeugen,  dass  es  in  seinem  Interesse  liege, 
sich  dem  Gesetze  zu  fugen.  Daraus  folgt  aber,  dass  der  Gehorsam  gegen  das 
Gesetz  nur  so  weit  zu  reichen  hat,  als  er  im  Interesse  des  Einzelnen  Hegt. 
Und  es  giebt  Fälle,  wo  das  nicht  zutrifft.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  nur  die  Unter- 
ordnung imter  das  Gesetz  glückUch  macht:  grosse  Verbrecher,  so  fuhrt  Polos®) 
aus,  giebt  es,  die  durch  die  schreckhchsten  Uebelthaten  die  glückhchsten  Erfolge 
erreicht  haben.  Die  Erfahrung  widerspricht  der  Behauptung,  dass  nur  Recht- 
thun  zur  GlückseUgkeit  führe;  sie  zeigt  vielmehr,  dass  eine  kluge,  durch  keine 
Kücksichten  auf  Kecht  und  Gesetz  gehemmte  Lebensführung  die  beste  Gewähr 
des  Glücks  ist®). 

Durch  solche  Betrachtungen  greift  allmäUg  die  anfanglich,  wie  es  scheint  '^), 
nur  auf  die  Geltung  des  staatlichen  Gesetzes  gerichtete  Skepsis  auch  diejenige 
der  sittlichen  Gesetze  an.  Was  Polos,  Kallikles  und  Thrasymachos  in  den  pla- 
tonischen Dialogen  Gorgias  und  Politeia  über  die  Begriffe  des  Rechten  und 
Unrechten  (Sixatovund  SStxov)  vortragen,  bezieht  sich  (durch  die  Mittelstellung 
der  strafrechtUchen  Bestimmungen)  gleichmässig  auf  das  sittliche,  wie  auf  das 
poUtische  Gesetz  und  beweist,  dass  das  Naturgesetz  nicht  nur  dem  bürgerlichen 
Gesetz,  sondern  auch  den  Forderungen  der  Sitte  gegenübergestellt  wurde. 

Hinsichtlich  beider  aber  schritt  der  Naturalismus  und  RadicaJismus  der 
jüngeren   Sophisten   zu   den   äussersten   Consequenzen.     Mag   der  Schwache, 

1)  Arist.  Rhet.  1 13,  1373  b  18,  v^l.  dazu  Orat.  Attic.  (cd.  Bekker)  11,  154.  —  2)  Arist. 
Pol.  I  3,  1253b  20.  —  3)  Aristot.  Pol.  II  7  (Phaleas)  imd  8  (Hippodamos).  -  4)  Die  Persiflage 
in  den  Ecclesiazusen  des  Aristophanes  kann  sich  nur  darauf  bezieben.  —  5)  Plat.  Rep.  338c.  — 
6)  Plat.  (lorg.  483b.  —  7)  Arist.  Pol.  HI  9,  1280  b  11.  —  8)  Bei  Plat.  Gorg.  471.  —  9)  Vgl. 
das  Lob  der  ddixca  von  Thrasymachos  bei  Plat.  Rep.  344  a.  —  10)  Es  gilt  dies  namentlich  von 
Protagoras,  vielleicht  auch  von  Hippias. 


58  I-  Philosophie  der  Griechen.  2.  Anthropologische  Periode. 

SO  hiess  es^  sich  dem  Gesetz  unterwerfen*,  er  ist  ja  doch  nur  der  Dumme^  der 
damit  fremdem  Nutzen  dient ') ;  der  Starke  aber,  der  zugleich  der  Weise  ist, 
lässt  sich  durch  das  Gesetz  nicht  irre  machen,  er  folgt  ledigUch  dem  Triebe 
seiner  eigenen  Natur.  Und  das  ist  das  Rechte,  wenn  nicht  nach  menschlichem 
Gesetz,  so  nach  dem  höheren  Gesetz  der  Natur.  An  allen  Lebewesen  zeigt  sie, 
dass  der  Stärkere  über  den  Schwächeren  herrschen  soll;  nur  dem  Sklaven  ziemt 
es,  ein  Gebot  über  sich  anzuerkennen,  der  freie  Mann  soll  seine  Begierden  nicht 
zügeln,  sondern  sie  sich  voll  entfalten  lassen ;  nach  Menschenrecht  mag  es  eine 
Schande  sein,  Unrecht  zu  thun,  ~  nach  dem  Naturgebot  ist  es  eine  Schande, 
Um-echt  zu  leiden^). 

In  solchen  Formen  wurde  die  natürliche  Triebbestimmtheit  des  Indi- 
viduums als  Naturgesetz  proclamirt  und  zum  höchsten  Gesetz  des 
Handelns  erhoben,  und  Archelaos,  ein  der  sophistischen  Zeit  angehöriger 
Schüler  des  Anaxagoras,  verkündete,  dass  die  Prädicate  gut  und  böse,  „recht" 
und  „schimpflich^*  (Sixotov  —  al<3)j[y5v)  nicht  der  Natur,  sondern  der  Satzung  ent- 
springen: alle  sittliche  ßeurtheilung  ist  conventioneil'). 

3.  Selbstverständlich  wui-den  in  diesen  Umsturz  auch  die  religiösen 
Vorstellungen  um  so  mehr  hineingezogen,  als  dieselben,  nachdem  ihnen,  wenigstens 
in  den  gebildeten  Kreisen,  die  theoretische  Geltung  durch  die  kosmologische 
Philosophie  entzogen  worden  war  (Xenophanes),  nur  noch  als  allegorische  Dar- 
stellungen sittlicher  Begriflfe  Anerkennung  behalten  hatten:  in  dieser  Hinsicht 
war  eine  Zeit  lang  die  Schule  des  Anaxagoras,  namentlich  ein  gewisser  Metro- 
doros  von  Lampsakos,  thätig  gewesen.  Es  war  nur  eine  Consequenz  des  ethischen 
Relativismus  der  Sophisten,  wenn  Prodikos  lehrte,  die  Menschen  hätten  aus 
Allem,  was  ihnen  Segen  brachte,  Götter  gemacht,  und  wenn  Kritias  den  Glauben 
an  die  Götter  für  eine  Erfindung  kluger  Staatskunst  erklärte  *).  Wenn  solche 
Behauj)tungen  bei  der  Masse  und  den  staatlich-priesterlichen  Gewalten  noch 
Unwillen  erregten  ^),  so  hatte  es  Protagoras  leicht,  sich  diesen  Fragen  gegenüber 
in  den  Mantel  seines  Skepticismus  zu  hüllen  ^). 

4.  Die  Stellung  des  Sokrateszu  dieser  ganzen  Bewegung  ist  doppelseitig: 
einerseits  hat  er  das  Princip  derselben  auf  den  klarsten  und  umfassendsten  Aus- 
druck gebracht,  andrerseits  hat  er  sich  ihrem  Ergebniss  auf  das  Kräftigste  ent- 
gegengestellt. Und  diese  beiden  Seiten  seiner  Wirksamkeit,  so  gegensätzUch  sie 
zu  sein  scheinen  und  so  sehr  dieser  ihr  äusserer  Gegensatz  das  tragische  Gescliick 
des  Mannes  bestimmt  hat,  stehen  doch  in  dem  genauesten  und  folgerichtigsten 
Zusammenhange :  denn  gerade  dadurch,  dassSokrates  das  Princip  der  Auf  klärung 
in  seiner  ganzen  Tiefe  erfasste  und  in  seiner  ganzen  Energie  formulirte,  gelang 
OS  ihm,  daraus  ein  positives  Kesultat  von  gewaltiger  Tragweite  zu  entwickeln. 

Auch  für  ihn  ist  die  Zeit  fragloser  Befolgung  überlieferter  Gewohnheiten 
vorüber :  an  die  Stelle  der  Autorität  ist  das  selbständige  Urtheil  der  Individuen 
getreten.  Während  aber  die  Sophisten  der  Analyse  der  Gefühle  und 
Triebe  nachgingen,  welche  den  thatsächlichen  Entscheidungen  der  Individuen 
zu  Grunde  liegen,  und  sich  schliesslich  genöthigt  sahen,  allen  diesen  Motiven  das 
gleiche  Recht  einer  naturnothwendigen  Entfaltung   zuzuerkennen,   reflectirte 


1)  Thrasymachos  bei  Platon,  Rop.  343  c.  —  2)  Kalliklos  bei  Platon,  (loiy.  483  a  und 
491  c.  -  3)  Dioft.  Lacrt.  II  16.  —  4)  Sext.  Emp.  adv.  math.  IX  51—54.  -~  5)  Wie  die  Vcr- 
urthcilung  des  Diagora»  vou  Melos  (Aristoph.  Av.  1073)  beweist.  —  6)  Diog.  Laert.  IX  51. 


§7.  Problem  der  Sittlichkeit.  (Sokrates.)  59 

Sokrates  gerade  auf  dasjenige  Moment,  welches  das  entscheidende  in  der  Cultur 
•^iner  Zeit  war,  nämlich  auf  die  praktische,  politische  und  socis^le  Bedeutung, 
Teiche  Wissen  und  Wissenschaft  errungen  hatten.  Gerade  durch  die  Verselb- 
^tandigung  der  Individuen,  durch  die  Entfesselung  der  persönlichen  Leidenschaften 
war  es  zu  Tage  getreten,  dass  auf  allen  Gebieten  die  Tüchtigkeit  des  Men- 
M'hen  auf  seiner  Einsicht  beruht.  Hierin  fand  Sokrates  den  objectiven 
Massstab  für  die  Werthbeurtheilung  der  Menschen  und  ihrer  Hand- 
lungen, welchen  die  Sophisten  in  dem  Getriebe  der  Gefühle  und  Begierden  um- 
sonst gesucht  hatten. 

Tüchtigkeit  also  (apstYj)  ist  Einsicht.  Wer  nach  Gefühlen,  nach  unklaren 
Voraussetzungen,  nach  hergebrachten  Gewohnheiten  handelt,  der  mag  wohl  ge- 
legentlich auch  einmal  das  Rechte  treffen,  aber  er  weiss  es  nicht,  er  ist  des  Erfolgs 
nicht  sicher;  wer  gar  in  Täuschung  und  Irrthum  über  das,  worum  sich's  handelt, 
l^egriffen  ist,  der  greift  sicher  fehl:  nur  der  wird  recht  handeln  können,  der  die 
richtige  Einsicht  von  den  Dingen  und  von  sich  selbst  hat ').  Daher  ist  die  Er- 
kenntniss  (i7ci^Tfj\L7i)  die  Grundlage  aller  Eigenschaften,  welche  den  Menschen 
tüchtig  und  brauchbar  machen,  aller  einzelnen  apetat. 

Diese  Einsicht  besteht  einerseits  in  der  genauen  Kenntniss  der  Dinge, 
auf  welche  sich  das  Handeln  beziehen  soll.  Der  Mensch  soll  seine  Sache  ver- 
stehen. Wie  man  in  jedem  Geschäft  den  tüchtig  findet,  welcher  dasselbe  gründ- 
lich erlernt  hat  und  die  Gegenstände  kennt,  mit  denen  er  zu  arbeiten  hat,  so  sollte 
ts  auch  im  bürgerlichen  und  im  politischen  Leben  sein:  auch  hier  soll  man  nur 
tler  Einsicht  vertrauen  *).  Danach  unterscheiden  sich  also  die  einzelnen  Tüchtig- 
keiten nach  den  Gegenständen,  welche  das  Wissen  im  einzelnen  Falle  betrifft*): 
allen  gemeinsam  aber  ist  nicht  nur  diis  Wissen  überhaupt,  sondern  auch  die 
Selbst  erkenntniss.  Daher  erklärte  es  Sokrates  für  seinen  hauptsächlichsten 
Beruf,  sich  selbst  und  seine  Mitbürger  zu  ernster  Selbstprüfung  .zu  erziehen :  das 
74ddi  3sa»ycöv  galt  ak  das  Stichwort  seiner  Lehre  *). 

5«  Diese  Betrachtungen,  welche  Sokrates  aus  den  Werthbestimmungen  der 
praktischen  Tüchtigkeit  heraus  entwickelte,  übertrugen  sich  mit  der  Doppel- 
^innigkeitdesWortesipeTT]*),  auch  auf  die  sittlicheTüchtigkeitjdieTugend, 
und  führten  so  zu  der  Grundlehre,  dass  Tugend  in  der  Erkenntniss  des 
<i  u  t  e  n  *)  bestehe.  So  weit  ist  der  Gedankengang  des  Sokrates  klar  und  zweifellos ; 
undeutlicher  aber  wird  die  Ueberlieferung,  wenn  wir  fragen,  was  denn  nun  der 
Mann,  der  so  lebhaft  auf  Deutlichkeit  der  Begriffsbestimmung  drang,  unter  dem 
Guten  habe  verstanden  wissen  wollen.  Nach  der  Darstellung  Xenophon's 
müsste  ihm  das  Gute  (af  a6"6v)  überall  mit  dem  Zuträglichen,  Nützlichen  ((!)^^Xt(jLov) 

1)  Diesen  Grundgedankeu  dos  Sokrates  reprodueircn  Xeuophon  und  Piaton  in  zahl- 
r.*i<-hen  Wendungen :  bei  Xenophon  ist  hauptsächlich  Mera.  III,  cap.  9,  bei  Piaton  der  Dialog 
Pnitagoras  zu  veiyleicheu.  — 2)  Daher  auch  die  autideniokrati«che,  für  sein  persönliches  (ie- 
M-hick  so  verhängnissvolle  Parteistellunj?  des  Sokrates.  der  ausdrücklich  verlangte,  dass  die 
M-hwerste  und  verantwortungsvollste  Kunst,  diejenige  der  Regierung,  nur  von  den  Einsichts- 
vollsten ausgeübt  werden  sollte,  und  der  deshalb  die  Besetzung  der  Staatsämter  durch  Loos 
"der  Volkswahl  durchaus  verwarf.  —  3)  Ein  System  der  einzelnen  Tüchtigkeiten  hat  Sokrates 
nicht  versucht,  dagegen  beis))ielsweise  die  Definitionen  der  Tapferkeit  (vgl.  den  platonischen 
I^hes),  Frömmigkeit  (Plat.  Euthyphron,  Xen.  Mem.  IV  6,  3),  Gerechtigkeit  (Mem.  IV  6,  6) 
etc.  gegeben.  —  4}  Wie  dies  seine  theoretische  Philosophie  bestimmt  hat,  s.  §  8.  —  5)  Derselbe 
Doppelsinn,  der  zu  zahllosen  Schwierigkeiten  Anlass  gegeben  hat,  liegt  im  lateinischen  virtus  *, 
ebenso  in  ifadov,  bonum,  gut. 


60  !•  Philosophie  der  Griechen.  2.  Anthropologische  Periode. 

zusammengefiallen,  Tugend  also  die  Erkenntniss  dessen  gewesen  sein,  was  jedes- 
mal das  Zweckmässige,  Nützliche  wäre.  Diese  Auffassung  schliesst  sich  am  leich- 
testen an  jene  Analogie  der  sittlichen  Tugend  mit  den  Tüchtigkeiten  des  tägUchen 
Lehens,  welche  Sokrates  in  der  That  gelehrt  hat,  und  auch  die  Darstellung  der 
frühesten  platonischen  Dialoge,  insbesondere  des  Protagoras,  legt  dem  Sokrates 
diesen  Standpunkt  des  individuellen  Nutzens  bei.  Die  Einsicht  (hier  rppovrpK; 
genannt)  ist  eine  messende  Kunst,  welche  mit  genauer  Abwägung  des  Nutzens 
und  des  Schadens^  der  sich  aus  der  Handlung  ergeben  wird,  das  Zweckmässige 
wählt.  Dem  entspricht  weiter,  dass  Sokrates  gerade  im  Gegensatz  zu  den  Sophi- 
sten, welche  eine  kraftgeniaUsclie  EntfiUtung  der  Leidenschaften  verlangten,  keine 
Tugend  so  sehr  betonte  und  selbst  in  seinem  Leben  zur  Darstellung  brachte,  wie 
diejenige  der  Selbstbeherrschung  (aoDypooovYj). 

Danach  aber  wäre  der  sokratische  Begrifl'  des  Guten  inhaltlich  unbestimmt; 
es  müsste  von  Fall  zu  Fall  entschieden  werden,  was  das  Zweckentsprechende, 
Nützhche  wäre,  und  statt  des  Guten  hätte  man  wieder  immer  nur  dasjenige,  was 
zuEtwasgut^)  wäre.  Es  darf  als  sicher  angesehen  werden,  dass  Sokrates  über 
diesen  Relativismus  hinausstrebte :  aber  ebenso  auch,  dass  er  vermöge  der  rein 
anthropologischen  Grundlage  seines  Denkens  mit  der  begrififlichen  Formulirung 
nicht  darüber  hinaus  kam.  Seine  Lehre,  dass  Unrecht  leiden  besser  sei,  als  Un- 
recht thun,  seine  strenge  GesetzHchkeit,  mit  der  er  es  verschmähte,  sich  dem 
ferneren  Leben  und  Wirken  durch  die  Flucht  zu  erlialten  und  einem  ungerechten 
Richterspruche  zu  entziehen,  seine  Mahnung,  dass  der  wahre  Inhalt  des  Lebens 
in  der  söspaöa,  in  dem  dauernden  Rechtthun,  in  der  unablässigen  Arbeit  des 
Menschen  an  seiner  sitthchen  Besserung,  in  der  Theilnahme  an  allem  Guten  und 
Schönen  (xaXoxaYa^ta)  bestehe,  besonders  aber  seine  Erotik,  d.  h.  die  Lehre, 
wonach  die  Freundschaft  und  das  Verhältniss  der  Neigung  zwischen  Lehrer  und 
Schüler  nur  den  Lihalt  haben  sollten,  dass  beide  in  gemeinsamem  Leben  und 
gegenseitiger  Förderung  sich  bemühten,  gut,  bzw.  immer  besser  zu  werden,  — 
alles  dies  geht  über  die  xenophontische  Auffassung  weit  hinaus  und  lässt  sich  mit 
dem  Standpunkt  der  Utihtät  nur  vereinigen,  wenn  man  dem  Sokrates  die  Unter- 
scheidung zwischen  dem  wahren  Seelenheil  und  dem  irdischen  Nutzen  beilegt, 
die  ihn  Piaton  im  Phaidon  vortragen  lässt,  von  der  sich  aber  sonst,  da  der  histo- 
rische Sokrates  (auch  nach  Platon's  Apologie)  sich  gegen  den  Glauben  an  die 
persönliche  Unsterbhchkeit  durchaus  skeptisch  verhielt  und  die  platonische 
scharfe  Scheidung  zwischen  Immaterialität  und  Körperlichkeit  noch  nicht  kannte, 
nur  geringe  Spuren  linden.  Zwar  lehrt  Sokrates  auch  bei  Xenophon,  das  wahre 
Glück  des  Menschen  sei  nicht  in  äusseren  Gütern  noch  im  Wohlleben,  sondern 
allein  in  der  Tugend  zu  suchen :  wenn  aber  dann  diese  Tugend  wieder  nur  in  der 
Fälligkeit  bestehen  soll,  das  walirhaft  Nützhche  zu  erkennen  und  danach  zu  han- 
deln, so  dreht  sich  die  Ijehre  im  Kreise,  sobald  sie  behauptet,  dies  walu'hafl 
Nützliche  sei  eben  Avieder  die  Tugend  selbst.  In  diesem  Cirkel  ist  Sokrates  stecken 
geblieben:  die  objective  Begriffsbestimmung  des  Guten,  die  er  suchte,  hat  er 
nicht  gefunden. 

6.  Jedenfalls  aber  —  und  das  hat  sich  als  viel  bedeutsamer  erwiesen  — , 
so  unbestimmt  es  auch  bleiben  mochte,  worin  eigentUch  inhaltlich  die  Erkenntniss 


1)  Xen.  Mem.  UI  8,  5. 


§  7.   Problem  der  Sittlichkeit.  (Sokrates.)  61 

des  Guten,  welche  die  Tugend  ausmacht,  bestehen  sollte,  davon  war  Sokrates 
überzeugt,  dass  diese  Erkenntniss  allein  ausreiche,  um  das  Gute  auch 
zu  thun  und  damit  die  Glückseligkeit  herbeizuführen.  Dieser  Satz, 
der  als  Typus  einer  rationalistischen  Lebensanschauung  gelten  kann,  enthielt  zwei 
folgenschwere  Voraussetzungen :  psychologisch  den  ausgesprochenen  Intel- 
lectualismus,  ethisch  den  ausgesprochenen  Eudämonismus. 

Die  Grundannahme,  welche  Sokrates  dabei  macht,  ist  schon  der  Ausdruck 
seiner  eigenen  überlegenden,  verständigen  Natur :  jeder  Mensch,  sagt  er,  handelt 
so,  wie  er  es  am  zweckmässigsten,  förderlichsten,  nützUchsten  erachtet ;  Niemand 
thut  dasjenige,  was  er  für  unzweckmässig  oder  auch  nur  für  das  weniger  zweck- 
mässige erkannt  hat.  Ist  also  Tugend  die  Erkenntniss  des  Zweckmässigen,  so 
folgt  daraus  unmittelbar,  dass  der  Tugendhafte  auch  seiner  Erkenntniss  gemäss, 
also  zweckmässig^  richtig,  in  der  für  ihn  erspriesslichen  Weise  handelt.  Niemand 
thut  wissentlich  und  absichthch  das  Unrechte:  nur  wer  nicht  die  rechte  Einsicht 
hat,  der  handelt  auch  nicht  recht.  Scheint  es  manchmal,  als  handle  Jemand  gegen 
bessere  Einsicht  unrecht,  so  hatte  er  eben  die  bessere  Einsicht  doch  nicht  klar 
und  sicher  besessen ;  denn  sonst  hätte  er  ja  absichtlich  sich  selbst  geschädigt,  was 
absurd  ist. 

Hierin  tritt  zwischen  Sokrates  und  den  Sophisten  eine  psychologische  Grund- 
verschiedenheit zu  Tage :  diese  behaupteten  die  Ursprünglichkeit  (und  deshalb 
auch  die  naturalistische  Berechtigtheit)  des  WoUens ;  für  Sokrates  aber  ist  etwas 
wollen  und  etwas  für  gut,  für  zuträglich  und  nützlich  halten  dasselbe.  Die  Ein- 
sicht bestimmt  unweigerlich  den  Willen ;  der  Mensch  thut,  was  er  für  das  Beste 
hält.  So  sehr  Sokrates  mit  dieser  Meinung  im  Irrthum  sein  und  so  sehr  die  Wahr- 
heit zwischen  ihm  und  den  Sophisten  in  der  Mitte  liegen  mag,  so  bestimmend  ist 
doch  diese  seine  intellectuaUstische  Auffassung  vom  Willen  für  die  ganze  antike 
Ethik  geworden. 

Sünde  also  ist  Irrthum.  Wer  schlecht  handelt,  thut  esaus  verkehrtem  Urtheil, 
indem  er  das  Schlechte,  d.  h.  das  Schädliche,  für  das  Gute  halt:  denn  jeder  glaubt, 
das  Gute,  d,  h.  das  Erspriessliche,  zu  thun.  Nur  weil  es  so  steht,  hat  es  einen 
Sinn,  die  Menschen  sittlich  zu  belehren;  nur  deshalb  ist  die  Tugend  lehrbar. 
Denn  alle  Lehre  wendet  sich  an  die  Einsicht  des  Menschen.  Weil  man  ihn  be- 
lehren kann,  was  das  Gute  ist,  darum  —  und  dadurch  allein  —  kann  man  den 
Menschen  dazu  bringen,  dass  er  das  Rechte  thut.  Wäre  die  Tugend  keine  Ein- 
sicht, so  wäre  sie  nicht  lehrbar. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  hob  nun  Sokrates  die  Gewohnheit  des  popu- 
lären Moralisirens  auf  wissenschaftUche  Höhe.  Allen  seinen  Scharfsinn,  ja  seine 
Spitzfindigkeit  und  dialectische  Gewandtheit  verwendet  er  darauf*),  um  gegen  die 
Sopliisten  zu  beweisen,  dass  nicht  nur  die  sicherste,  sondern  auch  die  eiuzig  sichere 
Art,  zu  dauernder  Glückseligkeit  zu  gelangen,  unter  allen  Umständen  in  der  Befol- 
gung der  sittlichen  Vorschriften,  in  derUnter  Ordnung  unter  Gesetz  und  Sitte 
bestehe.  So  giebt  er  der  Autorität  ihr  Recht  zurück.  Das  Princip  der  Aufklärung 
duldet  keine  fraglose  Unterwerfung  unter  das  Bestehende  und  verlangt  die  Prü- 
fung der  Gesetze:  aber  diese  Gesetze  halten  die  Prüfung  aus,  sie  erweisen 


1)  Man  vergleiche  bei  Piaton  die  Widerlegung  des  Thrasymachos  im  ersten  Buch  der 
Kepublik,  die  principiell  als  sokratisch  gelten  darf,  aber  doch  dialectisch  und  sachlich  theil- 
weise  auf  sehr  schwachen  Füssen  steht. 


62  I-  Philosophie  der  Griechen.   2.  Anthropologische  Periode. 

sich  als  Forderungen  der  Einsicht  in  das  Zweckmässige,  und  deshalb  muss  ihnen, 
weil  ihre  Befolgung  nun  als  das  Rechte  erkannt  ist,  unbedingter  Gehorsam  ge- 
leistet werden  *).  Weit  entfernt,  mit  den  Satzungen  des  Rechts  und  der  Moral  in 
Widerspruch  zu  sein,  istSokrates  vielmehr  derjenige,  welcher  ihre  Ver nun  ftig- 
keit  und  damit  ihren  Anspruch  auf  allgemeine  Geltung  zu  beweisen 
unternommen  hat^). 

F.  WiLDAUKR,  Sokrates'  Lehre  vom  Willen.   Innsbruck  1877. 

M.  Heinze,  Der  Eudämonismus  in  der  pfricchischen  Philosophie.   Leipzig  1883. 

7.  Zu  den  psychologisch-ethischen  Voraussetzungen,  dass  der  Wille  stets 
auf  das  als  gut  Erkannte  gerichtet  ist  und  dass  daher  die  Tugend  als  Erkennt- 
niss  des  Guten  das  zweckentsprechende  Handeln  von  selbst  nach  sich  zieht,  tritt 
nun  in  den  Argumentationen  des  Sokrates  noch  die  weitere  Ansicht  hinzu,  dass 
dies  zweckmässige  Handeln  des  Tugendhaften  auch  den  Zweck  wirklich  erreicht 
und  ihn  glücklich  macht.  Die  Eudämonie  ist  der  nothwendige  Erfolg  der 
Tugend:  der  Wissende  erkennt  und  thut  daher  das,  was  ihm  gut  ist ;  er  muss 
also  durch  sein  Thun  auch  glücklich  werden.  Diese  Annahme  aber  ist  nur  für 
ein  vollkommenes  Wissen  zutreffend,  welches  der  Wirkungen,  die  eine  beab- 
sichtigte Handlung  in  dem  Zusammenhange  des  Weltgeschehens  haben  wird, 
absolut  sicher  wäre. 

In  der  That  machen  die  überlieferten  Aeusserungcn  des  Sokrates  den  Ein- 
druck, dass  er  überzeugt  war,  der  Mensch  könne  diejenige  Einsicht,  welche  durch 
die  Wirkung  auf  sein  Handeln  und  die  Folgen  desselben  zur  Herbeiführung  der 
Eudämonie  geeignet  ist,  besitzen,  bzw.  durch  die  Philosophie,  d.  h.  durch  unab- 
lässige ernste  Prüfung  seiner  selbst,  der  Andern  und  der  menschlichen  Lebens- 
verhältnisse erwerben.  Untersuchungen  darüber,  wie  weit  etwa  der  vom  Menschen 
nicht  vorauszusehende  Weltlauf  die  Wirkung  auch  der  zweckmässigsten  und  ein- 
sichtigsten Lebensführung  zu  durchkreuzen  und  zu  zerstören  vermöchte,  sind  bei 
Sokrates  nicht  nachzuweisen.  Bei  dem  geringen  Mass  von  Zutrauen,  welches  er 
sonst  zu  der  menschlichen  Erkenntniss  hegte,  sobald  sie  sich  über  die  Peststellung 
sittlicher  Begriffe  und  praktischer  Erfordernisse  hinauswagen  wollte,  ist  dies  nur 
dadurch  zu  erkläreh,  dass  er  von  der  providentiellen  Führung,  die  ihm 

1)  Im  Einzelnen  fällt  diese  Rehabilitirung  der  Volksmoral,  namentlich  wie  sie  Xcuo- 
phon  darstellt,  der  Natur  der  Sache  nach  stark  in's  triviale  Moralisiren.  Wenn  aber 
Sokrates  gerade  damit  seinem  Volk  den  rechten  Dienst  zu  leisten  hoffte,  so  war  eben  dies  der 
Punkt,  wo  er  sich  zwischen  zwei  Stühle  setzte:  den  Sophisten  und  ihrem  Anhanjf  galt  er 
damit,  wie  politisch  so  auch  wissenschaftlich,  als  Reaktionär:  und  die  Männer,  welche,  wie 
Ariatophanes,  den  Krebsschaden  der  Zeit  gerade  darin  sahen,  dass  die  Autorität  von  Gesetz 
und  Sitte  überhaupt  in  Frage  gestellt  wurde,  warfen  ihn,  der  diese  Autorität  begründen 
wollte,  unbesehen  zu  denen,  welche  sie  untergruben.  So  konnte  es  kommen,  dass  Sokrates 
in  den  „Wolken"  des  Aristophanes  als  Typus  der  Sophistik  erschien,  die  er  bekämpfte. 
Dass  dies  Verhältniss  in  letzter  Instanz  zu  seiner  Verurthcilung  geführt  hat,  ist  offenbar. 
--2)  Daher  liegt  es  auch  Sokrates  durchaus  fern,  für  jede  einzelne  Handlung  eine 
specielle  Prüfung  d(»r  Gründe  des  staatlichen  oder  sittlichen  Gebotes  zu  verlangen,  oder 
auch  nur  zu  erlauben.  Ist  es  z.  B.  einmal  als  recht  erkannt,  der  obrigkeitlichen  Verord- 
nung unter  allen  Umständen  zu  gehorchen,  so  muss  dies  auch  dann  geschehen,  wenn  dieselbe 
offenbar  Unvernünftiges  und  Ungerechtes  befiehlt:  vgl.  Platon's  Kriton.  Ist  der  Mensch,  wie 
Sokmtes  selbst,  davon  überzeugt,  dass  sein  Leben  einer  göttlichen  Führung  untersteht,  und 
dass,  wo  seine  Einsicht  nicht  ausreicht,  eine  höhere  Stimme  ihn  durch  sein  Gefühl  wenigstens 
von  dem  Unrechten  abmahnt,  da  hat  er  dieser  Stimme  zu  gehorchen.  Vgl.  über  das  Soipioviov 
§  8.  -  -  Immer  kommt  es  darauf  an,  dass  der  Mensch  sich  Rechenschaft  über  sein  Thun  gebe: 
aber  die  Gründe,  nach  denen  er  dabei  handelt,  können  auch  in  solchen  Maximen  bestehen, 
welche  eine  Prüfung  im  einzelnen  Falle  ausschliessen. 


§  7.  Problem  der  Sittlichkeit.  (Antisthenes.)  63 

ein  Gegenstand  zwar  nicht  der  Einsicht,  aber  des  Glaubens  war,  eine  Vereitlung 
der  beglückenden  Folgen  des  rechten  Handelns  nicht  befürchtete  (vgl.  §  8). 

8«  Wenn  Sokrates  den  sittUchen  Grundbegriff  der  Tugend  als  Einsicht 
und  diese  als  Erkenntniss  des  Guten  bestimmt;  dem  Begriff  des  Guten  aber  keinen 
allgemeinen  Inhalt  gegeben  und  ihn  in  gewisser  Hinsicht  offen  gelassen  hatte^  so 
war  damit  die  Möglichkeit  gegeben;  dass  die  verschiedensten  Lebensauffassungen 
ihre  Ansichten  vom  letzten  Zweck  (tiXoc)  des  Menschendaseins  an  dieser  offenen 
Stelle  dem  sokratischen  Begriffe  einfugten ;  und  so  hat  diese  erste  ethische  Be- 
griffsbildung sogleich  eine  Anzahl  besonderer  Ausgestaltungen  gefunden  ^).  Die 
wichtigsten  darunter  sind  diekynische  und  diekyrenaische:in  beiden  liegt 
der  Versuch  vor,  den  rechten  Werthgehalt  des  individuellen  Lebens  in  allgemein- 
giltiger  Weise  zu  bestimmen.  Beide  wollen  zeigen,  worin  die  wahre  Glück- 
seligkeit des  Menschen  bestehe  und  wie  der  Mensch  beschaffen  sein  und  han- 
deln müsse,  um  sie  sicher  zu  erreichen:  beide  nennen  diese  Beschaffenheit,  durch 
welche  man  der  Glückseligkeit  theilhaftig  wird,  Tugend.  Die  eudämonistische 
Seite  der  sokratischen  Ethik  wird  hier  ganz  einseitig  entwickelt;  und  wenn  auch 
dem  aufgestellten  Begriffe  AUgemeingiltigkeit  vindicirt  wird,  so  tritt  doch  der 
Gesichtspunkt  der  individuellen  Glückseligkeit  als  so  allein  massgebend 
auf;  dass  ihm  auch  die  Werthbeurtheilung  aller  Verhältnisse  des  öffentlichen  Leiiens 
unterstellt  wird.  Im  Kynismus  wie  im  Hedonismus  geht  der  griechische  Geist 
daran;  die  Summe  des  Ertrages  zu  ziehen,  welchen  die  Lebensgestaltung  der 
Civiiisation  für  das  Glück  des  Individuums  abwirft.  Die  von  der  Sophistik  be- 
gonnene Kritik  der  gesellschaftHchen  und  politischen  Zustände  und  Mächte  hat 
durch  Vermittlung  des  sokratischen  Tugendbegiiffs  einen  festen  Massstab  ge- 
wonnen. 

Die  Tugendlehre  des  Antisthenes-)  nimmt  anfänglich  da,  wo  sie  sich 
unbehilflich  in  den  Cirkel  der  sokratischen  eingefangen  findet,  eine  hohe  und  be- 
stechende Wendung.  Sie  verzichtet  darauf,  den  Begriff  des  Guten  inhaltUch  näher 
zu  bestimmen,  und  erklärt  die  Tugend  selbst  nicht  nur  für  das  höchste,  sondern 
für  das  einzige  Gut,  versteht  aber  dabei  unter  Tugend  im  Wesentlichen  nur  die 
verständige  Lebensführung  selbst.  Diese  allein  macht  glücklich,  aber 
nicht  etwa  durch  die  Polgen,  welche  sie  herbeifuhrt,  sondern  durch  sich  selbst. 
Die  dem  rechten  Leben  selbst  innewohnende  Befriedigung  ist  somit  von  dem 
Weltlauf  durchaus  unabhängig:  die  Tugend  genügt  sich  selbst  zur  Glücksehgkeit; 
der  Weise  steht  dem  Schicksal  frei  gegenüber. 

Aber  dieser  kynische  Begriff  der  sich  selbst  genügenden  Tugend  ist,  wie  die 
weitere  Ausführung  zeigt,  noch  keineswegs  so  aufzufassen,  als  sollte  der  Tugend- 
hafte in  dem  Thun  des  Guten  um  seiner  selbst  willen  unter  allen  Schicksalslaunen 
sein  Glück  finden.  Zu  dieser  Höhe  hat  sich  der  Kynismus  noch  nicht  erhoben, 
so  sehr  es  danach  klingen  mag,  wenn  die  Tugend  als  der  einzig  sichere  Besitz  in 
den  Wechselfallen  des  Lebens  gefeiert,  wenn  sie  als  das  einzig  zu  Erstrebende, 
Schlechtigkeit  dagegen  als  das  einzig  zu  Meidende  bezeichnet  wird.    Vielmehr  ist 


1)  So  etwa  bei  Xenophon  und  Aischines;  auch  der  philosophirende  »Schuster  Simon 
scheint  sich  so  an  Sokrates  anpfelehnt  zu  ha1)en.  Was  die  mejjfarischo  und  die  elisch-eretrischo 
Schule  in  dieser  Hinsicht  leisteten,  ist  zu  unbestimmt  überliefert  und  berührt  sich  zu  nahe  mit 
dem  Kynismus,  als  dass  es  gesonderte  Erwähnung  verdiente.  —  2)  Hauptsächlich  bei  Diog. 
Laert.  VI  erhalten. 


64  !•  Philosophie  der  Griechen.  2.  Anthropolof|rische  Periode. 

diese  Lehre  ein  mit  grosser  Folgerichtigkeit  aus  dem  sokratischen  Princip,  dass 
die  Tugend  nothwendig  glücklich  mache  (vgl.  oben  7)  gezogenes  Postulat,  und 
aus  diesem  Postulat  hat  umgekehrt  Antisthenes  die  sachliche  Begriffsbestimmung 
der  Tugend  zu  gewinnen  gesucht. 

Soll  nämlich  Tugend  sicher  und  unter  allen  Umständen  glücklich  machen, 
so  muss  sie  diejenige  Lebensführung  sein,  welche  den  Menschen  vom  Weltlauf 
so  unabhängig  wie  nur  irgend  möglich  macht.  Nun  ist  aber  jedes  Be- 
dürfniss  und  jede  Begierde  ein  Band,  welches  den  Menschen  vom  Schicksal  ab- 
hängig macht,  insofern  als  sein  Glück  oder  Unglück  darauf  angewiesen  wird,  ob 
ihm  ein  solcher  Wunsch  durch  den  Lauf  des  Lebens  erfüllt  wird  oder  nicht.  Ueber 
die  Aussenwelt  haben  wir  keine  Gewalt,  wohl  aber  über  unsere  Begierden.  Wir 
setzen  uns  den  fremden  Mächten  um  so  mehr  aus,  je  mehr  wir  von  ihnen  ver- 
langen, hoffen  oder  fürchten :  jede  Begierde  macht  uns  zu  Sklaven  der  Aussen- 
welt. Die  Tugend  also,  die  den  Menschen  auf  sich  selbst  stellt,  kann  nur  in  der 
Unterdrückung  der  Begierden  und  in  der  Beschränkung  der  Bedürfnisse  auf  das 
denkbar  geringste  Mass  bestehen.  Tugend  ist  Bedürfnisslosigkeit  *), — vom 
Standpunkt  des  Eudämonismus  sicher  die  consequentestc  Folgerung,  und  zugleich 
eine  solche,  welche  Männern  geringerer  Lebensstellung,  wie  wir  sie  theilweise  im 
Kynismus  finden,  besonders  nahe  liegen  musste. 

Durch  die  radicale  Ausführung  dieses  Gedankens  kamen  nun  die  Kyniker 
in  eine  rein  verneinende  Stellung  gegenüber  der  Civilisation,  und,  indem  sie  das 
Mass  der  Bedürfnisse  des  tugendhaften  Weisen  auf  das  absolut  UnvenneidHche 
herabsetzen,  alle  anderen  Bestrebungen  aber  als  verderblich  oder  gleichgiltig  an- 
sehen wollten,  verwarfen  sie  alle  Güter  der  Oultur  und  gelangten  zu  dem  Ideal 
eines  Naturzustandes,  der  aller  höheren  Werthe  entkleidet  war.  Frühere 
sophistische  Theorien  aufnehmend  und  fortspinncnd  lehrten  sie,  dass  der  Weise 
sich  nur  dem  fuge,  was  die  Natur  unabw^eislich  verlangt,  alles  das  aber  verachte, 
was  nur  menschliche  Meinung  und  Satzung  begehrenswerth  oder  befolgcnswerth 
habe  erscheinen  lassen,  ßeichthum  und  feine  Lebensgcstaltung,  Ruhm  und  Ehre 
schienen  ihnen  ebenso  entbehrlich,  wie  die  Genüsse  der  Sinne,  die  über  die  Be- 
friedigung der  elementarsten  Bedürfnisse  von  Hunger  und  Liebe  hinausgehen. 
Kunst  und  Wissenschaft,  Familie  und  Vaterland  war  ihnen  gleichgiltig,  und  Dio- 
genes verdankte  seine  paradoxe  Popularität  dem  ostentativen  Sport,  mitten  in 
dem  civilisirten  Griechenland  als  Naturmensch,  ledighch  (poost  leben  zu  wollen. 

Zwang  sich  auf  diese  Weise  der  philosophirende  Proletarier  zur  Verachtung 
aller  der  Cultur werthe,  von  deren  Genyss  er  mehr  oder  minder  sich  ausgeschlossen 
fand,  so  erkannte  er  andrerseits  aucli  alle  die  Gesetze,  welchen  sich  die  civilisirte 
Gesellschaft  unterwarf,  fiir  sich  nicht  als  bindend  an,  und  wenn  nur  Einiges  von 
den  schmutzigen  Anekdoten  wahr  ist,  die  das  Alterthum  darüber  erzählt,  so  hat 
diese  Sippe  sich  ein  Vergnügen  daraus  gemacht,  den  elementarsten  Anforderungen 
der  Sitte  und  des  Anstandes  öffentlich  Hohn  zu  sprechen.  Dieser  forcirte  und 
zum  Theil  offenbar  affectirte  Naturalismus  weiss  von  SixTj  und  alSw?,  welche  die 
ältere  Sophistik  als  natürliche  Triebe  hatte  bestehen  lassen,  nichts  mehr  und 
klügelt  sich  einen  Tugendbegriff  aus,  der  das  Wesen  des  natüriichen  Menschen 
mit  Gier  und  Brunst  beschlossen  glaubt. 

1)  Xen.  Symp.  4,  34  ff. 


§  7.  'Problem  der  Sittlichkeit.  (Aristipp.)  65 

Doch  waren  die  Kyniker  nicht  so  schlimm,  wie  sie  sich  machten:  Diogenes 
sogar  bewahrte  einen  Rest  von  Achtung  vor  der  geistigen  Bildung,  die  allein 
den  Menschen  von  den  Vorurtheilen  der  Satzung  und  der  Convention  befreien 
und  durch  die  Einsicht  in  die  Nichtigkeit  der  vermeintlichen  Culturgüter  zur 
Bedürfiiisslosigkeit  fuhren  könne,  und  er  hat  nach  den  Grundsätzen  des  kynischen 
Naturalismus  die  Erziehung  der  Söhne  des  Xeniades,  eines  korinthischen  Sophisten, 
nicht  ohne  Erfolg  geleitet. 

Im  Ganzen  ist  diese  Philosophie  ein  charakteristisches  Zeichen  der  Zeit,  das 
Denkmal  einer  Gesinnung,  welche  der  Gesellschaft,  wenn  nicht  feindlich,  so  doch 
gleichgiltig  gegenübersteht  und  alles  Verständniss  für  ihre  idealen  Güter  verloren 
hat :  sie  lässt  uns  von  innen  her  sehen,  wie  um  jene  Zeit  die  griechische  Gesellschaft 
in  die  Individuen  zerbröckelte.  Wenn  Diogenes  sich  einen  KosmopoUten  nannte, 
so  lag  darin  auch  keine  Spur  de»  idealen  Gedankens  einer  Zusammengehörigkeit 
aller  Menschen^  sondern  nur  die  Ablehnung  seiner  Zugehörigkeit  zu  irgend  einer 
Culturgemeinschaft,  und  wenn  Krates  lehrte,  die  Vielheit  der  Götter  bestehe  nur 
in  der  Meinung  der  Menschen,  „der  Natur  nach"  gäbe  es  nur  Einen  Gott,  so  ist 
in  der  kynischen  Lehre  keine  Spur,  woraus  man  schliessen  dürfte,  dass  dieser 
Monotheismus  für  sie  eine  klarere  Vorstellung  oder  gar  ein  tieferes  Gefühl 
gewesen  wäre. 

9.  Den  vollen  Gegensatz  hierzu  bildet  der  Hedonismus,  die  Philosophie 
des  rücksichtslosen  Genusses.  Aristipp  schlug  von  der  Unfertigkeit  der 
sokratischen  Lehre  her  den  entgegengesetzten  Weg  ein:  er  war  schnell  damit  bei  der 
Hand,  dem  Begriffe  des  Guten  einen  deutlichen  und  einfachen  Inhalt  zu  geben, 
—  den  der  Lust  (i^Sovt^).  Dabei  fiingirt  dieser  Begriff  zunächst  in  der  allgemeinen 
psychologischen  Bedeutung  des  Gefühls  der  Befriedigung,  welches  aus  der 
Erfüllung  eines  jeden  Strebens  und  Wünschens  erwächst  ^) :  Glückseligkeit  ist  der 
Zustand  der  Lust,  der  aus  gestilltem  Wollen  entspringt.  Wenn  es  sich  nur  um 
sie  handelt,  so  ist  es  gleichgiltig,  welches  der  Gegenstand  des  Wollens  und  des 
Wohlgefallens  ist,  dann  kommt  es  nur  auf  den  Grad  der  Lust,  auf  die  Stärke  des 
Befriedigungsgefühls  an  ').  Diese  aber,  meinte  Aristipp,  ist  am  meisten  bei  dem 
sinnlichen,  dem  körperlichen  Genuss  vorhanden,  der  sich  auf  das  unmittelbar 
Gegenwärtige,  auf  die  Befriedigung  des  Moments  bezieht.  Ist  also  Tugend  die 
auf  Glückseligkeit  gerichtete  Erkenntniss ,  so  muss  sie  den  Menschen  befähigen, 
so  viel  und  so  lebhaft  als  mögHch  zu  gemessen.  Tugend  ist  Genuss- 
fähigkeit. 

Geniessen  mag  und  kann  freilich  ein  jeder:  aber  nur  der  Gebildete,  nur 
der  Wissende,  der  Einsichtige  und  Weise  versteht  recht  zu  gemessen.  Nicht  nur 
um  die  Abschätzung  (f  pövTjotc)  handelt  es  sich  dabei,  die  unter  den  verschiedenen, 
sich  im  Laufe  des  Lebens  darbietenden  Genüssen  diejenigen  auszuwählen  weiss, 
welche  die  höchste,  reinste,  am  wenigsten  mit  Unlust  gemischte  Lust  zu  gewähren 
im  Stande  sind,  sondern  um  die  innere  Selbstgewissheit  des  Menschen,  der  nicht 
blindlings  jedem  aufsteigendem  Gelüste  folgen  und,  wenn  er  geniesst,  niemals 
ganz  darin  aufgehen,  sondern  über  dem  Genüsse  stehen  und  ihn  beherrschen  soll. 
Verwerflich  ist  freilich,  wie  die  Kyniker  sagen,  der  Genuss,  der  den  Menschen 
zum  Sklaven  der  Dinge  macht;  aber  schwerer,  als  dem  Genüsse,  wie  sie  thun, 

1)  Das  rfiü  kommt  übrigens  auch  bei  Xenophon  nicht  selten  im  Munde  des  Sokrates 
vor.  —  2)  Auch  dies  eine  vollständig  correcte  Folgerung  aus  dem  eudämonistischeo  Princip. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  5 


66  I-  Philosophie  der  Griechen.  2.  Anthropologische  Periode. 

entsagen^  ist  es,  sich  seiner  zu  freuen^  und  ihm  doch  nicht  zu  Terfallen.  Dazu  aber 
befähigt  allein  die  rechte  Einsicht '). 

Aus  diesem  Grunde  haben  die  Kyrenaiker,  insbesondere  der  jüngere 
Aristippos  ([jL7]TpoSl8axtoc,  weil  des  Grossvaters  Weisheit  auf  ihn  durch  seine 
Mutter  Arete  übergegangen  war),  systematische  Untersuchungen  über  den 
Ursprung  der  icdftif],  der  Gefühle  und  Triebe  angestellt.  In  einer  physiologischen 
Psychologie,  die  sich  derjenigen  des  Protagoras  (vgl.  imten  §  8)  anschloss,  führten 
sie  die  Gefühlsverschiedenheiten  auf  die  Bewegungszustände  des  Leibes  zurück : 
der  Kühe  sollte  Gleichgiltigkeit,  heftiger  Bewegung  Schmerz,  sanfter  Bewegung 
dagegen  Lust  entsprechen.  Neben  solchen  erklärenden  Theorien  aber  ging  diese 
Philosophie  der  Lebemänner  auf  eine  vorurtheilsfreie  Weltkenntniss  hinaus.  Auch 
für  sie  waren,  wie  Theodoros  lehrte,  schliesslich  alle  sittlichen  Vorschriften  und 
gesetzlichen  Bestimmungen  nur  Satzungen,  die  für  die  Masse  gelten:  der  gebildete 
Genussmensch  kümmert  sich  um  sie  nicht  und  geniesst  die  Dinge,  wie  er  ihrer 
habhaft  werden  kann.  Theodor,  de)*  den  Beinamen  des  Atheisten  führt,  lehnte 
auch  alle  religiösen  Skrupel,  welche  sich  der  Hingabe  an  den  Sinnengenuss  ent- 
gegenstellen, ab,  und  dass  die  Schule  in  diesem  Sinne  sich  bemühte,  den  religiösen 
Glauben  so  viel  als  mögUch  seines  Nimbus  zu  entkleiden,  beweist  die  bekannte 
Theorie  des  Euemeros,  welcher  in  seiner  Upd  avaifpayii]  den  Glauben  an  die 
Götter  auf  Ahnencult  und  Heroenverehrung  zurückzuführen  unternahm. 

So  kamen  schliesslich  die  Kyrenaiker  mit  den  Kynikern  darin  überein,  dass 
auch  ihnen  Alles,  was  vö(i(p,  d.  h.  durch  gesellschaftliche  Convention  der  Sitte  und 
des  Gesetzes  bestimmt  wird,  als  eine  Einschränkung  des  Rechts  auf  Genuss  galt, 
welches  der  Mensch  'f  6ost,  von  Natur  habe  und  welches  der  Weise,  unbekümmert 
um  die  historischen  Satzungen,  ausübe.  Die  Hedonisten  nahmen  die  Verfeinerung 
des  Geniessens,  welche  die  Cultur  mit  sich  brachte,  gerne  mit ;  sie  &nden  es  bequem 
und  erlaubt,  dass  der  verständige  Mann  den  Honig  geniesse,  den  Andere  bereitet; 
aber  es  band  sie  kein  Gefühl  der  Pflicht  oder  der  Dankbarkeit  an  die  Cultur, 
deren  Früchte  sie  genossen.  Dieselbe  Vaterlandslosigkeit,  dieselbe  Abwendung 
von  politischem  Verantwortlichkeitsgefühl,  welche  bei  den  Kynikern  aus  der 
Verachtung  der  Culturgenüsse  erwuchs,  ergab  sich  für  sie  aus  dem  Egoismus  des  Ge- 
niessens. Aufopferung  für  Andere,  Patriotismus  und  Hingebung  an  ein  Allgemeines 
erklärte  Theodoros  für  eine  Thorheit,  die  zu  theilen  dem  Weisen  nicht  zieme, 
und  schon  Aristipp  freute  sich  der  staatlichen  Ungebundenheit,  die  ihm  sein 
Wanderleben  gewahre^).  Die  Philosophie  der  Schmarotzer,  die  am  vollen  Tische 
hellenischer  Schönheit  schmausten,  steht  dem  idealen  Inhalt  derselben  so  fern, 
wie  diejenige  der  Bettler,  die  auf  der  Thürschwelle  lagen. 

Indessen  enthielt  schon  das  Princip  der  sachverständigen  Abwägung  der 
Genüsse  ein  Moment,  welches  über  den  Genuss  des  Augenblicks,  den  Aristipp 
predigte,  nothwendig  hinausführte:  nach  zwei  Seiten  ist  diese Consequenz  gezogen 
worden.  Er  selbst  schon  gab  zu,  dass  bei  der  Abwägung  die  Lust  und  die  Unlust, 
welche  sich  für  die  Zukunft  aus  dem  Genuss  ergeben  würden,  mit  in  die  Eechnung 
gezogen  werden  müssten;  Theodoros  fand,  dass  das  höchste  Gut  mehr  in  der 
heiteren  Gemüthsstimmung  (x^p^^)?  als  im  momentanen  Genuss  zu  suchen  sei,  und 
Annikcris  kam  zu  der  Einsicht,  dass  dies  mehr  als  durch  leibliche  Genüsse  durch 


1)  Vgl.  Diog.  Laert.  U,  65  ff.  ~  2)  Xen.  Mem.  H  1,  8  ff. 


§  8.  Problem  der  Wissenschaft.  (Sophisten.)  Ö7 

die  geistigen  Freuden  menschlicher  Gemeinschaft,  der  Freundschaft,  der  Famihe 
und  der  Staatsgenossenschaft  erreicht  würde.  Diese  Erkenntniss,  dass  die 
Genüsse  der  geistigen  Cultur  schliesslich  doch  noch  feiner,  gehaltreicher  und 
geschmackyoller  seien  als  die  des  leiblichen  Daseins,  fuhrt  direct  in  die  Lehre 
der  Epikureer  hinüber. 

Andrerseits  aber  konnte  schliesslich  der  hedonischen  Schule  auch  die 
Einsicht  nicht  erspart  bleiben,  dass  der  leidlose  Genuss,  zu  welchem  sie  den 
gebildeten  Menschen  erziehen  wollte,  nur  ein  seltenes  Loos  ist.  Im  Allgemeinen, 
fand  Hegesias,  ist  schon  der  glücklich  zu  preisen,  der  es  zur  Schmerzlosigkeit 
bringt,  der  von  Unlust  frei  ist.  Bei  der  grossen  Masse  der  Menschen  überwiegt 
die  Unlust,  der  Schmerz  unerfüllter  Begierden :  ihnen  wäre  es  darum  besser, 
nicht  zu  leben.  Die  Eindringlichkeit,  mit  der  er  dies  vortrug,  hat  ihm  den  Bei- 
namen «stot^Avatcx;  eingetragen:  er  überredete  zum  Tode.  Er  ist  der  erste  Ver- 
treter des  eudämonistischen  Pessimismus;  damit  aber  widerlegt  sich  der 
Eudämonismus  in  sich  selbst.  Er  zeigt,  dass,  wenn  Glückseligkeit,  Wunsch- 
befriedigung  imd  Genuss  der  Inhalt  und  Zweck  des  Menschenlebens  sein  soll,  es 
diesen  Zweck  verfehlt  und  als  werthlos  fortzuwerfen  ist.  Der  Pessimismus  ist  die 
letzte,  aber  auch  die  vernichtende  Consequenz  des  Eudämonismus,  seine  imma- 
nente Kritik. 

%  8.  Das  Problem  der  Wissenschaft 

P.  Natorp,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Erkenntnissprobleras  bei  den  Alten 
(Berlin  1884). 

Die  Sophisten  waren  Lehrer  der  politischen  Beredsamkeit:  sie  mussten  in 
erster  Instanz  darüber  unterrichten,  wie  man  gut  spricht.  Und  indem  sie  die 
Rhetorik  aus  einer  traditionellen  Kunst  zu  einer  Wissenschaft  umgestalteten, 
wendeten  sie  sich  zunächst  sprachlichen  Untersuchungen  zu  und  wurden  die 
Schöpfer  der  Grammatik  und  Syntax.  Sie  stellten  Untersuchungen  über  die 
Satztheile,  über  den  Wortgebrauch,  über  Synonymik  und  Etymologie  an: 
Prodikos,  Hippias  und  Protagoras  zeichneten  sich  in  dieser  Hinsicht  aus ;  über 
den  Ertrag  ihrer  Einsichten  sind  wir  nur  unvollständig  unterrichtet. 

1.  Noch  ungünstiger  steht  es  mit  unserer  Kenntniss  ihrer  logischen 
Errungenschaften,  die  bis  auf  wenige  Andeutungen  verloren  sind.  Denn  dass 
Lehrer  der  Rhetorik  auch  über  den  Gedankengang  der  Rede  gehandelt  haben, 
versteht  sich  von  selbt.  Dieser  Gedankengang  aber  besteht  imBeweisen  und 
Widerlegen.  Es  war  also  unvermeidlich,  dass  die  Sophisten  eine  Theorie  des 
Beweisens  und  Widerlegens  entwarfen,  und  für  Protagoras  ist  es  auch  *)  aus- 
drücklich bezeugt.  Leider  aber  fehlen  alle  näheren  Nachrichten  darüber,  wie 
weit  die  Sophisten  damit  gekommen  sind  und  ob  sie  schon  die  abstracte  Heraus- 
schälung der  logischen  Formen  aus  den  inhaltlichen  Bestimmungen  des  Denkens 
versucht  haben.  Charakteristisch  ist,  dass  die  wenigen  Nachrichten,  welche  wir 
über  die  Logik  der  Sophisten  haben,  sich  fast  ausnahmslos  auf  ihre  Betonung  des 
Satzes  vom  Widerspruche  beziehen:  dem  advokatischen  Wesen  lag  das 
Widerlegen  näher  als  das  Beweisen.  Protagoras  hat  über  „Widerlegungs- 
gründe^  eine  besondere  Schrift,  vielleicht  seine  bißdeutendste  ^),  hinterlassen,  und 

1)  Diog.  Laert.  IX,  51  ff.  —  2)  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  KataßÄXXovTs^  (sc.  X6f  oi)  und 
'AvtiXoYiat  nur  zwei  verschiedene  Titel  dieses  Werkes  sind,  dessen  erstes  Kapitel  von  der 
Wahrheit  handelte. 


68  I-  Philosophie  der  Griechen.  2.  Anthropologische  Periode. 

er  hat  das  Gesetz  des  contradictorischen  Gegensatzes  wenigstens  so  weit  formulirt, 
dass  er  sagte,  es  gäbe  über  jeden  Gegenstand  zwei  einander  widerstreitende  Sätze^ 
und  daraus  Folgerungen  zog.  Damit  formulirte  er  in  der  That  das  Verfahren, 
das  Zenon  praktisch  angewendet  hatte  und  das  auch  in  der  Lehrpraxis  der  So- 
phisten eine  sehr  grosse  KoIIe  spielte,  ja  den  breitesten  Raum  einnahm. 

Denn  zu  den  Hauptkünsten  dieser  Aufklärer  gehörte  es,  die  Menschen  an  ihren 
bisher  geltenden  Vorstellungen  irre  zu  machen,  sie  durch  geschickte  Fragen  in 
Widersprüche  zu  verwickeln  und  die  so  Verwirrten  womöglich  durch  Consequenz 
oder  Consequenzmacherei  zu  absurden  Antworten  so  weit  zu  zwingen,  dass  sie 
sich  selbst  und  Anderen  lächerlich  wurden.  Dass  es  dabei  logisch  nicht  immer  allzu 
reinlich,  sondern  recht  gründlich  so  zuging,  wie  man  es  heut  „sophistisch^  nennt, 
dass  diese  Leute  sich  keine  sprachliche  Zweideutigkeit,  keine  Unbehilflichkeit  des 
populären  Ausdrucks  entgehen  liessen,  um  daraus  den  Strick  der  Absurdität  zu 
drehen,  das  geht  aus  den  Beispielen  hervor,  welche  Piaton ')  und  Aristoteles ') 
erhalten  haben.  Es  sind  oft  nur  sprachliche,  grammatische  und  etymologische, 
seltener  eigentlich  logische,  vielfach  aber  recht  grobe  und  frostige  Witze,  die 
dabei  herauskommen :  charakteristisch  sind  auch  hier  die  Vexi  rfragen ,  bei  denen 
sowohl  die  bejahende  als  auch  die  verneinende  Antwort  nach  den  Gewohnheiten 
und  Voraussetzungen  der  in  der  Rede  üblichen  Wortbedeutung  unsinnige,  bzw. 
vom  Antwortenden  nicht  beabsichtigte  Folgerungen  zulässt^). 

Neben  den  von  Piaton  geschilderten  Brüdern  Euthydemos  und 
Dionysidoros  haben  diese  Kunst  des  Wortstreits,  welche  bei  den  ^del  redenden 
und  an  Sylbenstecherei  gewöhnten  Athenern  grossen  Erfolg  hatte,  diese  Eristik, 
hauptsächlich  die  Megariker  betrieben,  deren  Schulhaupt  Euklid  sich  mit 
der  Theorie  des  Widerlegens  beschäftigte *).  Seine  Auliänger  Eubulides  und 
Alexinos  wurden  durch  ehie  Reihe  solcher  Fangschlüsse,  die  grosses  Auf- 
sehen machten  und  eine  ganze  Literatur  hervorriefen,  berühmt*).  Unter  diesen 
befinden  sich  zwei,  der  „Haufen ^^  und  der  „Kahlkopf"*),  deren  Grundgedanke 
bereits  auf  Zenon  zurückgeführt  wird  und  bei  diesem  sich  den  Argumentationen 
einfugt,  durch  welche  gezeigt  werden  sollte,  dass  die  Zusammensetzung  der 
Grössen  aus  kleinen  Theilen  unmöglich  sei.  Aehnlich  haben  auch  Zenon's 
Beweise  gegen  die  Bewegung  durch  einen  anderenMegariker,Diodoros  Kronos, 
noch  Vermehrung,  wenn  auch  nicht  Vertiefung  oder  Verstärkung  gefunden*). 
Unermüdlich  in  der  Auffindung  solcher  Aporien,  Schwierigkeiten  und  Wider- 
sprüche, erfand  derselbe  Diodor  aucli  den  berühmten  Beweis  (xopisixov),  welcher 
den  Begriff  der  MögUchkcit  zersetzen  sollte:  möglich  ist  nur  das  Wirkliche ;  denn 
ein  Mögliches,  das  nicht  wirklich  wird,  erweist  sich  eben  dadurch  als  unmöglich^). 

Auch  in  anderer  Weise  zeigen  die  dem  Eleatismus  näherstehenden  Sophisten 
eine  extreme  Anwendung  des  Satzes  vom  Widerspruch  und  eine  entsprechende 
Uebertreibung  des  Princips  der  Identität.  Schon  Gorgias  scheint  seine 
Meinung,  dass  alle  Behauptungen  falsch  seien,  auch  dadurch  gestützt  zu  haben^ 
dass  es  unrichtig  sei,  von  Etwas  irgend  etwas  Anderes  als  eben  dies  selbe  auszu- 


1)  PlaioD  im  Euthydem  und  im  Eratylos,  AriBioteles  in  dem  Buch  „über  die  sophisti* 
9(;hen  Trugschlüsse".  —  2)  Typisch:  „Hast  Du  aufgehört,  Deinen  Vater  zu  schlagen?**  oder: 
„Hast  Du  Deine  Homer  abgeworfen?"  —  3)  Diog.  Laert.  11,  107.  -  4)  Vgl.  Trantl,  Gesch. 
der  Log.  I,  33 ff.  —  5)  Welches  Korn  macht  den  Haufen?  welches  ausfallende  Haar  den  Kahl- 
kopf? —  6)  Sext.  Emp.  adv.  math.  X,  85  ff.  ~  7)  Cic.  de  fato  7, 13. 


§  8.  Problem  der  'Wissenschaft.  (Gorgias,  Protagoras.)  69 

sagen :  und  die  Kyniker  sowie  Stilpon;  der  Megariker^  haben  diesen  Gedanken 
zu  dem  ihrigen  gemacht.  Danach  bleiben  nur  so  rein  identische  ürtheile,  wie 
gut  ist  gut,  Mensch  ist  Mensch  u.  s.  f.  übrig  ^).  Damit  ist  consequenter  Weise 
auch  das  Urtheilen  und  Beden  ebenso  unmöglich  gemacht,  wie  nach  eleatischem 
Princip  Vielheit  und  Bewegung.  So  wie  in  der  Metaphysik  des  Parmenides,  die 
übrigens  auch  gelegentUch  sowohl  bei  den  Megarikern  wie  bei  den  Kynikern 
spukt  (vgl.  unten  No.  5),  der  Mangel  an  Beziehungsbegriffen  keine  Verknüpfung 
der  Einheit  mit  der  Vielheit  gestattet  und  zur  Leugnung  der  Vielheit  geführt  hatte, 
so  lie^s  hier  der  Mangel  logischer  Beziehungsbegriffe  die  Aussage  einer  Mannig- 
faltigkeit von  Prädicaten  über  das  Subject  unmöglich  erscheinen. 

2.  Dies  alles  sind  nun  schon  Wendungen,  in  denen  die  skeptische 
Richtung  zum  Ausdruck  kommt,  welche  die  Untersuchungen  der  Sophisten  über 
die  Erkenntnissthätigkeit  genommen  haben.  Wenn  aus  solchen  Gründen  die 
logische  Unmöglichkeit  aller  synthetischen  Satzbildung  behauptet  wurde,  so  zeigte 
sich,  dass  mit  dem  abstracten  Princip  der  Identität,  wie  es  die  Seinslehre  der 
Eleaten  formulirt  hatte,  das  Erkennen  selbst  unvereinbar  war:  in  denZenonischen 
Dichotomien  hatte  sich  die  Lehre  des  Parmenides  selbst  unrettbar  verstrickt. 
Zum  offensten  Ausdruck  kam  dies  in  der  Schrift  des  Gorgias^),  welche  Sein, 
Erkenntniss  und  Mittheilung  der  Erkenntniss  fiir  unmöglich  erklärte.  Es  ist 
Nichts:  denn  sowohl  das  Sein,  welches  weder  als  ewig  noch  als  vergänglich,  weder 
als  einheitlich  noch  als  vielfach  gedacht  werden  kann,  als  auch  das  Nichtsein  sind 
in  sich  widerspruchsvolle  Begriffe.  Wäre  aber  etwas,  so  wäre  es  nicht  erkennbar: 
denn  das  Gedachte  ist  immer  etwas  anderes  als  das  Sein,  sonst  könnten  sie  nicht 
unterschieden  werden.  Wäre  endUch  Erkenntniss,  so  könnte  sie  nicht  gelehrt 
werden :  denn  jeder  hat  nur  seine  eigene  Vorstellungen,  und  es  giebt  bei  der  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  Gedanken  und  den  zu  ihrer  Mittheilung  zu  verwendenden 
Zeichen  keine  Gewähr  gegenseitiger  Verständigung. 

Dieser  Nihilismus  machte  wohl  kaum  den  Anspruch,  ernst  genommen  zu 
werden.  Schon  der  Titel  des  Buchs  Tcepl  yoosox;  oo  Äspi  toö  {itj  Svtoc  sieht  wie  eine 
groteske  Farce  aus.  Der  formgewandte  Bhetor,  der  alle  ernste  Wissenschaft 
verachtete  und  nur  seine  Bedekunst  betrieb  %  machte  sich  den  Spass,  im  Styl 
von  Zenon's  contradictorischer  Zwickmühle  die  ganze  Arbeit  der  Philosophie 
als  nichtig  zu  ironisiren.  Aber  eben,  dass  er  dies  that  und  dass  dies  Anklang 
fand,  beweist,  wie  gerade  unter  den  Männern,  welche  sich  mit  der  Belehrung 
des  Volkes  beschäftigten,  in  den  Kreisen  der  wissenschaftlichen  Bildung  selbst 
der  Glaube  an  die  Wissenschaft  zu  eben  der  Zeit  verloren  ging,  wo  die  Masse  des 
Volkes  in  ihr  das  Heil  suchte.  Diese  Verzweiflung  aber  an  der  Wahrheit  ist  um 
so  begreiflicher,  je  mehr  die  ernsthaft  wissenschaftliche  Untersuchung,  die  Prota- 
goras ftlhrte,  zu  demselben  Resultate  gelangte. 

E.  Laas,  Idealismus  und  Positivismus  I  (Berlin  1880). 

W.  Halbfass,  Die  Berichte  des  Piaton  und  Aristoteles  über  Protagoras  (Strassb.  1882). 

Sättig,  Der  protagoreische  Sensualismus  (Zeitschrift  für  Philosophie.  Bd.  86—89). 

3.  Den  Kernpunkt  der  Lehre  des  Protagoras  bildet  sein  Bestreben,  die 
menschlichen  Vorstellungen  psychogenetisch  zu  erklären.  Für  den  praktischen 
Bedarf  der  Tugendlehre  und  namentlich  der  rhetorischen  Ausbildung  war  die 

1)  Plat.  Theaet.  201  e,  vgl.  Soph.  251  b.  —  2)  Auszüge  theils  im  dritten  Kapitel  der 
pseudo-aristotelischen  Schrift  De  Xenophane,  Zenone,  Gorgia  (vgl.  S.  23),  theils  bei  Sext. 
Emp.  VII,  65—86.  —  3)  Plat.  Men.  95  c. 


70  !•  Philosophie  der  Griechen.   2.  Anthropolo^sche  Periode. 

Einsicht  in  den  Ursprung  und  die  Entwicklung  der  Vorstellungen  durchaus 
erforderlich^  gentigten  aber  die  von  allgemeinsten  Voraussetzungen  herconstruirten 
und  damit  vielfach  durchsetzten  Behauptungen,  welche  die  Metaphysiker  darüber 
gelegentlich  geäussert  hatten,  durchaus  nicht;  dagegen  boten  sich  von  selbst  die 
physiologisch-psychologischen  Beobachtungen  dar,  welche  man  in  den  jüngeren, 
mehr  naturwissenschaftlichen  Ej^eisen  gemacht  hatte.  Da  nunfurProtagoras  die 
Werthbestimmungen  zunächst  fortfielen,  Ton  denen  aus  Denken  und  Wahrnehmung 
einander  gegenübergestellt  worden  waren ,  so  bheb  für  ihn  nur  die  Ansicht  von 
der  psychologischen  Idendität  des  Denkens  mit  dem  Wahrnehmen  übrig,  zu  welcher 
sich  ja  auch  jene  Metaphysiker,  sobald  sie  das  Vorstellen  aus  dem  Weltlauf 
erklären  wollten,  durchweg  bekannt  hatten  (vgl.  §  6).  In  Folge  dessen  erklärte  er, 
dass  das  ganze  Seelenleben  nur  aus  den  Wahrnehmungen  bestehe'). 
Dieser  Sensualismus  erläuterte  sich  sodann  durch  die  ganze  Menge  der 
Thatsachen,  welche  die  physiologische  Psychologie  in  Verbindung  mit  den  Lehren 
der  wissenschaftlich  forschenden  Aerzte  gesammelt  hatte,  und  mit  den  zahlreichen 
Theorien,  welche  insbesondere  über  den  Process  der  Sinnesthätigkeit  aufgestellt 
worden  waren. 

Allen  diesen  aber  war  die  Vorstellungsweise  gemeinsam,  dass,  sowie  jeder 
Vorgang  des  Geschehens  in  der  Welt,  auch  die  Wahrnehmung  in  letzter 
Instanz  auf  Bewegung  beruht.  Darin  waren  sogar  mit  den  Atomisten,  aus 
deren  Schule  vermuthlich  Protagoras  als  Abderit  hervorging,  Anaxagoras  und 
Empedokles  einig,  und  diese  Einmüthigkeit  erstreckte  sich  noch  weiter,  dahin 
nämhch,  dass  man  allerseits  bei  der  Wahrnehmung  nicht  nur  einen  Bewegungs- 
zustand des  wahrzunehmenden  Dinges,  sondern  auch  einen  solchen  des  wahr- 
nehmenden Organs  annahm.  Mochte  man  über  das  metaphysische  Wesen  dessen, 
was  sich  da  bewegte,  denken  wie  man  wollte,  —  das  scliien  zweifellos  anerkannt, 
dass  jede  Wahrnehmung  diese  Doppelbewegung  voraussetze.  Und  auch  mit  der 
Lehre  war  schon  Empedokles  vorangegangen,  dass  die  innere,  organische  Bewegung 
der  äusseren  entgegenkomme  *)• 

Auf  dieser  Grundlage")  baut  sich  die  Erkenntnisslehre  des  Protagoras 
auf.  Ist  nämlich  die  Wahrnehmung  das  Product  dieser  beiden  auf  einander 
gerichteten  Bewegungen,  so  ist  sie  offenbar  etwas  Anderes  als  das  wahr- 
nehmende Subject,  aber  auch  etwas  Anderes  als  das  die  Wahr- 
nehmung hervorruf  endeObject.  Durch  beide  bedingt,  ist  sie  doch  von 
beiden  verschieden.  Diese  weittragende  Einsicht  bezeichnet  man  als  die  Lehre 
von  der  Subjectivität  der  Sinneswahrnehmung. 

Doch  tritt  dieselbe  bei  Protagoras  in  einer  eigenthümlichen  Verschränkung 
auf.  Da  er  nämlich  offenbar  so  wenig  wie  irgend  einer  der  früheren  Denker  ein 
Bewusstsein  ohne  einen  ihm  entsprechend  existirenden  Bewusstseinsinhalt  an- 
nehmen mochte,  so  lelute  er,  dass  bei  jener  Doppelbewegung  auch  ein  Zwiefaches 


1)  Diog.  Laert.  IX,  51.  —  2)  Ob  diese  beiden  Bewegungen  schon  von  Protagoras 
Leiden  und  Wirken  (wotoöv  und  irAo/ov)  bezeichnet  worden  sind,  wie  es  bei  Platon's  D 


als 
Dar- 
stellung Theaet.  156  a  geschieht,  bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls  sind  so  anthropologische 
Kategorien  im  Munde  des  Sophisten  nicht  verwunderlich.  —  3)  Es  liegt  solchen  Vorbereitungen 
gegeniiber  kein  Grund  vor,  diese  Theorie  der  einander  entgegenlaufenden  Bewegungen  auf 
eine  directe  Anknüpfung  anHeraklit  zurückzuführen.  Ihr heraklitisches Moment,  das  Piaton 
sehr  richtig  gesehen  hat,  ist  schon  genügend  durch  jene  directen  Vorgänger  vertreten,  welche 
alles  Geschehen  auf  Bewegungsverhältnisse  reducirten. 


§  8,  Problem  der  Wissenschaft.  (Protagoras.)  7 1 

entstünde:  das  Wahrnehmen  (atb^Tjai^)  im  Menschen  und  der  Wahr- 
nehmungsinhalt (rö  ala^töv)  an  dem  Dinge.  Daher  ist  die  Wahrnehmung 
zwar  das  völlig  adäquate  Wissen  von  dem  Wahrgenommenen,  aber  gar 
kein  Wissen  von  dem  Dinge.  Jede  Wahrnehmung  ist  also  insofern  wahr,  als  in 
dem  Augenblicke,  wo  sie  entsteht,  auch  der  in  ihr  vorgestellte  Inhalt  an  dem 
Dinge  als  aladYjröv  entsteht:  aber  keine  Wahrnehmung  erkennt  das  Ding  selbst. 
Jeder  erkennt  folglich  die  Dinge,  nicht  wie  sie  sind,  sondern  so  wie  sie  im  Momente 
der  Wahrnehmung  für  ihn,  aber  auch  nur  für  ihn  sind :  und  sie  sind  in  diesem 
Momente  in  Bezug  auf  ihn  so,  wie  er  sie  vorstellt.  Das  ist  der  Sinn  des  prota- 
goreischen  Kelativismus,  nach  welchem  die  Dinge  für  jeden  Einzelnen  so  sind, 
wi^  sie  ihm  erscheinen,  und  dies  drückte  er  in  dem  berühmten  Satze  aus:  dass 
aller  Dinge  Mass  der  Mensch  sei. 

Danach  ist  also  jede  Meinung,  die  aus  der  Wahrnehmung  erwächst,  wahr, 
aber  im  gewissen  Sinne  eben  deshalb  auch  falsch.  Sie  gilt  nur  für  den  Wahr- 
nehmenden selbst,  aber  auch  für  ihn  nur  in  dem  Momente  ihrer  Entstehung :  es 
geht  ihr  jede  All  gemeingiltigkeit  ab.  Und  da  nach  der  Ansicht  des  Protagoras 
es  kein  anderes  Vorstellen,  also  auch  kein  anderes  Wissen  giebt  als  die  Wahr- 
nehmung, so  giebt  es  für  die  menschliche  Erkenntniss  überhaupt  nichts  Allgemein- 
giltiges.  Diese  Ansicht  ist  Phänomenalismus,  insofern  als  sie  in  diesem  ganz 
bestimmten  Sinne  eine  auf  das  Individuum  und  auf  den  Moment  beschränkte 
Erkenntniss  der  Erscheinunglehrt;  aberSkepticismus,  insofern  sie  jede  darüber 
hinausgehende  Erkenntniss  ablehnt. 

Wie  weit  Protagoras  selbst  praktische  Consequenzen  aus  diesem  Satze, 
dass  für  Jeden  seine  Meinung  wahr  sei,  gezogen  hat,  wissen  wir  nicht.  Jüngere 
Sophisten  folgerten,  danach  sei  Irrthum  nicht  möglich,  Allem  komme  Alles  und 
wieder  auch  Nichts  zu,  besonders  aber :  es  sei  kein  wirklicher  Widerspruch  möglich ; 
denn  da  Jeder  von  seinem  Wahrnehmungsinhalt  rede,  sohätten  niemals  verschiedene 
Aussagen  denselben  Gegenstand.  Jedenfalls  verzichtete  Protagoras  auf  jede 
positive  Behauptung  über  das  Seiende;  er  sprach  nicht  von  dem  Wirklichen,  was 
sich  bewegte,  sondern  nur  von  der  Bewegung  und  von  den  Erscheinungen,  welche 
sie  für  die  Wahrnehmung  hervorbringe. 

In  dieser  Hinsicht  hat  nun,  sei  es  Protagoras  selbst,  sei  es  die  voii  ihm 
abhängige  Sophistik,  die  Versuche  begonnen,  auf  die  Verschiedenheiten  dieser 
Bewegung  die  Verschiedenheiten  der  Wahrnehmung  und  damit  auch  der  Er- 
scheinung zurückzuführen.  Es  war  vennuthlich  auch  die  Form,  hauptsächüch 
aber  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung,  welche  dabei  in  Betracht  gezogen  wurde  ^). 
Interessant  ist  femer,  dass  unter  den  Begriff  der  Wahrnehmung  nicht  nur  die 
Empfindungen  und  Anschauungen,  sondern  auch  die  sinnlichen  Gefühle  und 
Begierden  subsumirt  wurden,  merkwürdig  besonders  deshalb,  weil  auch  diesen 
Zuständen  ein  alo^Yjtöv,  eine  momentane  Qualification  des  die  Wahrnehmung 
erzeugenden  Dinges  entsprechen  soUte.  Die  Prädicate  der  Annehmlichkeit  und 
Begehrungswürdigkeit  erfahren  auf  diese  Weise  dieselbe  erkenntnisstheoretische 
Werthung,  wie  die  Prädicate  der  sinnlichen  Vereigenschaftung.  Was  Jemandem 


1)  Zweifellos  macht  sich  hierin  die  Entwicklung  der  pro tagoreischen  Erkenntnisstheorie 
aus  der  atomistischen  Schule,  der  diese  Reduction  des  Qualitativen  auf  das  Quantitative  wesent- 
lich war  (vgl.  oben  §  5),  geltend,  wenn  auch  der  Sophist  sich  auf  solche  metaphysischen 
Theorien,  wie  den  Atomismus,  principiell  nicht  einliess. 


72  I*  Philosophie  der  Ghiechen.  2.  Anthropologische  Periode. 

angenehm;  niitsdicb^  wünschenswerth  erscheint^  ist  fiir  ihn  angenehm;  nützlich  und 
wünschenswertb.  Das  individuelle  Befinden  ist  auch  hierin  das  Mass  der  Dinge, 
und  eine  andere  allgemeingiltige  Bestimmung  des  Werths  der  IHnge  giebt  es 
nicht.  In  dieser  Bichtung  hat  sich  der  aristippisphe  Hedonismus  aus  der  prota- 
goreischen  Lehre  entwickelt;  wir  kenneQ;  lehrt  er,  nicht  die  Dinge,  sondern  nur 
ihren  Werth  fiir  ims  und  die  Zustände  (ica^),  in  die  sie  uns  versetzen.  Diese  aber 
sind  Ruhe  und  Gleichgiltigkeit,  heftige  Bewegung  und  Schmerz,  oder  sanfte 
Bewegung  und  Lust.  Von  diesen  aber  ist  nur  die  letztere  erstrebenswerth 
(vgl.  oben  §  7,  9). 

4.  So  mündeten  alle  Gedankengänge  der  Sophistik  bei  dem  Verzicht  auf 
die  Wahrheit:  Sokrates  aber  brauchte  Wahrheit,  und  deshalb  glaubte  er, 
dass  sie  zu  eiTeichen  sei,  wenn  man  sie  redlich  suche.  Tugend  ist  Wissen,  und  da 
es  Tugend  geben  muss,  so  muss  es  auch  Wissen  geben.  Hier  tritt  zum  ersten 
Mal  in  der  Geschichte  mit  voller  Klarheit  das  sittliche  Bewusstsein  als 
erkenntnisstheoretisches  Postulat  auf.  Weil  Sittlichkeit  nicht  ohne  Er- 
kenntniss  mögUch  ist,  so  muss  es  Erkenntmss  geben:  und  wenn  das  Wissen  nicht 
da  ist,  so  muss  es  gesucht  werden,  so  muss  es  erstrebt  werden,  wie  der  Liebende 
nach  dem  Besitz  des  GeUebten  trachtet.  Wissenschaft  ist  die  sehnende,  ringende 
Liebe  zum  Wissen:  ^iXooof  la  (vgl.  Piaton,  Symp.  203  e). 

Aus  dieser  Ueberzeugung  entwickeln  sich  alle  Eigenthümlichkeiten  der 
sokratischen  Wissenschaftslehre  ^),  in  erster  Linie  die  Grenzen,  innerhalb  deren 
er  das  Wissen  für  iiothwenig  und  deshalb  ftir  möglich  hielt.  Es  ist  nur  eine 
Kenntniss  der  menschlichen  Lebensverhältnisse  (ra  avd'pütTceia),  welche  für  das 
sittliche  Leben  nothwendig  ist:  nur  ftir  diese  ist  ein  Wissen  nöthig,  und  nur  ftir 
diese  reicht  auch  die  Erkenntnisskraft  des  Menschen  aus.  Die  naturphilosophischen 
und  metaphysischen  Hypothesen  haben  mit  der  sittlichen  Aufgabe  des  Menschen 
Nichts  zu  thun,  und  sie  werden  von  Sokrates  um  so  mehr  unbeachtet  gelassen, 
als  er  die  Ansicht  der  Sophisten  theilte,  dass  es  unmögUch  sei,  darüber  eine  sichere 
Erkenntniss  zu  gewinnen.  Wissenschaft  ist  nur  als  praktische  Einsicht ,  als  Er- 
kenntniss  des  sittlichen  Lebens  möglich.  —  Diese  Ansicht  haben  die  sophistischen 
Nachfolger  des  Sokrates  unter  dem  Einflüsse  seines  eudämonistischen  Princips 
noch  schroffer  zugespitzt.  Den  Kynikem  wie  den  Kyrenaikern  hatte  die  Wissen- 
schaft nur  so  weit  Werth,  als  sie  dem  Menschen  die  rechte  Einsicht  gewährt, 
welche  dazu  dient,  glücklich  zu  werden.  Bei  Antisthenes  und  Diogenes  wurde  das 
Wissen  nicht  an  sich,  sondern  als  Mittel  zur  Beherrschung  der  Begierden  und  zur 
Erkenntniss  der  natürlichen  Bedürfnisse  des  Menschen  geschätzt;  die  Kyrenaiker 
sagten,  die  Ursachen  der  Wahrnehmung  (td  TüSÄOtrjxÖTa  xä  äA^)  seien  fiir  uns 
ebenso  gleichgiltig  wie  unerkennbar;  das  zur  Glückseligkeit  fiihrende  Wissen  habe 
es  nur  mit  unseren  Zuständen,  die  wir  sicher  erkennen,  zu  thun.  Gleichgiltigkeit 
gegen  Metaphysik  imd  Naturwissenschaft  ist  bei  Sokrates,  wie  bei  den  Sophisten 
die  Folge  ihrer  Beschäftigung  mit  dem  inneren  Wesen  des  Menschen. 

5.  Es  wird  fiir  alle  Zeiten  eine  merkwürdige  Thatsache  bleiben ,  dass  ein 
Marm,  der  sich  den  Gesichtskreis  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  so  verengte, 
wie  Sokrates,  doch  innerhalb  desselben  das  Wesen  der  Wissenschaft  selbst 
in  so  klarer  imd  für  alle  Zukunft  massgebender  Weise  bestimmte.   Er  verdankte 

1)  V)2:l.  Fb.  ScHL£a;RUAC^EB,  Heber  den  Werth  des  Sokrates  als  Phüosophen,  Ges.W.  in, 
2  Bd.,  S.  287  ff. 


§  8.  Problem  der  Wissenschaft.  (Sokrates.)  73 

dies  wesentlich  seinem  instinctiven  und  überzeugungsvoUen  Gegensatz  gegen 
den  Relativismus  der  Sophisten.  Sielehrten, dasse8nurMeinungen(SöSai) 
gebe,  welche  für  den  Einzelnen  mit  psychogenetischer  Nothwendigkeit 
gelten,  er  aber  suchte  ein  Wissen,  das  für  alle  in  gleicher  Weise  massgebend 
sein  sollte.  Dem  Wechsel  und  der  Mannigfaltigkeit  der  individuellen  Vorstellungen 
gegenüber  verlangte  er  nach  dem  Bleibenden  imdEünheitlichen,  das  alle  anerkennen 
sollen.  Er  suchte  die  logische  Physis,  und  er  fand  sie  im  Begriff.  Auch 
hier  wurzelte  die  Ansicht  in  der  Forderung,  die  Theorie  im  Postulat. 

Auchdie  alten  Denker  hatten  ein  Gefühl  davon  gehabt,  dass  das  vernünftige 
Denken,  dem  sie  ihre  Erkenntnisse  verdankten,  etwas  wesentlich  anderes  sei, 
als  das  alltägliche  sinnUche  Weltauffassen  und  hergebrachte  Meinen :  aber  sie 
hatten  diesen  Werthunterschied  weder  psychologisch  noch  logisch  ausfuhren 
können.  Sokrates  ist  dies  gelungen,  weil  er  auch  hier  die  Sache  durch  die  Leistung 
bestimmte,  welche  er  von  ihr  erwartete.  Die  Vorstellung,  die  mehr  als  Meinung 
sein,  die  als  Wissen  für  alle  gelten  soll,  muss  dasjenige  sein,  was  in  allen  den 
besonderen  Vorstellungen,  die  den  Einzelnen  in  einzelnen  Verhältnissen  sich  auf- 
gedrungen haben,  gemeinsam  ist:  die  subjective  Allgemeingiltigkeit  ist  nur  für 
das  objectiv  Allgemeine  zu  erwarten.  Wenn  es  daher  Wissen  geben  soll,  so  ist 
es  nur  in  demjenigen  zu  finden,  worin  alle  einzelnenVorstellungen  übereinkommen. 
Dies  sacUich  Allgemeine,  welches  die  subjective  Gemeinsamkeit  des  Vorstellens 
ermöglicht,  ist  der  Begriff  (Xöifoc),  und  Wissenschaft  ist  somit  begriffliches 
Denken.  Die  allgemeine  Geltung,  welche  für  das  Wissen  in  Anspruch  genommen 
wird,  ist  nur  dadurch  möglich,  dass  der  wissenschaftliche  Begriff  das  Gemeinsame 
heraushebt,  welches  in  allen  einzelnen  Wahrnehmungen  und  Meinungen  ent- 
halten ist. 

Daheristda^ZielallerwissenschaftUchen  Arbeit  die  Begriffsbestimmung, 
die  Definition.  Der  Zweck  der  Untersuchung  ist  festzustellen,  d&caoTov  sitj, 
was  jedes  Ding  ist,  und  den  wechselnden  Meinungen  gegenüber  zu  bleibenden 
VorsteUungsgebilden  zu  kommen. 

Vorbereitet  war  diese  Lehre  einiffermassen  durch  die  Untersuchungen  der  Sophisten 
über  die  Wortbedeutung,  über  Synonymik  und  etymologische  Verhältnisse.  In  letzterer  Hin- 
sicht gingen  die  Hypothesen  der  Sophisten  in  den  Anfangen  der  Sprachphilosophie  (vgl.  Pia- 
ton's  Kratylos)  auf  die  Frage  hinaus,  ob  eine  natürliche  oder  nur  eine  conventionelle  Beziehung 
zwischen  den  Wörtern  und  ihren  Bedeutungen  obwalte  ((puatt  ^  ^eoei).  Erfolgreich  scheint 
in  dieser  Fixirung  der  Wortbedeutungen  besonders  Prodikos  gewesen  zu  sein,  den  Sokrates 
lobend  erwähnt. 

Bei  den  späteren  Sophisten  hat  sich  das  sokratische  Verlangen  nach  festen  Begriffen 
sogleich  mit  der  eleatischen  Metaphysik  und  ihrem  Postulat  der  Identität  des  Seins  mit  sich 
selbst  verquickt.  Euklid  nannte  die  Tugend  oder  das  Gute  das  einzige  Sein,  welches,  von  den 
Menschen  nur  mit  verschiedenen  Namen  bezeichnet,  in  sich  unveränderlich  dasselbe  bleibe. 
Antisthenes  erklärte  zwar  den  Begriff  dahin,  er  sei  es,  welcher  das  zeitlose  Sein  des  Dinges 
bestimme  ^) ;  aber  er  fasste  diese  allen  Beziehungen  überhobene  Identität  des  Seienden  mit  sich 
selbst  so  schroff,  dass  er  jedes  wahrhaft  Seiende  nur  durch  sich  selbst  bestimmbar  dachte.  Die 
Prädication  ist  unmöglich,  es  giebt  nur  analytische  Urtheile  (vgl.  oben  No.  1).  Danach  war 
nur  das  Zusammengesetzte  begiifBich  bestimmbar,  das  Einfache  ist  nicht  zu  definiren').  Von 
ihm  giebt  es  also  keine  begriiHiche  Einsicht,  es  kann  nur  in  sinnlicher  Gegenwärtigkeit  auf- 
gewiesen werden.  So  kamen  die  Kyniker  aus  der  sokratischen  Begriffslehre  zu  einem  Sensua- 
lismus, der  als  EinÜEiches,  Ursprüngliches  nur  das  mit  Händen  zu  Greifende,  mit  Augen  zu 
Sehende  anerkannte,  und  dies  ist  der  Grund  ihrer  Opposition  gegen  Piaton. 

6.  Aufsuchung  der  Begriffe  (seinem  Zwecke  nach  freilich  nur  der 
ethischen)  war  somit  für  Sokrates  das  Wesen  der  Wissenschaft,  imddies  bestimmte 

1)  Xo^oq  soxtv  6  xb  zi  yjv  yj  laxt  8y|>.(üv:  Diog.  Laert  VI,  3.  —  2)  Plat.  Theaet  202b. 


74  !•  Philosophie  der  GhiecheD.  2.  Anthropologische  Periode. 

zunächst  die  äussere  Gestalt  seines  Philosophirens.  Der  Begriff  sollte  das  sein^ 
was  für  alle  gilt:  er  musste  also  in  gemeinsamem  Denken  gefunden  werden. 
Sokrates  ist  weder  ein  einsamer  Grübler,  noch  ein  Lehrer,  der  ex  cathedra  docirt, 
sondemein  wahrheitsdurstiger  Mann,  der  sich  ebenso  belehren  will,  wie  dieanderen. 
Seine  Philosophie  ist  dialogisch,  sie  entwickelt  sich  im  Gespräch,  das  er  mit 
Jedem,  der  ihm  Rede  stehen  wollte,  zu  beginnen  bereit  war  ^).  Zu  den  sittlichen 
Begriffen,  die  er  allein  suchte,  war  ja  der  Zugang  von  jedem  beliebigen  Gegen- 
stand alltäglichster  Beschäftigung  leicht  zu  finden.  In  dem  Austausch  der 
Gedanken  sollte  sich  das  Gemeinsame  herausstellen,  der  SiaXoYia{i.d(;  war  der  Weg 
zum  XÖ70C.  Aber  diese  Unterhaltung  stiess  auf  mannigfaltige  Schwierigkeiten :  auf 
die  Trägheit  der  gewohnheitsmässigen  Vorstellungsweise,  andrerseits  auf  die  eitle 
Neuerungssucht  und  Paradoxie  der  Sophisten,  auf  den  Hochmuth  des  Schein wissens 
und  des  gedankenlosen  Nachredens.  Hier  sprang  Sokrates  ein,  indem  er  selbst  als 
der  Lernbegiiarige  sich  einführte,  durch  geschickte  Fragen  die  Ansichten  heraus- 
lockte, mit  unerbittlicher  Consequenz  ihre  Mängel  aufdeckte  und  schliesslich 
dem  bildungsstolzen  Athener  zu  Gemüthe  führte,  dass  die  Einsicht  in  die 
eigene  Unwissenheit  der  Anfang  alles  Wissens  sei.  Wer  dann  noch  bei 
ihm  aushielt,  mit  dem  begann  er  ernsthaft  in  gemeinsamem  Denken  zur  Begriffs- 
bestimmung überzugehen,  und  indem  er  die  Führung  der  Unterhaltung  unternahm, 
brachte  er  den  Bedegenossen  Schritt  für  Schritt  zu  klarerer,  widerspruchsloserer 
Entfaltung  seiner  eigenen  Gedanken,  und  Hess  ihn  das,  was  in  ihm  als  unfertig 
Geahntes  schlummerte,  zu  festem  Ausdruck  bringen.  Er  nannte  dies  seine  geistige 
Entbindungskunst  und  jene  Vorbereitung  dazu  seine  Ironie. 

7.  Die  mäeutische  Methode  hat  aber  noch  einen  anderen  sachlichen 
Sinn:  in  der  Unterredung  kommt  die  vernünftige  Gemeinsamkeit  zu  Tage, 
welcher  sich  alle  Theile  trotz  ihrer  auseinander  gehenden  Meinungen  unterwerfen. 
Der  Begriff  soll  ja  nicht  gemacht,  er  soll  gefunden  werden :  er  ist  schon  da,  er 
muss  nur  aus  den  Hüllen  der  individuellen  Erfahrungen  und  Meinungen,  in  denen 
er  steckt,  entbunden  werden.  Darum  ist  das  Verfahren  der  sokratischen  Begriffs- 
bildung epagogisch  oder  inductorisch:  es  führt  durch  die  Vergleichung  der 
besonderen  Ansichten  und  sinnlichen  Einzelvorstellungen  zu  dem  begrifflich 
Allgemeinen;  es  entscheidet  jede  Einzelfrage,  indem  es  durch  Heranziehung 
analoger  Fälle,  durch  Aufsuchung  verwandter  Verhältnisse  zu  einer  allgemeinen 
begrifflichen  Bestimmung  vorzudringen  sucht,  die  sich  dann  auf  das  vorgelegte 
Sonderproblem  entscheidend  anwenden  lässt,  und  es  bringt  diese  Unterordnung 
des  Besonderen  unter  das  Allgemeine  als  das  Grundverhältniss  der 
wissenschaftlichen  Erkeuntniss  zur  Durchfuhrung. 

Freilich  ist  das  inductorische  Verfahren,  wie  es  Sokrates  (bei  Xenophon  und 
Piaton)  anwendet,  noch  von  kindlicher  Einfachheit  und  Unfertigkeit.  Es  fehlt  ihm 
noch  die  Vorsicht  des  Verallgemeinerns  und  die  methodische  Behutsamkeit  der 
Begriffsbildung.  Das  Bedürfni^s  nach  dem  Allgemeinen  ist  so  lebhaft,  dass  es 
sich  sogleich  an  schnell  zusammengerafftem  Material  befriedigt,  und  die  Ueber- 
zeugung  von  der  bestimmenden  Geltung  des  Begriffs  ist  so  stark,  dass  danach 
sofort  die  vorgelegte  einzelne  Frage  entschieden  wird.   So  gross  aber  die  Lücken 


1)  Dies  Moment  hat  sich  mit  dem  Einfluss  der  Zenonischen  Dialectik  vereinigt,  um  der 
nachfolgenden  philosophischen  Literatur  den  Charakter  des  Dialogischen  aufzuprägen. 


§  8.  Problem  der  Wissenschaft.  (Sokrates.)  75 

in  den  Beweisführungen  des  Sokrates  sein  mögen,  so  wenig  wird  damit  die 
Bedeutung  derselben  yerringert  Seine  Lehre  von  der  Induction  hat  keinen 
methodologischen;  sondern  logischen  und  erkenntnisstheoretischen 
Werth.  Sie  fixirt  in  einer  fiir  alle  Zukunft  massgebenden  Weise,  dass  es  die 
Aufgabe  der  Wissenschaft  ist,  aus  der  Vergleichung  der  That- 
sachen  zur  Feststellung  allgemeiner  Begriffe  hinzustreben. 

8,  Wenn  Sokrates  so  das  Wesen  der  Wissenschaft  als  das  begriffliche  Denken 
bestimmte,  so  setzte  er  auch  die  Grenzen  ihrer  Anwendung  fest:  diese 
Aufgabe  ist  seiner  Meinung  nach  nur  auf  dem  Gebiet  des  praktischen  Lebens  zu 
erfüllen.  Wissenschaft  ist  ihrer  Form  nach  Begriffsbildung  und  ihrem  Inhalte 
nach  Ethik. 

Indessen  bleibt  doch  nun  die  ganze  Masse  der  Vorstellungen  über  die  Natur 
und  alle  die  sich  daranknüpfenden  Fi'agen  und  Probleme  bestehen^  und  wenn  diese 
auch  zum  grössten  Theil  für  das  sittliche  Leben  gleichgiltig  sind,  so  lassen  sie  sich 
doch  nicht  ganz  abweisen :  nachdem  aber  Sokrates  darauf  verzichtet  hat,  über 
solche  Fragen  zu  begrifflicher  Einsicht  zu  gelangen,  bleibt  ihm  um  so  mehr  die 
Möglichkeit;  sich  über  das  Weltall  eine  Vorstellung  zu  bilden,  welche  seinen 
wissenschaftlich  begründeten,  sittlichen  Bedürfnissen  genügt. 

So  kommt  es,  dass  Sokrates  zwar  jede  Naturwissenschaft  ablehnt,  dabei 
aber  sichzu  einer  teleologischen  Naturbetrachtung  bekennt,  welche  die 
Weisheit  der  Welteinrichtung,  die  Zweckmässigkeit  der  Dinge  bewundert ')  und 
welche  da,  wo  das  Verständniss  aufliört,  gläubig  der  Vorsehung  vertraut.  Mit 
diesem  Glauben  hat  sich  Sokrates  möglichst  nahe  an  den  religiösen  Vorstellungen 
,  seines  Volkes  gehalten  und  auch  von  der  Vielheit  der  Götter  gesprochen,  obwohl 
er  dem  ethischen  Monotheismus,  der  sich  in  seiner  Zeit  vorbereitete,  wohl  auch 
zuneigte.  Aber  er  trat  in  solchen  Dingen  nicht  als  Reformator  auf,  er  lehrte 
sittliche  Bildung,  und  wenn  er  seinen  Glauben  auseinandersetzte,  so  liess  er  den 
der  Anderen  unangetastet. 

Aus  diesem  Glauben  stammte  aber  auch  die  üeberzeugung,  mit  der  er  so- 
gar den  Rationalismus  seiner  Ethik  einschränkte :  das  Vertrauen  auf  das  3ai|tövtov. 
Je  mehr  er  auf  Klarheit  der  Begriffe  und  auf  vollkommene  Erkenntniss  der  sitt- 
lichen Verhältnisse  drang,  und  je  mehr  er  dabei  wahr  gegen  sich  selbst  war,  um 
so  weniger  konnte  er  sich  verbergen,  dass  der  Mensch  in  seiner  Beschränktheit 
damit  nicht  auskommt,  dass  es  Zustände  giebt,  in  denen  die  Erkenntniss  zur 
sicheren  Entscheidung  nicht  ausreicht,  und  wo  das  Gefühl  in  seine  Rechte  tritt. 
Hier  nun  glaubte  Sokrates  in  sich  das  Dämonien  zu  hören,  eine  berathende,  meist 
warnende  Stimme.  Er  meinte,  dass  die  Götter  auf  diese  Weise  den,  der  ihnen 
sonst  diente,  in  schwierigen  Lagen,  wo  seine  Erkenntniss  aufhörte,  vom  Schlech- 
ten abmahnten. 

So  stellte  der  Weise  von  Athen  neben  die  sittliche  Wissenschaft  den  Glauben 
und  das  Gefühl. 


1)  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  Sokrates  in  dieser  Hinsicht  starke  Einflüsse  von 
Anaxagoras  erfaliren  hat,  da  dessen  Teleologie  sich  auf  die  Harmonie  der  Gestimwelt,  nicht 
auf  das  Menschenleben  bezieht,  während  die  Betrachtungen,  welche  dem  Sokrates  (nament- 
lich von  Xenophon)  zugeschrieben  werden,  den  Nutzen  des  Menschen  zum  Massstabe  der 
Weltbewunderung  machen.  Dem  sokratischen  Glauben  viel  verwandter  sind  die  religiösen 
Anschauungen  der  grossen  Dichter  Athens,  insbesondere  der  Tragiker. 


76  !•  Philosophie  der  Griechen. 

3.  Kapitel.  Die  systematische  Periode. 

Die  dritte,  vollendende  Periode  der  griechischen  Wissenschaft  erntete  die 
Früchte  von  heiden  vorangegangenen  Entwickelungen:  sie  stellt  sich  wesentlich 
als  eine  gegenseitige  Durchdringung  der  kosmologischen  und  der 
anthropologischen  Gedankenmassen  dar.  Diese  Vereinigung  aber  er- 
scheint nur  zu  geringem  Theile  als  sachliche  Nothwendigkeit,  noch  weniger  aber 
als  eine  Forderung  der  Zeit:  sie  ist  vielmehr  in  der  Hauptsache  dieThat  grosser 
Persönlichkeiten  und  ihrer  eigenartigen  Erkenntnissrichtung. 

Der  Zug  der  Zeit  ging  vielmehr  auf  praktische  Auswerthung  der  Wissen- 
schaft: ihm  folgte  sie,  wenn  ihre  Forschung  in  Einzeluntersuchungen  über  mecha- 
nische, physiologische,  rhetorische  und  politische  Probleme  aus  einander  ging 
und  wenn  ihre  lehrhafte  Darstellung  sich  den  Vorstellungen  des  gemeinen  Mannes 
anbequemte.  Die  allgemeinen  Fragen  der  Welterkenntniss  hatten  das  Interesse, 
welches  ihnen  anfängUch  zugewendet  war,  für  die  grosse  Masse  nicht  nur  des  Volks, 
sondern  auch  der  Gelehrten  verloren,  und  ihre  skeptische  Ablehnung  durch  die 
sophistische  Erkenntnisslehre  tritt  nirgends  in  der  Form  eines  Verzichtens  oder 
Beklagens  auf. 

Wenn  daher  die  griechische  Philosophie  von  den  Untersuchungen  über 
menschliches  Wissen  und  Wollen,  womit  sich  die  Forschung  der  Auf  klärungszeit 
beschäftigte ,  mit  erneuter  Kraft  zu  den  grossen  Problemen  der  Metaphysik  zu- 
rückgekehrt und  auf  diesem  Wege  zu  ihrer  Höhe  gelangt  ist,  so  verdankte  sie 
dies  dem  persönlichen  Wissensdrange  der  drei  grossen  Männer,  welche  die  Träger 
dieser  werthvollsten  Entfaltung  des  antiken  Denkens  gewesen  sind :  Demokritos, 
Piaton,  Aristoteles. 

Die  Schöpfungen  dieser  drei  Heroen  des  griechischen  Denkens  unterscheiden 
sich  von  den  Lehren  aller  Vorgänger  durch  ihren  systematischen  Charakter: 
alle  drei  haben  umfassende,  in  sich  geschlossene  Systeme  der  Wissenschaft 
geUefert.  Diesen  Charakter  gewannen  ihre  Lehren  einerseits  durch  die  Allseitig- 
keit ihrer  Probleme  und  andrerseits  durch  die  bewusste  Einheitlichkeit  der  Be- 
handlung derselben. 

Während  jeder  der  früheren  Denker  nur  einen  begrenzten  Kreis  von  Fragen 
aufgriff  und  dementsprechend  sich  auch  nur  in  gewissen  Gebieten  der  Wirk- 
lichkeit unterrichtet  zeigte,  während  namentlich  physicalisches  und  psychologisches 
Interesse  der  Forschimg  nur  gesondert  aufgetreten  waren,  richtete  sich  die  Arbeit 
dieser  drei  Männer  gleichmässig  auf  den  ganzen  Umfang  der  wissen- 
schaftlichen Probleme.  Sie  trugen  das,  was  Erfahrung  und  Beobachtung 
gewonnen  hatte,  zusammen;  sie  verghchen  und  prüften  die  Begriffe,  die  daraus 
gebildet  worden  waren,  und  sie  brachten  das,  was  bisher  gesondert  zu  Stande 
gekonmien  war,  in  fruchtbare  Verbindung  und  Beziehung.  Schon  in  dem  Umfang 
und  in  der  Mannigfaltigkeit  ihrer  schriftstellerischen  Thätigkeit  tritt  diese  All- 
seitigkeit ihres  wissenschaftlichen  Interesses  zu  Tage :  und  die  Massenhaftigkeit 
des  Materials,  welches  darin  verarbeitet  ist,  erklärt  sich  zum  Theil  nur  durch  die 
lebendige  Mitwirkung  ihrer  ausgebreiteten  Schulen,  in  denen  sie 
nach  Neigung  und  Begabung  der  Einzelnen  eine  Theilung  der  Arbeit  eintreten 
Hessen. 


3.  Systematische  Periode.  7  7 

Dass  aber  diese  gemeinsame  Arbeit  nicht  in  das  Einzelne  zerfloss^  dafür 
war  durch  den  principiellen  Grundgedanken  gesorgt^  mit  welchem  jeder  dieser 
drei  Männer  die  einheitliche  Verarbeitung  des  ganzen  Kenntnissmaterials 
unternahm  und  leitete.  Zwar  führte  dies  an  mehr  als  Einem  Punkte  zu  einseitiger 
Auffassung  und  zu  einer  Art  von  Vergewaltigung  einzelner  Gebiete,  und  damit 
zu  Problemverschhngungen ,  welche  vor  der  Kritik  nicht  Stand  halten :  aber 
andrerseits  erfuhr  gerade  durch  die  Ausgleichung,  welche  dabei  zwischen  den 
Erkenntnissformen  verschiedener  Wissensgebiete  stattfinden  musste,  die  meta- 
physische Begriffsbildung  eine  solche  Steigerung,  das  abstracte  Denken  eine  solche 
Verfeinerung  und  Vertiefung,  dass  in  der  kurzen  Zeit  von  kaum  zwei  Gene- 
rationen die  typischen  Grundzüge  von  drei  verschiedenen  Welt- 
anschauungen ausgearbeitet  wurden.  So  traten  die  Vorzüge  und  die  Nach- 
theile philosophischer  Systembildung  bei  diesen  ersten  genialen  Urhebern  der- 
selben gleichmässig  zu  Tage. 

Die  Systematisirung  des  Wissens  zu  einer  philosophischen  Ge- 
sammtlehre  hat  sich  in  aufsteigender  Linie  von  Demokrit  und  Piaton  zu  Ari- 
stoteles vollzogen  und  erst  bei  dem  Letzteren  dieForm  einer  organischen  Glie- 
derung der  Wissenschaft  in  die  einzelnen  Disciplinen  gefunden.  Damit  hat 
dann  Aristoteles  die  Entwicklung  der  griechischen  Philosophie  abgeschlossen 
und  das  Zeitalter  der  Specialwissenschaften  inaugurirt. 

Ln  Besonderen  ist  der  Gang  dieser  Entwicklung  der  gewesen,  dass  aus  der 
Anwendung  der  durch  die  Sophistik  imd  die  sokratische  Lehre  gewonnenen  Prin- 
cipien  auf  die  kosmologischen  und  metaphysischen  Probleme  zunächst  die  beiden 
gegensätzlichen  Systeme  von  Demokrit  und  Piaton  entsprangen,  und  dass  aus 
dem  Versuch  der  Versöhnung  dieser  Gegensätze  die  abschliessende  Lehre  des 
Aristoteles  hervorging. 

Bei  Demokrit  und  Piaton  ist  das  WesentUche  dies,  dass  sie  die  erkenntniss- 
theoretischen Einsichten  der  Aufklärungsphilosophie  zur  Neubegründung 
der  Metaphysik  benutzten.  Die  gemeinsame  Abhängigkeit  von  den  Lehren 
der  kosmologischen  Periode  und  von  der  Sophistik,  insbesondere  der  Theorie  des 
Protagoras,  prägt  dabei  beiden  Lehren  einen  gewissen  ParalleUsmus  und  eine 
partielle  Verwandtschaft  auf,  die  um  so  interessanter  ist,  je  tiefer  andrerseits  der 
Gegensatz  zwischen  beiden  ist.  Dieser  aber  beruht  darauf,  dass  die  sokratische 
Lehre  ohne  jede  Wirkung  auf  Demokrit,  aber  von  entscheidendem  Einfluss  auf 
Pl£^ton  gewesen  ist,  dass  daher  das  ethische  Moment  in  dem  System  des  letz- 
teren ebenso  überwiegt,  wie  in  dem  des  ersteren  zurücktritt.  So  entwickeln  sich 
aus  demselben  Grunde  parallel  Demokrit's  Materialismus  und  Platon's 
Idealismus. 

Aus  diesem  Gegensatz  erklärt  sich  auch  die  Verschiedenheit  ihrer  Wirkung. 
Die  rein  theoretische  Auffassung  der  Wissenschaft,  welche  bei  Demokrit  vor- 
waltet, behagte  dem  Zeitalter  nicht:  seine  Schule  verschwindet  nach  ihm  schnell. 
Piaton  dagegen,  dessen  wissenschaftliche  Lehre  zugleich  ein  Lebensprincip  be- 
gründete, erfreute  sich  in  der  Akademie  einer  umfangreichen  und  dauernden 
Schulbildung.  Aber  diese  Schule,  die  sog.  ältere  Akademie,  verlief  sich, 
der  allgemeinen  Zeitströmung  nachgebend,  sogleich  theils  in  Specialforschung, 
theils  in  populäres  Moralisiren. 

Aus  ihr  hob  sich  sodann  die  grosse  Gestalt  des  Aristoteles  heraus,  des 


78  I*  Philosophie  der  Griechen. 

erfolgreichsten  Denkers,  den  die  Geschichte  gesehen  hat.  Die  gewaltige  Con- 
centration,  mit  der  er,  um  den  vorgefundenen  Gegensatz  zwischen  seinen  beiden 
grossen  Vorgängern  auszugleichen^  den  gesammten  Gedankengehalt  der  griechi- 
schen Wissenschaft  um  den  Begriff  der  Entwicklung  (bteX^xeta)  zusam- 
menkrystallisiren  lies,  hat  ihn  zum  philosophischen  Lehrer  der  Zukunft  und  sein 
System  zu  dem  vollkommensten  Ausdruck  des  griechischen  Denkens  gemacht. 

Demokrit  von  Abdera  (etwa  460-360),  in  der  wissenschaftlichen  Genossenschaft 
seiner  Heimath  und  durch  langjährige  Keisen  gebildet,  hat  während  des  geschäftigen  Lärms 
der  Sophistenzeit  ein  stilles,  scheinloses  Forscnerleben  in  seiner  Vaterstadt  geführt  und  ist 
dem  geräuschvollen  Treiben  Athens  ferngeblieben.  Er  hatte  weder  politische  noch  sonstige 
Tüchtigkeit  zu  lehren,  er  war  wesentlich  theoretisch  veranlagt  und  besonders  der  Natur- 
forschung zugeneigt.  Mit  riesiger  Gelehrsamkeit  und  umfassenden  Kenntnissen  verband  er 
grosse  Klarheit  des  begrifflichen  Denkens  und,  wie  es  scheint,  starke  Neigung  zu  schematischer 
Vereinfachung  der  Probleme.  Die  Fülle  seiner  Arbeiten  beweist,  dass  er  einer  ausgebreiteten 
Schule  vorstimd,  aus  der  auch  einige,  obwohl  unbedeutende  Namen  erhalten  sind.  Doch 
charakterisirt  sich  die  Abwendung  seines  Zeitalters  von  interesseloser  Forschung  durch  nichts 
mehr,  als  durch  die  Gleichgiltigkeit,  der  sein  System  mechanischer  Naturerklärung  begegnete : 
seine  Lehre  wurde  für  zwei  Jahrtausende  durcli  die  teleologischen  Systeme  in  den  Hintergrund 
gedrängt  und  hat  nur  in  der  epikureischen  Schule  ein  auch  da  unverstandenes  Dasein  gefristet. 

Das  Alterthum  hat  Demokrit  auch  als  grossen  Schriftsteller  gefeiert :  um  so  mehr  ist 
der  fast  vollständige  Verlust  seiner  Werke  zu  beklagen,  von  denen  ausser  den  zahlreichen 
Titeln  nur  sehr  geringe  und  zum  Theil. zweifelhafte  Fragmente  erhalten  sind.  Die  wichtigsten 
Schriften  scheinen  theoretisch  der  ^i^ci^  und  Mcxpö^  diaxoGfio^,  nepl  vo5  und  icspl  ISsdJt^,  praktisch 
icspl  e&^u{iiY)<  und  6ico^xai  gewesen  zu  sein.  Nach  den  Sammlungen  von  W.Bürchard  (Minden 
1830  und  34)  und  Loutzinq  (Berlin  1873)  hat  W.  Kahl  (Diedenhofen  1889)  eine  Durch- 
arbeitung der  Quellen  begonnen. 

\g\,  P.  Natobp,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Erkenntnissprobfcms  im  Alterthum 
(Berlin  1884).  G.  Hart,  Zur  Seelen-  und  Erkenntnisslehre  des  Demokrit  (Leipzig  1886). 

Flaton  von  Athen  (427  *347),  aus  vornehmen  Geschlecht,  war  in  die  künstlerische 
und  wissenschaftliche  Bildung  seiner  Zeit  auf  das  glücklichste  hineingewachsen,  als  die  Per- 
sönlichkeit des  Sokrates  auf  ihn  einen  so  entscheidenden  Eindruck  machte,  dass  er  von  seinen 
poetischen  Versuchen  abliess  und  sich  ganz  dem  Umgange  des  Meisters  widmete.  Er  war 
sein  treuester  und  verständnissvollster,  dabei  aber  auch  sein  selbständigster  Schüler.  Die 
Hinrichtung  des  Sokrates  veranlasste  ihn,  zunächst  der  Einladung  des  Euklid  nach  Megara  zu 
folgen;  dann  bereiste  er  Kyrene  und  Aegypten,  kehrte  für  einige  Zeit  nach  Athen  zurück  und 
begann  hier  schriftstellerisch,  vielleicht  auch  schon  mündlich  zu  lehren.  Gegen  390  finden 
wir  ihn  in  Grossgriechenland  und  Sicilien,  wo  er  Verbindungen  mit  den  Pythagoreem  einging 
und  sich  auch  an  politischen  Händeln  betheiligte.  Diese  brachten  ihn  am  Hofe  des  Herrschers 
von  Syracus,  des  älteren  Dionys,  auf  den  er  mit  Hilfe  seines  Freundes  Dion  einzuwirken 
suchte,  in  ernste  Gefahr:  er  wurde  als  Kriegsgefangener  an  die  Snartaner  ausgeliefert  und 
nur  durch  Freundeshilfe  losgekauft.  Diesen  Versuch  praktischer  Politik  in  Sicilien  hat  er 
später  noch  zweimal,  367  und  361,  aber  stets  mit  unglücklichem  Erfolge  wiederholt. 

Nach  der  ersten  sicilischen  Reise  gründete  er  im  Haine  Akademos  seine  Schule,  in  der 
er  sehr  bald  eine  grosse  Anzahl  hervorragender  Männer  zu  gemeinsamer  wissenschaftlicher 
Arbeit  um  sich  vereinigte.  Doch  war  das  Band  dieser  Genossenschaft  noch  mehr  in  einer  auf 
die  Gemeinschaft  sittlicher  Ideale  begründeten  Freundschaft  zu  suchen.  Seine  Lehrthätigkeit 
hatte  anfiuigs  in  sokratischer  Weise  den  dialogischen  Charakter  gemeinsamen  Suchens  und 
nahm  erst  im  Alter  mehr  demjenigen  des  lehrhaften  Vortrages  an. 

Den  aesthetisch-literarischen  Niederschlag  dieses  Lebens  bilden  Platon*s  Werke '),  in 
denen  der  Process  des  Philosophirens  selbst  mit  dramatischer  Lebendigkeit,  mit  plastischer 
Zeichnung  der  Persönlichkeiten  und  ihrer  Lebensanschauungen  dargestellt  wird.  Als  Kunst- 
werke sind  das  Symposion  und  der  Phaidon  die  schönst  gelungenen;  den  grossartigsten  Ein- 
druck von  der  Gesammtheit  der  Lehre  bietet  die  Politeia.  Die  Form  ist,  mit  Ausnahme  der 
Apologie  des  Sokrates,  überall  der  Dialog:  doch  lässt  die  künstlerische  Beliandlung  desselben 


1)  In's  Deutsche  übersetzt  von  Hirr.  Müller,  mit  Einleitungen  von  K.  STEiNEtART, 
8  Bde.  (Leipzig  1850—66).  Dazu  als  9.  Band:  Platon's  Leben  von  K.  Steinhart  (Leipzig  1873). 
Unter  den  neueren  Ausgaben,  in  denen  überall  die  beim  Citiren  übliche  Seitenangabe  der- 
jenigen von  Stephanus  (Paris  1578)  wiederholt  ist,  sind  hervorzuheben  die  von  J.  Bbkker 
(Berlin  1816  f.),  Stallbaüm  (Leipzig  1850),  Schneider  und  Hikschig  (Paris,  Didot.  1846  flf.), 
M.  Schanz  (Leipzig  1875  ff.). 


3.  SystemaÜBche  Periode.  79 

im  Alter  nach,  und  der  Dialoe  bleibt  nur  als  schematischer  Rahmen  eines  Vertrag  übrig 
(Timaios,  Gesetze).  Meist  ist  Sokmtes  der  Leiter  der  Unterredung  und  auch  deijemge,  dem 
Piaton  seine  Entscheidung,  wenn  es  zu  einer  solchen  kommt,  in  den  l^i^id  legt:  erst  die  spätesten 
Schriften  machen  davon  eine  Ausnahme. 

Auch  die  Darstellung  ist  im  Ganzen  mehr  künstlerisch  als  wissenschaftlich.  In  vollendeter 
sprachlicher  Form  zeigt  sie  höchste  Lebendigkeit  und  Flüssigkeit  der  Anschauung,  aber  keine 
Strenge  der  Problemsonderung  oder  der  methodischen  Untersuchung.  Der  Lihalt  der  einzelnen 
Dialoge  ist  nur  nach  dem  darin  vorwiegenden  Gegenstand  zu  bezeichnen.  Wo  die  begriff- 
liche Darstellung  nicht  möglich  oder  nicht  am  Platsee  ist,  greift  Piaton  zu  den  sogen.  Mythen, 
allegorischen  Darstellungen,  welche  Motive  aus  Märchen  und  Göttersagen  in  freier  Dichtung 
benutzen. 

Die  Ueberlieferung  ist  nur  zum  Theil  sicher ;  ebenso  zweifelhaft  ist  die  Reihenfolge  der 
Entstehung  und  die  Auffassung  des  Zusammenhanges  der  Werke  unter  einander. 

Ueber  diese  Fragen  haben,  nachdem  Schlkiermacher  in  seiner  Uebersetzung  (Berlin 
1804  fiD  die  Anregung  gegeben,  hauptsächlich  gearbeitet:  J.  Sochbr  (München  1820), 
0.  Fr.  Hermann  (Heidelberg  1839),  E.  Zbller  (Tübingen  1839),  Fa.  Suckow  (Berlin  1856), 
Fr.  Susemihl  (Berlin  1855/56),  E.  Mukk  (Berlin  1886),  Fr.  Ueberweg  (Wien  1861),  E.  Schaar- 
SCHMIDT  (Bonn  1866),  H.  Bonitz  (Berlin  1875),  G.  Teichmüllbr  (Gotha  1876,  Leipzig  1879, 
Breslau  1881),  A.  Krohn  (Halle  1878),  W.  Dittenberqer  (im  Hermes  1881),  H.  Siebbck 
(Freiburgi.  B.  1889). 

Die  für  echt  platonisch  geltenden  Schriften  sind:  a)  Jugendwerke,  welche  den  sokra- 
tischen  Standpunkt  noch  kaum  überschreiten :  Apologie,  Kriton,  Euthyphron,  Lysis,  Laches 
(vielleicht  auch  Charmides,  Hippias  minor  und  Alkibiades  I);  b)  Schriften  zur  Auseinander* 
Setzung  mit  der  Sophistik :  Protagoras,  Gorgias,  Euthydemos,  Kratylos,  Mcnon,  Theaitetos; 
c)  Hauptwerke  zur  Darstellung  der  eigenen  Lehre :  Phaidros,  Symposion,  Phaidon,  Philebos 
und  die  Politeia  (Republik),  deren  Ausarbeitung,  früh  begonnen  und  schichtenweise  sich  voll- 
endend, bis  in  die  spätesten  Jahre  des  Philosophen  sich  hingezogen  hat ;  d)  die  Schriften  des 
Alters:  Timaios,  Nomoi  und  das  Bruchstück  des  Eritias.  Unter  den  zweifelhaften  Schriften 
sind  die  wichtigfsten  Sophistes,  Politikos  und  Parmenides.  Sie  stammen  vermuthlich  nicht 
von  Piaton,  aber  von  Männern  seiner  Schule,  welche  mit  der  eleatischen  Dialectik  und  Eristik 
nahe  vertraut  waren.  Die  beiden  ersteren  haben  denselben  VerfiEtsser.  ' 

Vgl.  H.  V.  Stein,  Sieben  Bücher  zur  Geschichte  des  Piatonismus  (Göttingen  1861  ff.), 
G.  Grote,  Piaton  and  the  other  companions  of  Socrates  (London  1865),  A.  E.  C^aionet,  I^ 
vie  et  les  Berits  de  Piaton  (Paris  1873),  E.  Heitz  (0.  Müller 's  Gesch.  der  griech.  lit.  2.  Aufl. 
II  2,  14a— 235). 

Platon's  Schule  heisst  die  Akademie,  und  ihre  Entwicklung,  welche  bis  zum  Sohluss 
des  antiken  Denkens  reicht  und  an  den  continuirlichen  Besitz  des  akademischen  Hains  und 
des  darin  bestehenden  Gymnasiums  sich  anlehnte,  pflegt  in  drei,  bzw.  fünf  Perioden  zerlegt 
zu  werden :  1)  Die  ältere  Akademie,  Platon's  nächster  Schülerkreis  und  die  folgenden  Genera- 
tionen; etwa  bis  260  v.  Chr.,  2)  die  mittlere  Akademie,  welche  eine  skeptische  Richtung  nahm 
und  in  der  noch  eine  ältere  Schule  des  Arkesilaos  und  eine  jüngere  des  Earneades  (etwa 
seit  160)  unterschieden  werden^  3)  die  jüngere  Akademie,  welche  mit  Philon  von  Larissa 
(um  100)  zum  alten  Dogmatismus  zurückkehrte  und  mit  Autiochus  von  Askalon  (etwa  25  Jahre 
später),  in  die  Wege  des  Eklekticismus  gerieth.  üeber  die  beiden,  bzw.  vier  jüngeren  Formen 
vgl.  Thl.  II,  cap.  1.  Später  hat  von  der  Akademie  die  neuplatonische  Schule  (Tbl.  II,  cap.  2) 
Besitz  genommen. 

Zur  älteren  Akademie  gehörten  Männer  grosser  Gelehrsamkeit  und  würdiger  Per- 
sönlichkeit: die  Schulhäupter  waren  Speusippos,  der  Neffe  Platon\  Xenokrates  von 
Chalkedon,  P o  1  e m o n  und  K r a t e s  von  Athen ;  daneben  sind  unter  den  älteren  Philippos 
von  Opus  und  Herakleides  aus  dem  pontischen  Heraklea,  unter  den  jüngeren  Krantor  zu 
nennen.  In  loserem  Verhältniss  zur  Schule  standen  der  Astronom  Eudoxos  von  Knidos 
und  der  Pythagoreer  Archytas  von  Tarent. 

Weit  empor  ragt  über  alle  seine  Genossen  in  der  Akademie  Aristoteles  von  Stageira 
(384 — 322).  Als  Sohn  eines  makedonischen  Leibarztes  brachte  er  Neigung  für  medicinisches 
und  naturwissenschaftliches  Wissen  mit,  als  er  achtzchi^jährig  in  die  Akademie  eintrat,  in  der 
er  früh  als  literarischer  Vertreter  und  auch  als  Lehrer,  zunächst  der  Rhetorik,  eine  verhältniss- 
mässig  selbständige  Rolle  spielte,  ohne  dabei  den  Tact  einer  pietätvollen  Unterordnung  unter 
den  Meister  zu  verleugnen.  Erst  nach  Platon^s  Tode  trennte  er  sich  äusserlich  von  der  Aka- 
demie, indem  er  zunächst  mit  Xenokrates  seinen  Freund  Hermeias,  den  Herrscher  von  Atameus 
und  Assos  in  Mysien,  besuchte,  dessen  Verwandte  Pythias  er  später  heirathete.  Nach  einem, 
wie  es  scheint,  vorübergehenden  Aufenthalte  in  Athen  und  in  Mitylene  übernahm  er  343  auf 
Wunsch  Philipp's  von  Makedonien  die  Erziehung  von  dessen  Sohn  Alexander,  welche  er  etwa 
drei  Jahre  mit  grÖsstem  Erfolge  leitete.  Nachher  lebte  er  einige  Jahre  in  seiner  Vaterstadt 
den  wissenschaftlichen  Studien  mit  seinem  Freunde  Theophrastos  und  gründete  dann  335  mit 


80  I*  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

diesem  zusammen  in  Athen  seine  eigene  Schule,  welche  ihren  Sitz  im  Lyceum  hatte  und  (ver- 
muthlich  nach  dessen  schattigen  Laubgängen)  dieperipatetische  genannt  worden  ist. 

'  Nach  zwölQähriger  grossartigster  Wirksamkeit  verUess  er  in  Folge  politischer  Wirren 
Athen  und  ging  nach  Ohalkis,  wo  er  bereits  im  folgenden  Jahre  an  einem  Magenleiden  starb. 
Vgl.  A.  Stahb,  Aristotelia  I.  (Halle  1830). 

Von  der  ganz  ausserordentlich  umfangreichen  schriftstellerischen  Thätikeit  des  Aristo- 
teles ist  nur  das  geringste,  aber  das  wissenschaftlich  Wichtigsie  erhalten.  Verloren  sind  bis  auf 
wenige  Bruchstücke  die  von  ihm  selbst  herausgegebenen  Dialoge,  welche  ihn  in  den  Augen 
des  Alterthums  auch  als  Schriftsteller  ebenbürtig  neben  Piaton  stellten,  und  ebenso  die  grossen 
Sammelwerke,  welche  er  für  die  verschiedensten  Wissenszweige  mit  Hilfe  seiner  Schüler  an- 
gelegt hatte,  und  erhalten  sind  nur  seine  wissenschaftlichen  Lehrschriften,  welche  dazu 
bestimmt  waren,  den  Vorlesungen  im  Lyceum  als  Lehrbücher  zu  Grunde'  gelegt  zu  werden. 
Doch  ist  die  Ausführung  sehr  verschieden:  an  manchen  Stellen  liegen  nur  skizzenhafte  Notizen, 
an  andern  fertige  Ausarbeitungen  vor;  ausserdem  finden  sich  verschiedene  Redactionen  des- 
selben Entwurfs,  und  es  darf  angenommen  werden,  dass  in  die  Lücken  des  Manuscripts  Nach- 
schriften verschiedener  Schüler  eingefügt  worden  sind.  Da  die  erste  (lesammtausgabe,  welche 
im  Alterthum  (wie  es  scheint,  aus  Anlass  einer  Neuauffindung  der  Originalmanuscripte)  An- 
dronikos  von  Rhodos  (60—50  v.  Chr.)  veranstaltete,  diese  Theile  nicht  gesondert  hat,  so 
bleiben  auch  hier  viele  kritische  Fragen  in  der  Schwebe. 

Vgl.  A.  Stahr,  Aristotelia  fl  (Leipzig  1832),  V.  Rosk  (Berlin  1854),  H.  Bonitz 
(Wien  1862  ff.),  J.  Bernays  (Berlin  1863),  E.  Hkitz  (Leipzig  1865  und  in  der  2.  Auflage  von 
0.  MüUer's  Gesch.  der  griech.  Liter.  II  2,  236—321),  E.  Vahlrn  (Wien  1870  ff.)- 

Diese  Lehrbüchersammlung ^)  ist  folgendermassen  zusammengesetzt:  a)  zur  Logik: 
die  Kategorien,  vom  Satz,  die  Analytik,  die  Topik  mit  Einschluss  des  Buchs  über  die  Trug- 
schlüsse, —  von  der  Schule  als  „Organon"  zusammengefasst,  b)  zur  theoretischen  Philosophie: 
die  Grundwissenschaft  (Metaphysik),  die  Physik,  die  Thiergeschichte  und  die  Psychologie; 
an  die  drei  letzteren  schliessen  sich  noch  eine  Anzahl  besonderer  Abhandlungen,  c)  zur 
praktischen  Philosophie :  die  Ethik  in  der  nikomachisohen  und  in  der  endemischen  Ausgabe, 
und  die  (ebenfalls  nicht  abgeschlossene)  Politik,  d)  zur  poietischen  Philosophie:  die  Rhetorik 
und  die  Poetik. 

Fr.  Biese,  Die*  Philosophie  des  Aristoteles  (2  Bde.,  Berlin  1835  42),  A.  Rosmini- 
Serbatt,  Aristotele  esposto  ed  esaminato  (Torino  1858),  G.  H.  Lewbs,  Aristotlc,  a  chapter 
from  the  history  of  science  (London  1864),  G.  Grote,  Aristotle  (aus  dem  Nachlass  heraus^ 
gegeben,  London  1872). 

%  9.    Die  Neubegrfiiidaiig  der  Metaphysik  durch  Brkenntiiisstheorie 

und  Ethik. 

Die  grossen  Systematiker  der  griechischen  Wissenschaft  haben  an  der 
Sophistik  eine  schnelle;  aber  gerechte  Kritik  geübt :  sie  haben  sogleich  gesehen^ 
dass  unter  den  Lehren  derselben  nur  eine  einzige  den  Werth  dauernder  Geltung 
und  wissenschaftUcher  Fruchtbarkeit  besass  —  die  Wahrnehmungstheorie 
des  Protagoras. 

1.  Diese  ist  daher  der  Ausgangspunkt  für  Demokrit  und  für  Piaton  gewor- 
den; und  zwar  haben  beide  sie  angenommen,  um  darüber  hinauszugehen  und  die 
Folgerungen  anzugreifen^  welche  der  Sophist  daraus  gezogen  hatte.  Beide  geben 
zu,  dass  die  Wahrnehmung,  wie  sie  selbst  nur  ein  Product  des  Geschehens  ist, 
auch  nur  die  Erkenntniss  von  etwas  sein  kann,  was  mit  ihr  zusammen  ebenfalls 
als  vorübergehendes  Product  desselben  Geschehens  entsteht  und  vergeht.  Die 
Wahrnehmung  giebt  also  nur  Meinung  (S6£a),  sie  lehrt,  was  nach  menschlicher 
Ansicht  (vö|ju|)  heisst  es  mit  echt  sophistischer  Ausdrucksweise  bei  Demokrit) 
erscheint,  nicht  das  was  wahrhaft  (ets-j)  bei  Demokrit,  5vta>c  bei  Piaton)  ist. 

Für  Protagoras,  dem  die  Wahrnehmung  die  einzige  Erkenntnissquelle  war, 
gab  es  in  Folge  dessen  keine  Erkenntniss  des  Seienden.   Dass  er  den  weitereu 


1)  Von  den  neueren  Ausgaben  wird  die  der  Berliner  Akademie  (J.  Bekker,  Brandls, 
Kose,  Usener,  Bonitz),  6  Bde.,  Berlin  1831  -  70,  beim  Citiren  zu  Grunde  gelegt;  daneben  ist 
die  Pariser  (DrooT)  zu  erwähnen  (Dübner,  Busseuak^r,  Heitz),  5  Bde.,  Paris  1848  -74. 


§  9.    Neubegründung  der  Metaphysik.  (Demokrit  und  Piaton.)  81 

Schritt  gethan  hätte^  das  Sein  überhaupt  zu  leugnen  und  die  "Wahmehmungs- 
gegenstände  für  das  einzig  Wirkliche  zu  erklären^  hinter  dem  man  kein  Sein  zu 
suchen  hätte,  diese  ^positivistische''  Folgerung  ist  bei  ihm  nicht  nachzuweisen: 
der  „Nihilismus"  („es  giebt  kein  Sein")  wird  ausdrücklich  nur  von  Gorgias  über- 
liefert. 

Wenn  nun  doch  wieder  aus  irgend  welchen  Gründen  den  Meinungen  eine 
allgemeingiltige  Erkenntniss  (ifvifjotT]  ^^-q  bei  Demokrit,  iman^jiTj  bei  Piaton) 
gegenübergestellt  werden  sollte,  so  musste  der  Sensuahsmus  des  Protagoras  ver- 
lassen und  wieder  die  Stellung  der  alten  Metaphysiker  eingenommen  werden, 
welche  das  Denken  (Stdvoia)  als  höhere  und  bessere  Erkenntniss  von  der 
Wahrnehmung  unterschieden  (vgl.  §  6).  So  gehen  denn  Demokrit  und  Piaton 
parallel  über  Protagoras  hinaus,  indem  sie  die  Relativität  der  Wahrnehmung  an- 
erkennen und  die  Erkenntniss  des  wahrhaft  Seienden  wieder  vom  Denken  erwarten. 
Beide  sind  ausgesprochene  Rationalisten'). 

2.  Doch  unterscheidet  sich  dieser  neue  metaphysische  Rationalismus  von 
dem  älteren  der  kosmologischen  Periode  nicht  nur  durch  die  breitere  psycholo- 
gische Grundlage,  welche  er  der  protagoreischen  Analyse  der  Wahrnehmung 
verdankte,  sondern  in  Folge  dessen  auch  durch  eine  andere  erkenntnisstheo- 
retische Werthung  der  Wahrnehmung  selbst.  Die  früheren  Meta- 
physiker hatten  die  Wahmehmungsinhalte,  wo  dieselben  in  ihre  begrifSiche  Welt- 
vorstellung nicht  passten,  einfach  als  Trug  und  Schein  verworfen,  ohne  sich  viel 
darum  zu  kümmern,  woher  solch  ein  Schein  kommen  sollte.  Jetzt  war  dieser 
Schein  (durch  Protagoras)  erklärt,  aber  so,  dass  für  den  Wahmehmungsinhalt 
unter  Preisgebung  seiner  Allgemeingiltigkeit  wenigstens  der  Werth  einer  vor- 
übergehenden und  relativenWirklichkeit  in  Anspruchgenommen  wurde. 

Dies  führte  im  Zusammenhange  mit  der  Richtung  der  wissenschaftlichen 
Erkenntniss  auf  das  bleibende,  „wahre"  Sein  zu  einer  Spaltung  im  Begriffe 
der  Realität,  und  damit  war  das  Grundbedürfniss  des  erklärenden  Denkens, 
welches  unwillkürlich  schon  den  Anfängen  der  Wissenschaft  zu  Grunde  gelegen 
hatte,  zum  klaren,  ausdrücklichen  Bewusstsein  gekommen.  Den  beiden  Er- 
kenntnissarten —  so  lehrten  Demokrit  und  Piaton  —  entsprechen  zwei  ver- 
schiedene Arten  der  Wirklichkeit:  der  Wahrnehmung  eine  wechselnde, 
relative,  vorübergehende,  dem  Denken  eine  in  sich  gleiche,  absolute,  bleibende 
Wirklichkeit.  Für  die  erstere  scheint  Demokrit  den  Ausdruck  Erscheinungen,  ra 
f  atvotisva  eingeführt  zu  haben,  Piaton  bezeichnet  sie  als  die  Welt  des  Werdens, 
Y^soic ;  die  andere  nennt  Demokrit  za  Irs-g  Ävia,  Piaton  tö  ÄvTcog  5v  oder  oooia. 

Auf  diese  Weise  wird  für  Wahrnehmung  und  Meinung  eine  analoge  Rich- 
tigkeit, wie  für  das  wissenschaftliche  Denken  gewonnen :  die  Wahrnehmung  er- 
kennt die  veränderliche  Wirkhchkeit  ebenso  wie  das  Denken  die  bleibende  Wirk- 
lichkeit. Den  beiden  Erkenntnissweisen  entsprechen  zwei  Gebiete  der  Wirk- 
lichkeit *). 

Aber  zwischen  diesen  beiden  Gebieten  besteht  deshalb  auch  dasselbe 


1)  Vgl.  Sext.  Emp.  adv.  math.  VIIT,  66.  —  Demokrit's  Lehre  von  der  „echten"  Erkennt- 
niss ist  am  schärfsten  bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  189  formuiirt;  Platon's  Bekämpfung  des 
protafforeisohen  Sensualismus  findet  sich  hauptsächlich  in  seinem  Theaetet,  die  positiv-ratio- 
nalistische Stellungnahme  im  Phaedros,  Symposion,  Republik  und  Phaedon.  —  2)  Am  besten 
formuiirt  bei  Piaton,  Tim.  27  d  ff.,  besonders  29c. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  0 


82  I*  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

Werthverhältniss,  wie  zwischen  den  beiden  Efkenntnissweiaen.  So  viel  wie 
das  Denken  als  das  allgemeingUtige  Vorstellen  über  dem  Wahrnehmen  als  der 
nnr  für  den  Einzelnen  und  für  das  Einzelne  geltenden  E^rkenntniss  steht^  so  viel 
höher^  reiner^  ursprünglicher  steht  das  wahre  Sein  über  der  niederen  Wirklichkeit 
der  Erscheinungen  und  des  zwischen  ihnen  wechselnden  Geschehens.  Dies  Ver- 
hältniss  hat  zwar  Piaton  aus  weiterhin  zu  entwickelnden  Gründen  besonders  be- 
tont und  ausgeführt:  aber  es  tritt  auch  bei  Demokrit  nicht  nur  in  der  Erkennt- 
nisstheorie,  sondern  auch  in  der  Ethik  zu  Tage. 

Auf  diese  Weise  treffen  die  beiden  Metaphysiker  mit  dem  Ergebniss  zu- 
sammen, welches  die  Pythagoreer  (vgl.  §  5,  7  und  §  6,  1)  von  ihren  Voraus- 
setzungen her  gleichfalls  gewonnen  hatten,  der  Unterscheidung  einer  höheren  und 
einer  niederen  Art  der  Wirklichkeit.  Doch  ist  bei  dieser  Aehnlichkeit  nicht  an 
Abhängigkeit  zu  denken;  auf  keinen  Fall  bei  Demokrit,  welcher  der  astronomi* 
sehen  Anschauung  der  Pythagoreer  ganz  fern  stand,  aber  auch  kaum  bei  Piaton, 
der  die  letztere  allerdings  später  aufgenommen  hat,  dessen  Vorstellung  von  der 
höheren  Wirklichkeit  (Ideenlehre)  aber  einen  ganz  anderen  Inhalt  hatte.  Es  hat 
vielmehr  das  gemeinsame  Grundmotiv,  das  aus  dem  Seinsbegriffe  des  Parmeuides 
stammte,  in  diesen  drei  ganz  verschiedenen  Formen  zu  der  Theilung  der  Welt  in 
eine  Sphäre  der  höheren  und  eine  der  niederen  Wirklichkeit  geführt. 

3.  Der  pragmatische  Parallelismus  in  den  Motiven  der  beiden  gegen- 
sätzlichen Systeme  von  Demokrit  und  Piaton  reicht  noch  einen  Schritt  weiter, 
obwohl  nur  einen  kleinen.  Der  Wahmehmungswelt  gehören  ohne  Zweifel  die 
specifischen  Qualitäten  der  Sinne  aii,  welche  ihre  Relativität  schon  darin  erkennen 
lassen ,  dass  dasselbe  Ding  verschiedenen  Sinnen  verschieden  erscheint.  Was 
aber  nach  Abzug  derselben  als  Gegenstand  für  die  Erkenntniss  des  wahrhaft 
Wirklichen  übrig  bleibt,  ist  zunächst  die  Form bestimmtheit  der  Dinge,  und 
beide  Denker  haben  denn  auch  als  das  walire  Wesen  der  Dinge  die  reinen  For- 
men^ die  Gestalten,  IS^ai  bezeichnet. 

Allein  es  scheint  fast,  als  walte  dabei  lediglich  eine,  freUich  immerhin  auf- 
fallende Namensgemeinschaft  ob:  denn  wenn  Demokrit  unter  den  iSica,  die  er 
auch  ayT(J[i.ata  nannte,  die  Atomgestalten,  Piaton  aber  unter  seinen  iS^at  oder  eXSti 
die  —  Gattungsbegriffe  verstand,  so  hat  die  scheinbar  gleiche  Behauptung^  das 
wahrhaft  Seiende  bestehein  den  „Gestalten",  bei  beiden  einen  völlig  verschiedenen 
Sinn.  Deshalb  bleibt  es  auch  hier  zweifelhaft,  ob  darin  eine  parallele  Anlehnung 
an  denPythagoreismus  zu  sehen  ist,  der  freilich  vorher  das  Wesen  der  Dinge 
in  den  mathematischen  Formen  gefunden  hatte  und  dessen  Einfluss  auf  beide 
Denker  anzunehmen  an  sich  auf  keine  Schwierigkeiten  stösst.  Jedenfalls  aber 
hat,  wenn  in  dieser  Hinsicht  eine  gemeinsame  Anregung  vorlag,  dieselbe  in  den 
beiden  vorliegenden  Systemen  zu  ganz  verschiedenen  Ergebnissen  geführt,  und 
wenn  auch  in  beiden  die  Erkenntniss  mathematischer  Verhältnisse  in  sehr  nahen 
Beziehungen  zu  der  Erkenntniss  des  wahrhaft  Wirklichen  steht,  so  sind  doch 
eben  diese  Beziehungen  völlig  verschieden. 

4.  Die  bisher  entwickelte  Verwandtschaft  der  beiden  rationalistischen 
Systeme  springt  nun  aber  in  einen  scharfen  Gegensatz  um,  sobald  man  die 
Motive,  aus  denen  beide  Denker  über  den  protagoreischen  Sensualismus  und 
Relativismus  hinausgingen,  und  die  daraus  sich  ergebenden  Folgerungen  betrachtet. 
Hier  wird  der  Umstand  massgebend,  dass  Piaton  der  Schüler  des  Sokrates 


§  9.  Neubegründung  der  Metaphysik.  (Demokrii  und  Plston.)  83 

war,  während  Demokrit  von  dem  grossen  athenischen  Weisen  auch  nicht  den 
geringsten  Einfluss  erfahren  hat. 

Bei  Demokrit  erwächst,  seiner  persönlichen  Natur  gemäss,  die  über  Pro- 
tagoras  hinaustreibende  Forderung,  dass  es  ein  Wissen  geben  und  dass  dies, 
wenn  es  in  der  Wahrnehmung  nicht  zu  finden  ist,  im  Denken  gesucht  werden 
muss,  lediglich  aus  theoretischem  Bedürfniss :  der  Naturforscher  glaubt,  aller 
Sophistik  gegenüber,  an  die  Möglichkeit  einer  die  Erscheinungen  erklärenden 
Theorie.  Piaton  dagegen  geht  mit  seinem  Postulat  von  dem  sokratischen  Tugend- 
begriffe aus.  Tugend  ist  nur  durch  das  rechte  Wissen  zu  gewinnen,  Wissen  aber 
ist  Erkenn tniss  des  wahren  Seins :  wenn  dasselbe  also  nicht  in  der  Wahrnehmung 
zu  finden  ist,  so  ist  es  durch  das  Denken  zu  suchen.  Für  Piaton  erwächst  die 
Philosophie  nach  sokratischem  Grundsatz ')  aus  sittlichem  Bedürfniss :  aber 
während  die  sophistischen  Freunde  des  Sokrates  bemüht  waren,  dem  Tugend - 
vnssen  irgend  einen  allgemeinen  Lebenszweck,  das  Gute,  die  Lust  u.  s.  w.  zum 
Gegenstande  zu  geben,  gewinnt  Piaton  seine  metaphysische  Position  mit  Einem 
Schlage,  indem  er  folgert,  dies  Wissen,  worin  die  Tugend  bestehen  soll,  müsse, 
den  Meinungen  gegenüber,  die  sich  auf  das  Relative  beziehen,  die  Erkenntuiss 
des  wahrhaft  Wirklichen,  der  ooata,  sein.  Ihm  fordert  das  Tugendwissen  eine 
Metaphysik. 

Hier  also  bereits  schieden  sich  die  Wege.  Für  Demokrit  war  die  Erkennt- 
uiss des  wahrhaft  Wirklichen  wesentlich,  wie  den  alten  Metaphysikem,  eine  Vor- 
stellung von  dem  unveränderlich  bleibenden  Sein,  aber  eine  solche,  durch  welche 
nun  die  abgeleitete  Wirklichkeit,  die  in  der  Wahrnehmung  erkannt  wird,  begreif- 
lich gemacht  werden  sollte :  sein  Rationalismus  lief  auf  eine  durch  das  Denken 
zu  gewinnende  Erklärung  der  Erscheinungen  hinaus,  es  war  wesentlich 
theoretischer  Rationalismus.  Für  Piaton  dagegen  hatte  die  Erkenntniss 
des  wahrhaft  Wirklichen  ihren  sittlichen  Endzweck  in  sich  selbst;  die9e  Erkennt- 
niss sollte  die  Tugend  sein,  und  sie  hatte  daher  zu  der  durch  die  Wahrnehmung 
gegebenen  Vorstellungswelt  zunächst  kein  anderes  Verhältniss,  als  das  der  scharfen 
Abgrenzung  gegen  dieselbe.  Das  wahre  Sein  hat  für  Demokrit  den  theoretischen 
Werth,  die  Erscheinungen  zu  erklären,  ftur  Piaton  aber  den  praktischen  Werth, 
der  Gegenstand  des  Wissens  zu  sein,  welches  die  Tugend  ausmacht:  seine  Lehre 
ist  ihrem  anfanglichen  Princip  nach  wesentlich  ethischer  Rationalismus. 

Darum  beharrte  nun  Demokrit  in  der  natarphilosophischen  Metaphysik, 
die  er  in  der  abderitischen  Schule  übernahm:  er  bildete  den  Atomismus  mit 
Hilfe  der  sophistischen  Psychologie  zu  einem  umfassenden  System  aus,  und  indem 
er  als  das  „wahrhaft  Wirkliche'*,  wie  Leukipp,  den  leeren  Raum  und  die  in  ihm 
sich  bewegenden  Atome  ansah,  aus  deren  Bewegung  er  aber  nicht  nur  alle  quali- 
tativen wie  quantitativen  Erscheinungen  der  Körperwelt,  sondern  auch  alle  geistigen 
Thätigkeiten,  mit  Einschluss  der  auf  jenes  wahre  Sein  gerichteten  Erkenntniss- 
thätigkeit  erklären  wollte,  schuf  er  das  System  des  Materialismus. 

Piaton  aber  wurde  durch  die  Anlehnung  an  die  sokratische  Lehre,  die  sich 
für  ihn  auch  in  der  Auffassung  vom  Wesen  der  Wissenschaft  entscheidend  erwies, 
auf  das  ganz  entgegengesetzte  Resultat  gefuhrt. 

5.  Sokrates  hatte  gelehrt,  das  Wissen  bestehe  in  allgemeinen  Begriffen. 


1)  Am  deutiichfiten  dargestellt  Menon  96  ff. 

6 


84  I-  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

Sollte  aber  dies  Wissen,  im  Gegensatz  zu  den  Meinungen^  die  Erkenntniss  des 
wahrhaft  Wirklichen  sein,  so  musste  dem  Inhalt  dieser  Begriffe  jenes  höhere  Sein, 
jene  wahre  Wesenheit  zukommen,  die,  im  Gegensatz  zum  Wahrnehmen,  nur  durch 
das  Denken  erfasst  werden  sollte.  Die  „Gestalten"  der  wahren  Wirklichkeit, 
deren  Erkenntniss  die  Tugend  ausmacht,  sind  die  Gattungsbegriffe:  siStj. 
Damit  erst  gewinnt  der  platonische  Begriff  der  „Idee"  seine  volle  Bestimmung. 

So  verstanden,  stellt  sich  Platon's  Ideenlehre  als  den  Höhepunkt  der 
griechischen  Philosophie  dar:  in  ihr  schürzen  sich  alle  die  verschiedenen  Gedanken- 
gänge zusammen,  welche  auf  das  physische,  das  ethische,  das  logische  Princip 
(ipXfl  oder  yw3tc)  gerichtet  gewesen  waren.  Die  platonische  Idee,  der  Gattungs- 
begriff, ist  erstens  das  bleibende  Sein  im  Wechsel  der  Erscheinungen,  zweitens 
das  Object  des  Wissens  im  Wechsel  der  Meinungen,  drittens  der  wahre  Zweck 
im  Wechsel  des  Begehrens. 

Diese  ooaia  aber  ist  ihrem  Begriffe  nach  im  Umkreise  des  Wahrnehmbaren 
nicht  zu  finden :  und  wahrnehmbar  ist  alles  Körperliche.  Die  Ideen  sind  also 
etwas  von  der  Körperwelt  wesentlich  verschiedenes.  Die  wahre  Wirklichkeit 
ist  unkörperlich.  Die  Spaltung  im  Begriffe  der  Wirklichkeit  nimmt  hiernach 
eine  feste  Gestalt  ian:  die  niedere  Wirklichkeit  des  Geschehens  (y^soic),  welche 
den  Gegenstand  der  Wahrnehmung  bildet,  ist  die  Körperwelt;  die  höhere  Wirk- 
lichkeit des  Seins,  welche  das  Denken  erkennt,  ist  die  unkörperliche,  die  im- 
materielle Welt:  tÖTcoc  voTjtöc.  So  wird  das  platonische  System  zum  Immateria- 
lismus  oder,  wie  wir  es  nach  seiner  Bedeutung  des  Worts  „Idee"  nennen,  zum 
Idealismus. 

6«  Hiemach  enthält  das  platonische  System  vielleicht  die  grossartigste 
Problemverschlingung,  welche  die  Geschichte  gesehen  hat:  die  Lehre  des  Demo- 
krit  dagegen  ist  durchgängig  nur  von  dem  Einen  Interesse  der  Naturerklärung 
beherrscht.  Mochte  daher  auch  diese  fiir  diesen  Zweck  noch  so  reiche  Erfolge 
erringen,  die  in  einer  späteren.  ähnUch  gestimmten  Lage  des  Denkens  wieder  auf> 
genommen  werden  und  dann  erst  ihre  ganze  Fruchtbarkeit  entfalten  konnten,  — 
zunächst  musste  ihr  die  andere  Lehre  um  so  mehr  überlegen  sein ,  je  mehr  sie 
allen  Bedürfnissen  der  Zeit  Genüge  that  und  je  mehr  sie  den  ganzen  Ertrag  der 
früheren  Denkarbeit  in  sich  vereinigte.  Vielleicht  bietet  das  platonische  System 
der  immanenten  Kritik  mehr  Angriffspunkte  dar,  als  das  demokritische :  aber 
für  das  griechische  Denken  war  das  letztere  ein  Rückfall  in  die  Kosmologie  der 
ersten  Periode,  und  musste  andrerseits  Platon's  Lehre  das  System  der  Zukunft 
werden. 

%  10.  Das  System  des  Materialismus. 

Der  systematische  Charakter  der  demokritischen  Lehre  besteht  in  der  all- 
seitigen Durchführung  des  Grundgedankens,  dass  die  wissenschaftliche  Theorie 
die  Erkenntniss  der  wahren  Wirklichkeit,  d.  h.  der  Atome  und  ihrer  Bewegungen 
im  Baume,  so  weit  gewinnen  muss,  um  daraus  die  erscheinende  Wirklichkeit,  wie 
sie  sich  in  der  Wahrnehmung  darstellt,  erklären  zu  können.  Es  sind  (schon  nach 
den  Büchertiteln)  alle  Anzeichen  vorhanden,  dass  Demokrit  sich  dieser  Aufgabe 
durch  Untersuchungen  über  den  gesammten  Umfang  der  Erfahrungsgegenstände 
unterzogen  und  dabei  den  psychologischen  Problemen  ein  ebenso  grosses  Interesse 
wie  den  physicalischen  zugewendet  hat.  Um  so  mehr  ist  es  zu  beklagen,  dass  der 


§  10.  System  des  MateriaHsmus.  (Demokrit.)  86 

grösste  Theil  seiner  Lehren  rettungslos  verschüttet  ist  und  dass  das  Erhaltene; 
im  Zusanunenhange  mit  anderen  Berichten,  nur  eine  hypothetische  Reconstruction 
der  begrifflichen  Grundzüge  seiner  grossen  Leistung  gestattet;  eine  Eeconstruction 
jedoch,  welche  immer  lückenhaft  und  unsicher  bleiben  muss. 

1.  Zunächst  muss  angenommen  werden^  dass  sich  Demokrit  dieser  Aufgabe 
der  Wissenschaft,  durch  die  Begriflfe  von  der  wahren  Wirklichkeit  die  Welt  der 
Erfahrung  zu  erklären,  vollkommen  bewusst  gewesen  ist.  Das  Seiende  der  Ato- 
misteu;  der  Baum  und  die  darin  schwirrenden  Körperstückchen;  hat  keinen  anderen 
Werth  als  den  theoretischen.  Es  wird  nur  gedacht,  um  das  Wahrgenommene 
begreiflich  zu  machen :  deshalb  aber  ist  es  die  Aufgabe,  das  wahrhaft  Wirkhche 
so  zu  denken,  dass  es  die  erscheinende  Wirklichkeit  erklärt,  dass  dieselbe  dabei 
in  ihrem  Bestände  als  ein  abgeleitet  Seiendes  „erhalten  bleibt^  ^),  dass  die  in  ihr 
bestehende  Wahrheit  anerkannt  bleibt.  Daher  hat  Demokrit  recht  gut  gewusst; 
dass  auch  das  Denken  die  Wahrheit  in  der  Wahrnehmung  suchen;  aus  ihr  heraus 
gewinnen  muss ').  Sein  Rationalismus  ist  weit  entfernt;  erfahrungswidrig  oder 
auch  nur  erfahrungsfremd  zu  sein.  Das  Denken  hat  aus  der  Wahrnehmung  das- 
jenige zu  erschliessen,  wodurch  diese  erklärt  wird.  Das  Motiv,  welches  den  auf 
die  eleatische  Paradoxie  des  Akosmismus  folgenden  Vermittlungsversuchen  zu 
Grunde  gelegen  hatte;  ist  bei  Demokrit  zum  deutlich  erkannten  Princip  der 
Metaphysik  und  der  Naturwissenschaft  geworden.  Doch  ist  leider  nichts  darüber 
bekannt  geblieben;  wie  er  das  methodische  Yerhältniss  zwischen  den  beiden  Er- 
kenntnissweisen näher  ausgeführt  und  wie  er  sich  das  Herauswachsen  des  Wissens 
aus  der  Wahrnehmung  im  Besonderen  gedacht  hat. 

Des  Näheren  besteht  nun  die  theoretische  Erklärung;  welche  Demokrit  für 
die  Wahmehmungsiuhalte  gegeben  hat,  ebenso  wie  bei  Leukipp  in  der  Reduction 
aller  Erscheinungen  auf  die  Mechanik  der  Atome.  Was  in  der  Wahr- 
nehmung als  qualitativ  bestimmt  und  ebenso  in  qualitativer  Veränderung  begriffen 
(iXXotoojievov)  erscheint,  das  ist  „in  Wahrheit"  nur  als  quantitatives  Verhältniss 
der  Atome,  ihrer  Ordnung  und  ihrer  Bewegung  vorhanden.  Die  Aufgabe  der 
Wissenschaft  also  ist  es,  alle  qualitativen  auf  quantitative  Verhältnisse 
zurückzuführen  und  im  Einzelnen  zu  zeigen,  welche  quantitativen  Verhältnisse 
der  absoluten  Wirklichkeit  die  qualitativen  Bestimmungen  der  erscheinenden 
Wirklichkeit  hervorrufen.  So  wird  das  anschauliche  Vorurtheil,  als  ob  räum- 
liche Gestaltung  und  Bewegung  etwas  Einfacheres;  Selbstverständlicheres  und 
Problemloseres  seien;  als  eigenschaftliche  Bestimmung  und  Veränderung;  zum 
Princip  der  theoretischen  Welterklärung  gemacht. 

Indem  nun  aber  dies  Princip  mit  voller  Systematik  auf  die  Gesammtheit  aller 
Erfahrung  angewendet  ivird,  betrachtet  der  Atomismus  auch  das  psychische 
Leben  mit  allen  seinen  inhaltUchen  Bestimmungen  und  Werthen  als  Erschei- 
nung, für  welche  durch  die  erklärende  Theorie  die  Form  und  die  Bewegung  der 
Atome  festgestellt  werden  muss,  die  das  wahre  Sein  dieser  Erscheinung  aus- 
machen.  So  wird  die  Materie  in  ihrer  Formung  und  Bewegung  als  das  allein 


1)  Der  sehr  glückliche  Ausdruck  dafür  ist  Siaou»Cetv  xa  ^aiv6jjL8va.  Vgl.  auch  Aristo t. 
Gen.  et  Corr.  I  8,  326  a.  —  2)  Daher  die  Aussprüche,  in  denen  er  die  Wahrheit  in  der  Er- 
scheinung anerkannt  hat:  z.  B.  Arist.  de  an.  I  2,  404a  27  und  ähnliche.  Daraus  aber  einen 
„Sensuahsmus**  Demokrit's  construiren  zu  wollen,  wie  E.  Johnson  (Plauen  1868)  versucht  hat, 
vriderstreitet  den  Nachrichten  über  seine  Stellung  zu  Protagoras  durchaus. 


86  I-  Philosophie  der  Oriechen.  8.  Systematische  Periode. 

wahrhaft  Wirkliche'und  das  ganze  geistige  Leben  als  daraus  abgeleitete,  erscheinende 
Wirklichkeit  betrachtet.  Damit  erst  nimmt  das  demokritische  System  den 
Charakter  des  bewussten  und  ausgesprochenen  Materialismus  an. 

2.  In  den  eigentlich  physicali  sehen  Lehren  bietet  daher  Demokrit's 
Lehre  derjenigen  von  Leukipp  gegenüber  keine  principielle  Veränderung;  wohl 
aber  eine  grosse  Bereicherung  durch  sorgfaltige  Einzelforschung  dar.  Den 
Gedanken  der  mechanischen  Nothwendigkeit  (avd'pcT];  die  auch  bei  ihm  gelegentlich 
XÖ7o<;  genannt  wird)  ausnahmslos  allen  Geschehens  hat  er  womöglich  noch  schärfer 
betont  als  sein  Vorgänger  und  denselben  dahin  bestimmt,  dass  alle  Einwirkung 
der  Atome  auf  einander  nur  durch  den  Stoss,  durch  unmittelbare  Berührung 
möglich  sei  und  andrerseits  auch  nur  in  der  Veränderung  des  Bewegungszustandes 
der  auch  ihrer  Gestalt  nach  unveränderlichen  Atome  bestehe. 

Die  Atome  selbst  als  das  eigentlich  Seiende  haben  danach  nur  die  Merk 
male  der  abstracten  Körperlichkeit:  begrenzte  Baumerfullung  und  Beweglich- 
keit im  Leeren.  Obwohl  alle  unwahrnehmbar  klein,  weisen  sie  doch  eine  unend- 
liche Mannigfaltigkeit  von  Gestalten  (ISiaa  oder  <T/(fy^xa)  auf.  Zur  Gestalt, 
welche  die  eigentliche  Grundverschiedenheit  der  Atome  bildet,  gehört  in  gewissem 
Sinne  auch  schon  die  Grösse:  doch  ist  zu  beachten,  dass  dieselbe  geometrische 
Form,  z.  B.  die  Kugel,  in  verschiedenen  Grössen  vorkommen  kann.  Je  grösser 
das  Atom  ist,  um  so  massiger  ist  es;  denn  die  Eigenschaft  des  Seienden  ist  ja 
Materialität,  Raumbehauptung.  Deshalb  hat  nun  Demokrit^),  offenbar  mechanischen 
Analogien  des  täglichen  Lebens  nachgebend,  als  eine  Function  der  Grösse  auch 
die  Schwere,  bzw.  Leichtigkeit  angegeben.  Bei  diesen  Bestimmungen  (ßapo  und 
xou^pov)  ist  jedoch  bei  ihm  nicht  an  die  Fallbewegung,  sondern  lediglich  an  den 
Grad  der  mechanischen  Beweglichkeit  oder  an  die  Trägheit  zu  denken^): 
daher  meinte  er  denn  auch,  dass  bei  der  Drehung  der  Atomcomplexe  die  leichteren 
Theile  nach  aussen  gedrängt,  die  trägereu  aber  mit  ihrer  schwerfälligeren  Beweg- 
barkeit in  der  Mitte  angesammelt  würden. 

Die  gleichen  Eigenschaften  theilen  sich  nun  auch  als  metaphysische  Bestim- 
mungen den  aus  Atomen  zusammengesetzten  Dingen  mit.  Ihre  Gestalt  und  Grösse 
ergiebt  sich  aus  der  einfachen  Summation  der  Gestalt  und  Grösse  der  sie  zusammen- 
setzenden Atome :  doch  ist  in  diesem  Falle  die  Trägheit  nicht  von  der  Gesammt- 
grösse  allein  abhängig,  sondern  von  der  geringen  oder  grösseren  Menge  leeren 
Raumes,  welcher  bei  derZusammenfugung  zwischen  den  einzelnen  Massentheilchen 
übrig  geblieben  ist,  also  der  grösseren  oder  geringeren  Dichtigkeit.  Und  da 
von  dieser  Unterbrechung  der  Masse  durch  den  leeren  Raum  auch  die  Verschieb- 
barkeit  der  Theilchen  gegen  einander  abhängt,  so  gehören  auch  die  Eigenschaften 
der  Härte  und  Weichheit  zu  dem  wahrhaft  Wirklichen,  was  das  Denken  erkennt. 

Alle  anderen  Eigenschaften  aber  kommen  den  Dingen  nicht  an  sich,  sondern 
nur  insofern  zu,  als  die  von  ihnen  ausgehenden  Bewegungen  auf  die  Organe  der 
Wahrnehmung  einwirken:  sie  sind  ^Zustände  der  in  qualitativer  Aenderung 

1)  Als  eingehendste  Darstellung  ist  hier  and  zum  Folgenden  Theophr.  de  sens.  61  ff. 
(Doxog.  D.  616}  zu  vergleichen.  —  2)  £s  ist  kaum  mehr  zu  entscheiden,  oh  Demokrit  die 
Eigcnhewegung,  welche  der  Atomismus  sämmtlichen  Atomen  als  ursprünglich  und  ursachlos 
zuschrieb,  auch  schon  durch  die  Grösse,  hzw.  Masse  hcdingt  dachte,  sodass  etwa  die  grösseren 
auch  schon  von  vom  herein  geringere  Geschwindigkeit  hesessen  hätten :  jedenfalls  galten  ihm 
diese  Bcstimmangen  innerhalb  der  mechanischen  Wirkung  der  Atome  auf  einander.  Was 
grösser  ist,  lässt  sich  schwerer,  was  kleiner,  leichter  stossen. 


§  10.  SyBtem  des  Materialismus.  (Demokrit.)  87 

begriffenen  Wahrnehmung'^.  Aber  diese  Zustände  sind  durchweg  auch  durch  die 
Dinge  bedingt,  an  welchen  die  wahrgenommenen  Eigenschaften  erscheinen,  und 
dabei  ist  hauptsächlich  di&  Anordnung  und  die  gegenseitige  Lagerung  mass- 
gebend, welche  die  Atome  bei  der  Zusammensetzung  der  Dinge  eingenommen 
haben  ^). 

Während  also  Gestalt,  Grösse,  Trägheit,  Dichtigkeit  und  Härte  ite-g,  in 
Wahrheit  Eigenschaften  der  Dinge  sind,  ist  alles  dasjenige,  was  von  den  einzelnen 
Sinnen  als  Farbe,  Ton,  Geruch,  Geschmack  an  ihnen  wahrgenommen  wird,  nur 
)f6^  oder  ^dasi,  d.  h.  in  der  Erscheinung  vorhanden.  Diese  Lehre  ist  bei  ihrer 
Erneuerung  in  der  Philosophie  der  Renaissance  (vgl.  unten  Theil  IV.  cap.  3) 
und  weiterhin  als  Unterscheidung  der  primären  und  der  secundären 
Eigenschaf  ten  der  Dinge  bezeichnet  worden,  und  es  empfiehlt  sich,  diese  Aus- 
drücke schon  hier  einzuführen,  da  sie  dem  metaphysisch-erkenntnisstheoretischen 
Sinne,  in  welchem  Demokrit  die  protagoreische  Lehre  für  sich  nutzbar  machte, 
durchaus  entspricht.  Während  der  Sophist  alle  Eigenschaften  zu  secundären, 
relativen  machen  wollte,  gab  dies  Demokrit  nur  für  die  Sinnesqualitäten  zu 
und  stellte  ihnen  die  quantitativen  Bestimmungen  als  primär  und  absolut  gegen- 
über. Darum  bezeichnete  er  dann  auch  die  durch  das  Denken  zu  gewinnende 
Einsicht  in  die  primären  Eigenschaften  als  „echte  Erkenntnisse,  dagegen  die  auf 
die  secundären  Eigenschaften  gerichtete  Wahrnehmung  als  „dunkle  Erkenntnisse 

(7VYJOIT]  —  OXOTtT]  7Va){iY]). 

3.  Die  secundären  Eigenschaften  erscheinen  danach  zwar  von  den  primären 
abhängig ;  aber  sie  sind  es  nicht  von  diesen  allein,  sondern  vielmehr  von  der  Ein- 
wirkung derselbenauf  das  Wahrnehmende.  Das  Wahrnehmende  aber,  die  Seele, 
kann  in  dem  atomistischen  System  auch  nur  aus  Atomen  bestehen.  Näher  sind 
es  nach  Demokrit  dieselben  Atome,  welche  auch  das  Wesen  des  Feuers  aus- 
machen, nämlich  die  feinsten,  glattesten  und  beweglichsten.  Sie. sind  zwar  auch 
durch  die  ganze  Welt  zerstreut,  und  insofern  können  auch  Thiere,  Pflanzen  und 
andere  Dinge  als  beseelt  gelten,  am  meisten  aber  sind  sie  im  menschlichen  Leibe 
vereinigt,  wo  während  des  Lebens  zwischen  je  zwei  anderen  Atomen  ein  Feuer- 
atom sich  befinden  und  wo  sie  durch  das  Athmen  zusammengehalten  werden  sollen. 

Auf  diese  (den  älteren  Systemen,  wie  man  sieht,  analoge)  Voraussetzung 
hat  nun  Demokrit  seine  Erklärung  der  Erscheinungen  aus  dem  wahren  Wesen 
der  Dinge  gebaut.  Aus  der  Einwirkung  nämlich  der  Dinge  auf  die  Feueratome 
(die  Seele)  entspringt  die  Wahrnehmung  und  mit  ihr  die  secundären  Qualitäten. 
Die  erscheinende  Wirklichkeit  ist  ein  nothwendiges  Ergebniss  der  wahren 
Wirklichkeit. 

In  der  Ausfuhinmg  dieser  Lehre  hat  Demokrit  die  Wahrnehmungstheorien 
seiner  Vorgänger  aufgenommen  und  verfeinert.  Die  Ausflüsse  (vgl.  oben  §  6,  3), 
welche  von  den  Dingen  ausgehen,  um  die  Organe  und  durch  sie  die  Feueratome 
in  Bewegung  zu  setzen,  nannte  er  Bilder  che  n  (eiSwXa)  und  betrachtete  sie 
als  unendlich  kleine  Abbilder  der  Dinge :  ihr  Eindruck  auf  die  Feueratome  ist  die 
Wahrnehmung,  für  deren  Inhalt  damit  die  Aehnlichkeit  mit  ihrem  Gegenstande 
gewonnen  werden  sollte.  Da  Stoss  und  Druck  das  Wesen  aller  Atommechanik 
ist,  so  galt  der  Tastsinn  als  der  ursprünglichste  Sinn:  die  besonderen  Organe 


1)  Vgl  Arist.  Gen,  et  Corr.  I  2,  315  b  6. 


88  I.  Philosophie  der  Griechen.   8.  Systematische  Periode. 

dagegen  sollten  nur  für  solche  Bilderchen  empfanglich  sein,  welche  ihrer  eigenen 
Gestaltimg  und  Bewegung  entsprechen,  und  diese  Theorie  der  specifi sehen 
Energie  der  Sinnesorgane  war  von  Demokrit  sehr  fein  ausgearbeitet  worden. 
Aus  ihr  folgte  auch,  dass,  falls  es  Dinge  gäbe^  deren  Ausflüsse  auf  keines  der 
Organe  einzuwirken  vermögen,  diese  für  den  gewöhnlichen  Menschen  unwahr- 
nehmbar bleiben,  und  dafür  vielleicht  „anderen  Sinnen"  zugänglich  sein  können. 

Diese  Theorie  der  Bilderchen  ist  dem  antiken  Denken  sehr  plausibel 
erschienen.  Sie  brachte  die  dem  gemeinen  Bewusstsein  noch  heute  geläufige  Vor- 
stellungsweise, als  ob  unsere  Wahrnehmungen  „Abbilder"  der  ausser  uns  befind* 
hohen  Dinge  seien,  auf  einen  festen  Ausdruck  und  gab  derselben  sogar  eine  gewisse 
Erklärung.  Wenn  man  nicht  weiter  danach  fragte,  wie  die  Dinge  dazu  kommen 
sollen,  solche  Miniaturwiederholungen  von  sich  selbst  in  die  Welt  hinauszuschicken, 
so  konnte  man  meinen,  damit  verstanden  zu  haben,  wie  unsere  „Eindrücke"  den 
Dingen  da  draussen  ähneln  können.  Darum  ist  auch  diese  Theorie  in  der  physio* 
logischen  Psychologie  sogleich  zur  Herrschaft  gelangt  und  darin  bis  in  die  Anfänge 
der  neueren  Philosophie  hinein  (Locke)  gebUeben. 

Ihre  begrifBiche  Bedeutung  aber  fiir  das  System  Demokrit's  hegt  darin,  dass 
damit  diejenige  Atombewegung  beschrieben  sein  sollte,  in  der  die  Wahrnehmung 
bestehe.  Dass  das  Wahrnehmen  als  seeUsche  Thätigkeit  etwas  specifisch  anderes 
ist,  als  jede  wie  immer  bestimmte  Atombewegung,  das  ist  diesem  principiellen 
MateriaUsmus,  wie  allen  seinen  späteren  Umbildungen  verborgen  gebheben :  aber 
in  der  Aufsuchung  der  einzelnen  Bewegungsformen,  aus  denen  die  einzelnen  Wahr- 
nehmungen der  besonderen  Sinne  entspringen,  hat  der  Philosoph  von  Abdera 
manche  scharfe  Beobachtung  und  manche  feine  Vermuthung  verlauten  lassen. 

4.  Interessant  ist  es  nun,  dass  die  materialistische  Psychologie  Demokrit's 
demselben  Geschick  verfallen  ist,  wie  diejenige  der  vorsophistischen  Metaphysiker 
(vgl.  §  6):  auch  sie  hat  in  gewisser  Hinsicht  den  erkenntnisstheoretischen  Gegen- 
satz von  Wahrnehmung  und  Denken  wieder  verwischen  müssen.  Da  nämlich 
alles  Seelenleben  Bewegung  der  Peueratome.  sein  soll  ^),  Atombewegung  aber  im 
zusammenhangenden  System  durch  Berührung  und  Stoss  bedingt  ist,  so  kann 
auch  das  Denken,  welches  das  wahrhaft  Wirkliche  erkennt,  nur  aus  einem  Ein- 
druck, den  dies  wahrhaft  WirkUche  auf  die  Feueratome  macht,  also  auch  nur 
durch  den  Ausfluss  solcher  Bilderchen  erklärt  werden.  Als  psychologischer 
Vorgang  also  ist  Denken  dasselbe  wie  Wahrnehmung :  nämlich  Eindruck  von 
Bilderchen  auf  Peueratome ;  der  Unterschied  ist  nur  der,  dass  bei  der  Wahr- 
nehmung die  verhältnissmässig  groben  Bilderchen  der  Atomcomplexe  wirksam 
sind,  während  das  Denken,  welches  die  wahre  Wirklichkeit  erfasst,  auf  eine  Be- 
rührung der  Feueratome  mit  den  feinsten  Bilderchen,  denjenigen,  welche  die  ato- 
mistische  Structur  der  Dinge  repräsentiren,  beruht. 

So  wunderHch  und  phantastisch  dies  klingt,  so  sehr  sprechen  doch  alle  An- 
zeichen dafür,  dass  Demokrit  diese  Consequenz  aus  den  Voraussetzungen  seiner 
materialistischen  Psychologie  gezogen  hat.  Dieselbe  kannte  keine  selbständige, 
innerliche  Mechanik  der  Vorstellungen,  sondern  nur  ein  Entstehen  der  Vorstel- 
lungen durch  Atombewegung.  Daher  fasste  sie  auch  offenbar  trügerische  Vor- 
steUungen  als  „Eindrücke"  auf  und  suchte  für  dieselben  die  erregenden  Bilder- 


1)  Aristot.  de  ao.  I  2,  405  a  8, 


§  10.  System  des  Materialismus.  (Demokrit.)  89 

eben.  Der  Traum  z.  B.  wurde  auf  eiScoXa  zurückgeführt,  welche  entweder,  schon 
im  wachen  Zustande  eingedrungen^  wegen  ihrer  schwachen  Bewegung  vorher 
keinen  Eindruck  hervorgerufen  oder  erst  im  Schlaf  mit  Umgehung  der  Sinne  die 
Feueratome  erreicht  hätten ;  eine  geheimnissvolle  („magnetische"  oder  „spirite" 
würde  man  heutzutage  sagen)  Einwirkung  der  Menschen  auf  einander  erschien 
damit  begreiflich,  und  dem  Glauben  an  Götter  und  Dämonen  wurde  durch  An- 
nahme riesiger  Gebilde  in  dem  unendlichen  Räume,  von  denen  entsprechende 
Bilderchen  ausgeben  sollten,  eine  objective  Basis  gegeben. 

Dementsprechend  scheint  nun  Demokrit  die  „echte  Erkenntniss"  als  die- 
jenige Bewegung  der  Feueratome  aufgefasst  zu  haben,  welche  durch  den  Eindruck 
der  kleinsten  und  feinsten,  die  atomistische  Zusammensetzung  der  Dinge  wieder- 
gebenden Bilderchen  hervorgerufen  wird.  Diese  Bewegung  aber  ist  von  allen  die 
zarteste,  feinste,  sanfteste,  der  Ruhe  nächst  kommende.  Mit  dieser  Bestimmung 
wurde  der  Gegensatz  zwischen  Wahrnehmung  und  Denken  —  ganz  im 
Sinne  des  Systems  —  auf  einen  qan  titativen  Ausdruck  gebracht.  Die  groben 
Bilderchen  der  Gesammtdinge  setzen  die  Feueratome  in  relativ  heftige  Bewegung 
und  erzeugen  dadurch  die  „dunkle  Einsicht",  welche  sich  als  Wahrnehmung  dar- 
stellt: die  feinsten  Bilderchen  dagegen  drücken  den  Feueratomen  eine  sanfte,  feine 
Bewegung  auf,  welche  die  „echte  Einsicht"  in  den  atomistischen  Bau  der  Dinge, 
das  Denken,  hervorruft.  Von  dieser  Betrachtung  her  empfiehlt  Demokrit,  ganz 
im  Gegensatz  zu  der  Auffassung,  welche  die  Wahrheit  aus  der  Wahrnehmung 
entwickeln  wollte,  dem  Denker  die  Ablenkung  von  der  Sinnenwelt :  jene  feinsten 
Bewegungen  kommen  nur  da  zur  Geltung,  wo  die  gröberen  zurückgehalten  wer- 
den, und  wo  allzu  heftige  Bewegungen  der  Feueratome  stattfinden,  da  kommt  es 
zum  falschen  Vorstellen,  dem  aXXoypovetv*). 

5.  Denselben  quantitativen  Gegensatz  aber  der  starken  und  der  sanften, 
der  heftigen  und  der  leisen  Bewegung^)  hat  Demokrit  auch  seiner  ethischen 
Theorie  zu  Grunde  gelegt.  Dabei  stand  er  mit  seiner  Psychologie  vollständig 
auf  dem  intellectualistischen  Standpunkt  des  Sokrates,  insofern  als  er  die 
erkenntnisstheoretischen  Werthe  der  Vorstellungen  unmittelbar  in  ethische  Werthe 
der  Willenszustände  umsetzte.  Wie  aus  der  Wahrnehmung  nur  die  dunkle  Ein- 
sicht folgt,  welche  die  Erscheinung  und  nicht  das  wahre  Wesen  zum  Gegenstand 
hat,  so  ist  auch  die  Lust,  welche  aus  der  Erregung  der  Sinne  stammt,  nur  relativ 
(v(5(Kj)),  dunkel,  ihrer  selbst  ungewiss  und  trügerisch.  Das  wahre  Glück  dagegen, 
dem  der  Weise  „der  Natur  nach"  (yoast)  lebt,  die  eö8at[i/«)via,  welche  Zweck  (teXoc) 
und  Mass  (o&po<;)  des  Menschenlebens  ist,  darf  nicht  in  äusseren  Gütern  und  sinn- 
Ucher  Befriedigung,  sondern  nur  in  jener  sanften  Bewegung,  jener  ruhigen  Stim- 
mung (eosarcö)  gesucht  werden,  welche  die  rechte  Einsicht,  die  leise  Bewegtheit  der 
Feueratome  bei  sich  führt.  Sie  allein  gieb t  der  Seele  Mass  und  Harmonie  (4o|i(JLSTpia), 
bewahrt  sie  vor  affectvoUem  Staunen  (adao[xaaia),  verleiht  ihr  Sicherheit  und  ün- 
entwegtheit  in  sich  selbst  (aiapa^ta,  a^afißia):  es  ist  die  Meeresstille  (toXtijvt])  der 
Seele,  welche  durch  die  Erkenntniss  ihrer  Leidenschaften  Herr  geworden  ist. 
Wahre  GlückseKgkeit  ist  Ruhe  (ipryyiyx),  und  Ruhe  gewährt  nur  die  Erkenntniss.  So 


1)  Theophr.  de  sens.  58  (Dox.  D.  515).  —  2)  Die  Aehnlichkeit  mit  der  Theorie  Aristipps' 
(§  7,  9)  ist  80  augenfällig,  dass  die  Annahme  eines  causalen  Zusammenhanges  kaum  zu  um- 
gehen ist.  Doch  dürfte  derselbe  eher  in  einer  gemeinsamen  Abhängigkeit  von  Protagoras,  als 
m  Einwirkungen  des  Atomismus  und  des  Hedonismus  auf  einander  zu  suchen  sein. 


90  I-  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematisclie  Periode. 

gewinnt  Demokrit  als  Schlussstein  seines  Systems  sein  persönliches  Lebensideal, 
dasjenige  reiner,  wunschloser  Erkenntniss:  damit  mündet  dieser  systematische 
Materialismus  in  eine  edle  und  hohe  Lebensansicht.  Und  doch  ist  auch  in  ihr 
ein  Zug,  der  die  Moral  des  Auf  klärungszeitalters  kennzeichnet :  die  auf  Erkennt- 
niss ruhende  Gemüthsstille  ist  ein  individuelles  Lebensglück ;  und  wo  Demokrit's 
ethische  Lehren  über  das  Individuum  hinausreichen,  da  ist  es  die  Freundschaft, 
das  Verhältniss  einzelner  PersönUchkeiten  zu  einander,  welche  er  preist,  während 
er  dem  staatlichen  Zusammenhange  gleichgiltiger  gegenübersteht. 

%  11.    Das  System  des  Idealismus. 

Die  Entstehung  und  Ausbildung  der  platonischen  Ideenlehre  ist  wie  einer 
der  wirkungsvollsten  und  fruchtbarsten,  so  andrerseits  einer  der  schwierigsten 
und  verwickeltsten  Vorgänge  in  der  gesammten  Geschichte  des  europäischen 
Denkens,  und  die  Auffassung  desselben  wird  noch  durch  die  Art  ihrer  literarischen 
Ueberlieferung  erschwert.  Die  platonischen  Dialoge  zeigen  die  Philosophie  ihres 
Urhebers  in  einer  stetigen  Umbildung  begriffen :  ihre  Abfassung  hat  sich  durch 
ein  halbes  Jahrhundert  hingezogen.  Da  aber  die  Reihenfolge  der  Entstehung  der 
einzelnen  weder  überliefert  noch  durchweg  aus  äusseren  Kennzeichen  festzustellen 
ist,  so  müssen  pragmatische  Hypothesen  zu  Hilfe  genommen  werden, 

1.  Keine  Frage  ist  es  zunächst,  dass  den  Springpunkt  des  platonischen 
Denkens  der  Gegensatz  zwischen  Sokrates  und  den  Sophisten  gebildet  hat.  Einer 
liebevollen  und  in  der  Hauptsache  sicher  sinngetreuen  Darstellung  der  Tugend- 
lehre des  Sokrates  waren  Platon's  erste  Schriften  gewidmet:  an  sie  schloss  sich, 
mit  zunehmender  Schärfe,  aber  auch  mit  zunehmender  Verselbständigung  eigener 
Ansicht  die  Bekämpfung  der  sophistischen  Gesellschafts-  und  Wissenschaftslehre. 
Die  platonische  Kritik  derselben  ging  aber  im  Wesentlichen  auch  von  dem  sokra- 
tischen  Postulat  aus :  sie  gab  die  Relativität  aller  Wahmehmungserkenntniss  im 
Sinne  des  Protagoras  vollständig  zu,  aber  sie  fand  eben  darin  die  Unzulänglich- 
keit der  Sophistik  für  eine  wahrhafte  Tugendlehre  *).  Das  Wissen,  das  für  die 
Tugend  nothwendig  ist,  kann  nicht  in  Meinungen  bestehen,  wie  sie  aus  den 
wechselnden  Bewegungszuständen  von  Subject  und  Object  entspringen,  auch  nicht 
aus  einer  verständigen  Ueberlegung  und  Rechtfertigung  solcher  Wahrnehmungs- 
ansicliten^),  sondeni  es  muss  ehie  ganz  andere  Quelle  und  ganz  andere  Gegen- 
stande haben.  Von  dei' Körperwelt  und  ihren  wechselnden  Zuständen  —  an  dieser 
protagoreischen  Ansiclit  hat  Piaton  bis  zum  Schluss  festgehalten  —  giebt  es  keine 
Wissenschaft,  sondern  nur  Wahrnehmungen  und  Meinungen:  den  Gegenstand 
der  Wissenschaft  bildet  somit  eine  unkörperliche  Welt,  und  diese  muss  neben 
der  Körperwelt  ebenso  selbständig  vorhanden  sein,  wie  die  Erkenntniss  neben 
der  Meinung^). 

Zum  ersten  Mal  wird  damit  ausdrücklich  und  voUbewusst  die  Behauptung 
von  einer  immateriellen  Wirklichkeit  aufgestellt,  und  es  ist  klar,  dass  die- 
selbe dem  ethischen  Bedürfniss  nach  einer  über  alle  Wahrnehmungsvorstellungen 
erhabenen  Erkenntniss  entspringt.  Die  Annahme  der  Immaterialität  hatte  für 
Piaton  zunächst  nicht  den  Zweck,  die  Erscheinungen  zu  erklären,  sondern  viel- 

1)  In  dieser  Hinsicht  fasst  der  Theaetct  die  ganze  Kritik  der  Sophistik  zusammen.  — 

2)  86^01  aXY]0-r]<;  fxexa  Xo^oo.  Theaet.  201  e.  ( Vemmthlich  eine  Ansicht  des  Antisthenes.)  — 

3)  Aristot.  Met  I  6,  987  a  32,  XIU  4,  1078  b  12. 


§  11.   System  des  Idealismns.  (Platon.)  91 

mehr  den,  ein  Object  für  die  sittliche  Erkenntniss  zu  gewähren.  Darum  baut  sich 
die  idealistische  Metaphysik  in  ihrem  ersten  Entwurf  ^)  ohne  jede  Berücksichtigung. 
der  auf  Erforschen  und  Verstehen  der  Erscheinungen  gerichteten  Arbeit  dei^ 
früheren  Wissenschaft  ganz  auf  eigenem,  neuem  Boden  auf:  sie  ist  ein  im- 
materieller Eleatismus,  der  in  den  Ideen  das  wahre  Sein  sucht,  ohne  sich 
um  die  Welt  des  G-eschehens  zu  kümmern,  die  er  der  Wahrnehmung  und  Mei- 
nung überlässt^). 

Dabei  ist  jedoch  zur  Vermeidung  vielfacher  Missverständnisse ')  ausdrück- 
lich daraufhinzuweisen,  dass  der  platonische  Begriff  derImmaterialität(a(3(i>[i.atov) 
sich  keineswegs  mit  demjenigen  des  Geistigen  oder  Seelischen  deckt,  wie  das 
nach  moderner  Vorstellungsweise  leicht  angenommen  wird.  Die  einzelnen  psychi- 
schen Functionen  gehören  für  die  platonische  Auffassung  gerade  so  zur  Welt  des 
Werdens  wie  die  des  Leibes  und  der  übrigen  Körper,  und  andrerseits  finden  in  der 
wahren  Wirkhchkeit  die  „Gestalten"  der  Körperlichkeit,  die  Ideen  sinnlicher 
Eigenschaften  und  Verhältnisse  gerade  so  Platz,  wie  diejenigen  der  geistigen 
Beziehungen.  Die  Identification  von  Geist  und  Unkörperlichkeit,  die  Scheidung 
der  Welt  in  Geist  und  Körper  ist  unplatonisch.  Die  unkörperliche  Welt,  die 
Piaton  lehrt,  ist  noch  nicht  die  geistige. 

Vielmehr  sind  die  Ideen  für  Piaton  das  unkörperliche  Sein,  welches 
durch  die  Begriffe  erkannt  wird.  Da  nämlich  die  Begriffe,  in  welchen 
Sokrates  das  Wesen  der  Wissenschaft  gefunden  hatte,  als  solche  nicht  in  der 
wahrnehmbaren  Wirklichkeit  gegeben  sind,  so  müssen  sie  eine  von  derselben  ver- 
schiedene, für  sich  bestehende  „zweite",  „andere"  Wirklichkeit  bilden,  und  diese 
inmiaterielle  Wirklichkeit  verhält  sich  zu  der  materiellen  wie  das  Sein  zum  Wer- 
den, wie  das  Bleibende  zum  Wechselnden,  wie  das  Einfache  zum  Mannigfaltigen, 
kurz  —  wie  die  Welt  desParmenides  zu  derjenigen  Heraklit's.  Der  Gegenstand 
des  sittlichen  Wissens,  durch  die  allgemeinen  Begriffe  erkannt,  ist  das  wahrhaft 
Seiende:  ethische,  logische  und  physische  oLpx^  sind  dasselbe.  Dies  ist  der  Punkt, 
an  welchem  alle  Fäden  der  früheren  Philosophie  zusammenlaufen. 

2.  Sollen  danach  die  Ideen  „etwas  anderes"  als  die  wahrnehmbare  Welt 
sein,  so  kann  ihre  Erkenntniss  durch  die  Begriffe  auch  nicht  aus  dem  Wahr- 
nehmungsinhalte gefunden  werden;  denn  sie  können  darin  nicht  enthalten  sein. 
Mit  dieser  der  schärferen  Trennung  der  beiden  Welten  entsprechenden  Wendung 
wird  die  platonische  Erkenntnisslehre  viel  rationalistischer  als  die  demokritische, 
und  sie  geht  damit  auch  entschieden  über  Sokrates  hinaus.  Denn  wenn  dieser  das 
Allgemeine  aus  den  Meinungen  und  Wahrnehmungen  der  Einzelnen  inductiv  ent- 
wickelt und  darin  als  das  gemeinsam  Enthaltene  gefunden  hatte,  so  fasst  Piaton 
den  Process  der  Induction  nicht  in  dieser  analytischen  Weise  auf,  sondern  er 
sieht  in  den  Wahrnehmungen  nur  die  Veranlassungen,  mit  Hilfe  deren  sich  die 
Seele  auf  die  Begriffe,  auf  die  Erkenntniss  der  Ideen  besinnt. 

Piaton  hat  dies  rationalistische  Princip  dahin  ausgesprochen,  dass  die 
philosophische  Erkenntniss  Erinnerung  sei  (avdt|ivT]ai(;).  An  dem  Bei- 
spiel des  pythagoreischen  Lehrsatzes  zeigte  er  *),  dass  die  mathematische  Erkennt- 


1)  Wie  sie  in  den  Dialogen  Fhaidros  und  Symposion  dargestellt  ist.  —  2)  Unter- 
suchungen zur  theoretischen  Naturwissenschaft  finden  sich  erst  in  den  spätesten  Dialogen 
Platon's.  —  3)  Zu  denen  die  neuplatonische  Umdeutung  der  Ideenlebre  Anlass  gegeben  hat: 
vgl.  Thl.  n,  cap.  2,  §  18.  --  4)  Men.  80  ff. 


92  I*  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

niss  nicht  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  herausgeschält  wird^  sondern  dass 
diese  nur  die  Gelegenheit  darbietet,  bei  welcher  sich  die  Seele  an  die  in  ihr  schon 
vorher  vorhandene,  d.  h.  rein  rational  geltende  Erkenntniss  erinnert.  Er  deutet 
dabei  daraufhin,  dass  die  reinen  mathematischen  Verhältnisse  in  der  körperlichen 
Wirklichkeit  gar  nicht  vorhanden  sind,  sondern  dass  die  Vorstellung  derselben 
nur  auf  Veranlassung  ähnlicher  Gebilde  der  Wahrnehmung  in  uns  entsteht;  und 
er  hat  diese  für  mathematische  Einsichten  völlig  zutreffende  Beobachtung  auf  die 
Gesammtheit  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  ausgedehnt. 

Dass  nun  aber  diese  Besinnung  auf  das  rational  Nothwendige  als  Elrinne- 
rung  aufgefasst  wird,  hängt  damit  zusammen,  dass  Piaton  ebensowenig  wie  irgend 
einer  seiner  Vorgänger  eine  schöpferische,  den  Inhalt  erzeugende  Thätigkeit  des 
Bewusstseins  anerkennt.  Dies  ist  eine  allgemeine  Grenze  der  ganzen  griechischen 
Psychologie:  der  Inhalt  für  die  Vorstellungen  muss  der  „Seele"  irgendwie  ge- 
geben sein.  Sind  daher  die  Ideen  nicht  in  der  Wahrnehmung  gegeben  und  findet 
die  Seele  dieselben  doch  bei  der  Wahrnehmung  in  sich  vor,  so  muss  sie  die  Ideen 
irgendwie  vorherschon  empfangen  haben.  Für  diese  Au&ahme  aber  findet  Piaton 
nur  die  mythische  Darstellung  ^),  dass  die  Seelen  vor  dem  irdischen  Leben  in  der 
unkörperlichen  Welt  selbst  die  reinen  Gestalten  der  Wirklichkeit  geschaut 
haben,  dass  dann  die  Wahrnehmung  ähnlicher  körperlicher  Dinge  die  Erinnerung 
an  jene  in  dem  körperUchen  Erdenleben  vergessenen  Bilder  zurückruft,  und  dass 
daraus  der  philosophische  Trieb,  die  Liebe  zu  den  Ideen  (Ipox;)  er- 
wacht, womit  die  Seele  sich  wieder  zur  Erkenntniss  jener  wahren  Wirklichkeit 
erhebt.  Auch  hier  zeigt  sich,  wie  bei  Demokrit,  dass  der  gesammte  antike  Ratio- 
nalismus sich  von  dem  Vorgange  des  Denkens  eine  Vorstellung  nur  nach  Analogie 
der  sinnlichen,  insbesondere  der  optischen  Wahrnehmung  machen  konnte. 

Was  Sokrates  in  der  Lehre  von  der  Begriffsbildung  alslnduction  bezeichnet 
hatte,  verwandelte  sich  also  für  Piaton  in  eine  erinnernde  Intuition  (oüvaYCöYTj), 
in  die  Besinnung  auf  eine  höhere  und  reinere  Anschauung.  Diese  bezieht  sich 
aber  der  Mannigfaltigkeit  von  Anlässen  gemäss  auf  eine  Vielheit  von  Ideen,  und 
der  Wissenschaft  erwächst  daraus  die  weitere  Aufgabe,  auch  das  Verhältniss 
der  Ideen  unter  einander  zu  erkennen.  Dies  ist  ein  zweiter  Schritt  Platon's 
über  Sokrates  hinaus  und  darum  besonders  wichtig ,  weil  derselbe  zunächst  zur 
Auffassung  der  logischen  Beziehungen  zwischen  den  Begriffen  geführt 
hat.  Dabei  sind  es  hauptsächlich  die  Verhältnisse  der  Unterordnung  und  Neben- 
ordnung der  Begriffe,  auf  welche  Piaton  aufmerksam  \Mirde:  die  Eintheilung  der 
Gattungsbegriffe  in  ihre  Arten  spielte  in  seiner  Lehre*)  eine  grosse  Rolle;  auch 
die  Vereinbarkeit  oder  Unvereinbarkeit  der  Begriffe  findet  sich  genauer  in  Be- 
tracht gezogen*),  und  als  ein  methodisches  Hilfsmittel  emp&hl  er  die  hypothe- 
tische Erörterung,  welche  einen  versuchsweise  aufgestellten  Begriff  durch  Ent- 
wicklung aller  möglichen  Polgerungen  auf  seine  Vereinbarkeit  mit  den  bereits 
erkannten  Begriffen  prüfen  soll. 

Die  Gesammtheit  dieser  logischen  Operationen,  durch  welche  die  Ideen  und 


1)  Phacdr.  246  ff.  —  2)  Vgl.  Phileb.  16  c.  Doch  tritt  das  Eiutheilen  in  den  sicher 
platonischen  Schriften  nicht  irgendwie  bedeutend  hervor;  mit  schülerhafter  Pedanterie  ist  es 
in  den  Dialogen  Sophistes  und  Politikos  gehandhabt.  Das  Alterthum  hat  „Definitionen"  und 
„Diäresen"  aus  der  platonischen  Schule  erhalten :  eine  Verspottung  dieser  akademischen  Be- 
griffsspalterei  durch  einen  Komiker  ist  bei  Athenaeus  II,  59  c  erhalten,  —  3)  Phaed.  102  C 


§11.  System  des  Idealismns.  (Piaion.)  93 

ihre  Beziehungen  zu  einander  (xotvcovta)  gefunden  werden  sollen,  hat  Piaton  mit 
dem  Namen  Dialectik  bezeichnet.  Was  sich  in  seinen  Schriften  darüber 
findet,  hat  durchweg  methodologischen,  aber  noch  keinen  eigentlich  logischen 
Charakter. 

3.  Die  Lehre  von  der  Erkenntniss  als  Erinnerung  stand  aber  im  genauesten 
Zusammenhange  mit  Platon's  Auffassung  von  dem  Yerhältniss  der  Ideen 
zu  der  Erscheinungswelt.  Zwischen  der  höheren  Welt  der  oooia  und  der  nie- 
deren Welt  der  Y^eoic,  zwischen  dem  Seienden  und  dem  Werdenden  fand  er  das- 
jenige Verhältniss  der  Aehnlichkeit,  welches  zwischen  Urbildern  (irapaSetYiiata) 
und  ihren  Nachbildungen  (ei8<i)Xa)  besteht.  Auch  hierin  erweist  sich  ein  starker 
Einfluss  der  Mathematik  auf  die  platonische  Philosophie :  wie  schon  die  Pytha- 
goreer  die  Dinge  als  Nachahmungen  der  Zahlen  bezeichnet  hatten,  so  fand  Piaton, 
dass  die  einzelnen  Dinge  ihren  Gattungsbegriffen  immer  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  entsprechen,  dass  der  Gattungsbegriff  ein  logisches  Ideal  ist,  dem  keines 
seiner  empirischen  Exemplare  völlig  gleichkommt.  Das  drückte  er  durch  den 
Begriff  der  Nachahmung  (|j.t{nfjotc)  aus :  damit  aber  war  zugleich  festgesetzt,  dass 
jene  zweite  Welt,  diejenige  der  unkörperlichen  Ideen,  die  höhere,  werthvollere, 
ursprüngHchere  Welt  sein  sollte. 

Doch  gab  diese  Vorstellungsweise  mehr  eine  Werthbestimmung  als  eine 
für  die  metaphysische  Betrachtung  brauchbare  Anschauung:  daher  suchte  Piaton 
noch  nach  anderen  Bezeichnungen  des  Verhältnisses.  Die  logische  Seite  der  Sache, 
wonach  die  Idee  als  Gattungsbegriff  den  einheitiichen  Umfang  darstellt,  von  dem 
die  einzelnen  Dinge  nur  einen  Theil  bedeuten,  kommt  in  dem  Ausdruck  Theil- 
nahme  ((jid's£t<;)  zur  Geltung,  womit  gesagt  sein  soll,  dass  das  einzelne  Ding  an 
dem  allgemeinen  Wesen  der  Idee  nur  Theil  hat;  und  den  Wechsel  dieses  Theil - 
habens  hebt  derBegriff  der  Gegenwärtigkeit  (irapoooux)  hervor:  der  Gattungs- 
begriff ist  an  dem  Dinge  so  lange  gegenwärtig,  als  es  die  der  Idee  innewohnenden 
Eigenschaften  besitzt.  Die  Ideen  gehen  und  kommen,  und  indem  sie  sich  den 
Dingen  bald  mittheilen,  bald  wieder  entziehen,  wechseln  diese  ßlr  die  Wahr- 
nehmung die  den  Ideen  ähnUchen  Eigenschaften. 

Indessen  war  die  genaue  Bezeichnung  dieses  Verhältnisses  für  Piaton  ein 
Gegenstand  nur  secundären  Interesses,  sofern  nur  die  Verschiedenheit  der  Ideen- 
welt von  der  Körperwelt  und  die  Abhängigkeit  der  lezteren  von  der  ersteren 
anerkannt  wurde*):  ihm  genügte  zunächst  die  Ueberzeugung,  dass  durch  die  Be- 
griffe diejenige  Erkenntniss  des  wahrhaft  Seienden  gewonnen  werden  konnte, 
deren  die  Tugend  bedarf. 

A.  Peipers,  Ontologia  Platonica  (Leipzig  1883). 

4.  Allein  das  logisch-metaphysische  Interesse,  welches  Piaton  auf  die 
sokratische  Lehre  vom  Wissen  anpfropfte,  ftihrte  ihn  auch  inhaltlich  weit  über 
den  Meister  hinaus.  Die  allgemeinen  Bestimmungen,  welche  er  für  das  Wesen 
der  Ideen  entwickelte,  trafen  für  sämmtliche  Gattungsbegriffe  zu,  und  die 
immaterielle  Welt  bevölkerte  sich  daher  mit  den  Urbildern  der  gesammten 
Erfahrungswelt.  So  viele  Gattungsbegriffe,  so  viele  Ideen:  auch  für  Piaton  sind 
der  „Gestalten"  unzählige.  Insofern  hatte  die  Kritik*)  Recht,  wenn  sie  sagte, 
Platon's  Ideenwelt  sei  die  Wahrnehmungswelt,  noch  einmal  gedacht  im  Begriffe. 


1)  Phaed.  100 d.  —  2)  Arist.  Met.  I  9,  990b  1. 


94  I*  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

In  der  That  giebt  es  nach  dem  ersten  Entwarf  der  platonischen  Philosophie 
Ideen  von  allem  nur  irgend  Möglichen,  von  Dingen,  Eigenschaften  und  Verhält- 
nissen, vom  Guten  und  Schönen  so  gut,  wie  vom  Bösen  und  Hässlichen.  Da  die  Idee 
methodologisch  rein  formal  als  Gattungsbegriff  bestimmt  ist,  so  gehört  jeder 
beliebige  Gattungsbegriff  in  die  höhere  Welt  der  reinen  Formen :  und  in  dem 
Dialoge  Paimenides  ^)  wurde  Piaton  von  einem  in  der  eleatischen  Sophistik 
geschulten  Mann  nicht  nur  auf  allerlei  dialectische  Schwierigkeiten  aufmerksam 
gemacht,  welche  in  dem  logischen  Verhältniss  der  Einen  Idee  zu  ihren  vielen 
Exemplaren  stecken,  sondern  auch  höhnisch  genug  mit  all'  den  schmutzigen 
Gesellen  aufgezogen,  welche  sich  in  seiner  Welt  der  reinen  begrifflichen  Gestalten 
antreffen  Hessen. 

Gegen  solchen  Einwurf  war  Platon's  Philosophie  principiell  wehrlos,  und 
es  findet  sich  in  den  Dialogen  auch  keine  Andeutung  darüber,  dass  er  versucht 
hätte,  ein  bestimmtes  Kriterium  für  die  Auswahl  derjenigen  Gattungsbegriffe, 
welche  als  Ideen,  als  Bestandtheile  der  höheren,  unkörperlichen  Welt  angesehen 
werden  sollten,  anzugeben.  Auch  die  Beispiele,  die  er  anführt,  lassen  ein  solches 
Princip  nicht  erkennen;  nur  scheint  es,  als  habe  er  mit  der  Zeit  immer  mehr  die 
Werthbestimmungen  (wie  das  Gute  und  Schöne),  die  mathematischen  Verhältnisse 
(Grösse  und  Kleinheit,  numerische  Bestimmtheiten  etc.)  und  die  Gattungstypen 
der  Naturwesen  hervorgehoben,  blosse  Beziehungsbegriffe  dagegen,  besonders 
negative  Vorstellungen  und  Artefacten  nicht  mehr  zu  den  Ideen  gerechnet-*). 

5.  Ebenso  dunkel  bleibt  schliesslich  unsere  Kenntniss  von  dem  systemati- 
schen Zusammenhange  und  derOrdnung,  welche  Piaton  im  Reiche  der  Ideen 
statuirt  wissen  wollte.  So  sehr  er  darauf  drang,  Coordination  und  Subordination 
der  Begriffe  festzustellen,  so  wenig  scheint  doch  der  Gedanke  einer  logisch  geord- 
neten Begriffspyramide,  welche  in  dem  allgemeinsten,  inhaltsärmsten  Begriffe 
gipfeln  müsste,  zur  Durchfiihrung  gekommen  zu  sein.  Einen  sehr  problematischen 
Versuch,  eine  beschränkte  (5)  Anzahl  allgemeinster  Begriffe  ^)  aufzustellen,  bietet 
der  Dialog  Sophistes  (254ff.)  dar:  aber  diese  Versuche,  die  auf  die  aristotelische 
Kategorienlehre  zutreiben,  sind  nicht  einmal  mit  Sicherheit  auf  Piaton  selbst 
zurückzuführen. 

Bei  ihm  findet  sich  vielmehr  nur  die  im  Philebos  wie  in  der  Republik  vor- 
getragene Lehre,  dass  die  Idee  des  Guten  die  höchste,  alle  andern  umfassende, 
beherrschende,  verwirklichende  sei.  Dabei  hat  Piaton  diese  Idee  so  wenig  wie 
Sokrates  inhaltlich  detinirt,  sondern  sie  nur  durch  die  Beziehung  bestimmt,  dass 
sie  den  höchsten,  absoluten  Zweckinhalt  aller  Wirklichkeit,  derunkörper- 
lichen  wie  der  körperlichen,  darstellen  solle.  Die  Unterordnung  der  übrigen 
Ideen  unter  diese  höchste  ist  somit  nicht  die  logische  Subordination  eines 
Besonderen  unter  das  Allgemeine,  sondern  die  teleologische  der  Mittel  unter 
den  Zweck. 

Die  Unfertigkeit  dieser  Lösung  des  logischen  Problems  scheint  Piaton  in 
der  letzten  Zeit  seines  Philosophirens ,  über  die  wir  nur  Andeutungen  in  den 
„Gesetzen"  und  in  kritischen  Bemerkungen  des  Aristoteles  *),  sowie  in  den  Lehren 


1)  Parm.  130c.  —  2)  VrI.  auch  Aristot.  Met.  XII  3,  1070c  18.  —  3)  Sein,  Ruhe,  Be- 
wegung, Selbigkeit  (xaoxorr]«;)  und  Anderheit  (iteporr]^)  —  d.h.  die  Eintheilung  des  Seins  in  das 
sich  selbst  immer  gleiche,  ruhende  (o&aia)  und  das  in  steter  Veränderung  begriffene,  bewegte 
(fevsai^).  —  4)  Vgl.  A.  Trendklknbürg,  Piatonis  de  ideis  et  numeris  doctrina  (Leipzig  1826). 


§  11.  System  des  Idealismus.   (Piaton.)  95 

seiner  nächsten  Nachfolger  haben^  auf  den  unglücklichen  Gedanken  geführt  zu 
haben,  das  System  der  Ideen  nach  der  Methode  der  pythagoreischen 
Zahlenlehre  zu  entwickeln.  Auch  die  Pythagoreer  hatten  freilich  die  Absicht 
gehabt,  die  bleibenden  Ordnungen  der  Dinge  symbolisch  an  die  Entwicklung  der 
Zahlenreihe  anzuknüpfen.  Aber  das  war  doch  nur  ein  erster  Nothbehelf  dafür 
gewesen,  dass  sie  von  der  logischen  Ordnung  der  Begriffe  noch  keine  Vorstellung 
hatten:  wenn  daher  Piaton  im  Zusammenhange  mit  anderen  Gedanken  darauf 
zurückfiel;  die  Idee  des  Guten  als  das  sv,  die  Eins,  bezeichnete^  aus  ihr  die  Zwei- 
heit  (8od<;)  des  Unendlichen  und  des  Masses  (äitsipov  und  ^pac  =  gerade  und 
ungerade,  vgl.  §  4,  11)  und  daraus  dann  weiter  die  übrigen  Ideen  so  ableiten 
wollte,  dass  sie  eine  Stufenfolge  des  Bedingenden  und  des  Bedingten  darstellten, 
so  würde  weder  diese  bedauerliche  Construction  noch  dieThatsache,  dass  Männer, 
wie  Speusippos,  Xenokrates,  Philippos,  Archytas,  sie  im  Einzelnen  durchzu- 
führen unternahmen,  einer  näheren  Erwähnung  werth  sein,  wenn  nicht  gerade 
daran  die  Speculation  derNeupythagoreer  und  der  Neuplatoniker  in  bestimmtem 
Sinn  sich  angeschlossen  hätte.  Durch  diese  Abstufung  innerhalb  der  ou<3ia,  der 
Welt  wahrer  Wirklichkeit,  nämlich,  die  damit  schon  Piaton  begann,  wurde  die 
Spaltung  im  Begriffe  der  Wirklichkeit,  welche  sich  aus  dem  Gegensatze 
der  Wahrnehmung  und  des  Denkens  entMrickelt  hatte,  vervielfältigt  und  damit 
der  Dualismus  wieder  aufgehoben.  Denn  wenn  dem  Einen  oder  der  Idee  des 
Guten  die  höchste,  absolute  Realität,  den  verschiedenen  Schichten  der  Ideenwelt 
aber  immer  um  so  geringerwerthige  Realität  zugeschrieben  wurde,  je  weiter  sie 
in  dem  Zahlensystem  von  der  Eins  entfernt  zu  stehen  kamen,  so  entstand  daraus 
eine  Stufenleiter  von  Wirklichkeiten,  welche  von  der  Eins  herab  bis  zu 
der  niedersten  Wirklichkeit,  derjenigen  der  Körperwelt,  reichte.  So  phantastisch 
dieser  Gedanke  sein  mag,  so  kräftig  und  wirksam  hat  er  sich  in  der  Entwicklung 
des  Denkens  bis  an  die  Schwelle  der  neueren  Philosophie  erwiesen :  seine  Macht 
aber  steckt  zweifellos  überall  in  der  Verquickung  von  Werthbestimmungen  mit 
diesen  verschiedenen  Schichten  der  Realität. 

6.  Während  die  Ideenlehre  als  Metaphysik  in  derartige  bedenkliche  Schwierig- 
keiten gerieth,  hat  sie  eine  überaus  glückliche,  einfache  und  durchsichtige  Aus- 
führung auf  demjenigen  Gebiete  gefunden,  welches  ihren  eigentlichen  Herd 
bildete:  dem  ethischen.  Zur  systematischen  Bearbeitung  desselben  aber  bedurfte 
Piaton  einer  Psychologie,  einer  anderen  freilich  als  diejenige  war,  welche  in  der 
bisherigen  Wissenschaft  aus  naturphilosophischen  Voraussetzungen  mit  einzelnen 
Wahrnehmungen  oder  Meinungen  zu  Stande  gekommen  war.  Wenn  er  nun 
dem  gegenüber  seine  Psychologie  aus  den  Postulaten  der  Ideenlehre  entwickelte, 
so  war  das  freilich  eine  rein  metaphysische  Theorie ,  welche  mit  jener  Voraus- 
setzung stand  und  fiel,  zugleich  aber  doch  vermöge  des  Inhalts  der  Ideenlehre  ein 
erster  Versuch,  das  Seelenleben  von  innen  heraus  und  nach  seiner  innerlichen 
Bestimmtheit  und  Gliederung  zu  begreifen. 

Der  Begriff  der  Seele  bildete  in  dem  Dualismus  der  Ideenlehre  eine  eigene 
Schwierigkeit*).  „Seele"  war  auch  für  Piaton  einerseits  das  Lebendige,  dasjenige, 
was  von  selbst  bewegt  ist  und  Anderes  bewegt,  andrerseits  dasjenige,  was  wahr- 
nimmt, erkennt  und  will.  Als  Princip  des  Lebens  und  der  Bewegung  gehört  also 


1)  Phaed.  76  ff. 


96  I*  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

die  Seele  zu  der  niederen  Welt  des  Werdens,  und  in  derselben  bleibt  sie,  wenn 
sie  wahrnimmt  und  auf  die  Gegenstände  der  Sinne  ihre  Begierden  richtet.  Aber 
diese  selbe  Seele  wird  doch  durch  die  wahre  Erkenntniss  auch  der  Ideen,  der 
höheren  Wirklichkeit  bleibenden  Seins  theilhaf tig.  Es  muss  ihr  daher  eine  Zwischen- 
stellung zugestanden  werden:  nicht  die  zeitlos  unveränderte  Wesenheit  der 
Ideen,  aber  eine  den  Wechsel  überdauernde  Lebendigkeit,  d.  h.  Unsterblich- 
keit. Zum  ersten  Mal  wird  liier  von  Piaton  die  persönliche  Unsterblichkeit  als 
philosophisches  Lehrstück  vorgetragen.  Von  den  Beweisen,  welche  der  Phaedon 
dafür  erbringt,  sind  aus  dem  Geiste  des  Systems  heraus  die  zutreflFendsten  die- 
jenigen, welche  aus  der  Erkenntniss  der  Ideen  auf  die  Verwandtschaft  der  Seele 
mit  der  Ewigkeit  schliessen;  der  Form  des  Systems  entspricht  der  dialectische 
Fehlschluss,  dass  die  Seele,  weil  ihr  wesentliches  Merkmal  das  Leben  sei,  nicht 
todt  sein  könne;  das  haltbai-ste  der  Argumente  ist  der  Hinweis  auf  die  einheit- 
liche Substantialität,  welche  die  Seele  in  der  Regierung  des  Leibes  beweise. 

Bei  dieser  Zwischenstellung  muss  die  Seele  die  Züge  beider  Welten  an 
sich  tragen ;  es  muss  in  ihrem  Wesen  etwas  sein,  was  der  Ideenwelt,  und  etwas, 
was  der  Wahmehmungswelt  entspricht.  Das  Erstere  ist  das  Vernünftige 
(Xo^tattxöv  oder  voöc),  der  Sitz  des  Wissens  und  der  ihr  entsprechenden  Tugend ; 
in  dem  Anderen  aber,  dem  Unvernünftigen,  unterschied  Piaton  wieder  zweierlei : 
das  Edlere,  das  der  Vernunft  zuneigt,  und  das  Niedere,  das  ihr  widerstrebt.  Das 
Edlere  fand  er  in  der  affectvollen  Willenskraft  (Muth,  doiwc),  das  Niedere  in 
der  sinnlichen  Begehrlichkeit  (Begierde,  iTadn^äa),  So  sind  Vernunft,  Muth 
und  Begierde  die  drei  Bethätigungsformen  der  Seele,  die  Arten  (st 5?])  ihrer 
Zustände. 

So  aus  ethischen  Werthbestimmungen  erwachsen,  werden  diese  psycho- 
logischen Grundbegriffe  von  Piaton  zur  Darstellung  des  sittlichen  Geschicks  des 
Individuums  verwendet :  Folge  zugleich  und  Strafe  der  sinnlichen  Begehrlichkeit 
ist  die  Fesselung  der  Seele  an  den  Leib.  Piaton  dehnt  das  unsterbliche  Da- 
sein der  Seele  über  die  beiden  Grenzen  des  irdischen  Lebens  gleichmässig  aus : 
in  der  Präexistenz  *)  ist  die  Schuld  zu  suchen,  um  deren  willen  die  Seele  in  die 
Sinnenwelt  verstrickt  ist;  in  der  Postexistenz  *)  wird  ihr  Geschick  davon  abhangen, 
inwieweit  sie  sich  im  Erdenleben  von  der  sinnlichen  Begehrlichkeit  frei  gemacht 
und  ihrer  höheren  Bestimmung,  der  Erkenntniss  der  Ideen,  zugewendet  hat.  Inso- 
fern aber  danach  als  letztes  Ziel  der  Seele  die  Abstreifung  der  Sinnlichkeit  er- 
scheint, so  werden  jene  drei  Thätigkeitsformen  auch  als  Theile  der  Seele 
bezeichnet.  Im  Timaeus  schildert  Piaton  sogar  die  Zusammensetzung  aus  diesen 
Theilen  und  behält  die  Unsterbhchkeit  nur  fiir  den  vernünftigen  Theil  zurück. 

Schon  aus  diesen  wechselnden  Bestimmungen  erhellt,  dass  das  Verhältniss 
dieser  drei  Grundformen  des  psychischen  Lebens  zu  der  (freiUch  nicht  allzu  stark 
betonten)  Einheitlichkeit  der  Seele  nicht  zur  Klarheit  gebracht  ist;  und  eben- 
sowenig ist  es  möglich,  diesen  aus  ethischem  Bedürfniss  geformten  Begriffen  den 
Sinn  rein  psychologischer  Unterscheidungen,  wie  sie  die  spätere  Zeit  gemacht 
hat,  unterzuschieben  *). 


1)  Die  Ausnialung  dieser  Lehren  geschieht  in  der  Form  der  mythischen  Allegorien* 
welche  Motive  aus  dem  Volksglauben  und  aus  den  Mysterienculten  benutzen :  sie  finden  sich 
Phaedr.  246  ff.,  Gorgias  523  fl'.,  Rep.  614  ff.,  Phaedon  107  ff.  —  2)  Dass  es  sich  für  Piaton 
dabei  wesentlich  um  Werthabstufungen  des  Psychischen  handelte,  zeigt  sich  ausser  in  der 


§  II.  System  des  Idealismus.  (Flaton.)  97 

7.  Jedenfalls  aber  folgte  auf  diese  Weise  aus  der  Zweiweltenlehre  eine 
Degative,  weltflüchtige  Moral,  in  welcher  der  Rückzug  aus  der  Sinnenwelt  und 
die  Vergeistigung  des  Lebens  als  Ideale  der  Weisheit  gepriesen  wurden.  Es  ist 
nicht  nur  der  Phaedon,  der  in  der  Schilderung  vom  Tode  des  Sokrates  diese 
ernste  Stimmung  athmet,  sondern  auch  Dialoge  wie  der  Gorgias,  der  Theaetet 
und  zum  Theil  die  Republik,  worin  die  gleiche  ethische  Ansicht  vorwaltet.  Aber 
in  Flaton's  eigener  Natur  war  dem  schweren  Blute  des  Denkers  der  leichte  Herz- 
schlag  des  Künstlers  beigesellt,  und  es  wohnte  in  ihm  der  Zwiespalt,  dass,.  während 
seine  Philosophie  ihn  in  das  Reich  der  körperlosen  Gestalten  lockte,  doch  der 
ganze  Zauber  hellenischer  Schönheit  in  ihm  lebendig  war.  So  sehr  er  deshalb 
die  aristippische  Theorie,  welche  in  der  Sinnenlust  das  Streben  des  Menschen 
beschlossen  finden  wollte,  von  Grund  aus  bekämpfte,  so  meinte  er  doch,  dass  die 
Idee  des  Guten  sich  auch  in  der  Sinnen  weit  realisire.  Die  Freude  am  Schönen, 
die  schmerzlose,  weil  wunschlose  Lust  an  der  sinnlichen  Nachahmung  der  Idee, 
die  Ent&ltung  der  Kenntnisse  und  der  praktischen  Kunstfertigkeit,  das  Verstand- 
niss  der  Massbestitnmungen  der  empirischen  Wirklichkeit  und  die  zweckvolle 
Einrichtung  individuellen  Lebens,  —  alles  das  galt  ihm  wenigstens  als  Vor- 
stufen und  Antheile  zu  jenem  höchsten  Gut,  welches  in  der  Erkenntniss  der 
Ideen  und  der  höchsten  unter  ihnen,  der  Idee  des  Guten,  besteht.  Im  Sym- 
posion und  im  Philebos  hat  er  dieser  seiner  Werthung  der  Lebensgüter  Ausdruck 
gegeben. 

In  anderer  Form  hat  Piaton  denselben  Gedanken,  dass  die  sittliche  Werth- 
bestimnuing  den  ganzen  Umkreis  des  menschlichen  Lebens  zu  durchleuchten  habe, 
in  der  Darstellung  des  Systems  der  Tugenden  zur  Geltung  gebracht,  welches  er 
in  der  Repubhk  entwickelte.  Hier  zeigte  er  nämlich,  dass  jeder  der  Seelen- 
theile  eine  bestimmte  Aufgabe  zu  erfüllen  und  damit  seine  Vollkommenheit  zu 
erreichen  habe:  der  vernünftige  Theil  in  der  Weisheit  (ooyEa),  der  muthhafte 
(0»j|iosi8d<;)  in  der  Willensenergie  (Tapferkeit,  ovSpta),  der  begehrliche  (erndt)- 
ItTjnxöv)  in  der  Selbstbeherrschung  (Masshalten,  ocöypooovT]),  —  dass  aber 
dazu  noch  als  Gesammttugend  der  Seele  das  richtige  Verhältniss  dieser  Theile, 
die  volle  Rechtschaffenheit  (Gerechtigkeit,  8txatoa&vY))  hinzutreten  müsse. 

Der  wahre  Sinn  aber  dieser  vier  Cardinal tugenden  entwickelt  sich  erst 
auf  einem  höheren  Gebiete,  demjenigen  der  Politik. 

8.  Die  auf  das  Allgemeine  gerichtete  Tendenz  der  Ideenlehre  hat  ihre  höchste 
Wirkung  darin  entfaltet,  dass  das  ethische  Ideal  der  platonischen  Philosophie 
nicht  in  det  Tüchtigkeit  und  dem  Glück  des  Individuums,  sondern  in  der  sitt- 
lichen Vollkommenheit  der  Gattung  lag.  Getreu  dem  logischen  Princip  der 
Ideenlehre  ist  das  im  ethischen  Sinne  Wahrhaft  Seiende  nicht  der  einzelne  Mensch, 
sondern  die  Menschheit,  und  ihre  Erscheinung  ist  die  organische  Verbindung  der 
Individuen  im  Staat.  Das  ethische  Ideal  wird  ftir  Piaton  zum  politischen,  und 
mitten  in  der  Zeit,  welche  die  Auflösung  des  griechischen  Staatslebens  sah,  richtete 
er  den  Lehren  gegenüber,  welche  nur  noch  das  Princip  der  individuellen  Glück- 
seKgkeit  verkündeten,  den  Begriflf  des  Staates  zu  allbeherrschender  Hoheit  auf. 


Verwendtong  in  der  Ethik  und  Politik,  auch  in  solchen  Bemerkungen ,  welche  diese  Drei- 
theilnng  für  die  verschiedenen  organischen  Wesen  (Pflanze,  Thier,  IV^nsch),  oder  andrerseits 
^  die  verschiedenen  Volker  (Südländer,  Nordländer,  Griechen)  als  charakteristisch  kenn- 
zeichneten. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  7 


98  I*  Philosophie  der  Grieohen.  3.  Systematiscfae  Periode. 

Er  betrachtete  aber  den  Staat  nicht  von  Seiten  seiner  empirischen  Ent- 
stehung^ sondern  im  Hinblick  aof  seine  Aii%abe:  das  Ideal  der  Menschheit  im 
Grossen  darzustellen  und  den  Bürger  zu  derjenigen  Tugend  zu  erziehen ;  welche 
ihn  wahrhaft  glücklich  macht.  Ueberzeugt,  dass  sich  sein  Entwurf,  nöthigenfalls 
mit  Gewalt^  in  Wirklichkeit  umsetzen  lasse,  yerwob  er  in  denselben  nicht  nur 
Züge  aus  dem  bestehenden  griechischen  Staatsleben,  die  er  billigte,  insbesondere 
diejenigen  der  aristokratischen,  dorischen  Verfassungen;  sondern  auch  allis  die 
Ideale,  deren  Erfüllung  er  von  der  rechten  Gestaltung  des  öffentUchen  Lebens 
erhoffte. 

E.  F.  Hkricann  (Ges.  Abhandlungen  122  ff.)  —  E.  Zellsr  (Vorträge  tmd  Abhand- 
lungen I,  62  ff.). 

Soll  der  Ideal-Staat  den  Menschen  im  Grossen  darstellen,  so  muss  er 
aus  den  drei  Theilen  bestehen,  die  den  drei  Theilen  der  Seele  entsprechen:  dem 
Lehrstand,  dem  Wehrstand,  dem  Nährstand.  Dem  ersteren  allein,  dem 
Stande  der  Gebildeten  (^iXöao^oi),  kommt  es  zu,  den  Staat  zu  lenken  und  zu 
regieren  ^)  (äp/ovrec),  die  Gesetze  zu  geben  und  ihre  Befolgung  zu  überwachen: 
seine  Tugend  ist  die  Weisheit,  die  Einsicht  dessen,  was  dem  Ganzen  frommt, 
was  der  sittliche  Zweck  des  Ganzen  erfordert.  Ihn  zu  unterstützen,  ist  der  zweite 
Stand  da,  derjenige  der  Beamten  (iictxoüpot;  Wächter,  ^öXaxsc),  der  in  der  Auf- 
rechterhaltung der  Staatsordnung  nach  innen  und  aussen  die  Tugend  uner- 
schrockener Pflichterfüllung  (ovSpta)  zu  bewähren  hat.  Der  grossen  Masse  des 
Volks  aber,  den  Handwerkern  und  Bauern  (ys^py^'^  ^*^  STQjitoopYOt),  die  fiir  die 
Beschaffung  der  äusseren  Mittel  des  Staates  durch  Arbeit  und  Erwerb  *)  zu  sorgen 
haben,  ziemt  der  Gehorsam,  der  die  Begierden  im  Zaume  hält,  die  Selbstbeherr- 
schung (aoxppoa&vY]).  Erst  wenn  so  jeder  der  Stände  da,s  Seine  thut  und  das 
Seine  erhält,  entspricht  das  Staatswesen  dem  Ideal  der  Gerechtigkeit  (SixaioaovT]). 

Das  Princip  der  Aristokratie  der  Bildung,  welches  für  das  plato- 
nische Staatsideal  massgebend  ist,  kommt  aber  vor  Allem  darin  zu  Tage,  dass 
für  die  grosse  Masse  des  dritten  Standes  nur  die  gewohnheitsmässige  Tüchtigkeit 
des  praktischen  Lebens  in  Anspruch  genommen,  diese  aber  auch  für  ausreichend 
befunden  wird,  während  die  Erziehung,  welche  der  Staat,  um  die  Bürger  zu  seinen 
Zwecken  zu  bilden,  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen  Recht  und  Pflicht  hat,  sich 
nur  den  beiden  anderen  Ständen  zuwendet.  Mit  einer  von  der  Geburt  an  bis  in 
späte  Jahre  sich  immer  wiederholenden  Auslese,  soll  die  Regierung  schichten- 
weise die  beiden  oberen  Stände  sich  fortwährend  erneuern  lassen;  und  damit 
diesen  eigentlichen  Organen  der  Gesammtheit  kein  individuelles  Interesse  in  der 
Erfüllung  ihrer  Aufgabe  hemmend  bleibe,  so  sollen  sie  auf  das  Familienleben  und 
auf  den  Privatbesitz  verzichten.  Für  sie  gUt  Staatserziehung,  Familienlosigkeit, 
Lebens-  und  Gütergemeinschaft.  Wer  den  Zwecken  des  Ganzen,  der  sitthchen 
Erziehung  des  Volks  leben  soll,  den  dürfen  keine  persönUchen  Interessen  an  das 
Einzelne  binden.  Auf  diesen  Gedanken,  der  in  dem  Priesterstaat  der  mittel- 
alterlichen Hierarchie  seine  historische  Verwirklichung  gefunden  hat,  beschränkt 
sich,  was  man  von  Communismus,  Weibergemeinschalt  etc.  in  der  platonischen 
Lehre  entdeckt  haben  will.  Der  grosse  Idealist  führt  den  Gedanken,  dass  der 
Zweck  des  Menschenlebens  in  der  sittlichen  Erziehung  bestehe  und  dass  die 

1)  Daher  wird  das  Xoftattxöv  auch  •^'^eikoviy.ov  genannt.  —  2)  Daher  heisst  der  dritte 
Seeleu theil  auch  das  (piXoxpTjpi'xtov. 


§  11.  System  des  Idealismus.   (Piaton.)  99 

ganze  Organisation  des  gemeinsamen  Daseins  nur  für  diesen  Zweck  eingerichtet 
sein  müsse^  bis  in  die  äussersten  Consequenzen  aus. 

9.  Damit  war  nun  ein  neues  und  das  dem  Geiste  des  platonischen  Systems 
am  vollkommensten  entsprechende  Verhältniss  zwischen  der  Ideenwelt  und  der 
Erscheinungswelt  gefunden :  die  Idee  des  Guten  erwies  sich  als  die  Aufgabe,  als 
der  Zweck  (t^Xoc),  den  die  Erscheinung  der  menschlichep  Lebensgemeinschaft 
zu  erfüllen  hat.  Diese  Einsicht  ist  für  die  endgiltige  Gestaltung  von  Platon's 
metaphysischem  System  entscheidend  geworden. 

Denn  in  ihrem  ersten  Entwurf  war  die  Ideenlehre  zur  Erklärung  der  empi- 
rischen Wirklichkeit  gerade  so  unfähig  gewesen,  wie  die  eleatische  Seinslehre. 
Durch  die  Gattungsbegriffe  sollte  die  absolute  "Wirklichkeit  *)  erkannt  werden, 
welche  rein  für  sich,  einfach  und  veränderungslos,  unentstanden  und  unvergäng- 
lich eine  Welt  für  sich  bildet  und  als  unkörperlich  von  der  Welt  des  Entstehens 
völlig  getrennt  ist.  Sie  bildete  daher,  wie  in  dem  Dialog  Sophistes  ^)  mit  scharf- 
sinniger Polemik  gegen  die  Ideenlehre  nachgewiesen  wurde,  weil  sie  alle  Bewe- 
gung und  Veränderung  von  sich  ausschloss,  kein  Princip  der  Bewegung  und 
deshalb  keine  Erklärung  der  Thatsachen. 

So  wenig  aber  Platon's  Interesse  darauf  gerichtet  gewesen  sein  mochte,  der 
Begriff  der  Idee  als  des  wahren  Seins  verlangte  schliesslich  doch,  dass  die  Er- 
scheinung nicht  nur  als  etwas  Anderes,  etwas  Nachahmendes,  etwas  Theilhaben- 
des,  sondern  als  etwas  Abhängiges  betrachtet,  dass  die  Idee  als  Ursache  des 
Geschehens  (attta)  angesehen  wurde.  Was  aber  selbst  absolut  unveränderUch, 
unbeweglich  ist  und  jede  besondere  Function  von  sich  ausschliesst,  das  kann 
nicht  im  mechanischen  Sinne,  sondern  nur  so  Ursache  sein,  dass  es  den  Zweck 
darstellt,  um  dessen  willen  das  Geschehen  stattfindet  Hiermit  erst  ist  das  Ver- 
hältniss zwischen  den  beiden  Welten  des  Wesens  und  des  Werdens  (ooota  und 
Y^vsok;)  völKg  bestimmt:  alles  Geschehen  ist  um  der  Idee  willen  da  *),  die  Idee 
ist  die  Zweckursache  der  Erscheinungen. 

Diese  Begründung  der  teleologischen  Metaphysik  hat  Piaton  im 
Philebos  und  in  den  mittleren  Büchern  der  Republik  gegeben,  und  es  schliesst 
sich  daran  sogleich  eine,  weitere  Zuspitzung,  indem  er  als  die  Zweckursache  alles 
Geschehens  zwar  die  gesammte  Ideenwelt,  im  Besonderen  aber  die  oberste  Idee, 
der  ja  alle  übrigen  sich  in  demselben  Sinne  als  Mittel  unter  den  Zweck  unter- 
ordneten, dieldeedesGuten  einführte  und  diese  (unter  Bezugnahme  auf  Ana- 
xagoras)  als  die  W  e  1 1  v  e  r  n  u  n  f  t  (vod<;)  oder  als  die  G  o  1 1  h  e  i  t  bezeichnete  *) . 

Neben  diesem  anaxagoreischen  Motiv  erweist  sich  aber  in  der  späteren 
Gestalt  der  Ideenlehre  immer  mehr  auch  das  pythagoreische  wichtig,  wonach  au^ 
die  Unvollkommenheit  der  Erscheinung  dem  wahren  Sein  gegenüber  hingewieser» 
wurde.  Diese  Unzulänglichkeit  aber  konnte  aus  dem  Sein  selbst  nicht  ab- 
geleitet werden,  und  mit  einer  ähnlichen  Consequenz,  wie  diejenige  gewesen  war. 


1)  Symp.  211b:  aöto  xa«-'  aö-ci  jjls^'  a6tOü  jiovoeiSi«  äsl  ov.  —  2)  p.  246  ff.  Die  dort 
kritisirte  Lehre  von  den  äatoftata  etS-r)  kann  den  einzelnen  wörtlichen  Uebereinstimraungen 
nach  nur  die  platonische  sein;  eben  dies  entscheidet  mit  gegen  die  Echtheit  des  Dialogs. 
ScHLEiKRMACHER^s  zur  Rettung  der  Echtheit  ersonnen e  Hypothese  von  einer  megarischen 
Ideenlehre  hat  sich  nicht  aufrecht  halten  lassen.  —  3)  Phileb.  54  c.  —  4)  Doch  ist  dabei  nicht 
an  Persönlichkeit  oder  ein  geistiges  Wesen,  sondern  an  den  absoluten  sittlichen  Weltzweck  zu 
denken,  wobei  der  Begriff  des  äfa^ov  ebensowenig  eine  genaue  Definition  findet,  wie  bei 
Sokrates:  er  wird  vielmehr  als  der  einfachste,  selbstverständlichste  vorausgesetzt. 


100  L  Philosophie  der  Griechen.  8.  Systematische  Periode. 

mit  der  Leukipp^  um  Vielheit  und  Bewegung  zu  begreifen,  neben  dem  Sein  des 
Parmenides  auch  das  Nichtseiende  für  ^ wirklich^;  seiend  erklärt  hatte^  sah  sidi 
nun  Piaton  genöthigt,  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  und  der  ünangemessen- 
heit,  welche  dieselben  zu  den  Ideen  zeigen^  neben  der  Welt  des  Seins  oder  der 
Ursache;  der  Ideenwelt  und  der  Idee  des  Guten,  noch  eine  Nebenursache 
(SovaCttov)  in  dem  Nichtseienden  anzunehmen.  Ja,  der  Parallelismus  dieser 
Gedankengänge  ging  so  weit,  dass  diese  nicht-seiende  Nebenursache  (tb  t^'i]  Sv)  für 
Piaton  ganz  dasselbe  ist,  wie  für  Leukipp  und  Philolaos:  der  leere  Raum  '). 

Der  Raum  also  war  fiir  Piaton  das  ^Nichts",  aus  dem,  um  der  Idee  des 
Guten,  der  Gottheit,  willen  die  Erscheinungswelt  gestaltet  wird.  Diese  Ge- 
staltung aber  besteht  in  der  mathematischen  Formung.  Daher  lehrte  Piaton 
im  Philebos,  die  Welt  der  Wahrnehmung  sei  eine  „Mischung"  aus  dem  „Unbe- 
grenzten" (ä^retpov),  dem  Räume,  und  der  „Begrenzung"  (ic^pac),  den  mathemati- 
schen Formen^),  und  die  Ursache  dieser  Mischung,  das  höchste,  göttliche  Welt- 
princip,  sei  die  Idee  des  Guten.  Um  der  Ideenwelt  ähnlich  zu  werden,  nimmt  der 
Raum  die  mathematische  Formung  an. 

Vermöge  dieser  Einfügung  der  Zahlenlehre  in  die  Ideenlehre  gewinnt  die 
Mathematik  ihre  eigenartige  Stellung  in  der  platonischen  Philosophie.  Die 
mathematischen  Gebilde  sind  das  Zwischenghed,  vermöge  dessen  der  nicht-seiende 
leere  Raum  die  reinen  „Gestalten"  der  Ideenwelt  in  den  Erscheinungen  nach- 
zuahmen vermag.  Die  mathematische  Erkenntniss  (Sidvota)  betrifft  daher  ebenso 
wie  die  rein  philosophische  (l7rtotT]|i7j)  ein  bleibend  Seiendes  (o&ob)  und  wird 
darum  mit  dieser  als  rationale  Erkenntniss  (vöyjok;)  zusammengefasst  und  der 
Erkenntniss  der  Erscheinungen  (Sofa)  gegenübergestellt :  aber  sie  nimmt  deshalb 
in  dem  Erziehungssystem  der  Republik  auch  nur  die  Stellung  einer  letzten  Vor- 
bereitung auf  die  Weisheit  der  „Herrscher"  ein. 

10.  Damit  nun  waren  die  metaphysischen  Vorbereitungen  dafür  gegeben, 
dass  Piaton  schliessUch  im  Timaios  eine  naturphilosophische  Skizze  ent- 
werfen konnte,  fiir  welche  er  dann  freilich,  seinem  erkenntnisstheoretischen  Princip 
getreu,  nicht  denWerth  der  Gewissheit,  sondern  nur  denjenigen  derWahrschein- 
Uchkeit  in  Anspruch  nehmen  durfte  ^).  Ausser  Stande  nämlich,  diese  Erklärung 
des  Geschehens  aus  dem  Weltzweck  dialectisch  durchzuführen  und  begrifiBich 
festzustellen,  gab  Piaton  nur  in  mythischer  Form  eine  Darstellung  seiner  teleo- 


1)  Unter  dem  Einfluss  der  ariBtotelischen  Terminologie  ist  diese  nicht-seiende  Neben- 
ursache als  „Materie*^  (^^''l)  bezeichnet  worden,  und  es  hat  erst  der  neueren  Forschungen  be- 
durft, um  klar  zu  machen,  dass  die  platonische  „Materie*'  eben  nur  der  Raum  ist:  vgl.  H.  Sie- 
beck, Untersuchungen  z.  Philos.  d.  Gr,  (2.  Aufl.  Freiburg  i.  B.  1889).  —  2)  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dass  Piaton  dabei  die  Zahlen  in  die  Ideenwelt  selbst  versetzte,  ihre  Darstellimg 
aber  in  den  geometrischen  Gebilden  als  die  dem  Raum  hinzutretende  „Begrenzung"  an- 
sah. —  3)  Die  platonische  Physik  ist  also  ähnlich  hypothetisch  wie  die  parmenideische.  Auch 
hier  scheinen  Rücksicht  auf  die  Ansprüche  der  Schüler  und  polemische  Absicht  sich  vereinigt 
zu  haben.  Daher  finden  sich  im  Timaeus  Anlehnung  an  Demokrit  und  Bekämpfung  desselben 
ähnlieh  gemischt,  wie  das  bei  Parmenides  hinsichtlich  Heraklit's  der  Fall  war.  Doch  ist  der 
Unterschied  nicht  zu  vergessen,  dass  der  Eleat  die  Realität  der  Erscheinungswelt,  Piaton  aber 
nur  ihre  wissenschaftliche,  d.  h.  begriffliche  Erkennbarkeit  leugnete.  In  der  Darstellung  seiner 
Ansicht  abergeht  Piaton  dani^  auf  astronomische,  mechanische,  chemische,  organische,  physio- 
logisch-psychologische, schliesslich  sogar  auf  medicinische  Fragen  ein,  giebt  also  eine  Art  von 
compendiöser  Darstellung  seiner  naturwissenschaftlichen  Meinungen,  welche  im  Einzelnen 
ausserordentlich  phantastisch  und  den  exacten  Vorstellungen  selbst  seiner  Zeit  gegenüber  un- 
zulänglich sind,  in  ihrem  ganzen  priiicipiellen  Zusammenhange  aber  eine  weit  über  die  Absicht 
ihres  Urhebers  hinausgehende  Wirkung  ausgeübt  haben. 


§  11.   System  dee  Idealismas.  (Piaton.)  101 

logischen  Naturansicht,  die  eben  nur  Ansicht^  aber  keine  Wissenschaft 
sein  soll. 

Dabei  stellt  sich  dieselbe  jedoch  mit  aller  Schärfe  der  mechanischen 
Naturerklärung  gegenüber,  und  wie  sie  diese  darstellt^  so  kann  Piaton 
kaum  etwas  Anderes  als  die  Lehre  Demokrit's  dabei  im  Auge  gehabt  haben. 
Der  Theorie  nämlich,  welche  aus  „zufälligem^  (soll  heissen  absichtslosem)  Zu- 
sammentreffen des  „ordnungslos  Bewegten^  hie  und  da  allerlei  Welten  entstehen 
und  wieder  vergehen  lässt,  stellt  er  die  seinige  entgegen,  dass  es  nur  diesen  Einen, 
einheitlichen  und  der  Art  nach  einzigen,  vollkommensten  und  schönsten  Kosmos 
gebe,  und  dass  dessen  Ursprung  nur  auf  eine  zweckthätige  Vernunft  zurück- 
geführt  werden  könne. 

Wenn  man  sich  also  über  diesen  Ursprung  eine  Ansicht  bilden  will,  so  muss 
man  den  Grund  der  Erscheinungswelt  in  ihrem  Zweckverhaltmds  zu  den  Ideen 
suchen.  Dies  Yerhaltniss  drückte  Piaton  durch  die  Vorstellung  eines  „welt- 
bildenden  Gottes"  (SujjjLtoopYÖc,  Demiurg)  aus,  welcher  „im  Hinblick  auf  die 
Ideen"  das  Nichtseiende,  den  Baum  geformt  habe.  Dieser  wird  dabei  als  die 
unbestimmte  Bildsamkeit  bezeichnet,  welche  alle  Körperformen  in  sich  aufnimmt 
(Se£a|iiv7]),  aber  dabei  doch  den  Grund  dafür  bildet;  dass  die  Ideen  in  ihm  keine 
reine  Darstellung  finden.  Diese  Gegenwirkung  der  Mitursache  oder  der  einzelnen 
Mitursachen  bezeichnet  Piaton  als  die  mechanische  Nothwendigkeit 
(avdpcY)):  er  nimmt  also  den  demokritischen  Begriff  als  einzelnes  Moment  in  seine 
Physik  mit  auf,  um  daraus  dasjenige  zu  erklären,  was  sich  nicht  teleologisch 
begreifen  lässt.  Göttliche  Zweckthätigkeit  und  Natumothwendigkeit  werden  als 
Erklärungspnncipien  einerseits  für  das  Vollkommene,  andrerseits  für  das  Unvoll- 
kommene der  Erscheinungswelt  einander  gegenübergestellt.  Der  ethische  Dua- 
lismus überträgt  sich  aus  der  Metaphysik  in  die  physikalische  Ansicht. 

Der  charakteristische  Grundgedanke  der  platonischen  Physik  ist  nun  der 
atomistischen  gegenüber  der,  dass,  während  Demokrit  die  Gesammtbewegungen 
als  mechanische  Resultanten  aus  den  ursprünglichen  Bewegungszuständen  der 
einzelnen  Atome  auffasste,  Piaton  umgekehrt  die  in  sich  geordnete  Gesammt- 
bewegung  des  Weltalls  als  das  einheitlich  Ursprüngliche  betrachtete  und 
alles  Einzelgeschehen  aus  diesem  zweckvoll  bestimmten  Ganzen  ableitete.  Aus 
diesem  Gedanken  entsprang  die  wunderliche  Construction  des  Begriffs  der  Welt- 
seele, welche  Piaton  als  das  einheitliche  Princip  aller  Bewegungen,  damit  aber 
auch  aller  Formbestimmungen  und  zugleich  aller  Wahrnehmungs-  und  Vor- 
steUungsthätigkeiten  in  der  Welt  bezeichnete  ^).  In  phantastisch  dunkler  Dar- 
stellung trug  er  als  die  mathematische  „Eintheilung"  dieser  Weltseele  seine 
astronomische  Ansicht  vor,  welche  sich  im  Ganzen  an  diejenige  der  jüngeren 
Pythagoreer  anschloss,  aber  durch  die  Annahme  des  Stillstandes  der  Erde  hinter 
derselben  zurückblieb.  Das  Hauptkriterium  dieser  Eintheilung  war  der  Unter- 
schied zwischen  dem,  was  sich  gleich  bleibt  (raotöv)  und  dem,  was  sich  ändert  (^dts- 
pov),  ein  Gegensatz,  in  welchem  man  leicht  den  pythagoreischen  der  vollkommenen 
Gestimwelt  und  dfer  unvollkommenen  terrestrischen  Welt  wiedererkennt. 

1)  In  dieser  Hinsicht  charakterisirt  der  Timaeus  ganz  wie  Demokrit  die  psychischen  Un- 
terschiede durch  solche  der  Bewegung,  führt  z.  B.  das  rechte  Vorstellen  auf  das  to^tov,  das 
bloss  individuelle  Wahrnehmen  auf  das  ^tepov  zurück  etc.  „Seele**  ist  eben  für  den  Griechen 
zugleich  Princip  der  Bewegung  und  der  Wahrnehmung  (xtvYjttxov  und  alodiQttxov,  Aristot.  de 
an.  1 2,  403  b  25),  und  auch  Piaton  macht  das  zweite  Merkmal  vom  ersten  abhängig. 


102  I«  Philosophie  der  Grieohen.  8.  Syetematieche  Periode. 

Eine  ähnliche  Fortbildung  der  pythagoreischen  Lehre  enthält  der  platoni- 
sche Timaeus  auch  hinsichtlich  der  rein  mathematischen  Construction  der  Körper- 
welt. Auch  hier  werden  die  vier  Elemente  nach  den  einfachen ,  regelmässigen 
stereometrischen  Figuren  charakterisirt  (vgl.  S.  35),  dabei  aber  ausdrücküch 
gelehrt,  dass  dieselben  aus  Dreiecksflächen  bestehen,  und  zwar  recht- 
winkligen, welche  theils  gleichschenklig,  theils  so  gestaltet  seien,  dass  die  kleinere 
Kathete  die  Hälfte  der  Hypotenuse  darstellt.  Aus  solchen  rechtwinkligen  Drei- 
ecken lassen  sich  die  Begrenzungsflächen  jener  stereometrischen  Formen, 
Tetraeder,  Kubus  etc.,  zusammengesetzt  denken,  und  die  Zusammensetzung  dieser 
Begrenzungsflächen  wollte  Piaton  als  das  Wesen  der  Raumerfullung,  d.  h.  der 
Dichtigkeit  der  Körper  angesehen  haben.  Indem  so  der  physicalische  Körper 
als  ein  rein  mathematisches  Gebilde  aufgefasst  wurde,  kam  auch  in  der  Physik 
jener  metaphysische  Gedanke  des  Philebos  zum  Durchbruch,  dass  die  Erschei- 
nungswelt eine  den  Ideen  nachgebildete  Baumbegrenzung  sei.  Diese  noch  dazu 
als  untheilbar  aufgefassten  Dreiecksflächen  haben  eine  bedenkliche  AehnUchkeit 
mit  den  Atomgestalten  (ay;fi^xa)  des  Demokrit. 

%  12.    Die  aristotelisohe  Logik. 

Die  Breite  der  Anlage,  welche  in  den  Systemen  der  beiden  grossen  Gegen - 
füssler  Demokrit  und  Piaton  hervortritt  und  mit  der  schulmässigen  Ausbildung 
der  Lehren  zusammenhängt,  machte  nicht  nur  eine  Theilung  der  Arbeit,  sondern 
auch  eine  Sonderung  der  Probleme  unerlässlich.  Die  Titel  von  Demokrit^s 
Schriften  lassen  vermuthen,  dass  er  auch  in  dieser  Hinsicht  klar  und  bestimmt 
verfahren  ist.  Piaton  freilich  fasste  die  schriftstellerische  Thätigkeit  wesentlich 
unter  dem  Gesichtspunkte  des  Künstlers  auf;  aber  die  trennende  Disposition  der 
Probleme,  welche  wir  in  seinen  Dialogen  vermissen,  hat  seiner  Lehrthätigkeit 
offenbar  nicht  gefehlt.  In  seiner  Schule  ist  die  Eintheilung  der  Philosophie  in 
Dialectik,  Physik  und  Ethik  herrschend  gewesen. 

Wenn  dabei  unter  Dialectik  wesentlich  die  Ideenlehre  in  ihrer  metaphysi- 
schen Ausbildung  zu  verstehen  ist,  so  hat  Aristoteles  den  grossen  Fortschritt 
gemacht,  dass  er  der  sachlichen  Untersuchung  auf  allen  drei  Gebieten  eiiie  Unter- 
weisung über  das  Wesen  der  Wissenschaft,  eine  Lehre  von  den  Formen 
und  Gesetzen  des  wissenschaftlichen  Denkens  vorausschickte.  Schon  bei  den 
Sophisten  und  Sokrates  hatte  die  Besinnung  darauf  begonnen,  worin  eigentlich 
die  wissenschaftliche  Thätigkeit  bestehe,  und  die  geschärfte  Aufmerksamkeit  auf 
die  inneren  Vorgänge  hatte  es  dem  abstrahirenden  Denker  ermöglicht,  die  all- 
gemeinen Formen  des  Denkprocesses  selbst  von  den  jeweiligen  Inhalten,  auf  die 
sich  derselbe  bezieht,  abzulösen.  Alle  diese  Ansätze  und  Versuche  —  denn 
darüber  hinaus  war  es  auch  bei  Piaton  nicht  gekommen  —  hat  nun  Aristoteles 
in  seiner  Logik  zusammengefasst  und  zu  einem  System  vollendet,  in  dem  wir 
die  reife  Selbsterkenntniss  der  griechischen  Wissenschaft  zu  sehen  haben. 

1.  Der  nächste  Zweck  der  aristotelischen  Logik  ist  nach  den  ausdrücklichen 
Erklärungen  des  Philosophen  durchaus  methodologisch.  Es  soll  der  Weg 
gezeigt  werden,  auf  dem  in  allen  Gebieten  des  Wissens  das  Ziel  wissenschaft- 
licher Erkenntniss  erreicht  werden  kann.  Wie  in  der  Rhetorik  die  Kunst  des 
Ueberredens,  so  wird  in  der  Logik  die  Kunst  des  wissenschaftlichen  Forschens, 
Erkennens  und  Beweisens  gelehrt.  Deshalb  hat  Aristoteles  die  Logik,  die  seine 


§  13.  Aristotelische  Logik.  103 

grösste  Schöpfung  war,  unter  den  philosophischen  Disciplinen  selbst  nicht  auf- 
gezahlt^ sondern  sie  im  Zusammenhange  seiner  Vorträge  als  Propädeutik  behau« 
delt;  und  deshalb  hat  seine  Schule  diese  Lehre  als  das  allgemeine  Werkzeug 
(SpYoivov)  für  alle  wissenschaftliche  Arbeit  betrachtet. 

Aber  diese  Vorbereitung  selbst  ist  nun  von  Aristoteles  schon  zu  einer 
Wissenschaft  gemacht  worden;  statt  der  Aufstellung  einzelner  praktisch  ver- 
werthbarer  Regeln^  wie  es  wohl  bei  den  Sophisten  der  Fall  gewesen  sein  mag, 
statt  der  allgemeinen  Fixirung  eines  Princips^  welche  das  Verdienst  des  Sokrates 
gewesen  war,  bietet  er  eine  allseitige  Durchforschung  der  Denkthätigkeit;  eine 
umfassende  Untersuchung  ihrer  gesetzmässigen  Formen.  Er  erfüllt  die  metho- 
dologische Aufgabe  durch  die  formale  Logik. 

Dabei  aber  erweist  sich,  dass  die  Erkenntniss  der  Formen  des  richtigen 
Denkens  nur  aus  demVerständniss  seiner  Aufgabe  gewonnen,  diese  Aufgabe  aber 
wiederum  nur  aus  einer  bestimmten  Vorstellung  von  dem  allgemeinen  Verbal tniss 
des  Erkennens  zu  seinem  Gegenstande  entwickelt  werden  kann.  So  hängt  die 
aristotelische  Logik  auf  das  Engste  mit  der  metaphysischen  Voraussetzung  zu- 
sammen, die  auch  seiner  Bearbeitung  der  übrigen  Disciplinen  zu  Grunde  ge- 
legen hat:  sie  ist  ihrem  Princip  nach  durchaus  erkenntnisstheoretisch. 

2.  Damit  aber  wurzelt  sie  in  der  sokratisch-platonischen  Ideenlehre.  Das 
wahrhaft  Seiende  ist  das  Allgemeine,  und  seine  Erkenntniss  ist  der  Begriff. 
Li  dieser  Hinsicht  ist  Aristoteles  immer  Platoniker  geblieben.  Was  er  an  seinem 
grossen  Vorgänger  bekämpfte ');  war  nur  die  eleatische  Beziehungslosig- 
keit,  welche  derselbe  zwischen  dem  Allgemeinen  und  dem  Besonderen,  zwischen 
Ideen  und  Erscheinungen,  zwischen  Begriffen  und  Wahrnehmungen  angenommen 
und  trotz  aller  Bemühungen  auch  in  der  späteren  Phase  seiner  Lehre  nicht  über- 
wunden hatte.  Auch  als  die  Zweckursache  des  Geschehens  blieben  die  Ideen 
eine  Welt  für  sich  neben  (icapd)  den  Erscheinungen.  Dies  Auseinanderreissen 
(XcopiCeiy)  des  Wesens  und  der  Erscheinung,  des  Seins  und  des  Werdens  ist  neben 
den  einzelnen  dialectischen  Einwänden  ^)  der  Gegenstand  des  Hauptvorwurfs,  wel- 
chen Aristoteles  gegen  die  Ideenlehre  erhebt.  Wenn  Piaton  aus  dem  Allgemeinen, 
das  der  Begriff  erkennt,  und  dem  Besonderen,  das  wahrgenommen  wird,  zwei 
verschiedene  Welten  gemacht  hatte,  so  ist  das  ganze  Bestreben  des  Aristoteles 
darauf  gerichtet,  diese  Spaltung  im  Begriffe  der  Wirklichkeit  wieder  aufzuheben 
und  zwischen  Idee  und  Erscheinung  diejenige  Beziehung  aufzufinden,  welche  die 
begriffiche  Erkenntniss  zur  Erklärung  des  Wahrgenommenen  befähigt. 

Daraus  erwächst  für  die  Logik  vor  Allem  die  Aufgabe,  das  rechte  Ver- 
hältniss  zwischen  dem  Allgemeinen  und  dem  Besonderen  zu  erkennen, 
und  deshalb  steht  diese  schon  von  Sokrates  erkannte  Grundform  des  begrifSichen 
Denkens  im  Mittelpunkte  der  aristotelischen  Logik. 

Die  Bedeutung  desselben  erwächst  aber  auch  noch  auf  einem  anderen  Wege. 
Wenn  Aristoteles  irgend  welche  Vorarbeiten  für  seine  Theorie  der  Wissenschaft 

1)  Hauptsächlich  Met.  I  9  und  XITI  4.  —  2)  Von  diesen  sind  nebenbei  hauptsächlich 
zwei  erwähnenswerth :  der  eine  folgert  aus  der  logischen  Subordination,  die  wieder  zwischen 
den  Ideen  obwaltet,  dass  jedes  Wahrnehmungsding  unter  eine  Menge  von  Ideen  subsumirt 
werden  muss;  der  andere  macht  auf  die  Schwierigkeit  aufmerksam,  dass  die  Aehnlichkeit, 
welche  zwischen  Idee  und  Erscheinung  bestehen  soll,  noch  ein  höheres  Allgemeineres  über 
beiden  nothwendig  macht,  u.   s.   f.  in  infinitum  (ÄvO-pioicoi;  —  aötayd-ptoito?  —  t  p  1 1  o  ^ 

S  V  ^  p  (0  IC  0  ^), 


104  ^*  Philosophie  der  Gkieohen.  8.  Systematische  Periode. 

vorgefunden  hat;  so  bestanden  sie  in  den  Ueberlegungen  der  Sophisten  über  die 
(zunächst  rhetorische)  Kunst  des  Be weise ns  und  Widerlegens.  Fragte  aber 
nun  Aristoteles,  wie  man  wissenschaftlich;  d.  h.  in  aUgemeingiltiger,  auf  die 
wahre  Erkenntniss  gerichteter  Weise  etwas  beweisen  könne,  so  fand  er,  dass  dies 
nur  in  der  Ableitung  des  Besonderen  aus  dem  Allgemeinen  bestehen 
kann.  Wissenschaftlich  beweisen,  heisst  die  Gründe  für  die  Geltung  des  Behaup- 
teten angeben,  und  diese  sind  nur  in  dem  Allgemeineren  zu  finden,  dem  das  Ein- 
zelne unterstellt  ist. 

Hieraus  ergab  sich  nun  die  eigenthümliche  Verwicklung,  welche  den  aristo- 
telischen Begriff  der  Wissenschalt  ausmacht.  Das  Allgemeine,  die  Idee,  ist  als 
das  wahrhafte  Sein  die  Ursache  des  Geschehens,  dasjenige  also,  woraus  und  wo-, 
durch  das  wahrgenommene  Einzelne  begriffen  oder  erklärt  werden  soll.  Die 
Wissenschaft  hat  darzustellen,  wie  aus  dem  begrifflich  erkannten  Allgemeinen  das 
wahrgenommene  Einzelne  folgt.  Das  Allgemeine  ist  aber  andrerseits  im  Denken 
der  Grund,  durch  welchen  und  aus  welchem  das  Besondere  bewiesen  wird. 
Danach  ist  das  Begreifen  und  das  Beweisen  dasselbe :  Ableitung  des  Beson- 
deren aus  dem  Allgemeinen. 

In  dem  Begriffe  der  Ableitung  (aitöSeiStc,  Deduction)  concentrirt 
sich  somit  die  Wissenschaftstheorie  des  Aristoteles:  die  wissenschaftliche  Erklä- 
rung der  Erscheinungen  aus  dem  wahrhaften  Sein  ist  derselbe  logische  Process 
wie  das  wissenschaftliche  Beweisen,  nämlich  die  Ableitung  des  in  der  Wahr- 
nehmung Gegebenen  aus  seinem  allgemeinen  Grunde.  Erklären  und  Beweisen 
werden  deshalb  mit  demselben  Worte  „Ableitung"  bezeichnet,  und  der  rechte 
Beweis  ist  derjenige,  welcher  zum  Beweisgrund  die  wirkliche,  allgemeine  Ursache 
des  zu  Beweisenden  nimmt  *).  Die  Aufgabe  der  Wissenschalt  ist  also ,  die 
logische  Nothwendigkeit  aufzuzeigen,  mit  der  wie  die  besonderen  Erschei-- 
nungen  aus  den  allgemeinen  Ursachen,  so  auch  die  besonderen  Einsichten  (der 
Wahrnehmung)  aus  den  allgemeinen  Einsichten  (der  Begriffe)  folgen. 

Diese  aus  den  metaphysischen  Voraussetzungen  entwickelte  Bestimmung 
der  Aufgabe  der  Wissenschaft  hat  nun  aber  im  Fortgange  der  Untersuchungen 
eine  wesentliche  Veränderung  erfahren. 

3.  Die  nächste  Aufgabe  der  Logik  ist  hiernach  die  genauere  Feststellung 
darüber,  was  eigentÜch  Ableitung,  d.  h.  einerseits  Beweis,  andrerseits 
Erklärung  ist,  oder  die  Darstellung  derjenigen  Formen,  in  denen  das  Denken 
die  Abhängigkeit  des  Besonderen  vom  Allgemeinen  erkennt.  Diese 
Theorie  hat  Aristoteles  in  der  Analytik  gegeben,  dem  logischen  Grundwerke, 
welches  in  synthetischem  Aufbau  im  ersten  Theil  vom  Schluss,  im  zweiten  vom 
Ableiten,  Beweisen  und  Begreifen  handelt.  Denn  bei  der  Zerlegung  der  Denk- 
thätigkeiten,  aus  welchen  alles  Ableiten  besteht,  ergiebt  sich  als  einfache  Grund- 
form die  Ableitung  eines  Satzes,  einer  Behauptung  aus  anderen,  d.  h.  der  Schluss 
((3t)XXo7i(3[i6c). 

Die  Syllogistik  (Schlusslehre)  ist  damit  der  Kernpunkt  der  aristoteli- 

1)  Diese  BegrifTsbestimmong  des  'wissenschaftlichenBeweisesist  sichtlich  gegen 
den  rhetorischen  Beweis  (der  Sopliisten)  gerichtet.  In  der  Kunst  des  Ueberredens  sind  alle 
Beweise  willkommene,  so  äusserlich  sie  dem  wahren  Wesen  der  Sache  bleiben  mögen,  sofern 
sie  nur  formell  so  weit  genügen,  um  den  Zuhörer  zur  Zustimmung  zu  bringen.  Der  wissen- 
schaftliche Beweis  aber  soll  von  der  inneren,  logischen  Nothwendiffkeit  der  Sache  ausgehen 
mid  deshalb  zugleich  die  Einsicht  in  die  wahre  Ursache  des  zu  Beweisenden  wiedergeben. 


§  12.  Aristotelische  Logik.  105 

sehen  Logik  geworden:  auf  sie  ist  alles  zugespitzt^  was  er  (wie  es  scheint  nur  in 
allgemeinsten  Zügen)  über  die  dem  Schluss  zu  Grrunde  liegenden  Denkformen 
gelehrt  hat;  aus  ihr  ergeben  sich  alle  Gesichtspunkte  seiner  Methodologie. 

Die  Grundzüge  dieser  Lehre,  welche  den  Grundstock  der  traditionellen 
Logik  bis  auf  den  heutigen  Tag  bilden^  sind  folgende.  Der  Schluss  ist  die  Ab- 
leitung eines  Urtheils  aus  zwei  anderen.  Da  in  einem  Urtheile  ein  BegriflF  (das 
Prädicat)  Ton  einem  anderen  Begriffe  (dem  Sübject)  ausgesagt  wird,  so  kann 
diese  Aussage  nur  begründet  werden,  indem  die  zu  beweisende  Verbindung  zwi- 
schen beiden  durch  einen  dritten  Begriff,  den  Mittelbegriff  ((liaov,  medius  ter- 
minus)  vermittelt  wird.  Dieser  dritte  Begriff  muss  also  mit  den  beiden  anderen 
in  irgend  welchen  Beziehungen  stehen,  und  diese  müssen  in  zwei  Urtheilen  aus- 
gedrückt sein,  welche  die  Prämissen  (wpotdiosK;)  des  Schlusses  heissen.  Das 
Schliessen  besteht  in  dem  Denkprocess,  welcher  aus  den  Verhältnissen,  worin 
sich  ein  und  derselbe  Begriff  (der  Mittelbegriff)  zu  zwei  anderen  Begriffen  befin- 
det, das  Verhältniss  dieser  beiden  Begriffe  zu  einander  ausfindig  macht. 

Von  den  zwischen  Begriffen  möglichen  Verhältnissen  ist  es  nun  aber  nur 
eins,  auf  welches,  ihren  allgemeinen  Voraussetzungen  gemäss,  die  aristotelische 
Syllogistik  ihr  Augenmerk  gerichtet  hat:  das  Verhältniss  der  Unterordnung 
des  Biesonderen  unter  das  Allgemeine.  Es  fragt  sich  für  diese  Theorie  immer 
nur  darum,  ob  der  eine  Begriff  (das  Subject)  dem  anderen  (dem  Prädicat)  unter- 
geordnet werden  soll  oder  nicht.  Die  Syllogistik  hat  es  nur  mit  der  Erkenntniss 
derjenigen  Denkformen  zu  thun,  nach  denen  mit  Hilfe  eines  Zwischenbegriffs 
entschieden  werden  soll,  ob  eine  Unterordnung  eines  Begriffs  unter 
einen  anderen  stattfindet  oder  nicht.  Diese  Frage  hat  Aristoteles  in 
geradezu  erschöpfender  Weise  gelöst :  darin  besteht  der  bleibende  Werth  seiner 
Syllogistik,  aber  auch  die  Grenze  ihrer  Bedeutung. 

Dementsprechend  hat  denn  auch  Aristoteles  in  seiner  Theorie  des 
Urtheils  wesentlich  nur  die  beiden  Momente  behandelt,  welche  für  diesen  Zweck 
in  Betracht  kommen:  erstens  die  Quantität,  welche  die  Art  der  Unterordnung 
des  Subjects  unter  das  Prädicat  dem  Umfange  nach  bestimmt  und  die  Unter- 
schiede des  generellen,  particularen  und  singularen  Urtheils  ergiebt,  und  zweitens 
die  Qualität,  wonach  diese  Unterordnung  entweder  behauptet  oder  verneint, 
zwischen  den  Umfangen  beider  Begriffe  also  das  Verhältniss  entweder  der  Ver- 
bundenheit oder  der  Trennung  ausgesprochen  wird. 

Darum  bestimmen  sich  nun  auch  die  Arten  (cj)(>]jAoiTa,  Figuren)  der  Schlüsse 
wesentlich  nach  der  Art  und  Weise,  wie  die  Unterordnungsverhältnisse  der 
Begriffe,  in  den  Prämissen  gegeben,  die  im  Schlusssatz  gesuchte  Unterordnung 
bestimmen,  ein  Verhältniss,  das  äusserlich  in  der  Stellung  des  Mittelbegriffs  in  den 
beiden  Prämissen  zum  Ausdruck  kommt,  indem  derselbe  entweder  einmal  Subject 
und  einmal  Prädicat  oder  beidemal  Prädicat  oder  beidemal  Subject  ist.  Als  die 
werthvoUste  und  ursprünglichste  dieser  drei  Figuren  aber  bezeichnete  Aristoteles 
fölgerichtlich  die  erste,  weil  in  ihr  das  Princip  der  Unterordnung  rein  und  klar  zum 
Ausdruck  kommt,  indem  das  Subject  des  Schlusssatzes  dem  Mittelbegriff  und  mit 
demselben,  in  dessen  Umfang  es  fallt,  dem  Prädicat  untergeordnet  wird  *). 

1)  Die  einzelnen  Bestimmungen  können  hier  nicht  entwickelt  werden.  Vgl.  im  All- 
gemeinen :  F.  Kampe,  Die  Erkenntnisstheorie  des  Aristoteles  (Leipzig  1870).  R.  Eugken,  Die 
Methode  der  aristotelischen  Forschung  (Berlin  1872). 


106  !•  Philosophie  der  Griechen.   8.  Systematische  Periode. 

4.  War  aber  dasSchliesseii;  und  damit  das  Ableiten;  Beweisen  und  Erklären 
in  dieser  Weise  bestimmt,  so  ergab  sich,  dass  durch  diese  der  Wissenschaft 
wesentliche  Thätigkeit  nur  immer  Sätze  von  geringerer  Allgemeinheit  von  solchen 
höherer  Allgemeinheit  abgeleitet;  d.  h.  dass  durch  das  Schliessen  aus  den 
Prämissen  niemals  gleich  Allgemeines,  geschweige  denn  Allgemeineres  begründet 
werden  kann.  Die  eigen thümliche  Gebundenheit  der  antiken  Vorstellung  vom 
Wesen  des  Denkens,  wonach  dasselbe  nur  Gegebenes  auffassen  und  aus  einander 
legen,  aber  nichts  Neues  erzeugen  kann,  kommt  auch  in  dieser  Bestimmung  der 
aristotelischen  Logik  zur  Geltung.  Daraus  folgte  aber  unmittelbar,  dass  die 
ableitende,  beweisende  und  erklärende  Wissenschaft  zwar  im  Einzelnen  das,  was 
im  Syllogismus  als  Prämisse  gedient  hatte,  wieder  als  Schlusssatz  eines  noch  all- 
gemeineren Syllogismus  abzuleiten  vermochte,  aber  schliesslich  dochvon  Prämissen 
ausgehen  musste,  welche  selbst  keines  Ableitens,  Beweisensund  Begreifens,  keiner 
Zurückführung  auf  Mittelbegriffe  mehr  fähig  sind,  und  deren  Wahrheit  daher 
unmittelbar  ($|JLsaa),  unableitbar,  unbeweisbar  und  unbegreiflich  ist.  Alles 
Ableiten  bedarf  eines  ursprünglichen,  alles  Beweisen  eines  unbeweisbaren  Grundes, 
alles  Erklären  eines  unerklärlich  Gegebenen. 

Die  apodeiktische,  beweisende  und  erklärende  Thätigkeit  der  Wissenschaft 
hat  also  eine  Grenze :  die  letzten  Gründe  des  Beweisens  sind  nicht  zu  beweisen ; 
die  letzten  Ursachen  des  Erklärens  sind  nicht  zu  erklären.  Soll  daher  die 
Wissenschaft  ihre  Aufgabe,  dieim  Erklären  desBesonderen  durch  das  Allgemeine 
besteht,  erfüllen,  so  muss  sie  vorerst  von  dem  Besonderen  aus  bis  zu  demjenigen 
Allgemeinen  vordringen,  bei  dem  sich  das  Beweisen  und  Erklären  von  selbst  ver- 
bietet, weil  es,  unmittelbar  gewiss,  sich  als  unableitbar  und  unbeweisbar  geltend 
macht.  Dem  Ableiten  also.  Beweisen  und  Erklären,  worin  die  letzte  Aufgabe 
der  Wissenschaft  besteht,  muss  das  Aufsuchen  der  Ausgangspunkte  der  Ableitung, 
der  letzten  Beweisgründe  und  der  höchsten  Erklärungsprincipien  vorausgehen. 
Die  darauf  gerichtete  Thätigkeit  des  Denkens  nennt  Aristoteles  Dialectik,  und 
ihre  Grundsäzte  hat  er  in  der  Topik  niedergelegt. 

Diesem  Aufsuchen  der  Gründe  wohnt,  der  Natur  der  Sache,  nicht 
die  gleiche  „apodictische"  Gewissheit  bei,  wie  dem^  Ableiten  der  Polgen  aus  den 
einmal  festgestellten  Gründen.  Das  Forschen  geht  von  dem  in  der  Wahrnehmung 
gegebenen  Besonderen  und  von  den  in  der  gewöhnlichen  Ansicht  umlaufenden 
Vorstellungen  (&/8o$ov)  aus,  um  das  Allgemeine  zu  finden,  aus  dem  dann  das 
Besondere  bewiesen  imd  erklärt  werden  kann.  Die  Forschung  also  geht  den 
umgekehrten  Weg  wie  die  Ableitung:  diese  ist  deductiv,  jeneinductiv,  e  p  ago  gis  eh. 
Diese  geht  beweisend  und  erklärend  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen,  jene 
suchend  und  probirend  vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  *).  Nur  die  fertige 
Wissenschaft  ist  „apodeiktisch":  die  werdende  ist  epagogisch. 

Bei  allen  diesen  Untersuchungen  und  den  darin  auftretenden  Gegensätzen 
handelt  es  sich  für  Aristoteles  zwar  meist  um  die  Urtheile,  aber  im  Zusammen- 
hange damit  doch  auch  um  die  B  egriffe.   Wie  ein  Urtheil  bewiesen,  abgeleitet 

1)  Dies  umgekehrte  Verhältniss  zwischen  Ableitung  und  Aufsuchung  hat  Aristoteles 
dahin  ausgesprochen,  dass  das,  was  der  Natur  der  Sache  nach  das  Ursprüngliche  (jcpotspov  t^ 
(p'jae:),  also  das  Allgemeine  ist,  für  die  menschliche  Erkcnutniss  das  SpäterCi  erst  zu  Ge- 
winnende (uatepov  Tzpbq  "W^^)  ^^d  dass  umgekehrt  das  für  uns  Nächstliegende  (icporepoy  icpö^ 
•Jjpi&^),  das  Einzelne,  dem  wahren  "Wesen  nach  das  Abgeleitete^  Spätere  (ootepov  x^  'foott)  sei. 


§  18.  System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.)  107 

wird;  indem  es  vennöge  des  Mittelbegriffs  aus  allgemeineretiUrtheilen  erschlossen 
wird,  so  wird  ein  Begriff  abgeleitet,  indem  er  aus  einem  allgemeineren 
(der  nächst  höheren  Gattung,  '(^oc;,  genus)  durch  Hinzuiiigung  eines  besonderen 
Merkmales  (Sta^opd,  differentiaspecifica)  gebildet  wird :  diese  Ableitung  des  Begriffs 
ist  die  Definition  (öptojiö^).  Wie  aber  die  Ableitung  der  Sätze  schliesslich 
allgemeinste  Prämissen  voraussetzt,  die  nicht  mehr  bewiesen  werden  können, 
so  geht  auch  die  Definition  der  niederen  Begriffe  zuletzt  auf  allgemeinste  Begriffe 
zurück,  welche  sich  jeder  Ableitung  und  Erklärung  entziehen :  auch  diese  Begriffe 
müssen,  wie  die  höchsten  Prämissen  des  Beweisens,  epagogisch  gesucht  *)  werden^ 
und  es  scheint,  als  habe  Aristoteles  jene  allgemeinsten  Sätze  für  die  Erläuterungen 
dieser  allgemeinsten  Begriffe  angesehen. 

5.  Unter  den  Lehrbüchern,  die  Aristoteles  hinterlassen  hat,  sind  die  beiden 
logischen  Hauptschriften,  die  Analytik  und  die  Topik,  die  bei  weitem  am  meisten 
dem  Abschluss  nahe  gebrachten^):  daraus  mag  es  sich  erklären,  dass  die  logischen 
Anforderungen,  welche  der  Philosoph  an  die  Wissenschaft  stellte,  so  klar  und  sicher 
entwickelt  sind,  dass  aber  die  vorliegende  Ausführung  seines  Systems  die  danach 
zu  stellenden  Erwartungen  nur  in  geringerem  Masse  eriuUt. 

Offenbar  nämlich  sollte  hiemach  eine  sichere  Angabe  darüber  gemacht 
werden  können,  was  nun  der  Philosoph  für  jene  unmittelbar  gewissen,  höchsten 
Sätze  oder  Begriffe  erklärt  habe,  die  das  Resultat  der  Forschung  und  der  Aus- 
gangspunkt des  Beweisens  und  Erklärens  sein  sollen.  Wer  aber  danach  fragt, 
sieht  sich  der  Lehre  des  Aristoteles  gegenüber  in  grosser  Verlegenheit.  Von  all- 
gemeinen Sätzen  ist  es  nur  ein  einziges  Princip,  der  Satz  vom  Widerspruch'), 
welchen  er  theils  in  der  rein  logischen  Fassung,  dass  Bejahung  und  Verneinung 
derselben  Begriffsverknüpfung  sich  gegenseitig  ausschliessen,  theils  in  der  meta- 
physischen Wendung,  dass  ein  Ding  nicht  dasselbe  sein  und  auch  nicht  sein 
könne,  als  einen  unbeweisbaren  Obersatz  für  alle  Beweise  hingestellt  hat:  daneben 
aber  macht  er  lieber  darauf  aufmerksam,  dass  jedes  Gebiet  des  Erkennens  seine 
eigenen  letzten  Voraussetzungen  habe,  ohne  dieselben  näher  anzugeben. 

Sucht  man  aber  nach  den  obersten  Begriffen,  so  hat  man  —  abgesehen 
von  dem  auch  hier  statthaften  Verweis  auf  die  Besonderheit  der  einzelnen  Dis- 
ciplinen  —  die  von  Aristoteles  nicht  entschiedene  Wahl  zwischen  den  vier  „Prin- 
cipien"  (ap^aQ  der  Metaphysik  oder  den  „Kategorien",  welche  als  die  Grund- 
formen der  Aussage  über  das  Seiende  bezeichnet  werden.  In  beiden  Fällen 
aber  befindet  man  sich  damit  bereits  mitten  in  den  sachUchen  Bestimmungen 
seiner  Lehre. 

%  18.  Das  System  der  Entwicklang. 

Der  Eindruck  des  vollkommen  Neuen,  welchen  die  Logik  des  Aristoteles 
sämmtlichen  früheren  Erscheinungen  der  griechischen  Wissenschaft  gegenüber 

1)  Der  Determination  (irposd^soi^),  als  der  Ableitung  eines  Be^rnffs  aus  dem  höheren  durch 
Hinzufügung  eines  neuen  Merkmals,  steht  also  als  Frocess  der  Bildung  von  (Tattungsbegriffen 
die  Abstraction  (i(pa''psa'.^)  gegenüber,  welche  durch  Fortnahmc  einzelner  Merkmale  den  in- 
haltlich ärmeren,  aber  nm&nglich  reicheren  BegriflT gewinnt.  Die  Begriffsbildung  ist  danach  bei 
Aristoteles  wieder  durchaus  analytisch,  während  sie  bei  Piaton  intuitiv  gewesen  war.  Aristo- 
teles hat  sich  zuerst  von  der  optischen  Analogie,  nach  der  auch  bei  Demokrit  und  Piaton  der 
Erkenntnissvorgang  des  Denkens  betrachtet  wurde,  frei  gemacht.  —  2)  Bei  der  Topik  scheint 
derselbe  sogar  erreicht.  —  3)  Met.  IV  3  if . 


108  I.  Philosophie  def  GWechen.  3.  Systematische  Periode. 

macht,  beruht  hauptsächlich  auf  der  hochgradigen  Fähigkeit  des  abstracten 
Denkens,  welche  diese  geniale  Ablösung  der  allgemeinen  Formen  des  Denkens 
von  jedem  nur  immer  möglichen  Inhalte  voraussetzt.  Diese  Virtuosität  der  abs- 
trahirenden  BegrifFsbildung  hat  Aristoteles  auf  allen  Gebieten  seiner  wissien- 
schaftlichen  Arbeit  bethätigt,  und  wenn  der  „Vater  der  Logik**  der  philosophische 
Lehrer  für  zwei  Jahrtausende  geworden  ist,  so  verdankt  er  diesen  Erfolg  in 
erster  Linie  der  Sicherheit,  Klarheit  und  Consequenz  seiner  Begriffsbestimmungen. 
Er  hat  die  von  Sokrates  gestellte  Aufgabe  erfüllt,  und  er  hat  damit  die  Sprache 
der  Wissenschaft  geschaffen.  Der  Grundstock  der  wissenschaftlichen  Begriffe 
und  der  Ausdrücke,  die  wir  noch  heute  überall  gebrauchen,  geht  auf  seine  Formu- 
lirungen zurück. 

Mit  dieser  Neigung  zur  Abstraction  hängt  es  nun  auch  zusammen,  dass  Ari- 
stoteles  das  Grundproblem  der  griechischen  Philosophie,  wie  hinter  der 
wechselnden  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ein  einheitliches  und  bleibendes 
Sein  zu  denken  sei,  durch  einen  ^^ziehungsbegriff,  denjenigen  der  Entwick- 
lung gelöst  hat.  Noch  seine  beiden  grossen  Vorgänger  hatten  eine  besondere 
Inhaltsbestimmung  ftir  den  Begriff  des  wahren  Seins  versucht:  Demokrit  hatte  die 
Atome  und  ihre  Bewegung,  Piaton  die  Ideen  und  ihre  Zweckbestimmung  für  die 
von  den  Erscheinungen  selbst  verschiedene  Ursache  derselben  angesehen.  Aristo- 
teles aber  bestimmte  das  Seiende  als  das  sich  in  den  Erscheinungen  selbst 
entwickelnde  Wesen.  Er  verzichtete  darauf,  etwas  von  den  Erscheinungen 
selbst  Verschiedenes  (eine  zweite  Welt)  als  ihre  Ursache  auszudenken,  und  er  lehrte, 
dass  das  im  Begriff  erkannte  Sein  der  Dinge  keine  andere  Wirklichkeit  besitze, 
als  die  Gesammtheit  der  Erscheinungen,  in  denen  es  sich  verwirkliche.  So 
betrachtet  nimmt  das  Sein  (ooola)  den  Charakter  des  Wesens  (tö  ti  -^v  etvat)  an, 
welches  den  alleinigen  Grund  seiner  einzelnen  Gestaltungen  bildet,  aber  nur  in 
diesen  selbst  wirklich  ist,  und  alle  Erscheinung  wird  zur  Verwirklichung 
des  Wesens.  Dies  ist  der  Beziehungsbegriff,  durch  welchen  Aristoteles  den 
Gegensatz  der  heraklitischen  und  der  eleatischen  Metaphysik  überwunden  hat. 

1,  Im  Besonderen  aber  stellt  sich  nun  für  Aristoteles  die  Entwicklung  als 
dasVerhältniss  vonFormund  Stoffdar(eI8o<;,  [i.op^TQ  —  oXtj).  Hatte  Piaton *) 
die  Erscheinungswelt  für  eine  Mischung  des  „  Unbegrenzten  "  und  der  „  Begrenzung" 
erklärt,  so  hält  sich  Aristoteles  an  die  Beobachtung,  dass  in  jedem  Dinge  der  Er- 
scheinungswelt geformter  Stoff  vorliegt.  Nur  ist  ihm  dieser  Stoff  zwar  auch  an 
sich  unbestimmt,  aber  doch  nicht  der  blosse  gleichgiltig  leere  Raum,  sondern  ein 
korperüches  Substrat  (i)7cox6t[tsvov)  :  nur  ist  ihm  diese  Form  nicht  bloss  die 
mathematische  Grenze,  sondern  die  inhaltlich  durch  das  Wesen  bestimmte  Ge- 
stalt. Der  Stoff  oder  die  Materie  ist  die  Möglichkeit  dessen,  was  in  dem  fertigen 
Dinge  vermöge  der  Form  wirklich  geworden  ist.  In  der  Materie  also  ist  das 
Wesen  (oioia)  nur  der  Möglichkeit  nach  (8üvdt|i6t,  potentia)  gegeben,  erst  ver- 
möge der  Form  ist  es  in  Wirklichkeit  (svspYsicf,  actu).  Das  Geschehen  aber 
ist  derjenige  Vorgang,  in  welchem  das  Wesen  aus  der  blossen  Möglichkeit  durch 
die  Form  in  die  Verwirklichung  übergeht.  Das  Wesen  hat  nicht  neben  den 
Erscheinungen  irgend  eine  zweite,  höhere  Wirklichkeit,  sondern  es  ist  nur  in  der 

1)  Die  Grundzüge  der  aristotelischen  Metaphysik  entwickeln  sich  am  einfachsten  aus 
derjenigen  Phase  der  platonischen,  welche  im  Philebos  vorgetragen  ist  (vgl.  oben  §  11,  Nr.  9). 
Vgl.  J.  C.  Glasee,  Die  Metaphysik  des  Aristoteles  (Berlin  1841J. 


§  13.  System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.) 


109 


Reihenfolge  seiner  Erscheinungen,  vermöge  deren  es  seine  eigene  Möglichkeit 
verwirklicht.  Das  Allgemeine  ist  nur  im  Besonderen  wirklich,  das  Besondere  ist 
nur,  weil  in  ihm  sich  das  Allgemeine  verwirkUcht. 

Mit  dieser  Umbildung  der  Ideenlehre  löst  Aristoteles  das  Grundproblem 
der  theoretischen  Philosophie  der  Griechen :  das  Sein  so  zu  denken,  dass  aus  ihm 
das  Geschehen  erklärt  wird.  Vom  Hylozoismus  der  Milesier  an  bis  zu  den  gegen- 
sätzlichen Theorien  seiner  beiden  grossen  Vorgänger  sind  alle  Standpunkte  der 
griechischen  Metaphysik  als  Momente  in  dieser  Lehre  des  Aristoteles  enthalten : 
das  im  Begriff  erkannte  Sein  ist  das  allgemeine  Wesen,  welches  sich  in  seinen 
besonderen  Erscheinungen  aus  der  Möglichkeit  her  durch  die  Form  verwirklicht, 
und  der  Vorgang  dieser  VerwirkUchung  ist  die  Bewegung.  Das  Sein  ist  das,  was 
im  Geschehen  zu  Stande  kommt.  Diese  Selbstverwii-klichung  des  Wesens  in  den 
Erscheinungen  nennt  Aristoteles  Entelechie  (ivusXdxsta). 

2.  Der  Schwerpunkt  der  aristotelischen  Philosophie  liegt  also  in  diesem 
neuen  Begriffe  des  Geschehens  als  der  Verwirklichung  des  Wesens 
in  der  Erscheinung,  und  ihr  Gegensatz  gegen  die  frühere  Naturerklärung 
besteht  deshalb  in  der  begrifflichen  Durchführung  der  Teleologie, 
welche  Piaton  nur  als  Postulat,  aufgestellt  und  in  mythischer  Bildlichkeit  ent- 
wickelt hatte.  Während  die  frühere  Metaphysik  als  das  typische  Grundverhältniss 
des  Geschehens  den  mechanischen  Vorgang  von  Druck  und  Stoss  angesehen 
hatte,  betrachtete  Aristoteles  als  solches  die  Entwicklung  der  Organismen  und  die 
bildende  Thätigkeit  des  Menschen.  Aus  diesen  beiden  Gebieten  entnahm  er  seine 
Beispiele,  wo  er  den  metaphysischen  Charakter  des  Geschehens  erläutern  wollte  ^). 

Doch  ist  das  Verhältniss  von  Form  und  Stoff  in  beiden  Arten  des  zweck- 
mässigen Geschehens  nicht  völlig  das  gleiche,  und  die  Verschiedenheit  beider 
macht  sich  daher  in  der  Ausfulirung  des  aristotelischen  Grundgedankens  überall 
geltend.  In  dem  Falle  des  organischen  Geschehens  nämlich  sind  Stoff  und  Form 
in  der  That  die  beiden  nur  durch  die  Abstraction  trennbaren  Seiten  einer  und 
derselben  von  Anfang  bis  zu  Ende  mit  einander  identischen  Wirklichkeit:  schon 
im  Keim,  der  in  der  Entwicklung  das  Wesen  zur  Entfaltung  bringt,  ist  die  Materie 
innerlich  durch  die  Form  gestaltet.  Beim  künstlerischen  Bilden  dagegen  besteht 
zunächst  das  Material,  das  die  Möglichkeit  enthält,  für  sich,  und  erst  die  zweck- 
thätige  Arbeit  des  Künstlers  tritt  hinzu,  um  durch  die  Bewegung  daraus  die  Ge 
stalt  zu  erzeugen. 

Im  letzteren  Falle  ist  daher  die  Entwicklung  unter  vier  Principien  zu 
betrachten:  es  sind  die  Materie,  die  Form,  der  Zweck  des  Geschehens  und 
die  Ursache  desselben. 

Im  ersteren  Falle  dagegen  sind  der  Materie  gegenüber  die  drei  anderen 
Principien  nur  verschiedene  Ausdrücke  für  dieselbe  Sache,  indem  die  Form  so- 
wohl die  Ursache  als  auch  das  Ergebniss  des  Geschehens  bildet. 

Hiemach  findet  nun  in  der  Anwendung  auf  die  Welterkenntniss  jene  Grund- 
beziehung von  Form  und  Stoff  eine  doppelte  Ausführung :  einerseits  werden  die 
einzelnen  Dinge  als  sich  selbst  realisirende  Formen,  andrerseits  werden  die 
Dinge  im  Verhältniss  zu  einander  das  eine  als  Materie,  das  andere  als  Form 
betrachtet.    Diese  beiden  Verwendungen  des  Grundprincips  gehen  durch  das 


1)  Ausser  der  Metaphysik  ist  nameptlicb  die  Physik  auf  diese  Fragen  eingegangen. 


110  !•  Philosophie  der  Griechen.  3.  Systematische  Periode. 

ganze  aristotelische  System  neben  einander  her  und  stossen  in  den  allgemeinen 
Bestimmungen  zum  Theil  so  auf  einander,  dass  nur  durch  ihre  Scheidung  schein- 
bare Widersprüche  aus  dem  Wege  geräumt  werden  können. 

3.  In  ersterer  Hinsicht  ergiebt  sich,  dass  für  die  aristotelische  WeltaufFas- 
sung,  im  Gegensatze  sowohl  zur  demokritischen  als  auch  zur  platonischen,  das 
wahrhaft  WirkUche  das  durch  seine  Form  in  sich  bestimmte  Einzel  ding  ist. 
Ihm  gebührt  daher  zunächst  der  Name  des  Wesens  oder  der  Substanz:  ooota. 
Das  Wesen  aber  entwickelt  sich  und  verwirklicht  sich  in  den  einzelnen  Bestim- 
mungen, welche  theils  seine  Zustände  (tc^l^),  theils  seine  Beziehungen  zu 
anderen  Dingen  (ta  zp6<;  tt)  sind ').  Die  Erkenntniss  hat  daher  dies,  was  dem 
Dinge  zugehört  (ta  oofißsßTjxÖTa),  von  ihm  auszusagen,  während  das  Einzelding 
selbst  von  nichts  Anderem  ausgesagt  werden,  d.  h.  im  Satze  nur  Subject  und  nie 
Prädicat  sein  kann*).  Von  diesen  Erscheinungsweisen  der  Substanz  oder  von  den 
über  sie  möglichen  Aussagen,  Kategorien  zählt  Aristoteles  auf:  Quantität 
(7C0(3Öv),  Qualität  (;roiöv),  Relation  (irpöc  tt),  räumliche  und  zeitliche  Bestimmung 
(ttoö,  i:Qzi)j  Thun  (iroisfv)  und  Leiden  (icao/stv);  und  daneben  auch  Sichbefinden 
(xsiod-at)  und  Sichverhalten  (S/etv).  Diese  Zusammenstellung  (mit  Einschluss  der 
Substanz  also  10  Kategorien),  bei  der  vielleicht  grammatische  Beobachtungen 
mitgewirkt  haben,  soll  die  obersten  Gattungen  darstellen,  unter  welche  alle 
möglichen  Yorstellungsinhalte  zu  subsumiren  sind :  doch  hat  Aristoteles  davon 
keinen  methodischen  Gebrauch  gemacht,  und  seine  Kategorienlehre  hat  daher, 
abgesehen  von  jenem  Yerhältniss  der  Substanz  zu  ihren  Bestimmungen,  in  seiner 
Metaphysik  keine  Bedeutung  gewonnen. 

Je  schärfer  so  Aristoteles  den  wissenschaftlichen  Substanzbegriff  in  seiner 
logischen  und  metaphysischen  Bestimmung  ausgebildet  hat,  so  verwunderhch 
kann  es  auf  den  ersten  Blick  erscheinen,  dass  er  weder  ein  methodisches  noch  ein 
sachliches  Princip  angegeben  hat,  nach  dem  zu  entscheiden  wäre,  welches  nun 
eigentlich  diese  wahrhaft  seienden  Einzeldinge  in  seinem  Sinne  sind.  Klar  ist 
nur,  dass  er  einerseits  nicht  jedes  Beliebige,  was  gelegentlich  in  der  Erfahrung 
als  ein  von  den  übrigen  getrenntes  Ding  erscheint,  als  Wesen  gelten  liess,  andrer- 
seits, dass  er  den  organischen  Individuen,  den  einzelnen  Menschen  diesen  Charak- 
ter zuschrieb.  Im  Sinne  seiner  Lehre  wäre  es,  zu  meinen,  dass  er  nur  da  hätte 
von  einem  „Wesen"  reden  können,  wo  eine  innere  Pormbestimmtheit  den  Grund 
der  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Merkmale  bildet,  wo  also  die  Erkenntniss 
dieses  Wesens  die  Aufgabe  der  Wissenschaft,  das  Seiende  durch  den  allgemeinen 
Begriff  zu  bestimmen,  insofern  löst,  als  das  bleibende  Einzelding  den  Gattungs- 
begrifffür alle  seine  besonderen  in  der  Walirnehmung  sich  zeigenden  Erscheinungs- 
weisen bildet. 

Aber  die  sokratisch- platonische  Ansicht  von  der  Aufgabe  der  Wissenschaft 
brachte  es  nun  doch  mit  sich,  dass  Aristoteles  daneben  noch  wieder  das  Wesen 
des  Einzeldinges  als  dasjenige  bestimmte,  wodurch  dasselbe  seiner  Gattung  zu- 
gehört. Wenn  die  Substanz  iliren  wahrnehmbaren  Erscheinungen  und  Bestim- 
mungen gegenüber  das  Allgemeine  darstellt,  so  ist  andrerseits  die  Gattung  (^ivoc 
oder  wieder  platonisch  etSoc)  das  Allgemeine,  welches  sich  in  den  einzelnen  Sub- 
stanzen verwirklicht.  Auch  hier  wiederholt  sich  dasselbe  Yerhältniss:  die  Gattung 
_      .  _  » 

1)  Met.  XIV  2,  1089  b  23.  —  2)  Analyt.  post.  I  22,  83  a  24. 


§13.  System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.)  Hl 

besteht  nur,  insofern  sie  sich  in  den  einzelnen  Dingen  als  deren  wahrhaft  seien- 
des Wesen  verwirklicht,  und  das  einzelne  Ding  besteht  nur,  indem  in  ihm  die 
Gattung  zur  Erscheinung  kommt.  Eben  deshalb  haben  aber  auch  die  Gattungen 
den  Anspruch  auf  die  metaphysische  ßedeutung,  Wesenheiten  (o&alai)  zu  sein. 
Hierdurch  erhält  der  Begriff  der  Substanz  bei  Aristoteles  eine  eigenthümlich 
schillernde  Doppelbedeutung.  Die  eigentlichen  Substanzen  sind  die  begrifflich  be- 
stimmten Einzeldinge;  aber  eine  zweite  Art  von  Substanzen  (Seotepai  oüauxi') 
sind  die  Gattungen,  welche  das  Wesen  der  Einzeldinge  ebenso  ausmachen,  wiediese 
das  Wesen  der  wahrnehmbaren  Erscheinungen. 

Ist  nun  so  die  wissenschafthche  Erkenntniss  theils  auf  den  Begriff  des  Ein- 
zeldinges,  theils  auf  den  Gattungsbegriff  gerichtet,  so  findet  sich  in  den  Erschei- 
nungen, worin  der  eine  und  gar  der  andere  sich  verwirklicht,  zwar  Manches,  was 
als  direct  dem  Begriffe  zukommend  (au(iß6ßY]xöta  im  engeren  Sinne)  aus  demselben 
abgeleitet  werden  kann,  Manches  aber  auch,  was,  dem  Begriffe  fremd,  nur  neben- 
sächlich an  ihm  als  Folge  der  Materie,  worin  er  sich  realisirt,  im  Besonderen 
erscheint,  und  von  diesem  begrifiiich  Gleichgiltigen  oder  „Zufälligen"  (oofji- 
ßsßijxÖTa  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes)  giebt  es  den  Voraussetzungen  der 
aristotelischen  Lehre  nach  keine  „Theorie",  keine  wissenschafthche  Erkenntniss. 
Daher  hat  auch  Aristoteles  —  und  hierin  liegt  eine  charakteristische  Grenze  der 
antiken  Naturforschung  —  auf  eine  wissenschaftliche  Einsicht  in  die  gesetzliche 
Nothwendigkeit,  mit  der  auch  das  Einzelste,  Besonderste  aus  dem  Allgemeinen 
folgt,  sogar  principiell  verzichtet,  dies  vielmehr  fiir  ein  realiter  Zufalliges,  Be- 
griffloses erklärt  und  die  wissenschaftliche  Betrachtung  auf  dasjenige  beschränkt, 
was  allgemein  (xad-'  oXod)  oder  wenigstens  meist  (itd  tö  noki)  gilt. 

4.  Wenn  hierin  entschieden  ein  Festhalten  an  der  Tradition  der  Ideenlehre 
zu  sehen  ist,  so  zeigt  sich  dasselbe  auch  in  der  anderen  Richtung.  Wird  nämlich 
das  Verhältniss  von  Stoff  und  Form  zwischen  verschiedenen  Dingen  oder  Ding- 
gattungen statuirt,  von  denen  jedes  an  sich  schon  als  geformter  Stoff  wirkUch  ist, 
so  wird  dies  Verhältniss  insofern  relativ,  als  Dasselbe,  was  dem  Niederen  gegen- 
über als  Form  zu  betrachten  ist,  dem  Höheren  gegenüber  als  Stoff  erscheint.  In 
dieser  Hinsicht  wird  der  Begriff  der  Entwicklung  zum  Princip  einer  metaphy-- 
sischen  Werthordnung  der  Dinge,  welche  in  ununterbrochener  Reihenfolge 
von  den  niedersten  Gestaltungen  der  Materie  bis  zu  den  höchsten  Formen  auf- 
steigen. In  dieser  Stufenleiter  wird  jeder  Dinggattung  ihre  metaphysische  Dignität 
dadurch  angewiesen,  dass  sie  als  die  Form  der  niederen  und  als  der  Stoff  der 
höheren  betrachtet  wird. 

Dies  Systemder  Einzeldinge  und  ihrer  Gattungen  hat  aber  sowohl  eine  untere, 
als  auch  eine  obere  Grenze,  —  jene  in  der  blossen  Materie,  diese  dagegen  in  der 
reinen  Form.  Die  vöUig  ungeformte  Materie  freilich  (xpwtT)  oXt))  ist  an  sich,  als 
blosse  MögUchkeit,  nicht  wirklich,  sie  existirt  nirgends  ohne  schon  irgendwie  als 
Form  verwirkhcht  zu  sein.  Aber  sie  ist  doch  nicht  nur  das  Nicht-seiende  (das 
platonische  [xy]  Sv  oder  der  leere  Baum),  sondern  die  durch  reale  Wirkungen  sich 
bethätigende  Mitursache  (tö  od  o&x  Svsd).  Ihre  Realität  erweist  sich  aber  darin, 
dass  die  Formen  sich  in  den  einzelnen  Dingen  nicht  vollständig  realisiren,  dass 

1)  So  heissen  aie  wenigstens  in  der  Schrift  über  die  Kategorien,  deren  Echtheit  freilich 
nicht  ganz  unangefochten  ist :  doch  heg^  die  Bezeichnung  ganz  in  der  Hichtung  von  Aristoteles' 
gesammter  Lehre. 


112  I-  Philosophie  der  Griechen.   3.  Systematische  Periode. 

aus  ihr  Nebenwirkungen  (irapa^f  i>dc)  hervorgehen^  welche  mit  der  zweckthätigen 
Form  ohne  Zusammenhang  oder  im  Widerspruche  sind.  Aus  der  Materie  also 
erklärt  es  sich^  dass  die  Formen  sich  nur  nach  Möglichkeit  (xata  xb  Suvatöv) 
reaUsiren:  aus  ihr  stammt  das  begrifflich  nicht  Bestimmte  (aofißsßifpcöc)  oder  das 
Zufallige  (aütöfiarov),  das  Gesetz-  und  Zwecklose  in  der  Natur.  Daher  unter- 
scheidet die  aristotelische  Lehre  (wie  Piaton  im  Philebos)  in  der  Naturerklärung 
zwischen  den  Zweckursachen  (t6  oo  evsxa)  und  den  mechanischenUrsachen 
(tö  s4  avdYXTjc):  jene  sind  die  Formen,  welche  sich  im  Stoflf  reahsiren,  diese  be- 
ruhen in  dem  Stoff,  aus  welchem  Nebenwirkungen  und  Gegenwirkungen  hervor- 
gehen. So  wird  das  Weltgeschehen  bei  Aristoteles  in  letzter  Instanz  unter  der 
Analogie  des  bildenden  Künstlers  betrachtet,  der  für  die  Verwirklichung 
seines  gestaltenden  Gedankens  in  dem  spröden  Material  eine  Grenze  findet.  Zwar 
ist  dies  Material  der  Idee  soweit  verwandt,  dass  sie  wenigstens  im  Allgemeinen 
sich  darin  darstellen  kann ;  aber  es  ist  doch  insofern  ein  Fremdes  und  dabei 
Selbständiges,  dass  es  der  Itealisirung  der  Formen  zum  Tbeil  als  hemmendes 
P r i n c i p  entgegensteht.  Diesen  Dualismus  zwischen  der  Z weci^thätigkeit der 
Form  und  dem  Widerstände  der  Materie  hat  die  antike  Philosophie  nicht  über- 
schritten: sie  verband  mit  der  Forderung  der  teleologischen  Weltbetrachtung 
die  naive  Ehrlichkeit  der  Erfahrung  von  der  zwecklosen  und  zweckvridrigen  Noth- 
wendigkeit,  die  sich  in  den  Erscheinungen  der  Wirklichkeit  geltend  macht. 

5.  Dagegen  versteht  es  sich  andrerseits  bei  der  reinen  Form,  da  mit  dem 
Begriffe  derselben  unmittelbar  derjenige  wahrer  Wirklichkeit  verbunden  ist,  ■  von 
selbst,  dass  sie,  ohne  irgend  welcher  Materie  zu  bedürfei),  an  sich  die  höchste  Wirk- 
lichkeit besitzt.  Die  Annahme  einer  solchen  reinen  Form  ist  aber  nach  dem 
Systeme  des  Aristoteles  deshalb  nothweudig,  weil  die  Materie,  als  das  bloss 
Mögliche,  in  sich  allein  kein  Princip  der  Bewegung  oder  des  Geschehens  besitzt. 
Zwar  kann  in  dem  System  der  Entwicklung,  welches  sich  um  den  Begriff  des  sich 
selbst  verwirklichenden  Wesens  concentrirt,  nicht  von  einem  zeitlichen  Anfange 
der  Bewegung  gesprochen  werden,  da,  vielmehr  die  Bewegung  so  ewig  wie 
das  Sein  selbst  sein  muss^  zu  dessen  wesentlichen  Merkmalen  sie  gehört:  aber 
es  muss  doch  dasjenige  im  Sein  aufgezeigt  werden,  was  Ursache  der  Bewegu^g  ist. 
Dies  ist  aber  überall  die  Einwirkung  der  Form  auf  den  Stoff,  worin  Aristoteles  Jün- 
sichtUch  der  Einzeldinge  zwei  Momente  unterscheidet :  einen  Trieb  des  Stoffes, 
geformt  zu  werden,  und  die  von  der  Form  selbst  ausgehende  zweckmässige  Be- 
wegung. Insofern  aber  die  Form  selbst  bewegt  ist,  muss  sie  wieder  als  Stoff  für 
eine  höhere  Form  angesehen  werden:  und,  da  von  der  letzteren  dasselbe  u.  s.  f. 
gilt,  so  wäre  die  Bewegung  nicht  begriffen,  wenn  nicht  die  Kette  der  Bewegungs- 
ursachen ein  Anfangsglied  in  der  reinen  Form  hätte,  welche  selbst  nicht  mehr 
bewegt  ist.  Das  Erste  Bewegende  (Tcpoitov  xivoöv)  ist  selbst  ui)bewegt.  Bej 
seiner  Einwirkung  auf  den  Stoff  kommt  daher  nur  das  erste  jener  beiden  Momente 
in  Betracht:  es  wirkt  nicht  durch  eigene  Thätigkeit,  sondern  dadurch,  dass  seine 
absolute  Wirklichkeit  in  dem  Stoff  den  Trieb  erregt,  sich  nach  ihm  zu  formen,  — 
nicht  als  mechanische,  sondern  als  reine  Zweckursache  (xivsi  &<;  spcbfisvGv, 
00  xtvo6[isvov). 

Das  Erste  Bewegende  oder  die  reine  Form  bedeutet  also  in  der  aristote- 
lischen Metaphysik  ganz  dasselbe,  wie  die  Idee  des  Guten  in  der  platonischen, 
und  für  sie  allein  nimmt  Aristoteles  aJle  Prädicate  der  platonischen  Idee  in  An: 


§  13.  System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.)  113 

Spruch:  sie  ist  ewig,  unveränderlich,  unbeweglich,  ganz  für  sich,  getrennt  (^(opiatöv) 
von  allem  Uebrigen,  unkörperlich  —  und  dabei  doch  die  Ursache  alles  Geschehens. 
Sie  ist  das  vollkommene  Sein  (iydp76ta),  in  dem  alle  Möglichkeit  zugleich  Wirk- 
lichkeit ist,  von  allem  Seienden  das  höchste  {xb  ri  'ijv  slvot  t6  ^rpö^tov)  und  beste, 
—  die  Gottheit '). 

Das  so  seinen  Beziehungen  nach  bestimmte  höchste  Wesen  wird  aber  von 
Aristoteles  auch  seinem  Inhalte  nach  charakterisirt:  eine  solche,  auf  keine  Mög- 
lichkeit bezogene,  rein  in  sich  selbst  ruhende  Thätigkeit  (actus  purus)  ist  nur  das 
Denken:  freilich  nicht  das  auf  die  einzelnen  Dinge  und  ihre  veränderlichen  Er- 
scheinungen gerichtete  Vorstellen,  sondern  das  mit  sich  selbst  und  seinem  ewigen 
Wesen  beschäftigte  reine  Denken,  dasjenige  Denken,  welches  nichts  Anderes 
als  Gegenstand  voraussetzt,  sondern  sich  selbst  zum  immer  gleichen  Inhalt  hat, 
das  Denken  des  Denkens  (yörpuz  voi^aeax;),  —  das  Selbstbewusstsein. 

Diesen  BegrifGsbestimmungen  wohnt  eine  gewaltige  weltgeschichtliche  Be- 
deutung inne.  Einerseits  ist  damit  der  Monotheismus  begrifiQich  formulirt  und 
wissenschaftlich  begründet,  andrerseits  ist  er  aus  der  pantheistischen  Form,  die 
er  bei  Xenophanes  und  auch  noch  bei  Piaton  hatte,  in  die  theistische  Form 
übergegangen,  indem  Gott  als  ein  von  der  Welt  verschiedenes,  selbstbewusstes 
Wesen  aufgefasst  wird.  Neben  dieser  Transscendenz  aber  involvirt  die  Lehre, 
dass  Gott  der  absolute  Geist  sei,  zugleich  den  metaphysischen  Fortschritt, 
dass  das  Immaterielle,  das  unkörperhche  reine  Sein,  mit  dem  Geistigen 
gleichgesetzt  wird.  Der  Monotheismus  des  Geistes  ist  die  reife  Frucht 
der  griechischen  Wissenschaft.   . 

Dabei  ist  die  AufEsissung  dieser  göttlichen  Geistigkeit  rein  intellectualistisch : 
ihr  Wesen  ist  lediglich  das  auf  sich  selbst  gerichtete  Denken.  Alles  Thun,  alles 
Wollen  ist  auf  ein  von  dem  Thuenden,  dem  Wollenden  verschiedenes  Object  als 
auf  seine  Materie  gerichtet. .  Der  göttUche  Geist  als  die  reine  Form  bedarf  keines 
Gegenstandes,  er  genügt  sich  selbst,  und  sein  Wissen  von  sich  selbst  (d-scopEa), 
das  auch  kein  anderes  Ziel  hat  als  sich  selbst,  ist  seine  ewige  Seligkeit.  Er  wirkt 
auf  die  Welt  nicht  durch  seine  Bewegung  oder  Thätigkeit,  sondern  durch  ihre 
Sehnsucht  nach  ihm:  die  Welt,  und  was  in  ihr  geschieht,  stammt  aus  der  Sehn- 
sucht der  Materie  nach  Gott. 

6.  Die  Materie  (das  nur  Mögliche)  ist  das,  was  bewegt  wird,  ohne  selbst 
zu  bewegen;  Gott  (das  nur  WirkKche)  ist  das,  was  nur  bewegt,  ohne  selbst  be- 
wegt zu  werden:  zwischen  beiden  hegt  die  ganze  Reihe  der  Dinge,  welche  Be- 
wegung sowohl  erleiden  als  auch  hervorrufen,  und  deren  Gesammtheit  bezeichnet 
Aristoteles  als  Natur  (9&0K;;  nach  jetzigem  Sprachgebrauch  also  =  Welt).  Sie 
ist  somit  der  einheitliche  Lebenszusammenhang,  in  welchem  sich  die 
Materie  durch  die  Fülle  ihrer  Gestalten  hindurch,  von  Form  zu  Form  höher 
sich  entwickelnd,  dem  ruhenden  Sein  der  Gottheit  nähert  und  dasselbe,  nach- 
bildend, nach  Möglichkeit  in  sich  aufnimmt. 


1)  Die  Darstellung  dieses  Ghedankenj^fanges,  dem  wesentlich  der  spater  sog.  kosmo- 
logische  Beweis  für  das  Dasein  G-ottes  entsprangen  ist,  findet  sich  hauptsächlich  im 
12.  Buche  der  Metaphysik.  In  seinen  populären  Dialogen  hat  ihn  schon  Aristoteles  mit  Werth- 
bestimmungen  verquickt,  indem  er  ihm  die  Form  gab,  dass  der  Unterschied  zwischen  UnvoU- 
kommnerem  und  Vollkommnerem,  den  die  firfahrungsdinge  zeigen,  die  Realität  eines  YolI> 
kommensten  voraussetze:  vgl.  Schol.  in  Arist.  487a  6. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  3 


114  I*  Philosopbie  der  Gkiechen.  3.  Systematische  Periode. 

Dabei  zeigt  nun  aber  die  Stufenleiter  der  Dinge,  in  deren  Darstellung 
die  aristotelische  Naturphilosophie  besteht,  einem  zwiefachen  Massstab  der 
Werthbeurtheüungy  und  sie  entwickelt  sich  deshalb  auch  in  zwei  von  einander 
verschiedenen  Reihen,  die  nur  am  Schluss  eine  zwar  den  Grundbegriffen  des 
Systems  nach  consequente,  aber  sachlich  dennoch  überraschende  Vereinigung 
finden. 

Im  Begriffe  der  Gottheit  begegnen  sich  nach  Aristoteles  als  Hauptmerk- 
male  diejenigen  des  in  sich  ruhenden  und  sich  gleichbleibenden  Seins  (atStov)  und 
der  Geistigkeit  oder  Vemünftigkeit  (voöc).  Daher  nehmen  die  einzelnen  „Formen" 
der  Natur  einen  um  so  höheren  Rang  ein,  je  mehr  sie  einerseits  die  eine,  andrer- 
seits die  andere  dieser  höchst^i  Werthbestimmungen  erfüllen.  In  der  einen 
Richtung  steigt  die  Reihe  der  Erscheinungen  von  dem  ungeordneten  Wechsel 
des  terrestrischen  Geschehens  bis  zu  dem  immer  gleichmässigen  Umschwung  der 
Gestirne  auf;  in  der  anderen  Richtung  werden  wir  von  der  bloss  mechanischen 
Ortsveränderung  bis  zu  den  Thätigkeiten  der  Seele  und  ihrer  werthvollsten  Ent- 
wicklung, der  vernünftigen  Erkenntniss,  geführt:  und  beide  Reihen  haben  nur 
denselben  Endpunkt  insofern,  als  die  in  gleichmässigster  Bewegung  befind- 
lichen Gestirne  als  die  höchsten  InteUigenzen,  die  vemunftvollsten  Geister  auf- 
gefasst  werden. 

7.  In  ersterer  Beziehung  hat  Aristoteles  sich  den  altpjthagoreischen Gegen- 
satz der  irdischen  und  der  himmlischen  Welt,  unter  Aufnahme  der  astronomischen 
Ansichten  Platon's,  zu  eigen  gemacht,  und  dem  siegreichen  Einflüsse  seiner  Philo- 
sophie ist  es  zuzuschreiben,  dass  die  reiferen  Vorstellungen  der  späteren  Pytha- 
goreer  trotz  ihrer  Anerkennung  durch  astronomische'  Gelehrte  der  Folgezeit  im 
Alterthum  nicht  durchgedrungen  sind.  Wie  das  ganze  Weltall  die  vollkommenste, 
überall  gleiche  Gestalt,  diejenige  der  Kugel  hat,  so  ist  auch  unter  allen  Bewe- 
gungen die  vollkommenste  die  in  sich  zurücklaufende  Kreisbewegung.  Diese 
gebührt  dem  Aether,  dem  himmlischen  Element,  aus  welchem  die  Gestirne 
und  die  durchsichtigen  Kugelschalen  gebildet  sind,  in  denen  sich  jene  mit  ewig 
unverändertem  Gleichmasse  bewegen :  zu  äusserst  und  in  absoluter  Unveränder- 
Uchkeit,  die  dem  göttiüchen  Sein  am  nächsten  kommt,  derFixstemhimmel,  darunter 
die  Planeten,  die  Sonne  und  der  Mond,  deren  scheinbare  Abweichung  von  der 
Kreisbewegung  durch  eine  complicirte  Theorie  von  in  einander  geschachtelten 
Kugelschalen  erklärt  wurde,  welche  der  der  Akademie  nalie  stehende  Astronom 
Eudoxos  und  sein  Schüler  KaUippos  aufgestellt  hatten  ^).  Die  Gestirne  selbst 
aber  galten  dem  Aristoteles  als  Wesen  von  übermenschlicher  Intelligenz,  als  ver- 
körperte Gottheiten,  sie  erschienen  ihm  als  die  reineren,  der  Gottheit  ähnlicheren 
Formen,  von  denen  ein  zweckvoll  vernünftiger  Einfluss  auf  die  niedere  Welt  des 
Erdenlebens  ausgehe:  dieser  Gedanke  ist  die  Wurzel  der  mittelalterlichen  Astro- 
logie geworden. 


1)  ScHiAPARELLi,  Le  sfere  omocentriche  diEudosso,  Gallippo  ed  Ari8totele(MiIano  1876). 
Vgl.  auch  0.  Gruppe,  Die  kosmiBcben  Systeme  der  Griechen  (Berlin  1851)«  Als  methodo- 
logischer Grundsatz  ist  für  die  Aufstellung  dieser  Fragen  aus  der  älteren  Akademie  die  für  die 
mathematisch-metaphysische  Voraussetzung  der  speculativen  Naturerklärung  typische  Bestim- 
mung erhalten:  die  gleichmässig  geordneten  Bewegungen  der  Gestirne  ausfindig  zu  machen, 
durch  welche  die  scheinbaren  Bewegungen  derselben  erklärt  werden  (SiaaduCstv);  Simpl.  in 
Arist.  de  coelo  (Karst.)  110. 


§  13.  System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.)  115 

Die  niederen  Formen  des  terrestrischen  Daseins  sind  dagegen  die  vier 
Elemente  (des  Empedokles)^  welche  durch  die  Tendenz  geradliniger  Bewe- 
gung charakterisirt  sind.  Die  geradlinige  Bewegung  aber  involvirt  sogleich  den 
Gegensatz  zweier  Richtungen^  der  centrifugalen^  welche  dem  Feuer,  und  der 
centripetalen^  welche  der  Erde  zukommen  soll:  geringer  sei  die  erstere  der  Luft, 
die  letztere  deroTVasser  beigegeben^  und  so  fuge  sich  die  im  Ganzen  ruhende  INIittel- 
masse,  unsere  Erde,  derart  zusammen;  dass  um  das  Erdige  sich  zunächst  Wasser 
und  dann  Luft  anlagere,  während  das  Feuer  der  hinmüischen  Aussenwelt  zustrebe. 
Die  wechselnden  Verbindungen  aber,  welche  die  vier  Elemente  eingehen, 
machen  das  Unvollkommene,  Begrifflose,  Zufällige  der  irdischen  Welt  aus: 
hier  ist  die  Neben-  und  Gegenwirkung  der  Materie  stärker  als  in  der  himmUschen 
Region,  wo  die  mathematische  Bestimmtheit  der  ungestörten  Kreisbewegung 
sich  verwirklicht. 

8.  In  den  Veränderungen  der  irdischen  Welt  aber  bauen  sich  zunächst 
mechanisches,  chemisches  und  organisches  Geschehen  so  über  einander 
aof,  dass  das  höhere  immer  die  niederen  als  seine  Bedingungen  voraussetzt.  Ohne 
Ortsveränderung  (yopa  oder  xCvYjoig  im  engsten  Sinne)  ist  die  Eigenschaftsver- 
wandlung (oXXotiooic)  und  ohne  beide  die  organische  Verwandlung,  die  im  Wachs- 
thum  und  in  der  Kückbildung  (oS^Yjatc  —  f^oi<;)  besteht ,  nicht  mögUch.  Die 
höhere  Form  aber  ist  niemals  nur  ein  Product  der  niederen,  sondern  etwas  Selb- 
ständiges, wodurch  jene  nur  in  zweckmässiger  Weise  verwendet  werden. 

Hieraus  entwickelt  sich  ein  wichtiger  principieller  Gegensatz  des  Aristoteles 
gegen  Demokrit,  den  er  in  Bezug  auf  naturwissenschaftUche  Einzelforschung 
sehr  hoch  geachtet  und  viel,  auch  mit  ausdrücklicher  Erwähnung,  benutzt  hat. 
Aristoteles ')  protestirt  gegen  den  schUessUch  ja  auch  von  Piaton  acceptirten 
Versuch  einer  Zurückfährung  aller  qualitativen  auf  quantitative  Bestimmungen, 
er  bestreitet  die  erkenntnisstheoretisch -metaphysische  Gegenüberstellung  von 
secundären  und  primären  QuaUtäten;  er  erkennt  den  ersteren  keine  geringere, 
sondern  eher  eine  höhere  Realität  als  den  letzteren  zu,  und  in  der  Reihenfolge 
der  ;,Fonnen^  ist  ihm  die  innere  begriffliche  Bestimmung  offenbar  werthvoller,  als 
die  äussere;  mathematisch  ausdrückbare  ^).  Der  Versuch  Demokrit^s,  ftir  die 
Welterklärung  die  Reduction  aller  quaUtativen  auf  quantitative  Unterschiede  zum 
Princip  zu  erheben,  hat  an  Aristoteles  und  seiner  Lehre  von  den  „Entelechien^, 
den  inneren  Formen  der  Dinge,  seinen  siegreichen  Gegner  gefunden.  Der  scharfe 
Logiker  hat  eingesehen,  dass  es  niemals  möglich  ist,  die  Qualitäten  aus  Quan- 
titätsverhältnissen analytisch  zu  entwickeln,  sondern  dass  die  Qualität  (von  welchem 
Sinn  sie  auch  wahrgenommen  werden  möge)  ein  Neues  ist,  das  die  gesammten 
Quantitätsbeziehungen  nur  als  Veranlassung  voraussetzt. 

9.  Ganz  dasselbe  gilt  denn  auch  folgerichtig  bei  Aristoteles  für  das  Ver- 
haltniss  der  seehschen  zu  den  leiblichen  Thätigkeiten :  diese  sind  nur  die  Materie, 
zu  der  jene  die  Formen  bieten.  Von  solcher  Abhängigkeit  der  psychischen  von  kör- 
perlichen Functionen,  wie  sie  nach  dem  Vorgang  der  älteren  Metaphysik  Demokrit 
imd  zum  Theil  (im  Timaeus)  auch  noch  Piaton  gelehrt  hatten,  ist  bei  Aristoteles 


1)  Vgl.  besonders  das  dritte  Buch  der  Schrift  De  coelo.  —  2)  Aristoteles  charakterisirt 
deshalb  auch  die  Elemente  nicht  nar  durch  die  verschiedene  Tendenz  der  Bewegung,  sondern 
snch  durch  ursprüngliche  Qualitäten,  und  er  entwickelt  sie  aus  einer  Ereuzuuf^  der  (Gegensatz- 
paare  warm  und  kalt,  trocken  und  feucht.  Meteor.  IV  1,  378  b  11. 

8* 


116  I*  Philosophie  der  Griechen.  8.  SystematiBche  Periode. 

keine  Rede  mehr.  Ihm  ist  Tiehuehr  die  Seele  die  Entelechie  des  Leibes^ 
d.  h.  die  sich  in  den  Bewegungen  imd  Veränderungen  des  organischen  Körpers 
verwirklichende  Form.  Die  Seele  ist  die  zweckthätige  Ursache  der  leiblichen 
Gestaltung  und  Bewegung:  selbst  unkörperlich,  ist  sie  doch  nur  als  die  den  Körper 
bewegende  und  regierende  Kraft  wirklich. 

Aber  auch  das  Seelenleben  selbst  baut  sich  nach  Aristoteles  in  Schichten  auf, 
von  denen  jede  wieder  die  Materie  für  die  höhere  darstellt.  Die  nächste  Form 
des  organischen  Lebens  ist  die  vegetative  Seele  (^psirttxöv),  welche  die  mecha- 
nischen und  chemischen  Veränderungen  zu  den  zweckthätigen  Functionen  der 
Assimilation  und  der  Fortpflanzung  gestaltet.  Auf  diese  rein  physiologische 
Bedeutung  einer  Lebenskraft  beschränkt  sich  die  Seele  der  Pflanzen:  zu  ihr 
tritt  im  gesammten  Thierreich ')  die  animale  Seele  hinzu^  deren  constitutive 
Merkmale  räumUche  Selbstbewegung  (xivyjtixöv  raxa  törov)  und  Empfindung  (alo- 
^YjTtxöv)  sind. 

Die  zweckthätige  Eigenbewegung  des  thierischen  Leibes  geht  aus  dem  Be- 
gehren (Äpe&c)  hervor,  welches  in  der  Form  des  Erstrebens  oder  des  Verab- 
scheuens aus  den  G-efühlen  der  Lust  und  Unlust  entspringt.  Diese  aber  setzen 
überall  die  Vorstellung  ihres  Gegenstandes  voraus  und  sind  zugleich  mit 
der  Vorstellung,  dass  dieser  Gegenstand  erstrebens-  oder  verabscheuenswürdig 
sei,  verbunden.  Die  der  gesammten  griechischen  Psychologie  eigenthümliche  An- 
sicht von  der  Abhängigkeit  allen  Begehrens  vom  Vorstellen  ist  bei  Aristoteles 
so  stark,  dass  er  diese  Verhältnisse  sogar  ausdrücklich  nach  der  logischen  Function 
des  Urtheils  und  des  Schlusses  darstellte.  Auch  praktisch  giebt  es  Bejahung 
und  Verneinung'^),  giebt  es  die  Folgerung  von  einem  allgemeinen  Zweck  auf  eine 
besondere  Handlungsweise. 

Den  Heerd  des  ganzen  animalen  Vorstellungslebens  bildet  die  Empfin- 
dung. In  der  physiologischen  Psychologie,  welche  diese  behandelt*);  hat 
Aristoteles  in  umfassender  Weise  alle  die  einzelnen  Kenntnisse  und  Theorien 
benutzt,  welche  seine  Vorgänger,  namentlich  Demokrit,  darüber  besassen:  aber 
er  hat  die  gemeinsame  Unzulänglichkeit  aller  früheren  Lehren  dadurch  über- 
wunden, dass  er  der  Selbstthätigkeit  der  Seele  in  dem  Zustandekommen  der 
Wahrnehmung  eine  viel  grössere  Bedeutung  einräumte.  Nicht  zufrieden,  die  alte 
Theorie,  dass  die  Wahrnehmung  aus  einem  Zusammenwirken  des  Objects  und 
des  Subjects  bestehe,  zu  der  seinigen  zu  machen,  wies  er  auf  die  Einheitlich- 
keit des  Bewusstseins  ([tsoÖDfjc)  hin,  mit  der  die  animale  Seele  das  in  den 
einzelnen  Wahrnehmungen  der  einzelnen  Sinne  Gegebene  zu  Gesammtwahr- 
nehmungen  verknüpft  und  dabei  auch  die  Verhältnisse  der  Zahl,  Lage  und  Be- 
wegung erfasst.  So  muss  über  den  einzelnen  Sinnen  noch  der  Gemeinsinn 
(xoivöv  aiad'Tjnfjpiov)  angenommen  werden*),   der  dann  auch  vermöge  des  Um- 

1)  Die  Thiergeschichte  des  Aristoteles  (vgl.  J.  B.  Meter,  Berlin  1855)  behandelt  in 
musterhafter  Weise  und  mit  bewunderungswürdiger  Sorgfalt  der  Einzelforschung  neben  der 
Systematik  die  anatomischen,  physiologischen,  morphologischen  und  biologischen  Probleme. 
Das  parallele  Werk  über  die  Pflanzen  ist  zwar  verloren,  wird  aber  durch  dasjenige  seines 
Freundes  und  Schülers  Theophrast  ersetzt.  —  2)  Eth.  Nik.  VI  2,  1139a  21.  —  3)  Es  sind 
ausser  den  betreflenden  Abschnitten  der  Schrift  über  die  Seele  auch  die  kleineren  sich  daran 
schliessenden  Abhandlungen  zu  vergleichen:  über  Wahrnehmung,  über  Erinnerung,  über 
Sahlaf,  über  Träume  etc.  —  4)  In  Betreff  der  physiologischen  Localisation  fand  Aristoteles  — 
und  seine  Schule  bildete  diese  Lehre  noch  mehr  aus;  vgl.  H.  Sxebeck,  Zeitschrift  für  Völker- 
psychologie 1881,  p.  361  fl.  —  die  Seelenthätigkeit  an  £e  Lebenswärme  (s^cpuiov  dspfiiov)  ger 


§  18.   System  der  Entwicklung.  (Aristoteles.)  117 

Standes^  dass  in  ihm  die  Wahrnehmungen  als  Vorstellungen  (^vtaaiai)  erhalten 
bleiben,  der  Sitz  der  Erinnerung,  der  unwillkürlichen  (|ivii)|jl7])  und  der  willkür- 
lichen (avdiivyjoK;) ,  zugleich  aber  auch  der  Sitz  unseres  Wissens  von  unseren 
eigenen  Zuständen  ist^). 

10.  Vegetative  und  animale  Seele  bilden  aber  nun  im  Menschen  nur  die 
Materie  zur  Verwirklichung  der  ihm  eigenthtimlichen  Form:  der  Vernunft 
(voöc  —  Stavosio^at).  Durch  ihre  Einwirkung  wird  der  Trieb  (Spe&c)  zum  Willen 
(ßooXYjoi«)  und  die  Vorstellung  zur  Erkenntniss  (iTTtati^iiT)).  Sie  kommt  zu  allen 
den  seelischen  Thätigkeiten^  welche  sich  aus  der  Wahrnehmung  auch  bei  den 
Thieren  entwickeln,  als  ein  Neues  und  Höheres  („von  aussen",  O-opa^v)  hinzu, 
kann  sich  aber  wiederum  nur  an  und  in  denselben  verwirklichen.  Dies  Verhält- 
niss  drückte  Aristoteles  so  aus,  dass  er  die  reine  Vernunftthätigkeit  selbst  als  die 
thätige  Vernunft  (voö(;  tcoiyjtixöc),  dagegen  das  aus  dem  leibhchen  Dasein  ent- 
stammende, der  Vernunft  die  Möglichkeiten  und  Anlässe  gewährende  und  darauf- 
hin von  ihr  durcharbeitete  und  gestaltete  Material  der  Wahrnehmungen  als  die 
leidende  Vernunft  (voö^  wa^Tjtixög)  bezeichnete. 

Danach  bedeutet  die  „leidende"  Vernunft  die  in  der  Veranlagung  des  ein- 
zelnen Menschen  gegebene  und  durch  die  Anlässe  seiner  persönlichen  Erfahrung 
bestimmte  individuelle  Erscheinungsweise,  die  „thätige"  Vernunft  dagegen 
die  reine,  allen  Individuen  gemeinsame,  principielle  Einheitlichkeit  der  Vernunft. 
Diese  allein  ist,  wie  ungeworden,  so  auch  unvergänglich,  während  jene  mit  den 
Individuen,  an  denen  sie  zu  Tage  tritt,  vergänglich  ist.  Die  persönliche  Unsterb- 
lichkeit ist  durch  diese  Consequenz  ebenso  in  Frage  gestellt,  wie  im  platonischen 
Timaeus,  wo  sie  auch  nur  noch  für  den  „vernünftigen",  d.  h.  den  überall  gleichen, 
unpersönlichen  „Theil"  der  Seele  in  Anspruch  genommen  w^urde.  Es  ist  klar, 
dass  es  sich  hier  nicht  mehr  um  empirische  Psychologie  handelt,  sondern  um 
solche  Lehren,  welche  aus  dem  systematischen  Zusammenhange  der  ganzen  Lehre 
heraus  in  Folge  von  ethischen  und  erkenntnisstheoretischen  Postulaten  derselben 
aufgepfropft  werden. 

11.  Im  Begriffe  der  Vernunft  als  der  der  menschlichen  Seele  eigenthüm- 
lichen  Form  hat  nun  Aristoteles  die  Handhabe  zu  der  inhaltlichen  Lösung  des 
ethischen  Problems  gefunden,  die  auch  Piaton  noch  vergebens  gesucht  hatte. 
Das  Glück  des  Menschen  (säSaiiiovta),  das  auch  bei  ihm  als  höchster  Zweck  alles 
Strebens  (rdXoc),  betrachtet  wird,  ist  zwar  zum  Theil  von  dem  äusseren  Geschick 
abhängig;  es  ist  erst  da  vollkommen,  wo  auch  dies  seine  Güter  gewährt  hat;  aber 
die  Ethik  hat  qs  nur  mit  dem  zu  thun,  was  bei  uns  steht  (talf)'i^[jLiv),  nur  mit  dem 
Glück,  das  der  Mensch  durch  eigene  Thätigkeit  erwirbt  (Tcpaxtöv  a^aO^v),  Jedes 
Wesen  aber  wird  durch  die  Entfaltung  seiner  eigenen  Natur  und  der  ihm  eigen- 
thümlichen  Thätigkeit  glücklich,  der  Mensch  also  durch  die  V  e  r  n  u  n  f  t.  Die 
Tugend  des  Menschen  ist  somit  diejenige  Beschaffenheit  (S£t(;),  durch  welche  er 
zur  Ausübung  der  vernünftigen  Thätigkeit  befähigt  wird :  sie  entwickelt  sich  aus 


banden,  welche  als  beseelender  Hauch  (n  veuu.a)dem  Blute  beiffemischt  sei.  In  Folge  dessen  sah 
er  als  Sitz  des  Gemeinsinns  das  Herz  an  und  verdrängte  damit  die  bessere  Einsicht,  mit  der 
Alkmaion,  Diogenes  von  Apollonia,  Demokrit  und  Piaton  die  Bedeutung  des  Gehirns  erkannt 
hatten. 

1)  Dieser  Ansatz  zu  einer  Lehre  von  der  inneren  Wahrnehmung  findet  sich  Arist. 
de  an.  m  2,  425b  12. 


118  I.  Philosophie  der  Griechen.  3.  SysteinatiBche  Periode. 

den  Anlagen  seines  natürlichen  Wesens  und  hat  zu  ihrem  Erfolge  die  Befiriedigung, 
die  Lust. 

Wie  nun  in  der  animalischen  Seele  Trieb  und  Wahrnehmung  als  verschiedene 
Aeusserungen  zu  unterscheiden  waren,  so  entwickelt  sich  auch  die  Vernunft  theils 
als  vernünftiges  Handeln,  theils  als  vernünftiges  Denken,  als  Vollkommenheit 
einerseits  des  Gemüths('^d'oc),  andrerseits  desVorstellens  (ala^dvsa^ot  im  weitesten 
Sinne  des  Worts).  So  ergeben  sich  als  Tüchtigkeit  des  vernünftigen  Menschen 
die  ethischen  und  die  dianoetischen  Tugenden. 

12.  Die  ethischen  Tugenden  erwachsen  aus  derjenigen  Erziehung  des 
Willens,  durch  welche  derselbe  gewöhnt  wird,  der  rechten  Einsicht  (ypövnrjoic  — 
6p^(;  Xö^oc)  gemäss  zu  handeln:  sie  befähigen  den  Menschen,  der  praktischen 
Vernunft,  d.  h.  der  Einsicht  in  das  Richtige  bei  seiner  Entschliessung  zu  folgen. 
Mit  dieser  Lehre  geht  Aristoteles  —  mit  offenbarer  Rücksicht  auf  die  That- 
sachen  des  sittUchen  Lebens  —  über  die  Bestimmungen  des  Sokrates  hinaus; 
nicht  so  freilich,  dass  er  dem  Willen  eine  psychologische  Selbständigkeit  gegen- 
über der  Erkenntniss  zugesprochen  hätte,  sondern  so,  dass  er  die  Meinung  auf- 
gab, als  müsse  die  aus  der  vernünftigen  Einsicht  stammende  Willensbestimmung 
schon  von  selbst  stärker  sein  als  die  aus  mangelhafter  Erkenntniss  stammende 
Begierde.  Da  vielmehr  die  Erfahrung  oft  das  Umgekehrte  zeigt,  so  muss  der 
Mensch  durch  Uebung  diejenige  Selbstbeherrschung  (lY^pdtgta)  sich  erwerben, 
vermöge  deren  er  dem  vernünftig  Erkannten  unter  allen  Umständen,  auch  gegen 
die  stärkere  Begierde  folgt  ^). 

Gehört  so  zur  ethischen  Tugend  im  Allgemeinen  Anlage,  Einsicht  und 
Gewöhnung,  so  unterscheiden  sich  die  einzelnen  Tugenden  durch  die  verschiedenen 
Lebensverhältnisse,  auf  welche  sie  sich  beziehen.  Eine  systematische  Entwicklung 
derselben  hat  Aristoteles  nicht  gegeben,  wohl  aber  eine  umfassende  und  fein- 
sinnige Behandlung  der  einzelnen.  Das  allgemeine  Princip  ist  dabei  dies,  dass 
die  vernünftige  Einsicht  überall  die  rechte  Mitte  zwischen  den  unvernünftigen 
Extremen  findet,  zu  welchen  das  natürliche  Triebleben  führt.  So  ist  Tapferkeit 
die  rechte  Mitte  zwischen  Feigheit  und  Verwegenheit,  u.  s.  w.  Eine  besonders 
eingehende  Darstellung  hat  einerseits  die  Freundschaft^),  als  das  gemeinsame 
Streben  nach  allem  Guten  und  Schönen,  andrerseits  die  Gerechtigkeit  als  die 
Grundlage  des  politischen  Zusammenlebens  gefunden. 

13.  Denn  auch  Aristoteles  war  wie  Piaton  überzeugt,  dass  die  sittliche 
Tüchtigkeit  des  Menschen,  da  sie  ja  immer  auf  Thätigkeiten  sich  bezieht,  die  im 
gemeinsamen  Leben  von  Statten  gehen,  ihre  Vollendung  nur  im  gemeinsamen 
Leben  finden  kann  -,  auch  für  ihn  giebt  es  schUesslich  keine  vollkommene  SittUchkeit 
ausserhalb  des  Staates,  als  dessen  wesentlichen  Zweck  auch  Aristoteles  die  sitt- 
liche Bildung  der  Bürger  betrachtete.  Wie  sich  jedoch  bei  dem  einzelnen 
Menschen  die  Tugend  aus  der  natürlichen  Veranlagung  heraus  entwickeln  soll, 
so  behandelt  Aristoteles  auch  die  politischen  Verhältnisse  unter  dem  Gesichts- 
punkte, dass  die  historisch  gegebenen  Verhältnisse  zu  möglichster  Erfüllung  jenes 
höchsten  Zwecks  verarbeitet  werden  sollen. 


1)  In  der  Polemik  gegen  die  sokratische  Lehre,  welche  Aristoteles  in  diesem  Sinne  Eth. 
Nik.  lU  1 — 8  vorträgt,  entwickeln  sich  die  ersten  Ansätze  des  Freiheitsproblems.  —  2)  Im 
achten  Buch  der  Nikomachi sehen  Ethik. 


§18.  System  der  Entwicklang^.  (Aristoteles.)  119 

Jede  Verfassung  ist  recht,  wenn  die  Regierung  das  sittliche  Wohl  der 
Gremeinsamkeit  als  oberstes  Ziel  im  Auge  hat;  jede  ist  verfehlt,  wenn  das  nicht 
der  Fall  ist.  An  der  äusseren  Form,  welche  durch  die  Anzahl  der  Regierenden 
bestimmt  ist')^  hängt  also  die  Oüte  des  Staates  nicht:  Herrschaft  des  Einzelnen 
kann  als  Königthum  (ßaotXeia)  recht,  als  Despotie  (topawt^)  schlecht  —Herrschaft 
Weniger  kann  als  Aristokratie  der  Bildung  und  der  Gesinnung  gut,  als  Oligarchie 
der  Greburt  oder  des  Besitzes  schlecht  —  Herrschait  Aller  kann  als  gesetzmässig 
geordnete  Republik  (iroXitsia)  gut,  als  Pöbelanarchie  (S7]|jLoxpatia)  schlecht  sein. 
Mit  tiefem  politischen  Yerständniss  trägt  Aristoteles  in  diesen  Darstellungen  die 
firfahrungen  der  griechischen  Geschichte  zusammen  und  giebt  auf  Grund  der- 
selben auch  geschichtsphilosophisc^e  Andeutungen  über  die  Nothwendigkeit, 
mit  welcher  die  einzelnen  Yerfassungsformen  in  einander  übergehen  und  aus 
einander  sich  entwickeln. 

Nach  diesen  Voraussetzungen  ist  es  begreiflich,  dass  Aristoteles  nicht 
daran  denken  konnte,  in  der  Weise  Platon^s  die  Verfassung  eines  Idealstaates 
bis  in  das  £inzelne  hinein  zu  entwerfen:  er  begnügte  sich  mit  einer  kritischen 
Herrorhebung  deijenigen  Bestimmungen,  welche  in  den  einzelnen  Verfassungen 
für  die  Erfüllung  der  allgemeinen  Aufgabe  des  Staates  sich  als  förderlich  erweisen. 
Dabei  aber  schliesst  er  sich  der  platonischen  Forderung  einer  Verstaatlichung 
der  Erziehung  an:  das  sittliche  Gemeinwesen  hat  selbst  für  die  Heranbildung  der 
Elemente  seines  zukünftigen  Bestandes  Sorge  zu  tragen;  und  die  Aufgabe  der 
Erziehung  (bei  deren  Behandlung  das  Fragment  der  Politik  abbricht)  ist  es,  den 
Menschen  aus  seinem  rohen  Naturzustande  mit  Hilfe  der  edlen  Künste  zu  sitt- 
licher und  intellectueller  Bildung  heranzufuhren. 

14.  Zur  praktischen  Vemunftbethätigung  (XoYi^stixöv)  im  weiteren  Sinne 
des  Wortes  rechnete  Aristoteles  neben  dem  „Handeln^  (irpd^t^)  auch  das  „  Schafifen^ 
(xoutv):  doch  statuirte  er  andrerseits  zwischen  dieser  schöpferischen  Thätigkeit, 
die  sich  in  der  Kunst  darstellt,  und  dem  auf  die  Zwecke  des  täglichen  Lebens 
gerichteten  Thun  einen  so  grossen  Unterschied,  dass  er  gelegentlich  die  TVissen- 
schaft  von  der  Kunst,  die  poietische  Philosophie,  als  eine  dritte  selbständig  neben 
die  theoretische  und  die  praktische  stellte.  Von  dieser  poietischen  Philosophie 
ist  neben  der  Rhetorik  nur  unter  dem  Namen  der  Poetik  das  Bruchstück  einer 
Lfchre  von  der  Dichtkunst  erhalten ,  welche  zwar  von  Bestimmungen  über  das 
Wesen  der  Kunst  im  Allgemeinen  ausgeht^  von  ihrem  besonderen  Gegenstande 
aber  nur  noch  die  Grundzüge  einer  Theorie  der  Tragödie  darbietet.  Hierbei  treten 
so  eigenthümliche  Beziehungen  dieser  Wissenschaft  von  der  Kunst  zu  den  beiden 
anderen  Haupttheilen  der  Philosophie  hervor,  dass  in  der  That  die  Unterstellung 
anter  eine  von  beiden  schwierig  wird. 

Kunst  ist  nachahmende  Erzeugung^  und  die  Künste  unterscheiden  sich 
ebenso  durch  das,  was  sie  nachahmen,  wie  durch  das,  womit  sie  nachahmen.  Die 
Gegenstände  der  Dichtkunst  sind  Menschen  und  iln-e  Handlungen ;  ihre  Mittel 
sind  Rede,  Rhythmus  und  Harmonie.  Die  Tragödie  insbesondere  stellt  eine 
bedeutende  Handlung  in  unmittelbarer  Ausfuhrung  durch  redende  und  handelnde 
Personen  dar*). 

1 )  Ein  Gesichtspunkt,  den  schon  der  unter  Platon's  Namen  sehende  Dialog  Politikos 
bervoriiob,  während  Piaton  selbst  in  der  Republik  die  „schlechten*'  Verfassungen  aus  psycho- 
lofdichen  Analogien  einer  VorherrscbÄft  der  niederen  Seelentheile  construirte.  —  2)  Poet.  6, 
1419b  24. 


1 20  I-  Philosophie  der  Griechen.  3.  SyBiematische  Periode. 

Aber  der  Zweck  dieser  nachahmenden  Darstellung  ist  ein  ethischer:  die 
Affecte  des  Menschen,  insbesondere  bei  der  Tragödie  Furcht  und  Mitleid, 
sollen  derartig  erregt  werden,  dass  durch  ihre  Erregung  und  Steigerung  die 
Reinigung  der  Seele  (xdd^oic)  von  diesen  Affecten  herbeigeführt  wird. 

Ueber  die  für  die  spätere  Kunsttheorie  so  wichtig  gewordene  Lehre  von  der  Katharsis 
und  die  umfangreiche  Literatur  darüber  vgl.  A.  DöazNO,  Die  Kunstlehre  des  Aristoteles 
(Jena  1876). 

Die  Erreichung  dieses  Zweckes  aber  vollzieht  sich  so,  dass  in  der  künstleri- 
schen Darstellung  das  Einzelne  nicht  als  solches;  sondern  seinem  allgemeinen 
Wesen  nach  zur  Anschauung  gebracht  wird.  Aehnlich  wie  die  Wissenschaft  hat 
die  Kunst  das  Allgemeine  in  seiner  besonderen  Verwirklichung  zu  ihrem  G-egen- 
stände :  sie  bietet  eine  Art  von  Erkenntniss  und  mit  dieser  die  Lust,  die  der 
Erkenntniss  beiwohnt.  (Poet.  9,  1451b  5.) 

15.  Die  höchste  Vollkommenheit  seiner  Entwicklung  endUch  gewinnt  das 
vernünftige  Wesen  des  Menschen  in  der  Erkenntniss:  die  dianoetischen 
Tugenden  sind  die  höchsten  und  diejenigen,  welche  die  vollendete  Olückseligkeit 
herbeiführen.  Die  Thätigkeit  der  theoretischen  Vernunft  (iiciotTfjjiovixöv) 
ist  aber  auf  die  unmittelbare  Erfassung  jener  höchsten  Wahrheiten,  der  Begriffe 
und  Urtheile  gerichtet,  auf  welche  das  inductive  Suchen  der  wissenschafthchen 
Forschung  nur  hinfuhrt,  ohne  sie  beweisen  zu  können,  und  von  denen  alle  Ableitung 
ihren  Anfang  nehmen  muss  (vgl.  §  12,  4). 

Die  Erkenntniss  derselben  aber,  die  volle  EntMtung  der  „thätigen  Vernunft" 
im  Menschen,  bezeichnet  Aristoteles  abermals  als  ein  „Schauen"  (dea>p(a);  und 
mit  diesem  Schauen  der  höchsten  Wahrheit  gewinnt  eben  deshalb  der  Mensch 
Antheil  an  jenem  reinen  Denken,  worin  das  Wesen  der  Oottheit  besteht,  und 
damit  auch  an  dei:  ewigen  Seligkeit  des  göttlichen  Selbstbewusstseins.  Denn 
dies  „Schauen",  das  nur  um  seiner  selbst  willen  da  ist,  ohne  alle  Zwecke  des 
WoUens  und  Thuns,  diese  wunschlose  Versenkung  in  die  Anschauung  der  höchsten 
Wahrheit,  ist  das  Sehgste  und  Beste  von  Allem. 


131 


n.  Theü. 
Die  hellenistisch-römische  Philosophie. 

Hinsichtlich  der  allgemeinen  Literatar  gelten  für  diesen  Theil  dieselben  Werke,  welche 
am  Eingang  des  ersten  Theils  angeführt  worden  sind. 

Mit  der  Zeit  des  Aristoteles  trat  die  griechische  Cultur  aus  ihrer  nationalen 
Geschlossenheit  heraus  und  in  die  grosse  Gesammtbewegung  ein,  mit  der  die  das 
Mittehneer  umwohnenden  Völker  des  Alterthums  durch  Austausch  und  Ausgleich 
ihrer  Yorstellungeu  zu  einem  gemeinsamen  Gulturleben  zusammenschmolzen.  In 
den  hellenistischen  Staaten  der  Nachfolger  Alexander's  begann  dieser  Process 
durch  die  Vereinigung  griechischer  und  orientalischer  G^dankenmassen;  im 
römischen  Weltreich  hat  er  seine  äussere,  im  Ohristenthum  seine  innere  Vollendung 
gefunden:  Hellenismus,  Romanismus,  Christianismus  sind  die  Etappen,  in  denen 
sich  aus  dem  Alterthum  heraus  die  Weltcultur  der  Zukunft  entwickelt  hat. 

Das  geistig  bestimmende  Element  aber  in  dieser  Vereinigung  ist  die 
griechische  Wissenschaft  gewesen,  und  darin  besteht  ihre  welthistorische  Bedeu- 
tung. Sie  wurde,  wie  die  griechische  Kunst,  das  gemeinsame  Culturgut  des 
Alterthums,  an  sie  gliederten  sich  die  höchsten  inneren  Bewegungen  der  Völker 
Schritt  für  Schritt  an,  und  sie  wurde  die  gestaltende  Kraft  fiir  Alles,  was  als 
Sehnsucht  und  Trieb  in  der  Seele  der  Völker  lebte.  Mit  dem  Untergang  ihrer 
politischen  Selbständigkeit,  mit  dem  Aufgehen  in  die  Weltreiche  hat  die  griechische 
Nation  diese  Erfüllung  ihrer  Culturaufgabe  erkauft :  durch  ihre  Zerstreuung  über 
die  Welt  sind  die  Griechen  die  Lehrer  der  Welt  geworden. 

Bei  diesem  Eintritt  aber  in  neue  und  grössere  Verhältnisse  hat  die  grie- 
chische Wissenschaft  eine  Spaltung  der  verschiedenen  Elemente  erfahren,  welche 
in  ihr  vereinigt  waren.  Mit  dem  rein  theoretischen  Interesse,  aus  dem  sie  hervor- 
gegangen war  und  das  noch  in  der  Persönlichkeit  und  der  Lehre  des  Aristoteles 
einen  so  klaren  Ausdruck  gefunden  hatte,  war  in  ihr  mit  der  Zeit  das  praktische 
Interesse  verwachsen,  welches  in  der  Wissenschaft  die  Ueberzeugung  suchte,  die 
das  Leben  bestimmen  sollte.  In  Platon's  Philosophie  noch  war  beides  unab- 
trennbar mit  einander  verschmolzen.  Aber  diese  beiden  Tendenzen  der  Wissen- 
schaft gingen  nun  aus  einander. 

Das  wissenschaftliche  Denken,  das  in  der  aristotelischen  Logik  seine  Selbst- 
erkenntniss  gefunden  hatte,  war  zum  Bewusstsein  der  Grundbegriffe  gelangt,  mit 
denen  es  die  Fülle  der  Erscheinungen  verarbeiten  konnte.  Die  gegensätzlichen 
Hauptformen  der  Welterklärung  waren  in  den  grossen  Systemen  entwickelt 
worden,  und  damit  war  für  die  wissenschaftliche  Behandlung  des  Einzelnen  ein 
fester  Rahmen  geschaffen.  Je  erfolgreicher  die  griechische  Wissenschaft  bei  der 
unfangs  noch  so  geringen  Ausdehnung  des  einzelnen  Wissens  in  der  Entwick- 


122  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie. 

lang  der  Principien  gewesen  war^  um  so  mehr  trat  nun  eine  Erlahmung  zugleich 
des  metaphysischen  Interesses  und  der  metaphysischen  Kraft  ein. 

Demzufolge  aber  wandte  sich  die  theoretische  Tendenz  der  Wissenschaft 
dem  Einzelnen  zu,  und  der  wissenschaftliche  Grundcharakter  der  hellenistisch- 
römischen Zeit  ist  die  Gelehrsamkeit  und  die  Ausbildung  der  Special- 
wissenschaften. Der  einzelne  Mann  der  Wissenschaft  gewann  durch  seinen 
Eintritt  in  eine  der  grossen  Schulen  einen  festen  Kückhalt  der  Gesammtansicht 
und  ein  bestimmendes  Princip  für  die  Behandlung  der  besonderen  Fragen  und 
Gegenstände,  dieihninteressirten.  Und  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  allgemeinsten 
metaphysischen  Theorien  wurde  um  so  grösser,  je  mehr  sich  herausstellte,  dass 
eine  fruchtbare  Forschung  auf  den  einzelnen  Gebieten,  Erweiterung  des  that- 
sächhchen  Wissens  und  Verständniss  der  einzelnen  Zusammenhänge,  von  dem 
Streit  der  metaphysischen  Systeme  unabhängig  gemacht  werden  könne.  Die 
Sonderung  der  Probleme,  welche  vorbildhch  in  der  aristotelischen  Lehre  und 
Schule  sich  vollzogen  hatte,,  führte  nothwendig  zur  Specialisirung,  und  das  rein 
theoretische  Interesse  des  Wissens  um  seiner  selbst  willen  entfaltete  sich  während 
der  hellenistisch-römischen  Zeit  wesentlich  in  den  Einzelwissenschaften.  Die 
grossen  Gelehrten  des  späteren  Alterthimis  standen  zwar  in  loserem  Verhältniss 
zu  der  einen  oder  der  anderen  Schule,  zeigten  sich  aber  in  der  Metaphysik  immer 
indifferent.  So  kommt  es,  dass  während  dieser  Zeit  der  Ertrag  an  theoretischen 
Principien  der  Philosophie  äusserst  gering  gewesen  ist,  während  die  mathematische, 
die  naturwissenschaftliche,  die  grammatische,  die  philologische,  die  literatur- 
historische, die  geschichtliche  Forschung  reiche  und  umfängliche  Erfolge  zu  ver- 
zeichneT>  hatten.  Mit  der  grössten  Menge  derjenigen  Namen,  welche  als  „Philo- 
sophen^, sei  es  als  Schulhäupter,  sei  es  nur  als  MitgUeder  der  Schulen,  aufgezählt 
und  in  der  schematischen  Behandlung  der  „Geschichte  der  Philosophie"  fort- 
geführt werden,  verbinden  sich  nur  literargeschichtliche  Notizen,  dass  sie  dieses 
oder  jenes  Fach  besonders  bearbeitet  haben,  oder  die  für  die  Philosophie  schliess- 
lich ganz  gleichgiltige  persönliche  Nachricht,  dass  sie  sich  dieser  oder  jener  unter 
den  früheren  Lehren  angeschlossen  haben,  höchst  selten  aber  eigene  und  neue 
Begriffsbildungen.  In  theoretischer  Hinsicht  hat  diese  Zeit  die  alten  Probleme 
der  Griechen  hin  und  her  gewendet  und  sich  in  den  begrifflichen  Geleisen  bewegt, 
welche  sie  festgelegt  vorfand. 

Um  so  mächtiger  aber  entfaltete  sich  während  dieser  Jahrhunderte  theo- 
retischer Aneignung  und  Verarbeitung  die  praktische  Bedeutung  der 
Philosophie.  Das  Bedürfniss  nach  einer  wissenschaftlichen  Lehre  von  den 
Zwecken  des  Menschenlebens,  nach  einer  solchen  Weisheit,  welche  das  Glück  des 
Individuums  gewährleiste,  konnte  nur  gesteigert  werden,  als  der  ideale  Zusammen- 
hang des  griechischen  Lebens  zerfiel,  die  Volksreligion  immer  mehr  zu  einer 
äusserUchen  Tradition  herabsank,  das  zerbröckelnde,  seiner  Selbständigkeit 
beraubte  Staatsleben  keine  begeisterte  Hingabe  mehr  erweckte  und  das  Indivi- 
duum sich  innerlich  auf  sich  selbst  angewiesen  fühlte.  So  wurde  die  Lebens- 
weisheit zum  Grundproblera  der  nachgriechischen  Philosophie,  und  die  Veren- 
gerung der  philosophischen  Problemstellung,  welche  Sokrates  und  nach  ihm  die 
kynische  und  kyrenaische  Sophistik  begonnen  hatten,  ist  der  allgemeine  Charakter 
der  Folgezeit. 

Das  schliesst  nicht  aus,  dass  auch  in  ihr  sich  allgemeine  theoretische  Lehren 


U.  HelleDistisch-römiscbe  Philosophie.  123 

und  deren  scharf  verfochtene  Gegensätze  breit  machen:  aber  einerseits  finden  die- 
selben kein  ursprüngUches  Interesse  um  ihrer  selbst  willen,  und  werden  deshalb 
nur  in  den  Richtungen  ausgebildet,  welche  durch  den  Zweck  der  Lebensweisheit 
bestimmt  sind ;  andrerseits  fehlt  es  ihnen  an  Originalität,  sie  sind  durchweg  Ver- 
schiebungen der  älteren  Lehren^  bedingt  durch  den  praktischen  Grundgedanken. 
Selbst  so  umfassende  Systeme,  wie  das  stoische  und  das  neuplatonische,  arbeiten 
durchaus  nur  mit  den  Begriffen  der  griechischen  Philosophie,  um  eine  theoretische 
Grundlage  für  ihr  praktisches  Ideal  zu  gewinnen.  Der  Schlüssel  auch  zu  ihren 
theoretischen  Lehren  liegt  stets  in  der  praktischen  Grundüberzeugung,  und  inso- 
fern sind  sie  sämmtUch  charakteristische  Typen  der  Problemvermischung. 

Mit  diesem  Vorwalten  der  praktischen  Bedeutung  hängt  es  nun  aber  auch 
zusammen,  dass  die  Abhängigkeit  der  Philosophie  von  der  allgemeinen  Cultur- 
bewegung,  welche  mit  den  Sophisten  schon  in  die  stillen  Kreise  des  interesse- 
losen Forschens^ngebrochen  war,  in  der  hellenistisch-römischen  Zeit  zur  dauern- 
den Erscheinung  geworden  ist:  und  diese  zeigt  sich  am  entscheidendsten  in  der 
wechselnden  Stellung  dieser  Philosophie  zur  Religion. 

Die  Entwicklung,  welche  die  griecliische  Philosophie  genommen  hatte,  und 
der  immer  schärfer  ausgesprochene  Gegensatz,  in  welchen  sie  zur  Volksreligion 
gekommen  war,  brachte  es  mit  sich,  dass  die  Hauptaufgabe  der  Lebensweisheit, 
welche  die  nacharistotelische  Wissenschaft  suchte,  ein  Ersatz  des  religiösen 
Glaubens  war.  Die  gebildete  Welt,  welche  den  Halt  der  Religion  verloren 
hatte  und  auch  denjenigen  des  Staates  aufgeben  musste,  suchte  ihn  in  der  Philo- 
sophie. Daher  war  der  Gesichtspunkt  der  hellenistisch-römischen  Lebensweisheit 
zunächst  derjenige  individueller  Sittlichkeit,  und  die  Philosophie,  welche 
sich  damit  beschäftigt,  hat  somit  ein  durchweg  ethisch  es  Gepräge.  Am  schärfsten 
ist  der  Gegensatz  dieser  Individualethik  gegen  die  ReUgion  bei  den  Epikureern 
hervorgetreten :  aber  auch  bei  den  anderen  Schulen  haben  die  Lehren  von  der  Gott- 
heit ein  rein  ethisches  und  vielleicht  noch  theoretisches,  aber  kein  specifisch 
religiöses  Interesse. 

Diese  wesentlich  ethische  Entwicklung  der  Philosophie  hat  sich  noch  in 
Griechenland,  zumeist  sogar  in  Athen,  vollzogen,  welches  bei  aller  Ausbreitung 
der  griechischen  Bildung  nach  Ost  und  West  doch  noch  Jahrhunderte  lang  das 
Centrum  des  wissenschaftUchen  Lebens  bildete.  Bald  aber  erwuchsen,  zunächst 
namentlich  für  die  gelehrte  Einzelforschung,  in  den  grossen  Bibliotheken  und 
Museen  neue  Mittelpunkte,  in  Rhodos,  in  Pergamon,  in  Alexandria,  in  Tarsos, 
in  Rom,  später  in  Antiochia  und  Byzanz.  Von  diesen  ist  namentlich  Ale- 
X  a  n  d  r  i  a  wichtig  geworden,  wo  nicht  nur  die  verarbeitende  Gelehrsamkeit  eine 
so  typische  Ausbildung  erfuhr,  dass  diese  ganze  Zeitrichtung  danach  literar- 
historisch benannt  zu  werden  pflegt,  sondern  wo  auch  die  philosophische  Richtung 
der  Zeit  ihre  entscheidende  Veränderung  erfuhr. 

Denn  mit  der  Zeit  konnte  die  Philosophie  nicht  gleichgiltig  an  jenem  tiefen 
Gefühl  der  Unbefriedigung  vorübergehen,  welches  die  antike  Welt  mitten  in  allem 
Glanz  des  Römerreiches  ergriffen  hatte.  Dies  ungeheure  Reich  bot  den  Völkern, 
die  es  in  eine  mächtige  Einheit  zusammengeschweisst  hatte,  keinen  Ersatz  für 
den  Verlust  ihrer  nationalen  Selbständigkeit ;  es  gewährte  ihnen  weder  inneren 
Werth  noch  äusseres  Glück.  Der  Trank  des  Erdenlebens  war  den  alten  Völkern 
schal  geworden ,  und  sie  lechzten  nach  Religion.   Darum  tasteten  sie  nach  alU 


124  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie. 

den  verschiedeneDr  Culten  und  Beligonsübungen  hemm,  welche  die  einzehien 
Völker  mitgebracht  hatten^  nnd  die  Religionen  des  Orients  mischten  sich  mit 
denen  des  Ocddents. 

In  diese  Bewegung  wurde  die  Philosophie  um  so  mehr  hineingezogen,  je 
klarer  es  schliesslich  wurde,  dass  sie  auch  den  Gebildeten  durch  die  Aufstellung 
ihres  ethischen  Lebensideals  nicht  befriedigen,  ihm  das  versprochene  Glück  nicht 
gewähren  konnte.  So  strömte  denn  —  zuerst  in  Alexandrien  —  die  ganze  Fluth 
der  durcheinander  wogenden  religiösen  Yorstellungsmassen  in  die  Philosophie 
ein,  und  diese  suchte  nun  auf  wissenschaftlichem  Grunde  nicht  nur  eine  sittliche 
Ueberzeugung,  sondern  eine  Behgion  aufzubauen.  Sie  yerwendete  die  Begriffe 
der  griechischen  Wissenschaft,  um  die  religiösen  Vorstellungen  zu  klären  und  zu 
ordnen,  um  dem  Drange  des  reUgiösen  Gefühls  eine  ihm  genügende  Weltror- 
Stellung  zu  gewähren,  imd  so  schuf  sie  in  engerem  oder  loserem  Anschluss  an 
die  mit  einander  ringenden  Religionen  die  Systeme  der  religiösen  Meta- 
physik. 

Hiemach  sind  in  der  hellenistisch-römischen  Philosophie  zwei  Perioden  zu 
unterscheiden:  die  ethische  und  die  religiöse.  Als  die  Zeit,  in  welcher  die  eine 
allmählich  in  die  andere  übergeht,  ist  das  erste  Jahrhundert  vor  Chr.  G.  zu  be- 
zeichnen. 

1.  Kapitel.   Die  ethische  Periode. 

Dem  Zuge  der  Zeit,  welcher  die  Wissenschaft  theils  in  ethische  Philosophie, 
theils  in  gelehrte  Forschung  verzweigte,  folgten  schon  die  Schulen  der  beiden 
grossen  Meister  der  attischen  Philosophie:  die  akademische  und  die  peri- 
patetische.  Wenn  in  der  ersten,  mit  Aristoteles  gleichaltrigen  Generation  der 
Akademie  eine  pythagoreisirende  Metaphysik  vorgewaltet  hatte,  so  machte 
(vgl.  S.  77)  diese  schon  in  der  nächsten  Zeit  populärem  Moralisiren  Platz.  Im 
Lyceum  hielt  zwar  Theophrastos  und  nach  ihm  Straten  an  der  Ausbildung 
und  Umbildung  der  aristotelischen  Metaphysik  fest,  aber  wie  Theophrast  selbst, 
so  wendeten  sich  seine  Genossen,  ein  Dikaiarchos,  Aristoxenos  und  Andere 
literargeschichtlichen  und  naturwissenschaftlichen  Studien  zu.  Später  haben 
gerade  die  Peripatetiker  an  der  alexandrinischen  Gelehrsamkeit  einen  grossen 
Antheil  gehabt,  und  insbesondere  hat  die  Geschichte  der  Philosophie  an  ihnen 
die  fleissigsten  Bearbeiter  gefunden.  In  der  Philosophie  selbst  aber  spielten  sie 
nur  die  conservative  Rolle,  ihr  Schulsystem  gegen  denAnlauf  der  übrigen,  nament- 
lich auf  dem  ethischen  Gebiete,  zu  vertheidigen,  und  die  Neuausgabe  der  aristo te- 
Uschen  Werke  durch  Andronikos  gab  nur  erneuten  Anlass  zu  einem  eifrigen 
Reproduciren  der  Lehre :  Paraphrasen,  Commentare,  Excerpte,  Interpretationen 
bildeten  die  wesenüiche  Beschäftigung  der  späteren  Peripatetiker. 

Die  Wirkung  der  Akademie  und  des  Lyceums  wurde  aber  in  Athen  zu- 
nächst durch  die  beiden  neuen  Schulen  beeinträchtigt,  welche  gegen  Ende  des 
4.  Jahrhunderts  gegründet  wurden  und  ihren  grossen  Erfolg  dem  Umstände 
verdankten,  dass  sie  die  Richtung  der  Zeit  auf  praktische  Lebensweisheit  mit  der 
Deutlichkeit  und  Eindringlichkeit  der  Einseitigkeit  zum  Ausdruck  brachten:  die 
stoische  und  die  epikureische. 

Die  erstere  wurde  von  Zenon  von  Kition  (auf  Cypern)  in  der  Stoa  icoixEXy] 


1.  Ethische  Periode.  125 

erfechtet,  imd  hatte  bei  ihm  wie  beiseinemNachfoIger  Kleanthesnochmehr  Aehn- 
Ucfakeitmit  demKynismuS;  als  bei  dem  dritten  ScbulhauptChrysippoS;  welchem 
es  gelang^  die  Schule  in  mehr  wissenschaftliche  Bahnen  zu  lenken.  Epikuros 
dagegen  gründete  eine  Lebensgemeinschaft^  welche  das  hedonische  Princip  in  ver- 
feinerterund  vergeistigter  Form  zu  ihrem  Mittelpunkte  machte,  abernur  ein  geringes 
Mass  Ton  wissenschaftlicher  Lebensfähigkeit  entwickelte.  Während  ihr  gesellig 
ethisches  Princip,  wie  es  einmal  festgestellt  war,  und  die  damit  zusammenhangende 
Weltanschauung  durch  das  ganze  Alterthum  hindurch  und  besonders  auch  in 
der  römischen  Welt  fortgesetzt  zahlreiche  Anhänger  gewannen^  blieb  die  Schule 
wissenschaftlich;  und  zwar  in  den  Specialwissenschaften  ebenso  wie  in  der  Philo- 
sophie entschieden  unfruchtbarer^  als  die  übrigen:  eine  interessante  Darstellung 
hat  ihre  Lehre  durch  den  römischen  Dichter  Lucretius  gefunden. 

Diese  vier  Schulen  haben  Jahrhunderte  lang  in  Athen  neben  einander  be- 
standen und  sind  noch  in  der  Eaiserzeit;  als  dort  eine  Art  von  Universität  ge- 
schaffen wurde,  in  verschiedenen  Lehrstühlen  aufrechterhalten  worden;  doch 
lässt  sich  eine  Reihenfolge  der  Schulhäupter  nur  in  der  Akademie,  und  auch  da 
nur  mit  grossen  Lücken,  verfolgen,  während  die  Tradition  hinsichtlich  der  Stoa 
und  der  Epikureer  schon  mit  dem  1.  Jahrhundert  v.  Chr.  und  auch  hinsichtlich 
des  Lyceums  bald  darauf  abreisst. 

Zunächst  aber  haben  diese  vier  Schulen  im  3.  und  2.  Jahrhundert  v.  Chr. 
sich  gegenseitig  auf  das  Lebhafteste  bekämpft,  und  es  waren  hauptsächlich  die 
ethischen  und  nur  die  mit  diesen  zusammenhangenden  metaphysischen,  physischen 
und  logischen  Fragen,  in  denen  sie  einander  den  Rang  abzulaufen  suchten  ^). 

Neben  den  dogmatischen  Lehren  aber  ging  während  der  ganzen  Zeit  eine 
andere  Richtung  einher,  welche  ebenso  wie  die  stoische  und  die  epikureische 
Philosophie  aus  der  Sophistik  stammte:  der  Skepticismus.  Er  nahm  zwar 
nicht  die  Gestalt  einer  eigenen  Schulgenossenschaft  an,  fand  aber  gleichfalls  eine 
systematische  Zusammenfassung  und  eine  ethische  Zuspitzung.  Eine 
solche  zeitgemässe  Coucentration  der  negativen  Ergebnisse  der  Sophistik  vollzog 
Pyrrhon,  dessen  Lehren  von  Timon  dargesteUt  wurden.  Dieser  sophistische 
Skepticismus  hatte  den  Triumph,  eine  Zeit  lang  von  dem  Haine  Platon's  Besitz 
zu  ergreifen:  die  mittlere  Akademie  machte  ihn,  wenn  nicht  völlig  zu  ihrer 
Lehre,  so  doch  zu  ihrem  Kampfmittel  in  der  Bestreitung  des  Stoicismus  und  der 
Begründung  ihrer  eigenen  Moral.  Aus  dieser  Phase  der  Entwicklung  der  Aka- 
demie treten,  durch  etwa  ein  Jahrhundert  getrennt,  die  Schulhäupter  Arkesi- 
laos  und  Karneades  hervor.  In  der  Folgezeit,  als  die  Akademie  den  Skepti- 
cismus wieder  abstiess,  fand  derselbe  hauptsächUch  bei  den  empiristischen 
Aerzten  Anklang,  von  denen  schon  zu  Ende  dieser  Periode  Ainesidemos 
und  Agrippa zu  nennen  sind.  Eine  vollständige  Zusammenstellung  der  skep- 
tischen Lehren  aus  viel  späterer  Zeit  ist  in  den  Werken  des  SextusEmpiricus 
erhalten. 

Die  tiefere  Bedeutung  aber  dieses  Skepticismus  war  die,  dass  er  die  Grund- 
stimmung zum  Ausdruck  brachte,  welche  die  gesammte  antike  Civilisation  ebenso 
wie  dereinst  die  griechische,  ihrem  eigenen  ideellen  Inhalt  gegenüber  ergriffen 


1)  Anschauliche  Bilder  dieser  Schulstreitigkeiten  giebt  mit  geschickter  Benutzung  der 
Originalquellen  Cicero  in  seinen  philosophischen  Dialogen. 


126  n.  Hellenistisch-römisbhe  Philosophie. 

hatte:  und  derselbe  Mangel  an  Muth  entschlossener  Ueberzeugung  fand  nur  eine 
andere  Form  an  dem  Eclecticismus,  der  sich  seit  der  zweiten  Hälfte  des 
2.  Jahrhunderts  zu  entwickeln  begann.  Mit  der  Ausbreitung  der  Schulen  in  die 
grossen  Lebensverhältnisse  des  Römerreiches  schwand  der  Schulgeist^  erlahmte 
die  Polemik  und  stellte  sich  vielmehr  das  Bedürfniss  der  Ausgleichung  und  Ver- 
schmelzung ein.  Insbesondere  bildete  die  teleologische  Weltbetrachtung  die  Grund- 
lage, auf  der  sich  Piatonismus,  Aristotelismus  und  Stoicismus  in  gemeinsamer 
Gegnerschaft  gegen  den  Epikureismus  verständigen  konnten. 

Die  Neigung  zu  solcher  Verschmelzung,  dem  Synkretismus,  ist  zuerst 
in  der  stoischen  Schule  erwacht  und  hat  in  Panaitios  und  Poseidonios 
ihre  wirkungsvollsten  Vertreter  gefunden,  welche  die  Lehre  der  Stoa  durch  Auf- 
nahme platonischer  und  aristo teUscher  Momente  allseitiger  ausgestalteten.  Ihnen 
kam  die  jüngere  Akademie  entgegen,  welche,  nachdem  Philon  vonLarissa 
der  skeptischen  Episode  in  der  Schulentwicklung  ein  Ende  gemacht  hatte,  durch 
Antiochos  den  Versuch  machte,  die  vielgespaltene  Philosophie  auf  diejenigen 
Lehren  zu  vereinigen,  in  denen  Piaton  und  Aristoteles  zusanunenkommen. 

Unbedeutender,  weil  principloser,  aber  darum  historischnicht  weniger  bedeut- 
sam war  diejenige  Art  des  Eclecticismus,  welche  die  Römer  in  der  Aufiiahme 
der  griechischen  Philosophie  bethätigten,  —  die  Zusammenstückelung  nämlich, 
mit  der  sie  unter  wesentlich  praktischen  Gesichtspunkten  aus  den  verschiedenen 
Schulsystemen  die  ihnen  einleuchtenden  Lehren  an  einander  reihten:  so  geschah 
es  bei  Cicero,  Varro  und  zum  Theil  in  der  Schule  der  Sextier. 

Aus  der  peri patetischen  Schule  (dem  Lyceum)  ist  zunächst  der  Mitbegründer  der- 
selben, der  wenig  jUngere  Freund  des  Aristoteles,  Theophrastos  von  (Erebos  auf)  Lesbos 
(etwa  370 — 287)  zu  erwähnen,  der  durch  Lehre  und  Schriften  der  Schule  grosses  Ansehen  ge- 
wann. Von  seinen  Werken  sind  die  botanischen,  dazu  ein  Bruchstück  der  Metaphysik,  Aus- 
züge aus  seinen  „Charakteren",  aus  der  Schrift  über  die  Wahrnehmung,  aus  seiner  Geschichte 
der  Physik  und  sonst  Einzelnes  erhalten  (herausgcg.  von  F.  Wimmer,  Breslau  1842 — 62). 

Neben  ihm  erscheinen  E u d  e m o s  von  Rhodos,  Aristoxenos  von Tarent,  der  historisch 
und  theoretisch  über  Musik  arbeitete  (Elemeute  der  Musik,  deutsch  von  R.  Wkstphal, 
Leipzig  1883),  Dikaiarchos  von  Messene,  ein  gelehrter  Polyhistor,  der  eine  Cultur- 
geschichte  Griechenlands  (ßio^  ^BXXdSo^)  schrieb,  sodann  Straton  von  Lampsakos,  der 
287—269  Schulhaupt  war. 

Unter  den  peripatetischen  Doxographen  sind  Hermippos,  Sotion,  Satyros,  Herakleides 
Lembos  (aus  dem  2.  Jahrhundert  v.  Chr.),  unter  den  späteren  Commentatoren  ist  Alexander 
von  Aphrodisias  (um  200  n.  Chr.  in  Athen)  zu  nennen. 

Die  mittlere  Akademie  beginnt  mit  Arkesilaos  (Arkesilas)  aus  Pitane  in  Aeolien 
(etwa  315 — 241),  dessen  Lehren  sein  Schüler  Lakydes  verzeichnete,  und  endigt  mit  Karnea- 
des  (155  in  Rom)  und  dessen  Nachfolger  Kleitomachos  (gest.  110).  Von  ihren  Schriften  ist 
nichts  erhalten,  Quellen  sind  neben  Diogenes  von  Laerte  hauptsächlich  Cicero  und  Sextua 
Empiricus. 

Ebenso  indirect  und  zudem  nur  ganz  im  Allgemeinen  sind  wir  über  die  jüngere  Aka- 
demie unterrichtet.  Philon  vonLarissa  war  noch  87  in  Rom ;  seinen  Nachfolger  Antiochos 
vonAskalon  horte  Cicero  78  in  Athen.  Zu  den  Vertretern  des  cclectischen  Piatonismus  in 
dieser  ersten,  wesentlich  ethischen  Gestalt  gehört  u.  A.  Areios  Didymos,  der  stark  zum 
Stoicismus  neigte  (zur  Zeit  des  Augustus),  und  Thrasyllos  (unter  Tiberius),  der  sachlich  ge- 
ordnete Ausgaben  der  Schriften  von  Demokrit  und  von  Piaton  veranstaltete.  Auch  in  der 
Akademie  hat  sich  eine  ausgebreitete  paraphrastische  und  commentatorische  Literatur  über 
Platon's  Werke  entwickelt. 

Bei  den  Persönlichkeiten  der  stoischen  Schule  föllt  die  Häufigkeit  ihrer  Abstam- 
mung aus  den  hellenistischen  Mischvölkem  des  Orients  auf.  So  ist  schon  der  Gründer  Zenon 
(etwa  340 — 265)  aus  seiner  cyprischen  Heimath  als  Kaufmann  nach  Athen  gekommen  und  soll 
dort,  durch  die  Philosophie  gefesselt,  die  Lehren  der  verschiedenen  Schulen  in  sich  aufge- 
nommen haben,  um  dann  im  Jahre  30i8  die  eigene  zu  stiften.   Sein  Hauptschüler  war  Kl.ean- 


1.  Ethische  Periode.  127 

thes  aus  Assos  (in  Troas),  von  dem  ein  monotheistischer  H>innu8  auf  Zeus  erhalten  ist,  Stob. 
Eclog.  I  dO  (Wachsmüth  p.  25).  Das  wissenschaftliche  Haupt  der  Schule  war  Chrysippos 
(280— -209)  aus  (Soloi  oder  Tarsos  in)  Kilikien;  er  soll  ausserordentlich  viel  geschrieben  haben, 
doch  sind  ausser  den  Titeln  nur  ganz  geringe  Fragmente  seiner  Werke  erhalten.  Vgl.  G.  Baonet 
(Loewen  1822).  Unter  den  literarhistorischen  Gelehrten  der  stoischen  Schule  sind  D  iogenes 
der  Babylonier  (155  in  Rom)  und  ApoUodoros  zu  nennen;  auch  Aristarchos  und  Erato- 
sthenes  standen  der  Schule  nahe. 

Die  synkretistische  Entwicklung  der  Stoa  hat  Panaitios  (180 — 110),  der  stai*k  von  der 
akademischen  Skepsis  beeinflusst  war  und  nahe  Beziehungen  zu  den  römischen  Staatsmännern 
unterhielt,  begonnen  und  Poseidonios  aus  dem  syrischen  Apamea  (etwa  135 — 50) vollendet. 
Der  Letztere  war  einer  der  grössten  Polyhistoren  des  Alterthums,  namentlich  auf  geographisch- 
geschichtlichem  Gebiete;  er  lehrte  in  Rhodos  und  wurde  viel  von  den  jungen  Römern,  auch 
von  Cicero,  gehört. 

Ueber  die  Stoiker  der  Kaiserzeit  vgl.  das  folgende  Kapitel.  —  Quellen  für  die  stoische 
Lehre  sind  Cicero  und  Diogenes  Laertius,  Bch.  YII,  zum  Theil  auch  die  erhaltenen  Schriften  der 
Stoiker  aus  der  Kaiserzeit  und  die  Funde  von  Herculanum. 

D.  TiEDEMANN,  System  der  stoischen  Philosophie  (3  Bde.,  Leipzig  1776).  —  P.  Wey- 
GOLDT,  Die  Philosophie  der  Stoa  (Leipzig  1883).  —  P.  Ogereau,  Essai  sur  le  Systeme 
philosophique  des  Stoiciens  (Paris  1885).  —  L.  Stein,  Die  Psychologie  der  Stoa  (2  Bde., 
Berlin  1886—88). 

Epikuros  (341 — 270),  in  Samos  als  Sohn  eines  athenischen  Schulmeisters  geboren, 
hatte  schon  in  Mitylene  und  Lampsakos  Lehrversuche  gemacht,  ehe  er  806  in  Athen  die  Ge- 
nossenschaft gründete,  die  nach  seinen  „Gärten*'  (xv]icoi,  horti,  wie  auch  die  anderen  Schulen 
nach  ihren  Versammlungsorten)  benannt  worden  ist.  Er  war  ein  ob  seiner  geselligen  Vor- 
züge viel  gehebter  Lehrer.  Von  seinen  zahlreichen  leicht  hingeworfenen  Schriften  sind  die 
Kemsprüche  (xöptat  So^ai),  drei  Lehrbriefe,  Stücke  aus  seiner  Schrift  nspl  (poaeux;  (in  den 
herculanensischen  Funden)  und  sonst  nur  verstreute  Fragmente  erhalten;  gesammelt  und 
systematisch  geordnet  bei  H.  Usenbr,  Epicurea  (Leipzig  1887). 

Unter  der  grossen  Masse  seiner  Anhänger  hebt  das  Alterthum  seinen  nächsten  Freund 
Metrodoros  von  Lampsakos,  ferner  Zenon  von  Sidon  (um  150)  und  Phaedrus  (um  100  v.  Chr.) 
hervor;  eine  etwas  deutlichere  Gestalt  ist  für  uns  Philodemos  aus  (Gadara  in)  Koilesyrien 
dadurch  geworden,  dass  ein  Theil  seiner  Schriften  in  Herculanum  angefunden  worden  ist 
(Herculanensium  voluminum  quae  supersunt,  erste  Serie  Neapel  1793  ff.,  zweite  1861  ff.);  die 
werthvollste  irepl  aYj^stuiv  xal  0Y)2JLeta>as(uv  (vgl.  Fr.  Bahüsch,  Lyck  1879). 

Das  Lehi^edicht  des  Tit.  Lucretius  Carus  (98 — 54)  De  natura  rerum  (6  Bchr.)  ist 
von  Lachuann  (Berlin  1850  und  Jag.  Bernats  (Leipzig  1852)  herausgegeben  worden. 

Weitere  Quellen  sind  Cicero  und  Diogenes  Laertius  im  10.  Buche. 

Vgl.  M.  GuYAU,  La  morale  d'Epicure  (Paris  1878).  —  P.  v.  Gizycki,  Ueber  das 
Leben  und  die  Moralphilosophie  des  Epikur  (BerL  1879).  —  W.  Wallace,  Epicureanism. 
(London  1880). 

Der  Skepticismus  tritt  der  Sache  gemäss  nicht  als  geschlossener  Schulverband  auf '), 
sondern  in  loserer  Form.  Es  bleibt  zweifelhaft,  ob  der  Systematisator  der  Skepsis,  Pyrrhon 
von  Elis  (etwa  365—275)  mit  der  sokratisch-sophistischen  Schule  seiner  Vaterstadt  im  näheren 
Zusammenhange  gestanden  hat.  Ein  gewisser  Bryson,  der-  als  Sohn  Stilpon's  gilt,  wird  als 
Zwischenglied  angesehen.  Er  hat  mit  einem  Demokriteer  Namens  Anaxarchos  den  Zug  Ale- 
xander^B  nach  Asien  mitgemacht.  Von  Pyrrhon's  Standpunkte  aus  hat  der  SillographTimon  von 
Phhus  (320 — 230,  zuletzt  in  Athen)  die  Philosophen  verspottet.  Fragmente  bei  C,  Wachs- 
müth, De  Timone  Phliasio  (Leipzig  1859).   Vgl.  Ch.  Waddinqton,  Pyrrhon  (Paris  1877). 

Die  äusseren  Verhältnisse  des  späteren  Skepticismus  sind  sehr  dunkel  und  unsicher : 
Ainesidemos  aus  Knossos  hat  in  Alexandrien  gelehrt  und  eine  Schrift  [Jup^cuvetoi  Xoyoi  ver- 
fasst,  von  der  nichts  übrig  ist.  Sein  Leben  fällt  wahrscheinlich  in  das  1.  Jahrhundert  v.  Chr. 
Geburt;  doch  ist  es  auch  fast  zwei  Jahrhunderte  später  gesetzt  worden.  Von  Agrippa  ist  gar 
nichts  Näheres  festzustellen.  Der  literarische  Vertreter  des  Skepticismus  ist  der  Arzt  Sextus 
Empiricus,  welcher  um  200  n.  Chr.  lebte,  und  von  dessen  Schriften  die  Pyrrhonischen 
Skizzen  (Huj^^tuveiot  &icoTuic(u3ei^)  und  die  unter  dem  Namen  Adversus  mathematicos  zu- 
sammengefassten  Untersuchungen  erhalten  sind,  von  denen  Buch  7—11  die  Darstellung  der 
skeptischenLehre  mit  vielen  werthvoUen  historischen  Notizen  enthalten  (Ausgabe  von  J.  Bekehr, 
Berlin  1842). 

Vgl.  K.  Stäüdun,  Geschichte  und  Geist  des  Skepticismus  (Leipzig  1794 — 95),    — 


1)  Daher  sind  auch  alle  Berechnungen  nach  Diadochien  von  Schulhäuptem,  welche  zur 
Feststellung  der  Chronologie  der  späteren  Skeptiker  vei'sucht  werden,  illusorisch. 


128  n.  HellemstiBch-rÖmiBche  Philosophie.  1.  Ethische  Periode. 

N.  Maccoll,  The  greec  soeptics  (London  1869).  —  L.  Haas,  De  philosophorum  ecepticoram 
successionibus  (Würzburg  1875). 

Bei  den  Römern  stiess  die  Aufnahme  der  Philosophie  Anfangs  auf  heftigen  Widerstand; 
aber  schon  im  Anfange  des  1 .  Jahrh.  v.  Chr.  war  es  allgemein  üblich,  dass  der  vornehme  junge 
Römer  in  Athen  oder  Rhodos  studirte  und  den  Vortrag  der  Schulhäupter  zu  demselben 
Zwecke  hörte,  wie  einst  der  Athener  die  Sophisten.  Aus  der  Absicht  heraus,  für  die  allge- 
meine wissenschaftliche  Bildung  bei  seinen  Landsleuten  Neigung  und  VersUindniss  zu  er- 
wecken, ist  die  schriftstellerische  Thätigkeit  des  Marc.Tullius  Cicero  (106—48)  zu  beurtheilen 
und  hochzuschätzen:  Geschick  der  Zusammenstelluug  und  Anmuth  der  Form  entschädigen  für 
den  Mangel  eigener  Kraft  des  Philosophirens,  der  sich  in  principloser  Auswahl  der  Lehren  er- 
weist. Die  Hauptschrifben  sind  De  finibus.  De  officiis,  Tusculanae  disputationes,  Academica, 
De  natura  deorum,  De  fato,  De  divinatione.  Vgl  Hbrbart,  lieber  die  Philosophie  des  Cicero ; 
in  Ges.  W.  Xn,  167  ff. 

Gelehrter  war  sein  Freund  M.  Terentius  Varro  (116 — 27),  der  bekannte  Polyhistor 
und  Vielschreiber,  von  dessen  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  aber  nur  gelegentliche 
Notizen  erhalten  sind. 

Als  Sextier  werden  die  beiden  QuintusSextus,  Vater  und  Sohn,  und  S  o  t  i  o  n  von 
Alexandria  genannt:  der  Letztere  scheint  das  Zwischenglied  zu  sein,  durch  welches  die  stoische 
Moral  mit  dem  alexandrinischen  Pythagoreismus  versetzt  und  zu  der  religiösen  Wendung  ge- 
führt wurde,  die  sie  in  der  Kaiserzeit  charakterisirt.  Einige  ihrer  (in  syrischer  Ueberseteung 
aufgefundenen)  Sentenzen  hat  GiLDEifBiSTfiR  (Bonn  1873)  herausgegeben. 

Zu  den  ganzen  literarischen  Verhältnissen  dieser  Zeit  ist  zu  vergleichen  R.  Hirzel, 
Untersuchungen  zu  Cicero's  philosophischen  Schriften  (3  Bde.  Leipzig  1877 — 83). 

%  14.  Das  Ideal  des  Weisen. 

Der  ethische  Grundzug,  den  das  Philosophiren  dieser  ganzen  Periode  be- 
sitzt, ist  noch  enger  dadurch  charakterisirt^  dass  es  durchweg  die  Indiyidual- 
ethik  ist;  welche  den  Mittelpunkt  der  Untersuchungen  dieser  Epigonenzeit  bildet. 
Die  Erhebung  zu  den  Idealen  sittlicher  Gemeinschaft,  in  welche  die  Moral  sowohl 
bei  Piaton  als  auch  bei  Aristoteles  endete,  war  eine  ihrer  Zeit  fremd  gewordene 
Verherrlichung  desjenigen,  wodurch  Griechenland  gross  geworden  war,  des  leben- 
digen Staatsgedankens.  Dieser  hatte  die  Macht  über  die  Gemüther  verloren, 
und  auch  in  den  Schulen  beider  Männer  fand  er  so  wenig  Anklang,  dass  Aka- 
demiker wie  Peripatetiker  auch  die  Frage  nach  der  individuellen  Glückseligkeit 
und  Tugendhaftigkeit  in  den  Vordergrund  rückten.  Was  aus  der  Schrift  des 
Akademikers  Krantor  „über  den  Kummer"  ^)  oder  aus  Theophrast's  Werken 
unter  dem  Titel  „ethische  Charaktere"  erhalten  ist,  steht  ganz  auf  dem  Boden 
einer  Philosophie,  welche  die  rechte  Abschätzung  der  Lebensgüter  für  ihre  wesent- 
liche Aufgabe  erachtet. 

Dabei  befanden  sich  in  den  endlosen  Discussionen  über  diese  Fragen,  welche 
den  Schulstreit  der  nächsten  Jahrhunderte  ausgefüllt  haben,  die  Nachfolger  der 
beiden  grossen  Denker  der  attischen  Philosophie  in  gemeinsamem  Gegensatze 
gegen  die  neuen  Schulen:  beide  hatten  die  Realisirung  der  Idee  des  Guten  durch 
den  ganzen  Umfang  der  empirischen  Wirklichkeit  verfolgt  und  bei  all'  dem  Idea- 
lismus, mit  dem  namentlich  Piaton  über  die  Sinnenwelt  hinausstrebte,  doch  den 
relativen  Werth  ihrer  Güter  nicht  verkannt.  So  hoch  sie  die  Tugend  im  Werthe 
stellten,  so  verschlossen  sie  sich  doch  der  Einsicht  nicht,  dass  zur  vollkommenen 
Glückseligkeit  des  Menschen  ^)  noch  die  Gunst  des  äusseren  Geschicks,  Gesund- 
heit, Wohlhabenheit  u.  s.  w.  erforderlich  seien,  und  sie  verneinten  namentlich  die 
kynisch-stoische  Lehre,  wonach  die  Tugend  nicht  nur  das  höchste  (wie  sie  zu- 
gaben), sondern  auch  das  einzige  Gut  sein  sollte. 

1)  Vgl.  F.  Kayser  (Heidelberg  1841).  —  2)  Dieser  aristotelisohen  Ansicht  sind  die 
älteren  Akademiker,  Speusippos  und  Xenokrates,  durchaus  beigetreten. 


§  14.  Das  Ideal  des  Weisen.  (Epikur.)  129 

Jedenfalls  aber  arbeiteten  auch  sie  daran,  die  rechte  Lebensführung  festzu- 
stellen, welche  den  Menschen  glücklich  zu  machen  verspricht,  und  während  einzelne 
Mitglieder  der  Schulen  ihren  speciellen  Forschungen  nachgingen,  war  die  öffent- 
liche Thätigkeit,  namentlich  der  Schulhäupter  in  ihrer  Bekämpfung  der  Gegner, 
daraufgerichtet,  das  Bild  des  normalen  Menschen  zu  zeichnen.  Das  war 
es,  was  die  Zeit  von  der  Philosophie  wollte:  zeigt  uns,  wie  der  Mensch  beschaffen 
sein  muss,  der,  was  auch  das  Weltgeschick  bringe,  seiner  Glückseligkeit  sicher 
ist!  Dass  dieser  Normalmensch  der  Tüchtige,  der  Tugendhafte  genannt  werden 
muss,  und  dass  er  diese  seine  Tugend  nur  der  Einsicht,  dem  Wissen  verdanken 
kann,  dass  er  also  der  ^ Weise''  sein  muss,  das  ist  die  aus  der  sokratischen  Lehre 
stammende  Voraussetzung,  welche  während  dieser  ganzen  Zeit  von  allen  Par- 
teien als  selbstverständlich  anerkannt  wird:  und  darum  bemühen  sich  alle,  das 
Ideal  desWeisen,  d.  h.  des  Menschen  zu  schildern,  den  seine  Einsicht  tugend- 
haft und  damit  glücklich  macht. 

!•  Das  hervorstechendste  Merkmal  in  der  Begriffsbestimmung  des  „Weisen" 
ist  deshalb  für  diese  Zeit  die  Unerschütterlichkeit  (Ataraxie,  azapaiia). 
Stoiker,  Epikureer  und  Skeptiker  werden  nicht  müde,  diese  Unabhängigkeit 
vom  Weltlauf  als  den  Vorzug  desWeisen  zu  preisen:  er  ist  frei,  ein  König,  ein 
Gott;  was  ihm  auch  geschieht,  das  kann  sein  Wissen,  seine  Tugend,  seine  Glück- 
seUgkeit  nicht  angreifen;  seine  Weisheit  beruht  in  ihm  selbst,  und  die  Welt  küm- 
mert ihn  nicht.  —  Diese  Zeichnung  des  Ideals  charakterisirt  ihre  Zeit:  der  nor- 
male Mensch  ist  für  sie  nicht  der,  welcher  um  grosser  Zwecke  willen  arbeitet  und 
schafft,  sondern  der,  welcher  sich  von  der  Aussen  weit  frei  zu  machen  und  sein 
Glück  in  sich  selbst  allein  zu  finden  weiss.  Die  innerliche  Vereinzelung  der 
Individuen  und  ihre  Vergleichgiltigung  gegen  allgemeine  Zwecke  kommt  darin 
zum  scharfen  Ausdruck:  die  Ueberwindung  der  Aussenwelt  bedingt  die 
Glückseligkeit  des  Weisen. 

Aber  er  muss  die  Welt,  über  die  er  ausserhalb  keine  Macht  hat,  in  sich 
selbst  überwinden:  er  muss  Herr  werden  über  die  Einwirkungen,  welche  sie  auf 
ihn  ausübt.  Diese  Einwirkungen  aber  bestehen  in  den  Gefühlen  und  Begehrungen, 
welche  Welt  und  Loben  im  Menschen  erregen:  sie  sind  Störungen  seines  eigenen 
Wesens,  Leidenszustände  (nd^,  affectus).  Die  Weisheit  bewährt  sich  also  in 
der  Art,  wie  sich  der  Mensch  zu  seinen  Affecten  ')  verhält,  sie  ist  wesentlich 
Freiheit  von  den  Affecten,  Affectlosigkeit  (Apathie,  a7cdl>eia  ist  der  stoische 
Ausdruck).  Unbewegt  in  sich  selbst  zu  ruhen,  das  ist  der  Segen  dieser  „Weisheit". 

Die  sprachlichen  Bezeichnungen,  mit  denen  diese  Lehre  bei  Epikur  und 
Pyrrhon  eingeführt  wird,  weisen  unmittelbar  auf  eine  Abhängigkeit  von  Aristipp 
und  Demokrit  hin.  Es  entspricht  der  allmählichen  Umgestaltung,  welche  sich 
in  der  hedonischen  Schule  vollzog  (vgl.  §  7,  9),  dass  Epikur^),  welcher  das  Princip 
derselben  zu  dem  seinigen  machte  und  ebenfalls  die  Lust  als  das  höchste  Gut 
bezeichnete,  doch  dem  momentanen  Genuss  auch  seinerseits  die  dauernde  Stim- 
mungder  Befriedigung  und  der  Ruhe  vorzog.   Hatten  auch  die  Kyrenaiker 

1)  Der  antike,  bis  in  die  neuere  Zeit  (Spinoza)  hinreichende  Begriif  des  AfTects  ist  somit 
weiter,  als  derjenige  der  heutigen  Psychologie :  er  ist  am  besten  durch  die  lateinische  lieber- 
Setzung  „perturbationes  animi:  (Tcmiithsstörungen"  definirt  und  umfasst  alle  Gefühls-  und 
Willenszustände ,  in  denen  der  Mensch  von  der  Aussenwelt  abhängig  ist.  —  2)  Als  Zwischen- 
glieder werden  die  jüngeren,  stark  sophistisch  angehauchten  Demokriteer,  namentlich  ein 
gewisser  Nausiphanes  genannt,  den  Epikur  gehört  hat. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  9 


130  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.  1.  Ethische  Periode. 

das  Wesen  der  Lust  in  der  sanften  Bewegung  gefunden,  so  bleibt  das  doch  immer, 
meinte  Epikur,  eine  ^Lust  in  der  Bewegung'',  und  werthvoller  ist  der  Zustand 
schmerzloser  und  wunschloser  Ruhe  (fj8oW]  xaxaotYjiiaTiXKj).  Selbst  der  Muth 
des  Geniessens  ist  verloren  gegangen :  der  Epikureer  möchte  zwar  gern  aller 
Lust  sich  freuen,  aber  es  darf  Um  nicht  aufregen,  ihn  nicht  in  Bewegung  setzen. 
Seelenfrieden  (YaXY]vto|iöc,  vgl.  S.  69)  ist  Alles,  was  er  will,  und  er  vermeidet 
ängstUch  die  Stürme,  welche  denselben  bedrohen,  d.  h.  die  Affecte. 

Deshalb  erkannte  Epikur  die  Consequenz  an,  mit  welcher  die  Kyniker  Be- 
dürfnisslosigkeit  als  Tugend  und  Glückseligkeit  charakterisirt  hatten;  aber 
er  war  weit  entfernt,  wie  sie  auf  die  Lust  nun  auch  emsthaA  zu  verzichten.  Zwar 
müsse  der  Weise  auch  dies  verstehen  und  ausführen,  sobald  es  durch  den  Lauf 
der  Dinge  erforderUch  wird:  aber  seine  Befriedigung  wird  um  so  grösser  sein, 
je  reicher  der  Umfang  der  Wünsche  ist,  die  er  befriedigt  findet.  Eben  deshalb 
bedarf  er  der  Einsicht  (ypöv7]<3t<;),  welche  nicht  nur  die  Abschätzung  der  durch 
die  Gefühle  bestimmten  Grade  von  Lust  und  Unlust  ennöglicht,  die  im  einzelnen 
Falle  zu  erwarten  sind,  sondern  auch  entscheidet,  ob  und  wie  weit  man  den  ein- 
zelnen Wünschen  Raum  zu  geben  hat.  In  dieser  Hinsicht  unterschied  der  Epi- 
kureismus  drei  Arten  von  Bedürfnissen :  einige  sind  natürlich  (^oaet),  unentflieh- 
bar  vorhanden,  sodass,  da  man  ohne  ihre  Erfüllung  überhaupt  nicht  zu  existiren 
vermag,  auch  der  Weise  von  ihnen  sich  nicht  losmachen  kann;  andere  wieder  sind 
nur  conventionell  (vö|t(|)),  künstlich  und  eingebildet,  und  ihre  Nichtigkeit  hat  der 
Weise  zu  durchschauen  imd  sie  damit  von  sich  abzuthun;  zwischen  beiden  aber 
(darin  tritt  Epikur  der  radicalen  Einseitigkeit  des  Kynismus  entgegen)  hegt  die 
grosse  Masse  derjenigen  Bedürfnisse,  welche  auch  ihre  natürUche  Berechtigung 
haben,  aber  zur  Existenz  freilich  nicht  unerlässUch  sind.  Auf  sie  kann  der  Weise 
daher  nöthigenfalls  verzichten ;  aber,  da  ihre  Befriedigung  glücklich  macht,  so 
wird  er  sie  so  viel  als  mögUch  zu  erfüllen  suchen.  Die  volle  Seligkeit  fallt  dem 
zu,  welcher  sich  ohne  stürmisches  Streben  in  ruhigem  Genüsse  aUer  dieser  Güter 
erfreut. 

Unter  ihnen  schätzte  aus  dem  gleichen  Grunde  Epikur  die  geistigen  Genüsse 
höher  als  die  physischen,  welche  mit  leidenschaftUcher  Aufregung  verbunden 
seien:  aber  er  sucht  die  geistigen  Freuden  nicht  in  der  reinen  Erkenntniss,  son- 
dern in  der  ästhetischen  Feinheit  des  Lebens,  in  geistreichem  und  zartsinnigem 
Umgang  mit  Freunden,  in  behaglieher  Einrichtung  des  täglichen  Daseins.  So 
schafit  sich  der  Weise  in  der  Stille  die  Seligkeit  des  Selbstgenusses,  die  Unab- 
hängigkeit vom  AugenbUck,  von  seinen  Anforderungen  und  Ergebnissen:  er  weiss, 
was  er  sich  gewähren  kann,  und  er  versagt  sich  davon  Nichts;  aber  er  ist  nicht 
so  thöricht,  dem  Schicksal  zu  grollen  oder  sich  zu  beklagen,  dass  er  nicht  Alles 
zu  besitzen  vermag.  Das  ist  seine  Ataraxie:  ein  Geniessen,  wie  das  hedonische, 
aber  feiner,  geistiger  und  —  blasirter. 

2*  In  andrer  Richtung  hat  sich  Pyrrhon  an  den  Hedonismus  angelehnt, 
indem  er  das  praktische  Resultat  aus  den  skeptischen  Lehren  der  Sophistik  zu 
ziehen  suchte.  Nach  derDarstellung  seines  Schülers  Timon  meinte  er,  Aufgabe  der 
Wissenschaft  sei  es,  die  Beschaffenheit  der  Dinge  zu  untersuchen,  um  das  sach- 
gemässe  Verhalten  des  Menschen  dazu  festzustellen  und  den  Gewinn  zu  erkennen, 
.den  er  von  ihnen  zu  erwarten  habe  *).   Nun  hat  sich  aber  nach  Pyrrhon's  An- 

1)  Euseb.  praep.  ev.  XIV}  18, 2.  Die  Lehre  Pyrrhon^s  zeigt  sich  dadurch  im  genauesten 


§  14.  Das  Ideal  des  Weisen.  (Skeptiker,  Stoiker.)  131 

sieht  gezeigt,  dass  wir  niemals  die  wahre  Beschaffenheit  der  Dinge,  sondern  höch- 
stens die  Gefühlszustände  (ira^)  erkennen  können,  in  welche  dieselben  uns  ver- 
setzen (Protagoras,  Aristipp):  giebt  es  aber  keine  Erkenntniss  der  Dinge,  so  kann 
auch  nicht  bestimmt  werden,  welches  das  rechte  Verhalten  zu  ihnen  und  welches 
der  Erfolg  ist,  der  sich  aus  unserm  Handeln  ergeben  wird.  Dieser  Skepticismus 
ist  die  negative  Kehrseite  zu  der  sokratisch-platonischen  Folgerung:  wie  dort 
daraus,  dass  rechtes  Handeln  nicht  ohne  Wissen  möghch  sei,  gefordert  worden 
war,  dass  Wissen  möghch  sein  müsse,  so  zeigt  sich  hier,  dass,  weil  es  kein  Wissen 
giebt,  auch  das  rechte  Handeln  unmöglich  ist. 

Unter  diesen  Umständen  bleibt  dem  Weisen  nur  übrig,  den  Verleitungen 
zam  Meinen  und  zum  Handeln,  denen  die  Masse  der  Menschen  unterliegt,  so  weit 
wie  möglich  zu  widerstehen.  Alles  Handeln  geht  (Sokrates)  aus  dem  Vorstellen 
über  die  Dinge  und  ihren  Werth  hervor;  alle  thörichten  und  unheilbringenden 
Handlungen  folgen  aus  den  unrichtigen  Meinungen:  der  Weise  aber,  der  da  weiss, 
dass  man  nichts  über  die  Dinge  selbst  aussagen  kann  (a^ aata)  und  keiner  Mei- 
nung zustimmen  darf  (axaxTXrf^icL)  '),  enthält  sich  raögUchst  des  Urtheils  und  da- 
mit auch  des  Handelns.  Er  zieht  sich  auf  sich  selbst  zurück,  und  in  der  Zu  rück- 
haltung  (sico'/i^  ^)  des  Urtheils,  die  ihn  vor  dem  Affect  und  vor  dem  falschen 
Handeln  bewahrt,  findet  er  die  Unerschütterlichkeit,  die  Ruhe  in  sich  selbst, 
die  Ataraxie. 

Das  ist  die  skeptische  Tugend,  welche  den  Menschen  auch  von  der 
AVeit  frei  machen  will,  und  sie  findet  ihre  Grenze  nur  darin,  dass  es  doch  Ver- 
hältnisse giebt,  in  denen  sogar  der  auf  sich  selbst  zurückgezogene  Weise  handeln 
muss  und  wo  ihm  dann  nichts  anderes  übrig  bleibt,  als  nach  dem,  was  ihm  scheint, 
und  nach  dem  Herkommen  zu  handeln. 

3.  Tiefer  ist  die  Ueberwindung  der  Welt  im  Menschen  von  den  Stoikern 
aufgefasst  worden.  Anfangs  freilich  haben  sie  sich  ganz  zu  der  kynischen  Gleich- 
gätigkeit  gegen  alle  Güter  der  Aussen  weit  bekannt,  und  die  Selbstherrlichkeit 
des  tugendhaften  Weisen  ist  auch  ihrer  Ethik  als  ein  unverlöschlicher  Zug  aufge- 
prägt geblieben :  aber  dem  radicalen  Naturalismus  der  Kyniker  haben  sie  durch 
«ne  einsichtsvolle  Psychologie  des  Trieblebens,  welche  starke  Abhängigkeit  von 
Aristoteles  zeigt,  sehr  bald  die  Spitze  abgebrochen.  Noch  mehr  nämlich'  als  der 
Stagirit  betonen  sie  die  EinheitUchkeit  und  Selbständigkeit  der  individuellen 
Seele  ihren  einzelnen  Zuständen  und  Thätigkeiten  gegenüber,  und  so  wird  bei 
ihnen  zuerst  die  Persönlichkeit  zu  einem  massgebenden  Priucip.  Die  Leite- 
kraft der  Seele  (t6  i^s|iovcxöv)  ist  ihnen  nicht  nur  dasjenige,  was  die  Empfindungs- 
reize der  einzelnen  Organe  erst  zu  Wahrnehmungen  macht,,  sondern  auch  das- 
jenige, was  die  Gefiihlserregungen  durch  seine  Zustimmung^)  (GOY^axd^atc)  in 
WUlensthätigkeiten  verwandelt.  Dies  zu  einheitlicher  Auffassung  und  Gestaltung 
berufene  Bewusstsein  ist  nun  seinem  eigenthchen  und  wahren  Wesen  nach  Ver- 
nunft (voöc);  darum  widersprechen  die  Zustände,  in  denen  sich  dasselbe  durch 

ZornnmeohaDg  mit  der  Zeitrichtung ;  sie  fragt:  was  sollen  wir  denn  nun  thun,  wenn  es  keine 
Erkenntniss  giebt? 

1)  Bin  Ausdruck,  der  vermnthlich  in  der  Polemik  gegen  den  stoischen  Begriff  der 
vKukri'^^  gebildet  worden  ist;  vffi.  §  17.  —  2)  Die  Skeptiker  wurden  mit  Rücksicht  auf  diesen 
Hirsie  charakteristischen  Terminus  auch  dieEphektiker  genannt.  —  3)  Diese  Zustimmung 
beruht  freilich  auch  nach  den  Stoikern  auf  einem  Urtheil,  beim  Affect  also  auf  einem  falschen, 
ftber  tie  ist  doch  zugleich  der  mit  dem  Urtheil  verbundene  Willensact;  vgl.  §  17. 


132  II.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

die  Heftigkeit  der  Erregung  zur  Zustimmung  fortreissen  lässt^  gleicbmässig  seiner 
eigenen  Natur  und  der  Vernunft.  Diese  Zustände  (affectus)  sind  deshalb  solche 
des  Leidens  (icd^)  und  der  Seelenkrankheit,  naturwidrige  und  vernunftwidrige  ') 
Seelenstörungen  (perturbationes).  Der  Weise  wird  daher;  wenn  er  sich  auch  dem 
Weltlauf  gegenüber  jener  Gefühlserregungen  nicht  erwehren  kann,  mit  der  Kraft 
der  Vernunft  ihnen  die  Zustimmung  verweigern :  er  lässt  sie  nicht  zu  Affecten  wer- 
den, seine  Tugend  ist  die  Affectlosigkeit  (sTcdd^ia).  Seine  üeberwindung  der 
Welt  ist  diejenige  seiner  eigenen  Triebe.  Erst  durch  unsere  Zustimmung  werden 
wir  vom  Lauf  der  Dinge  abhängig:  halten  wir  sie  zurück,  so  bleibt  unsere  Per- 
sönlichkeit unverrückbar  auf  sich  selbst  gestellt.  Kann  der  Mensch  nicht  hindern, 
dass  das  Schicksal  ihm  Lust  und  Schmerz  bereitet,  so  vermag  er  doch,  indem  er 
die  erstere  nicht  für  ein  Gut  und  den  letzteren  nicht  für  ein  Hebel  erachtet,  das 
stolze  Bewusstsein  seiner  Selbstgenügsamkeit  zu  bewahren. 

An  sich  ist  daher  freilich  für  die  Stoiker  die  Tugend  das  einzige  Gut  und 
andrerseits  das  Laster,  welches  in  der  HeiTSchaft  der  AiFecte  über  die  Vernunft 
besteht,  das  einzige  Uebel,  und  an  sich  gelten  ihnen  demnach  alle  anderen  Dinge 
und  Verhältnisse  als  gleichgiltig  (aStdyopa)  *).  Aber  schon  in  ihrer  Gtiterlehre 
mildern  sie  den  Rigorismus  dieses  Satzes  durch  die  Unterscheidung  des  Wünschens- 
werthen  und  des  Verwerflichen  (7cpOY]7|iiva  und  aicoTrpo-ijYiiiva).  So  sehr  sie  dabei 
nun  auch  betonten,  dass  der  Werth  (aö«),  welcher  dem  Wünschenswerthen  zu- 
komme, genau  von  dem  an  sich  Guten  der  Tugend  zu  unterscheiden  sei,  so  ergab 
sich  doch  daraus  von  selbst  im  Gegensatze  zu  der  kynischen  Einseitigkeit  eine 
wenigstens  secundäre  Schätzung  der  Lebensgüter:  denn  indem  das  Wünschens- 
werthe  deshalb  gewerthet  wurde,  weil  es  das  Gute  zu  fordern  geeignet  schien, 
und  umgekehrt  der  Unwerth  des  Verwerflichen  in  den  Hemmungen  bestand,  welche 
es  der  Tugend  bereitet,  so  wurden  damit  die  Fäden  zwischen  dem  selbstgenüg- 
samen Individuum  und  dem  Weltlauf,  welche  die  kynische  Paradoxie  zerschnitten 
hatte,  mehr  und  mehr  wieder  angesponnen.  Nur  in  demjenigen,  was  in  gar  keine 
Beziehung  zur  Sittlichkeit  gebracht  werden  konnte,  blieb  dann  schliesslich  das 
Mittlere  zwischen  Wünschenswerthem  und  Verwerflichem,  das  absolut  Gleich- 
giltige  übrig. 

Wie  diese  Unterscheidungen  allmähUch  durch  Verdrängung  des  kynischen 
Elements  den  Stoicismus  lebensfähiger  und,  sozusagen,  weltmöglicher  gemacht 
haben,  so  ist  eine  ähnliche  Wendung,  durch  welche  er  pädagogisch  braucbbai'er 
wurde,  in  der  späteren  Aufhebung  des  schroffen  Gegensatzes  zu  sehen ,  welcher 
anfanglich  zwischen  den  tugendhaften  Weisen  und  den  lasterhaften  Thoren 
(yaöXot,  |iü>po{)  statuirt  wurde.  Der  Weise,  hatte  es  Anfangs  geheissen,  ist  ganz 
und  in  Allem  weise  und  tugendhaft,  der  Thor  ist  ebenso  ganz  und  in  Allem 
thöricht  und  sündhaft:  ein  Mittleres  gicbt  es  nicht.  Besitzt  der  Mensch  die  Kraft 
und  die  Gesundheit  der  Vernunft,  mit  der  er  seine  Affecte  beherrscht,  so  besitzt 

1)  Diog.  Laert.  VIT,  110:  xh  «all'oc  —  t)  5Xoyo;  xal  Kitpa  «pü^tv  'J'üxyj(;  xivY|^t^  ^  ^PM-"*! 
icXeovdCouaa.  Die  psychologische  Theorie  der  Affecte  ist  namentlich  von  Chrysippos  aus- 
gebildet worden :  als  Grundformen  unterschied  schon  Zenon  Lust  und  Unlust,  Begierde  und 
Furcht.  Als  Principien  der  Eintheilung  scheinen  bei  den  Spateren  theils  Merkmale  der  den 
Affect  hervorrufenden  Vorstelhmgen  und  Urtheile,  theils  solche  der  daraus  hcrvorgeheudeu 
Gefühls-  und  Willenszustände  gedient  txi  haben :  vgl.  Diog.  Laert.  VII,  111  ff. ;  Stob.  Ecl.  II, 
174  ff.  —  2)  Indem  sie  dazu  auch  das  Leben  rechneten,  kamen  sie  zu  ihrer  bekannten  Ver- 
theidigung  bzw.  Empfehlung  des  Selbstmordes  (e{a-fu>Y'rj).  Vgl.  Diog.  Laert.  VII,  130.  Seneca, 
Ep.  12,  10. 


§  14.  Das  Ideal  des  Weises.  (Stoiker,  Epikureer.)  133 

er  mit  dieser  Einen  Tugend  zugleich  alle  einzelnen,  besonderen  Tugenden  ^),  und 
so  ist  dieser  Besitz,  der  allein  glücklich  macht,  unverlierbar:  fehlt  ihm  dies,  so  ist 
er  ein  Spielball  der  Dinge  und  seiner  eigenen  Leidenschafben,  und  diese  Grund- 
krankheit seiner  Seele  theilt  sich  seinem  ganzen  Thun  und  Leiden  mit.  Deshalb 
standen  nach  der  Ansicht  der  Stoiker  die  wenigen  Weisen  als  vollkommene  Men- 
schen dem  grossen  Haufen  der  Thoren  und  Sünder  gegenüber,  und  in  gar  manchen 
Declamationen  haben  sie  mit  dem  pharisäischen  Pessimismus,  der  dem  Selbst- 
gefühl so  wohlthut,  über  die  Schlechtigkeit  der  Menschen  geklagt.  Aber  dieser 
ersten  Meinung,  welche  alle  Thoren  als  gleich  verwerflich  ansah,  stellte  sich  denn 
doch  die  Ueberleguug  gegenüber,  dass  unter  denselben  hinsichtlich  ihres  Ab- 
standes  von  dem  Ideale  der  Tugend  immerhin  beträchtliche  Unterschiede  ob- 
walten, und  so  wurde  zwischen  Weisen  und  Thoren  der  Begriff  des  in  der  Besse- 
rung befindhchen,  fortschreitenden  Menschen  (irpoxoictoov)  eingeschoben.  Zwar 
hielten  die  Stoiker  daran  fest,  dass  auch  von  dieser  Besserung  aus  kein  allmäh- 
licher Uebergang  zur  wahren  Tugend  stattfinde,  dass  vielmehr  der  Eintritt  in 
den  Zustand  der  YoUkonmienheit  durch  einen  plötzlichen  Umschlag  erfolge:  aber 
wenn  die  verschiedenen  Stadien  des  sittUchen  Fortschritts  (irpoxo^)  untersucht 
wurden  und  als  das  höchste  davon  ein  Zustand  bezeichnet  war,  worin  die  Apathie 
zwar  erreicht,  aber  noch  nicht  zu  voller  Sicherheit  und  Selbstgewissheit  gekommen 
sei  ^),  so  waren  damit  die  rigorosen  Abgrenzungen  doch  einigermassen  verwischt. 
4*  Trotz  dieser  praktischen  Concessionen  bleibt  doch  schliesslich  auch  in 
dem  stoischen  Lebensideal  der  Bückzug  der  Einzelpersönlichkeit  auf  sich  selbst 
ein  wesentUches  Merkmal:  aber  andrerseits  hat  dies  gemeinsame  Kennzeichen 
der  Weisheit  der  griechischen  Epigonen  nirgends  eine  so  werthvoUe  Ergänzung 
gefunden,  wie  bei  den  Stoikern.  Der  Skepticismus  hat,  soweit  wir  sehen  können, 
eine  solche  positive  Ergänzung  (consequenter  Weise)  überhaupt  nicht  gewollt, 
und  der  Epikureismus  hat  sie  in  einer  Bichtung  gesucht,  welche  die  Einschrän- 
kung des  ethischen  Interesses  auf  die  individuelle  Glückseligkeit  in  der  schärfsten 
Form  zum  Ausdruck  brachte.  Denn  der  positive  Inhalt  jener  vor  den  Stürmen 
der  Welt  geborgenen  Seelenruhe  des  Weisen  ist  für  Epikur  und  die  Seinen  doch 
zuletzt  nur  die  Lust.  Dabei  fehlt  ihnen  freilich  der  sinnlichkeitsfrohe  Muth,  mit 
dem  Aristippos  den  Genuss  des  Augenblicks  und  die  Freuden  des  Leibes  zum 
höchsten  Zweck  erhoben  hatte,  und  wir  finden,  wie  schon  oben  erwähnt,  in 
ihrer  Lehre  vom  höchsten  Gut  die  blasirte,  wohl  abgewogene  Feinschmec^erei 
des  Culturmenschen  zimi  sittlichen  Lebensinhalt  erklärt.  Freilich  reducirte 
Epikur  in  der  psychogenetischen  Erklärung  ausnahmslos  alle  Lust  auf  diejenige 
der  Sinne  oder,  wie  man  später  sagte,  des  Fleisches  ^);  aber  mit  Bestreitung 
der  Kyrenaiker  erklärte  er^),  dass  gerade  diese  abgeleiteten  und  damit  ver- 
feinerten Freuden  des  Geistes  denen  der  Sinne  weit  überlegen  seien.  Sehr  richtig 
erkannte  er,  dass  das  Individuum,  auf  dessen  Unabhängigkeit  von  der  Aussen- 
welt  ja  Alles  ankommen  sollte,  der  geistigen  Genüsse  sehr  viel  sicherer  und  sehr 
viel  mehr  Herr  sei  als  der  materiellen.  Die  Freuden  des  Leibes  hängen  an  der 
Gesundheit,  dem  Reichthum  und  anderen  Gaben  des  Glücks :  was  aber  Wissen- 


1)  Der  systematischen  Entwicklung  der  Tugcndlehre  legten  auch  die  Stoiker  die 
platonischen  Cardinaltagenden  zu  Grunde:  Stob.  Ecl.  11,  102 ff,  —  2)  Vgl.  den  Bericht  (ver- 
muthlich  über  Chrysipp)  bei  Seneca,  Ep.  75,  8  ff.  —  3)  Athen.  XU,  546  (Us.  fr.  409)  Plut.  ad. 
Col.  27, 1122  (Us.  fr.  411),  id.  contr.  Epic.  beat.  4,  1088  (U8.fr.429).  —  4)  Diog.  Laert.  X,  137. 


134  ü.  Hellenistisch-römische  Philosophie.    1.  Ethische  Periode. 

Schaft  und  Kunst^  was  die  freundschaftliche  Lebensgemeinschaft  edler  Menschen, 
was  die  bedürfnisslose  ^  selbstzufriedene  Ruhe  des  von  Leidenschaften  befreiten 
Geistes  gewälirt ,  das  ist,  vom  Wechsel  der  Geschicke  wenig  oder  gar  nicht  be- 
rührt, des  Weisen  sicherer  Besitz.  Der  ästhetische  Selbstgenuss  des  ge- 
bildeten Menschen  ist  daher  das  höchste  Gut  für  den  Epikureer.  Gewiss  war 
damit  das  Grobe  und  Sinnliche  aus  dem  Hedonismus  fortgefallen^  und  die  Gärten 
Epikur's  waren  eine  Pflanzstätte  schöner  Lebensführung,  feinster  Sitten  und  edler 
Beschäftigungen:  aber  dasPrincip  individuellen  Genusses  war  dasselbe  geblieben, 
und  der  Unterschied  war  nur  der^  dass  das  alternde  Griechenthum  mit  seineu 
römischen  Schülem  raffinirter,  geistiger,  feinfühliger  geuoss  als  die  jugendlichen 
und  männlichen  Vorfahren.  Nur  der  Inhalt;  den  die  reicher  entfaltete  und  tiefer 
ausgelebte  Cultur  dem  Genüsse  darbot,  war  werthvoUer  geworden:  die  Gesinnung, 
mit  der  man  nicht  mehr  in  hastigem  Tranke,  sondern  in  bedächtigen  Zügen  des 
Lebens  Becher  lächelnd  leerte,  war  derselbe  pflichtlose  Egoismus.  Daher  denn 
auch  hier,  freilich  mit  noch  grösserer  Vorsicht,  die  innere  Gleichgiltigkeit  des 
Weisen  gegen  sittliches  Herkommen  und  landgewohnte  Regeln,  daher  vor  Allem 
die  Ablehnung  aller  religiösen  oder  metaphysischen  Vorstellungen,  welche  den 
Weisen  in  dieser  selbstgefälligen  Genügsamkeit  des  Geniessens  stören  und  ihn 
mit  dem  Gefühle  der  VerantwortUchkeit  und  der  Pflicht  belasten  könnten. 

5.  Hierzu  bildet  nun  die  stoische  Ethik  den  stärksten  Gegensatz. 
Schon  der  an  Aristoteles  (§  13,  11)  anklingende  Gedanke,  dass  die  Seele  in  der 
Vernunftkraft,  mit  der  sie  den  Trieben  die  Zustimmung  versagt,  ihr  eigenes 
Wesen  zur  Geltung  bringe,  lässt  den  eigenthümlichen  Antagonismus  zu  Tage  tre- 
ten, den  die  Stoiker  im  menschlichen  Seelenleben  annahmen.  Gerade  das  nämlich, 
was  man  jetzt  etwa  die  natürlichen  Triebe  nennt,  die  von  Dingen  der  Aussenwelt 
durch  die  Sinne  hervorgerufenen  und  darauf  bezüglichen  Gefühls-  und  Willens- 
erregungen, gerade  dies  erscheint  ihnen,  wie  erwähnt,  als  das  Widernatürliche 
(Trapd  fUGtv):  die  Vernunft  dagegen  gilt  ihnen  als  die  „Natur^  nicht  nur  des 
Menschen,  sondern  des  Weltalls  überhaupt.  Wenn  sie  deshalb  die  kynischen 
Sätze  zu  den  ihrigen  macheu,  wonach  das  Sittliche  mit  dem  Natürlichen  gleich- 
gesetzt wird,  so  enthält  der  gleiche  Ausdruck  bei  ihnen  einen  völlig  veränderten 
Gedanken.  Als  ein  Theü  der  Weltvemunft  schliesst  die  Seele  von  sich  die  sinn- 
liche Triebbestimmtheit,  worauf  die  Kyniker  die  Moralität  reducirt  hatten,  als 
ein  Widerstrebendes  aus :  die  Forderungen  der  Natur,  mit  denen  der  Vernunft 
identisch,  sind  im  Widerspruch  mit  denen  der  Sinne. 

Hiernach  erscheint  nun  der  positive  Lihalt  der  Sittlichkeit  bei  den  Stoikern 
als  Debereinstimmung  mit  der  Natur  und  damit  zugleich  als  ein  G e - 
setz,  welches  dem  Sinnenmenschen  gegenül)er  normative  Geltung  beansprucht 
(vötio<;)  *).  In  dieser  Formel  aber  gilt  „Natur^  zugleich  in  doppeltem  Sinne').  Es 
ist  einerseits  die  aUgemeine  Natur  gemeint,  die  schaffende  Weltkraft,  der  zweck- 
thätige  Weltsinn  (vgl.  §  15),  der  XÖ70(;:  und  dieser  Bedeutung  gemäss  ist  die 
Moralität  des  Menschen  seine  Unterordnung  unter  das  Naturgesetz,  sein  wilUger 
Gehorsam  gegen  den  Lauf  der  Welt,  der  ewige  Nothwendigkeit  ist,  und  sofern 
als  diese  Weltvernunft  in  der  stoischen  Lehre  als  Gottheit  bezeichnet  wird,  auch 

1)  Damit  vollzieht  sich  eine  iDtercssantc  Wandlung  der  Bophistischen  Terminolo^e, 
welche  (§  7,  1)  vofto^  und  ^oi^  gleichgesetzt  und  der  9601^  gegenübergeBtellt  hatte:  bei  den 
Stoikern  ist  vielmehr  vojio^  =  «poai^.  —  2)  Vgl.  Diog.  Lacrt.  vfl,  87. 


§14.  Das  IdeHl  des  Weisen.  (Stoiker.)  135 

der  Gehorsam  gegen  Gott  und  das  göttliche  Gesetz,  sowie  dieünteroi'dnung  unter 
den  Weltzweck  und  das  Walten  der  Vorsehung.  Die  Tugend  des  vollkommenen 
Individuums,  das  den  übrigen  Einzelwesen  und  ihrer  sinnlichen  Einwirkung 
gegenüber  sich  so  selbstherrlich  auf  sich  zurückziehen  und  in  sich  ruhen  sollte, 
erscheint  damit  unter  ein  Allgemeinstes,  Allwaltendes  gebunden. 

Da  jedoch  nach  stoischer  Auffassung  ein  wesensgleicher  Theil  dieser  gött- 
Uchen  Weltvemunft  das  i^Y&P'Ovtxov,  die  Lebenseinheit  der  menschUchen  Seele,  ist, 
so  muss  das  naturgemässe  Leben  auch  dasjenige  sein,  welches  der  mensch- 
lichen Natur,  dem  Wesen  des  Menschen  angemessen  ist,  und  zwar  sowohl  in 
dem  allgemeineren  Sinne,  dass  Sittlichkeit  mit  echter,  voller  Menschlichkeit  und 
mit  der  für  Alle  gleichmässig  geltenden  Vemünftigkeit  zusammenfallt,  als  auch 
in  der  besonderen  Richtung,  dass  mit  der  Erfüllung  jenes  Naturgebots  jeder 
Einzelne  auch  den  innersten  Kern  seines  individuellen  Wesens  zur  Entfaltung 
bringe.  In  der  Verknüpfung  beider  Gesichtspunkte  erschien  den  Stoikern  die 
von  vernünftigen  Gesichtspunkten  geleitete  Gonsequenz  der  Lebensführung  als 
das  Ideal  der  Weisheit,  und  sie  fanden  die  höchste  Aufgabe  darin,  dass  der 
Tugendhafte  diese  durchgängige  Uebereinstimmung  mit  sich  selbst^)  in  allem 
Wechsel  des  Lebens  als  seine  wahre  Charakterstärke  zu  bewähren  habe.  Der 
politische  Doctrinarismus  der  Griechen  fand  so  seine  philosophische  FormuUrung 
und  wurde  eine  willkommene  Ueberzeugung  für  die  eisernen  Staatsmänner  des 
republicanischen  Bom. 

Wie  aber  auch  immer  die  einzelnen  Wendungen  sein  mochten,  in  denen 
die  Stoiker  ihrem  Grundgedanken  Ausdruck  gaben,  dieser  selbst  war  überall 
derselbe:  dass  das  natur-  und  vernunftgemässe  Leben  eine  Pflicht  (xa^xov) 
sei,  welche  der  Weise  zu  erfüllen,  ein  Gesetz,  dem  er  sich  im  Gegensatz  zu  seinen 
sinnlichen  Neigungen  unterzuordnen  habe.  Und  dies  Verantwortlichkeits- 
gefühl, dies  strenge  Bewusstsein  des  SoUens,  diese  Anerkeniying  einer  höheren 
Ordnung  giebt  ihrer  Lehre  wie  ihrem  Leben  Bückgrat  und  Mark. 

Auch  diese  Forderung  des  pflichtgemässen  Lebens  tritt  gelegentlich  bei 
den  Stoikern  mit  jener  Einseitigkeit  auf,  dass  das  ethische  Bewusstsein  Einiges 
aus  Vernunftgründen  verlangt,  das  Entgegenstehende  verbietet  und  alles  Uebrige 
iur  sittlich  gleichgiltig  erklärt.  Was  nicht  geboten  und  nicht  verboten  ist,  bleibt 
moralisch  indifferent  (aStd^opov),  und  daraus  ziehen  die  Stoiker  manchmal  gar 
laxe  Folgerungen,  die  sie  vielleicht  mehr  den  Worten  als  der  Gesinnung  nach 
vertreten  haben.  Aber  auch  hier  hat  die  systematische  Ausbildung  der  Theorie 
werthvoUe  Zwischenglieder  geschaffen.  Ist  nämlich  auch  nur  das  Gute  unbedingt 
geboten,  so  muss  doch  secundär  auch  das  Wünschenswerthe  als  sittlich  rathsam 
betrachtet  werden,  und  wenn  freUich  die  eigentliche  Schlechtigkeit  erst  im  Wollen 
des  unbedingt  Verbotenen  besteht,  so  wird  doch  der  sittliche  Mensch  auch  das 
„Verwerfliche^  zu  vermeiden  suchen :  so  trat  der  Abstufung  der  Güter  gemäss  auch 
eine  solche  der  Pflichten  ein,  welche  als  absolute  und  „mittlere''  unterschieden 
wurden.  Ebenso  aber  wurde  andrerseits  hinsichtlich  der  Werthung  menschlicher 
Handlungen  mit  sachlich  etwas  verändertem  Princip  zwischen  solchen  unter- 
schieden, welche  die  Forderung  der  Vernunft  ^)  äusserlich  erfuUen,  —  diese  heissen 


1)  So  haben  die  Formeln  ofJLoXoYoafJL^vux;  xij  (possi  Cyjv  und  die  andere  biuoko-^oojdvio^ 
Cy}v  schliesslich  denselben  Sinn:  Stob.  £cl.  11.  132.  —  2)  osa  6  Xoyo^  alpet  noietv:  Dioff.  Laert. 
VII,  108. 


1 


136  II.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

geziemend;  pflichtmässig  im  weiteren  Sinne  (xa^xovta)  — ,  und  solchen,  welche 
dies  lediglich  aus  der  Gesinnung,  das  Gute  thun  zu  wollen,  vollziehen:  nur  im 
letzteren  Falle  ')  liegt  eine  vollkommene  Pflichterfüllung  (xatöp&a>(ta)  vor,  deren 
Gegentheil  die  in  einer  Handlung  bethätigte  pflichtwidrige  Gesinnung,  die  Sünde 
(a|xi(/n]ii.a)  ist  So  haben  sich  die  Stoiker  vom  Pflichtbewusstsein  aus  auf  das 
ernsteste  und  zum  Theil  bis  zu  casuistischen  Betrachtungen  in  die  sittlichen 
Werthbestimmungen  menschUchen  WoUens  und  Handelns  vertieft,  und  es  darf 
als  ihre  werthvollste  Leistung  der  nach  allen  Seiten  hin  gewendete  Gedanke  be- 
trachtet werden,  dass  der  Mensch  mit  all  seinem  Thun  und  Lassen,  äusserUch 
und  innerlich,  einem  höheren  Gebote  verantwortlich  ist. 

6.  Die  grosse  Verschiedenheit  sittlicher  Lebensaufifassung,  welche  somit 
trotz  einer  Anzahl  tief  und  auch  weit  gehender  Gemeinsamkeiten  zwischen  den 
Epikureern  und  den  Stoikern  besteht,  kommt  am  deutlichsten  in  den  beider- 
seitigen Theorien  von  der  Gesellschaft  und  vom  Staat  zur  Geltung.  Darin 
freiUch  sind  beide  bis  zu  fast  wörUicher  Uebereinstimnmng  einig,  dass  der  Weise 
in  der  Selbstgenügsamkeit  seiner  Tugend  des  Staates  ^)  so  wenig  als  irgend  einer 
anderen  Lebensgemeinschaft  bedarf,  ja  dass  er  solche  im  Interesse  sei  es  des 
Selbstgenusses  sei  es  der  Pflichterfüllung  unter  Umständen  zu  meiden  habe.  In 
diesem  Sinne  rathen  selbst  Stoiker,  namentlich  spätere,  vom  Eintritt  in  das 
Familienleben  und  in  die  poUtische  Thätigkeit  ab ;  und  dem  Epikureer  genügte 
die  Verantwortlichkeit,  welche  die  Ehe  und  die  öffentliche  Wirksamkeit  mit  sich 
bringen,  um  sich  gegen  beide  sehr  skeptisch  zu  verhalten  und  namentlich  die 
letztere  für  den  Weisen  nur  in  dem  Falle  rathsam  erscheinen  zu  lassen,  wo  sie 
unvermeidlich  oder  von  ganz  sicherem  Vortheil  ist.  Im  Allgemeinen  gilt  für  die 
Epikureer  das  Xad-e  ßuoaa«;  ihres  Meisters,  die  Maxime,  in  der  Stille  zu  leben  % 
worin  die  innerhche  Zerbröckelung  der  alten  Gesellschaft  ihren  typischen  Aus- 
druck gefunden  hat. 

Allein  ein  grosser  Unterschied  zwischen  beiden  Lebensauffassungen  zeigt 
sich  doch  darin,  dass  den  Stoikern  die  Lebensgemeinschaft  der  Menschen  als  ein 
Vernunftgebot  erschien,  welches  nur  gelegentUch  hinter  der  Aufgabe  der  per> 
sönlichen  Vollkommenheit  des  Weisen  zurückstehen  müsse,  während  Epikur 
jede  natürliche  Gemeinschaft  zwischen  den  Menschen  ausdrücklich  verneinte  *) 
und  deshalb  jede  Form  des  geselligen  Zusammenschlusses  auf  utilistische  Ueber- 
legungen  zurückführte.  So  findet  die  Theorie  der  in  seiner  Schule  so  eifrig  und 
bis  zur  Sentimentalität  gepflegten  Freundschaft  nicht  den  idealen  Rückhalt,  wie 
in  der  herrlichen  Darstellung  des  Aristoteles  ^),  sondern  im  Grunde  genommen 
doch  nur  die  Motive  des  in  der  Gemeinschaft  gesteigerten  Bildungsgenusses 
der  Weisen*). 

Insbesondere  aber  hat  nun  der  Epikureismus  die  schon  in  der  Sophistik 
(§  7,  1  u.  2)  entwickelten  Vorstellungen  über  den  Ursprung  der  staatlichen  Ge- 

1)  Für  den  hier  von  den  Stoikeru  berührten  Gegensatz  hat  Kant  die  Ausdrücke 
Legalität  und  Moralität  üblich  gemacht :  das  Lateinische  unterscheidet  nach  Oicero's  Vor- 

finj?e  rectum  und  honestum.  —  2)  Epik,  bei  Flut,  de  aud.  poot  14,  37  (Us.  fr.  548^,  — 
)  rlutarch  schrieb  dagegen  das  (1128  ff.)  erhaltene  Schriftcheu  et  xaXui^  Xi^etai  xb  Vdds 
ßtmoa«;.  —  4)  Arnan,  Epict.  diss.  I  23,  1  (Us.  fr.  525);  ibid.  II,  20,  6  (523).  —  5)  Vgl.  §  13, 
12.  Die  umfangprciche  Litteratur  über  die  Freundschaft  ist  in  dieser  Hinsicht  ein  charaktensti- 
sühes  Zeichen  der  Zeit,  welche  auf  die  Einzelpersönlichkeit  und  ihre  Beziehungen  das 
Schwetvewicht  ihres  Interesses  legte.  Gicero^s  Dialog  Laelius  reproducirt  wesentlich  die  peri- 
patetische  Auffassung.  —  6)  Diog.  Lacrt.  X ,  120  (Us.  fr.  540). 


§  14.  Das  Ideal  des  Weisen.  (Epikureer,  Stoiker.)  137 

meinschafb  aus  dem  wohl  erwogenen  Interesse  der  Einzelnen  systematisch  durch- 
geführt. Der  Staat  ist  kein  natürliches  Gebilde,  sondern  von  den  Menschen  um 
der  Vortheile  willen,  die  man  von»ihm  erwartet  und  auch  erhält,  mit  Ueberlegung 
zu  Stande  gebracht  worden.  Er  wächst  aus  einem  Vertrage  (cjovOtjxt])  hervor, 
den  die  Menschen  mit  einander  eingehen,  um  sich  gegenseitig  nicht  zu  schädigen  ^), 
und  die  Staatsbildimg  ist  daher  einer  der  mächtigen  Vorgänge,  durch  welche  das 
Menschengeschlecht  vermöge  seiner  wachsenden  InteUigenz  aus  dem  Stande  der 
Wildheit  sich  zur  Civilisation  heraufgearbeitet  hat  ^).  Die  Gesetze  sind  also  in 
jedem  einzelnen  Falle  einer  Uebereinkuuft  über  gemeinsamen  Nutzen  (a6(JLßoXoy 
too  (3t>{i^fiOvtoc)  entsprungen ;  es  giebt  nichts  an  sich  Rechtes  oder  unrechtes, 
und  da  bei  dem  Vertrage  selbstverständlich  die  grössere  Intelligenz  sich  zu  eigenen 
Gunsten  geltend  macht,  so  sind  es  meistens  die  Vortheile  der  Weisen,  welche 
sich  als  die  Motive  der  Gesetzgebung  erweisen  ^).  Und  wie  für  den  Ursprung 
und  Inhalt,  so  ist  auch  für  die  Geltung  und  die  Anerkennung  der  Gesetze  die 
Summe  der  Unlust,  welche  sie  zu  verhindern,  und  der  Lust,  welche  sie  herbei- 
zufuhren geeignet  sind,  allein  massgebend.  Alle  Grundzüge  der  utilistischen 
Gesellschaftslehre  entwickeln  sich  bei  Epikur  folgerichtig  aus  der  atomi- 
stischen  Voraussetzung,  dass  die  Individuen  zunächst  auf  sich  und  für  sich  be- 
stehen und  erst  um  der  Güter  willen,  die  sie  allein  nicht  erreichen  oder  nicht 
schützen  können,  freiwillig  und  absichtsvoll  die  Lebensgemeinschaft  eingehen. 

7.  Den  Stoikern  dagegen  gilt  der  Mensch  schon  vermöge  der  Wesens- 
gleichheit seiner  Seele  mit  der  Weltvemunft  als  ein  von  Natur  zur  Gemeinschaft 
bestimmtes  Lebewesen  *\  eben  damit  aber  auch  durch  das  Vemunftgebot  zur 
Geselligkeit  in  einer  Weise  verpflichtet,  welche  nur  besondere  Ausnahmsfalle  zu- 
lässt.  Als  das  nächste  Verhältniss  erscheint  nun  auch  hier  die  Freundschaft,  der 
sittliche  Lebenszusammenhang  tugendhafter  Individuen  mit  einander,  die  in  ge- 
meinsamer Bethätigung  des  ethischen  Gesetzes  vereinigt  sind  ^).  Aber  von  diesen 
rein  persönlichen  Beziehungen  springt  die  stoische  Lehre  sogleich  auf  das  All- 
gemeinste über,  auf  die  Gesämmtheit  der  vernünftigen  Wesen  überhaupt.  Als 
Theile  derselben  Einen  Weltvemunft  bilden  Götter  und  Menschen  zusammen 
Einen  grossen,  vernünftigen  Lebenszusammenhang,  ein  TcoXtttxöv  aoanjiia,  worin 
jeder  Einzelne  ein  nothwendiges  GUed  ist  ((liXoc),  und  daraus  ergiebt  sich  für 
das  Menschengeschlecht  die  ideale  Aufgabe,  ein  aUe  seine  Glieder  um- 
schlingendes Vernunftreich  zu  bilden. 

Der  Idealstaat  der  Stoiker,  wie  ihn  schon  Zenon  in  zum  Theil  polemischer 
Parallele  zu  dem  platonischen  zeichnete,  kennt  somit  keine  Schranken  der  Natio- 
nalität oder  des  historischen  Staates,  er  ist  eine  vernünftige  Lebensgemeinschaft 
aller  Menschen,  —  ein  ideales  Weltreich.  Schon  Plutarch  hat  erkannt®),  dass  die 
philosophische  Construction  damit  dasjenige  als  veniünftig  construirte,  was  sich 
historisch  durch  Alexander  den  Grossen  anbahnte  und  was,  wie  wir  wissen,  durch 
die  Römer  vollendet  wurde.   Aber  es  darf  nicht  unbeachtet  bleiben,  dass  die 


1)  Vgl.  unter  Epikur's  xoptat  866«:  die  lapidaren  Sätze  Diog.  Lacrt.  X,  150 f.  —  2)  Vgl. 
die  Schilderung  bei  Lucret.  de  rer.  nat.  V,  922  ff.,  besonders  1103  ff.  —  3)  Stob.  flor.  43,  139 
(ÜB.  fr.  530).  —  4)  Xü>v  «poaet  izoKixiinmv  Cü>ü)v:  Stob.  Ecl.  II,  226  ff.  —  6)  Freilich  wurde  es 
den  Stoikern  ausserordentlich  schwer,  die  Bedürftigkeit,  welche  sie  als  eine  dem  Geselligkeits- 
triebe EU  Grunde  liegende  Thatsache  anerkennen  mussten,  mit  der  gerade  von  ihnen  so  schroff 
betonten  Selbstherrlichkeit  des  Weisen  in  Einklang  zu  bringen.  —  6)  Plut.  de  Alex.  M.  fort.  1, 6. 


138  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

Stoiker  dies  Weltreich  erst  secundär  als  politische  Macht,  dass  sie  es  in  erster 
Linie  als  eine  geistige  Einheit  der  Erkenntniss  und  des  Willens  gedacht  haben« 
Es  ist  begreiflich,  dass  bei  einem  so  hocbfliegenden  Idealismus  die  Stoiker 
für  das  eigentlich  Politische  nur  ein  sehr  abgeschwächtes  Interesse  übrig  belüelten. 
Wenn  auch  dem  Weisen,  um  seine  Pflicht  für  die  Gesammtbeit  selbst  in  dieser 
schlechten  Welt  zu  erfüllen,  die  Betheiligung  an  einem  besonderen  Staatsleben  ge- 
stattet und  sogar  aufgegeben  wurde,  so  sollten  ihm  doch  sowohl  die  einzelnen  Staats- 
formen als  auch  die  historischen  Einzelstaaten  schliesslich  gleichgiltig  sein.  In  ers- 
terer  Hinsicht  vermochte  sich  die  Stoa  für  keine  der  ausgeprägten  Verfassungsarten 
zu  begeistern,  hielt  sich  vielmehr,  der  aristotelischen  Andeutung  folgend,  an  ein 
gemischtes  System,  etwa  in  der  Weise,  wie  es  auch  Polybios  *)  auf  Grund  seiner 
geschichtsphilosophischen  Betrachtung  über  die  nothwendigen  Uebergänge  der 
einseitigen  Formen  in  einander  als  wünschenswerth  liinstellte.  Der  staatlichen 
Zersplitterung  der  Menschheit  aber  hielten  die  Stoiker  die  Idee  des  W  e  1 1  - 
bürgerthums  entgegen,  welche  sich  ihnen  unmittelbar  aus  jener  Vorstellimg 
von  einer  sittlichen  Lebensgemeinschaft  aller  Menschen  ergab.  Es  entsprach 
den  grossen  Bewegungen  der  Zeitgeschichte,  dass  sie  den  Werthunterschied  von 
Hellenen  und  Barbaren,  den  noch  Aristoteles  vertreten  hatte'),  als  überwunden 
bei  Seite  schoben  %  und  wenn  sie  auch  gegen  äussere  Verhältnisse  der  Lebens- 
stellung ihrem  ethischen  Frincip  nach  zu  gleichgiltig  waren,  um  für  sociale  B.e- 
formen  in  agitatorische  Thätigkeit  zu  treten,  so  verlangten  sie  doch,  dass  die  G  e  - 
rechtigkeit  und  die  allgemeine  Menschenliebe,  welche  sich  als  oberste 
Pflichten  aus  der  Idee  des  Vemunflreichs  ergeben,  auch  den  untersten  Gliedern  der 
menschlichen  Gesellschaft,  den  Sklaven,  in  vollem  Masse  zugewendet  werden  sollten. 

Trotz  ihrer  Abwendung  von  dem  griechischen  Gedanken  des  National- 
staates gebührt  somit  der  stoischen  Ethik  der  Ruhm,  dass  in  ihr  das  Rei&te  und 
Höchste,  was  das  sittliche  Leben  des  Alterthums  erzeugt  und  womit  es  über  sich 
selbst  hinaus  in  die  Zukunft  gedeutet  hat,  zur  besten  Formulirung  gelangt  ist : 
der  Eigenwerth  der  moralischen  Persönlichkeit,  die  Ueberwindung  der  Welt 
in  der  Selbstüberwindung  des  Meuschen,  die  Unterordnung  des  Einzelnen  unter 
ein  göttliches  Weltgesetz,  seine  Einordnung  in  einen  idealen  Zusammenhang 
der  Geister,  wodurch  er  weit  über  die  Schranken  seines  irdischen  Lebens  hinaus- 
gehoben wird,  und  dabei  doch  das  energische  Pflichtgefühl,  das  ihn  thatkräfiig 
seinen  Platz  in  der  Wirklichkeit  ausfüllen  lehrt,  —  alles  dies  sind  die  Merkmale 
einer  Lebensanschauung,  welche,  wenn  sie  auch  wissenschaftlich  mehr  zusammen- 
gefügt als  einheitlich  erzeugt  erscheinen,  doch  eine  der  gewaltigsten  und  folge- 
reichsten Bildungen  in  der  Geschichte  der  menschlichen  Lebensaufiassung 
darstellen. 

8.  Concentrirt  erscheinen  alle  diese  Lehren  in  dem  Begriffe  des  durch 
Natur  und  Vernunft  für  alle  Menschen  gleichmässig  bestimmten  Lebensgesetzes : 
TÖ  ^0061  Stxaiov,  und  dieser  Begriff  ist  durch  Vermittlung  Cicero 's*)  zum  gestal- 
tenden Princip  der  römischen  Jurisprudenz  geworden, 

1)  In  dem  erhaltenen  Theile  des  sechsten  Buches.  —  2)  Aristot.  Pol.  I  2,  12521)  5.  — 
B)  Sencc.  Ep.  95, 52;  cf.  Strabon  1, 4, 9.  Auch  die  persönliche  Zusammensetzung  der  stoischen 
Schule  war  von  Anfang  an  entschieden  international.  —  4)  Es  kommen  hauptsächlich  zwei 
nur  theilweise  erhaltene  Scluriflen  desselben  in  Betracht:  De  republica  und  de  legibus.  Vgl. 
M.  Voigt,  Die  Lehre  vom  jus  naturale  u.  s.  w.  (Leipzig  1856)  und  K.  UildenbbamDi  Geschichte 
und  System  der  Rechts-  und  Staatsphilosophic  I,  523  ff. 


§  15.  Mechanismus  und  Teleologie.  139 

Dieser  nämlich  hielt  in  seiner  eclectischen  Anlehnung  an  alle  Grössen  der 
attischen  Philosophie  nicht  nur  objectiv  an  dem  Gedanken  einer  sittlichen  Welt- 
ordnung;  welche  das  Yerhältniss  vernünftiger  Wesen  zu  einander  allgemeingiltig 
bestimme^  mit  aller  Energie  fest^  sondern  er  meinte  auch  in  subjectiver  Hinsicht 
—  seiner  erkenntnisstheoretischen  Ansicht  (§  17^  4)  entsprechend  — ,  dass  dies 
Yemunftgebot  allen  Menschen  gleichmässig  eingeboren  und  mit  ihrem  Selbst- 
erhaltungstriebe untrennbar  verwachsen  sei.  Aus  dieser  lex  naturae,  dem  all- 
giltigen  Naturgesetz ;  welches  über  alle  menschliche  Willkür  und  über  allen 
Wechsel  des  historischen  Lebens  erhaben  ist,  entwickeln  sich^  wie  die  Gebote  der 
Sittlichkeit  überhaupt,  so  auch  diejenigen  der  menschlichen  Lebensgemeinschaft: 
das  jus  naturale.  Indem  aber  Cicero  daran  geht,  von  diesem  Standpunkte  aus 
die  ideale  Form  des  politischen  Lebens  zu  entwerfen,  nimmt  unter  seinen  Händen  ^) 
der  stoische  Weltstaat  die  Linien  des  Römerreichs  an.  Der  Kosmopolitismus, 
bei  den  Griechen  als  fernes  Ideal  im  Niedergange  ihrer  eigenen  politischen  Be- 
deutung entsprungen,  wird  bei  den  Römern  zum  stolzen  Selbstbewusstsein  ihrer 
historischen  Mission. 

Aber  schon  in  diese  theoretische  Entwicklung  dessen,  was  der  Staat  sein 
soll,  flicht  Cicero  die  Untersuchung  darüber,  was  er  ist.  Nicht  aus  der  Ueber- 
legung  oder  der  Willkür  der  Einzelnen  hervorgegangen,  ist  er  vielmehr  ein  Pro- 
duct  der  Geschichte,  und  deshalb  mischen  sich  in  seinen  Lebensformen  die  evrig 
giltigen  Bestimmungen  des  Naturgesetzes  mit  den  historischen  Satzungen  des 
positiven  Rechtes :  diese  entwickeln  sich  theils  als  das  innere  Recht  der  einzelnen 
Staaten,  jus  civile,  theils  als  das  Recht,  welches  die  Genossen  verschiedener 
Staaten  im  Yerhältniss  zu  einander  anerkennen,  jus  gentium.  Beide  Arten  des 
positiven  Rechtes  decken  sich  in  ihrem  ethischen  Inhalt  auf  weite  Strecken  mit 
dem  Naturrecht,  aber  sie  ergänzen  dasselbe  durch  die  Fülle  historischer  Be- 
stimmungen, die  in  ihnen  zur  Geltung  gelangen. 

Diese  Begriffsbildungen  haben  nicht  nur  die  Bedeutung,  dass  sie  für  eine 
neue,  bald  von  der  Philosophie  sich  auszweigende  Specialwissenschaft  das  Gerippe 
abgegeben  haben,  sondern  auch  den  Sinn,  dass  in  ihnen  der  Werth  des  Histo- 
rischen zum  ersten  Mal  zu  voller  philosophischer  Werthung  gelangt:  und  an 
diesem  Punkte  hat  Cicero  die  politische  Grösse  seines  Volkes  in  eine  wissen- 
schaftliche Schöpfung  zu  verwandeln  gewusst. 

§  15.    Hechanismus  und  Teleologie. 

Der  Schulbetrieb  der  nacharistotelischen  Zeit  sonderte  die  philosophischen 
Untersuchungen  in  drei  grosse  Haupttheile:  Ethik,  Physik  und  Logik  (die  letztere 
bei  den  Epikureern  Kanonik  genannt).  Unter  diesen  lag  das  Hauptinteresse  über- 
all bei  der  Ethik,  und  dem  principiellen  Zusammenhange  nach  wurde  den  beiden 
anderen  nur  soweit  Bedeutung  zugestanden,  als  das  richtige  Handeln  eine  Er- 
kenntniss  der  Dinge  und  diese  wieder  eine  Klarheit  über  die  rechten  Methoden 
des  Erkennens  voraussetzt.  Daher  sind  allerdings  auch  die  Hauptrichtungen 
derphysicalischenundder  logischen  Ansichten  in  dieser  Zeit  durch  die  ethischen 
Gesichtspunkte  bestimmt,  und  das  praktische  Bedürfniss  befriedigt  sich  leicht  durch 
Aufnahme  und  Umbildung  der  älteren  Lehren:  aber  es  machen  dabei  doch  in  der 
wissenschaftlichen  Arbeit  die  grossen  Gegenstände,  namentlich  die  metaphy- 

1)  Cic.  de  rep.  11,  Iff. 


140  n.  HelleDistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

sischcD  und  physischen  Probleme,  ihre  fesselnde  Kraft  geltend;  und  so  sehen 
wir  trotzdem  diese  anderen  Zweige  der  Philosophie  sich  vielfach  in  einer  Weise 
entwickeln,  welche  mit  dem  ethischen  Stamme  nicht  völlig  übereinstimmt.  Ins- 
besondere kommt  hinsichtlich  der  Physik  hinzu,  dass  die  reiche  Entwicklung  der 
Einzelwissenschaften  schliessUch  doch  die  allgemeinen  Principien  immer  lebendig 
und  im  Fluss  erhalten  musste. 

In  dieser  Hinsicht  hat  zunächst  die  peripatetische  Schule  während  der 
ersten  Generationen  eine  bemerkenswerthe  Aenderung  in  den  von  ihrem  Meister 
überkommenen  Grundlagen  der  Naturerklärung  vorgenommen. 

1.  Der  Anfang  dazu  findet  sich  schon  bei  Theophrastos,  der  allerdings 
alle  Hauptlehren  des  Aristotelismus,  besonders  gegen  die  Stoiker,  vertheidigte, 
aber  doch  auch  theilweise  eigene  Wege  ging.  Das  erhaltene  Bruchstück  seiner 
Metaphysik  bringt  unter  den  Aporien  hauptsächlich  solche  Schwierigkeiten  zur 
Sprache,  welche  in  den  aristotelischen  Begriflfen  über  das  Verhältniss  der  Welt 
zur  Gottheit  enthalten  waren.  Der  Stagirit  hatte  die  Natur  («pootc)  als  ein  in  sich 
lebendiges  Gesammtwesen  (Cc^ov)  und  doch  ihre  ganze  Bewegung  als  eine  (teleo- 
logische) Wirkung  der  göttlichen  Vernunft  aufgefasst;  Gott  war  als  reine  Form 
von  der  Welt  getrennt,  transscendent,  und  doch  war  er  als  beseelende,  erst- 
bewegende Kraft  ihr  immanent.  Dies  metaphysische  Hauptproblem  der  Folgezeit 
hat  Theophrast  gesehen,  ohne  jedoch  eigene  Stellung  dazu  anders  als  im  Rahmen 
der  Lehre  des  Aristoteles  zu  nehmen.  Dagegen  zeigt  er  schon  bestimmtere 
Neigung  in  der  damit  sehr  nahe  zusammenhangenden  Frage  nach  dem  Verhältniss 
der  Vernunft  zu  den  niederen  Seelenthätigkeiten :  der  voöc  sollte  einerseits  als 
Form  der  animalen  Seele  immanent,  eingeboren,  andrerseits  in  seiner  Reinheit 
als  wesensverschieden  getrennt  und  in  die  Einzelseele  von  aussen  hereingekommen 
sein.  Hier  nun  entschied  sich  Theophrast  durchaus  gegen  die  Transscendenz  •, 
auch  den  voö(;  als  eine  sich  entwickelnde  Thätigkeit  subsumirte  er  unter  den  Be- 
griff des  Geschehens  '),  der  Bewegung  (xivTjotc)  und  stellte  ihn  neben  die  Thier- 
seele  als  etwas  nicht  generell  sondern  nur  graduell  davon  Verschiedenes. 

Noch  energischer  ging  in  derselben  Richtung  Strato n  vor.  Er  hob  die 
Grenzen  zwischen  Vernunft  und  niederer  Vorstellungsthätigkeit  völlig  auf:  beide, 
lehrt  er,  bilden  eine  untrennbare  Einheit;  es  giebt  kein  Denken  ohne  Anschau- 
ungen, und  ebensowenig  giebt  es  Wahrnehmung  ohne  die  Mitwirkung  des 
Denkens;  beide  zusammen  gehören  zu  dem  einheitlichen  Bewusstsein,  das  er  mit 
den  Stoikern  to  T^s|j.ovtxöv  nennt  (vgl.  §  14,  3).  Aber  Straten  wendete  nun  den- 
selben Gedanken,  den  er  psychologisch  ausführte,  auch  auf  das  analoge  meta- 
physische Verhältniss  an.  Auch  das  t!)7£(iovixöv  der  (pöot?,  die  Vernunft  der  Natur, 
kann  nicht  als  etwas  von  ihr  Getrenntes  angesehen  werden.  Mochte  das  nun  so 
ausgedrückt  werden,  dass  Straten  zur  Erklärung  der  Natur  und  ihrer  Erschei- 
nungen der  Hypothese  der  Gottheit  nicht  zu  bedürfen  geglaubt  habe,  oder  so, 
dass  er  die  Natur  selbst  als  Gott  gesetzt,  ihr  aber  nicht  nur  äussere  Menschen- 
ähnlichkeit, sondern  auch  das  Bewusstsein  abgesprochen  habe  *),  —  immer  bildet 
der  Stratonismus,  von  der  Lehre  des  Aristoteles  aus  gesehen,  eine  einseitig  natu- 
ralistische  oder  pantheistische  Umbildung.  Er  verleugnet  den  Monotheismus 
des  Geistes,  den  Begriff  der  Transscendenz  Gottes,  und  indem  er  lehrt,  dass  so 


1)  Simpl.  Phys.  225  a.  -  2)  Cic.  Acad.  II,  38,  121.  De  uat.  deor.  I,  13,  35. 


§  15.  Mechanismus  und  Teleologie.   (Straten,  Stoiker.)  141 

wenig  wie  blosser  Stoff,  so  wenig  auch  eine  reine  Form  denkbar  sei,  schiebt  er 
das  platonische  Element  der  aristotelischen  Metaphysik,  welches  eben  in  der 
Trennung  (y((üpia\k6<;)  der  Vernunft  von  der  Materie  stehengeblieben  war,  soweit 
zurück,  dass  damit  das  demokritische  Element  wieder  ganz  frei  wird :  Straton 
sieht  im  Weltgeschehen  nur  immanente  NatumothWendigkeit  und  nicht  mehr  die 
Wirkung  einer  geistigen,  ausserweltlichen  Ursache. 

Doch  bleibt  dieser  Naturalismus  immer  noch  so  weit  in  Abhängigkeit  von 
Aristoteles,  als  er  die  natürlichen  Ursachen  des  Geschehens  nicht  in  den  Atomen 
und  ihren  quantitativen  Bestimmungen,  sondern  ausdrücklich  in  den  ursprüng- 
lichen Qualitäten  (ÄOiönfjtsc)  und  Kräften  (Sovdt(ist<;)  der  Dinge  sucht.  Wenn  er 
unter  diesen  besonders  die  Wärme  und  die  Kälte  hervorhob,  so  geschah  das 
ganz  im  Geiste  der  dynamischen  Auffassungen,  wie  sie  der  ältere  Hylozoismus 
gehabt  hatte :  und  diesem  scheint  auch  Straton  in  seiner  unentschiedenen  Zwischen- 
stellung zwischen  mechanischer  und  teleologischer  Welterklärung  am  nächsten 
gestanden  zu  haben.  Eben  deshalb  aber  verläuft  diese  Seitenentwicklung  mit 
Straton  selbst  resultatlos :  denn  sie  war,  als  sie  begann,  bereits  durch  die  stoische 
und  die  epikureische  Physik  überholt.  Beide  vertraten  auch  den  Standpunkt  im- 
manenter Naturerklärung:  aber  die  erstere  ebenso  ausgesprochen  teleologisch, 
wie  die  letztere  mechanisch. 

2.  Die  eigenthümlich  verwickelte  Position  der  Stoiker  auf  dem  Gebiet 
der  metaphysischen  und  naturphilosophischen  Fragen  ist  durch  Vereinigung  ver- 
schiedener Elemente  bestimmt.  Im  Vordergrunde  steht  das  ethische  Bedürfniss, 
den  Inhalt  der  individuellen  Sittlichkeit,  der  nicht  mehr  wie  zu  Griechenlands 
grosser  Zeit  in  Staat  und  Nationalität  wurzeln  mochte,  aus  einem  allgemeinsten, 
metaphysischen  Princip  herzuleiten  und  deshalb  den  Begriff  desselben  so  zu  ge- 
stalten, dass  diese  Herleitung  möglich  war.  Dem  stand  aber  als  Erbtheil  aus 
dem  Kynismus  die  entschiedene  Abneigung  entgegen,  dies  Princip  als  ein  jenseitiges, 
über  die  Erfahrungswelt  hinauszusetzendes,  übersinnliches  und  unkörperliches 
anzusehen.  Um  so  mehr  aber  traten  die  in  der  peripatetischen  Naturphilosophie 
angeregten  Gedanken,  welche  die  Welt  als  ein  in  sich  selbst  zweckmässig  bewegtes 
Lebewesen  zu  verstehen  suchten,  mit  entscheidender  Kraft  hervor.  Für  alle  diese 
Motive  schien  sich  nun  gleichmässig  die  Logoslehre  des  Heraklit  als  Lösung 
der  Aufgabe  darzustellen,  und  diese  wurde  daher ')  zum  Mittelpunkte  der  stoischen 
Metaphysik. 

So  ist  denn  die  Grundanschauung  der  Stoiker  die,  dass  das  ganze  Weltall 
einen  einzigen,  einheitlichen  Lebenszusammenhang  bilde  und  dass  alle  besonderen 
Dinge  die  aus  dem  Ganzen  bestimmten  Gestaltungen  einer  in  ewiger  Thätigkeit 
begriffenen  göttlichen  Urkraft  seien.  Ihre  Lehre  ist  grundsätzlicher  und  (in  Op- 
position gegen  Aristoteles)  bewusster  Pantheismus.  Die  unmittelbare  Folge 
davon  ist  aber  das  energische  Bestreben,  den  platonisch-aristotelischen  Dualismus 
zu  überwinden*)  und  den  Gegensatz  des  Sinnlichen  und  des  Uebersinnlichen,  der 
Natumothwendigkeit  und  der  zweckthätigen  Vernunft,  der  Materie  und  der  Form 
wieder  aufzuheben.   Die  Stoa  versucht  dies  durch  einfache  Identification  jener 

1)  Vgl.  H.  SiEBKCK,  Die  Umbildung  der  peripatetischen  Naturphilosophie  in  die  der 
Stoiker  (Unters,  z.  Philosopliie  der  (Iriechen,  2.  Aufl.  p.  181  fl).  —  2)  Wenn  ähnlich  schon 
das  Verhältniss  des  Aristoteles  zu  Piaton  aufgefasst  werden  musste  (§  13,  1 — 4),  so  zeigt  eben 
damit  die  stoische  Naturphilosophie  eine  Weiterentwicklung  in  derselben  Richtung  wie  die 
peripatetische  in  Straton. 


142  n.  HelleniBtisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

Begriffe,  deren  gegensätzliche  Ausprägung  sie  dadurch  freiUch  nicht  aus  der 
Welt  schaffen  kann. 

Sie  erklärt  daher  das  göttliche  Weltwesen  fiir  die  Urkraft,  in  der  gleich- 
massig  die  gesetzliche  Bedingtheit  und  die  zweckvolle  Bestimmtheit  aller  Dinge 
und  alles  Geschehens  enthalten  sind,  fttr  den  Weltgrund  und  den  Weltsinn.  Als 
lebendig  erzeugende  und  gestaltende  Kraft  ist  die  Gottheit  der  'k6^o<;  onep^a- 
Ttxöc,  das  Lebensprincip,  welches  sich  in  der  Fülle  der  Erscheinungen  als 
deren  eigenthümliche,  besondere  Xö^ot  (Sirspitatixoi  oder  Bildungskräfte  entfaltet. 
In  dieser  organischen  Function  ist  Gott  aber  auch  die  zweckvoll  schaffende  und 
leitende  Vernunft  und  damit  hinsichtlich  aller  einzelnen  Vorgänge  die  allwaltende 
Vorsehung  (Trpövota).  Die  Bestimmung  des  Besonderen  durch  das  Weltganze 
(auf  welche  die  beherrschende  Grundüberzeugung  der  Stoiker  geht)  ist ')  eine 
durchweg  zweckvolle  und  vernünftige  Ordnung,  und  sie  bildet  als  solche  die 
höchste  Norm  (vö[jlo(;),  nach  der  sich  alle  Einzelwesen  in  der  Entwicklung  ihrer 
Thätigkeit  zu  richten  haben  ^). 

Allein  dies  Alles  bestimmende  „Gesetz^  gilt  nun  den  Stoikern,  wie  dereinst 
Heraklit,  zugleich  als  die  Alles  zwingende  Macht,  welche  als  unvcrbrüchUche 
N  oth  wendigkeit  (ovA^xt])  und  damit  als  unentfliehbares  Geschick  (st|iap|tsv7], 
fatum)  in  der  unabänderlichen  Reihenfolge  der  Ursachen  und  Wirkungen  jede 
einzelne  Erscheinung  hervorbringt.  Nichts  in  der  Welt  geschieht  ohne  vorher- 
gehende Ursache  (aitia  irpo7]Yoo|iivYj),  und  gerade  vermöge  dieser  durchgängigen 
causalen  Bestimmtheit  alles  Besonderen  besitzt  das  Weltall  den  Charakter  seines 
zweckvollen  Zusammenhanges*).  Daher  bekämpfte  Chrysippos  auf  das  Nach- 
drücklichste den  Begriff  des  Zufalls  und  lehrte,  dass  scheinbare  Ursachlosigkeit 
des  Einzelgeschehens  nur  eine  der  menschlichen  Einsicht  verborgene  Art  der 
Verursachung  bedeuten  könne  *).  In  dieser  Annahme  ausnahmloser  Natur- 
nothwendigkeit  auch  des  Einzelsten  und  Geringsten  (die  natürlich  auch 
in  der  Form  einer  Geltung  der  göttUchen  Vorsehung  bis  in  die  kleinsten  Ereig- 
nisse des  Lebens  hinein^)  zum  Ausdruck  kam)  stimmt  die  stoische  Schule 
bis  zu  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  Demokrit  überein,  und  sie  ist  die  einzige, 
welche  im  Alterthum  diesen  werthvollsten  Gedanken  des  grossen  Abderiten  bis 
in  alle  S^weige  der  theoretischen  Wissenschaft  durchgeführt  hat. 

In  allen  anderen  Hinsichten  freilich  stehen  die  Stoiker  dem  Demokrit 
gegenüber  und  näher  bei  Aristoteles.  Während  nämlich  bei  dem  Atomismus 
die  Naturnothwendigkeit  alles  Geschehens  aus  den  Bewegungsantrieben  der  Ein- 
zeldinge resultirt,  gilt  sie  den  Stoikern  als  der  unmittelbare  Ausfluss  der  Leben - 
digkeitdesGanzen,  und  gegenüber  der  Reduotion  aller  Qualitäten  auf  quanti- 
tative Differenzen  hielten  sie  an  der  Realität  der  Eigenschaften  als  der  eigenthüm- 
liehen  Kräfte  der  Einzeldinge  und  der  quaUtativen  Veränderung  (aXXototai^;  im 
Gegensatz  zu  der  räumlichen  Bewegung)  fest.   Besonders  aber  polemisirten  sie 


1)  Wie  schon  der  platonische  Timaios  lehrte:  §  11,  10.  —  2)  Der  normative  Charakter 
im  Begriff  des  Xo'fog  trat  deutlich  schon  bei  Heraklit  hervor:  §  6,  2,  S.  48,  Anm.  6.  —  3)  Plut. 
de  fato  11,  574.  —  4)  Ibid.  7,  572.  —  5)  Plut.  lässt  (comm.  not.  34,  5,  1076)  den  Chrysipp 
sagen,  dass  auch  nicht  das  Geringste  sich  anders  verhalte  als  nach  dem  Rathschluss  des  Zeus. 
Vgl.  Oic.  de  nat.  deor.  11,  65,  164.  Nur  der  Umstand,  dass  die  Stoa  die  unmittelbare 
Wirkung  der  göttlichen  Vorsehung  auf  die  zweckvolle  Bestimmung  des  Ganzen  beschränkte 
und  erst  daraus  diejenige  des  Einzelnen  ableitete,  erklärt  solche  Ausdrucksweisen,  wie  das 
bekannte:  Magna  dii  curant,  parva  uegiiguut.    V^gl.  §  16,  3. 


§  15.   Mechanismus  und|T6leo]o^e.  (Stoiker,  Epikureer.)  143 

gegen  die  rein  mechanische  Elrklärung  des  Naturgeschehens  durch  Druck  und 
Stoss:  aber  in  ihrer  Ausführung  der  Teleologie  sanken  sie  von  der  grossen 
Auffassung  des  Aristoteles,  der  Überali  die  immanente  Zweckmässigkeit  der  Form- 
gestaltungen betont  hatte^  zu  der  Betrachtung  des  Nutzens  herab^  welchen  die 
Naturerscheinungen  für  dieBedürfiiisse  der  vernunftbegabten  Wesen,  „der  Götter 
und  der  Menschen*^,  abwerfen  *).  Insbesondere  übertreiben  sie  bis  zu  lächerlicher 
Philisterhaftigkeit  den  Nachweis,  wie  Himmel  und  Erde  und  Alles,  was  sich  drin 
und  drauf  bewegt,  so  herrlich  zweckvoll  für  den  Menschen  eingerichtet  sei  ^). 

3.  In  allen  diesen  theoretischen  Ansichten,  und  gerade  in  ihnen,  stehen 
den  Stoikern  die  Epikureer  diametral  gegenüber.  Bei  diesen  hatte  die  Be- 
schäftigung mit  metaphysischen  und  physischen  Problemen  überhaupt  nur  den 
negativen  Zweck  %  die  reUgiösen  Vorstellungen  zu  beseitigen,  durch  welche  der 
ruhige  Selbstgenuss  des  Weisen  gestört  werden  könnte.  Daher  kam  es  Epikur 
vor  Allem  darauf  an,  aus  der  Naturerklärung  jedes  Moment  auszuschliessen, 
welches  eine  von  allgemeineren  Zwecken  geleitete  Regierung  der  Welt  auch  nur 
möglich  erscheinen  liesse:  daher  fehlt  es  andrerseits  der  epikureischen  Welt- 
anschauung durchaus  an  einem  positiven  Princip.  So  erklärt  es  sich,  dass  Epikur 
wenigstens  fUr  alle  naturwissenschaftUchen  Fragen,  denen  kein  praktisches  Inter- 
esse abzugewinnen  war,  nur  ein  skeptisches  Achselzucken  hatte,  und  wenn  auch 
manche  seiner  späteren  Schüler  weniger  beschränkt  gewesen  zu  sein  und  wissen- 
schaftlicher gedacht  zu  haben  scheinen,  so  waren  doch  die  Geleise  der  Schul- 
meinung zu  tief  gefahren,  als  dass  man  zu  wesentlich  weiteren  Zielen  gelangt 
wäre.  Je  mehr  vielmehr  im  Laufe  der  Zeit  die  teleologische  Naturauffassung 
den  gemeinsamen  Boden  bildete,  auf  dem  sich  akademische,  peripatetische  und 
stoische  Lehre  in  synkretistischer  Verschmelzung  begegneten,  um  so  mehr  be- 
harrte der  Epikureismus  auf  seinem  vereinsamten  Standpunkte  der  Negation ;  er 
war  in  theoretischer  Hinsicht  wesentlich  antiteleo  1  o  gis  ch,  und  er  hat  in  dieser 
Hinsicht  nichts  positiv  Neues  zu  Wege  gebracht. 

Glücklich  war  er  nur  in  der  allerdings  sachlich  nicht  allzu  schwierigen  Be- 
kämpfung der  anthropologischen  Auswüchse,  zu  denen  die  teleologische  Welt- 
anschauung namenthch  bei  den  Stoikern  führte^):  aber  zu  einer  pnncipiellen 
Gegenschöpfung  war  er  nicht  im  Stande.  Epikur  ergriff  zwar  zu  diesem  Zwecke 
die  äusseren  Daten  der  materialistischen  Metaphysik,  me  er  sie  von  Demokrit 
übernehmen  konnte;  allein  er  war  weit  entfernt,  an  dessen  wissenschaftUche  Höhe 
heranzureichen.  Nur  soweit  konnte  er  dem  grossen  Atomisten  folgen,  dass  auch 
er  zur  Erklärung  der  Welt  nichts  weiter  zu  bedürfen  glaubte  als  des  leeren  Raumes 
und  der  darin  sich  bewegenden,  zahllosen,  nach  Gestalt  und  Grösse  unendlich 
verschiedenen,  untheilbaren  Körperstückchen;  und  auf  deren  Bewegung,  Stoss 
und  Druck  führte  auch  er  alles  Geschehen  und  alle  dadurch  entstehenden  und 
wieder  vergehenden  Dinge  und  Dingsysteme  (Welten)  derartig  zurück,  dass  er 
aus  diesen  rein  quantitativen  Verhältnissen  auch  alle  qualitativen  Differenzen 
ableiten  wollte  ^).  Er  acceptirt  somit  die  rein  mechanische  Auffassung  des  Ge- 

1)  Cic.  de  fin.  III,  20,  67.  de  nat  deor.  II,  58 ff.  —  2)  Dürfte  man  Xenophon's  Memora- 
bilien  trauen,  so  hätten  die  Stoiker  ^rade  hierin  keinen  Geringeren  als  Sokrates  zu  ihrem 
Vorgänger:  doch  scheint  es,  dass  schon  in  diesem  kynisch  angehauchten,  wenn  nicht  gar 
schon  stoisch  überarbeiteten  (Krohn)  Bericht  der  allgemeine  Glaube  des  Sokrates  an  eine 
zweckvolle  Weltleitung  durch  göttliche  Vorsehung  stark  in*s  Kleinbürgerliche  herabgezogen 
sei:  vgl.  §8,8.  —  3)  Diog.  Laert.  X,  143.  Us,  p.  74.  —  4)  Vgl.  bes.  Lucret.  de  rer.  nat.  I, 
1021 ;  V,  156.    Diog.  Laert.  X,  97.  —  5)  Sext.  Emp.  adv.  math.  X,  42. 


144  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie,  l.  Ethische  Periode. 

schehens;  aber  er  leugnet  ausdrücklich  die  unbedingte  und  ausnahmslose  Noth- 
wendigkeit  desselben.  Die  Lehre  Demokrit's  ist  daher  nur  soweit,  als  sie  Ato- 
mtsmus  und  Mechanismus  ist,  auf  die  Epikureer  übergegangen;  hinsichtlich  des 
viel  tieferen  und  werthvolleren  Princips  der  allgemeinen  NaturgesetzUchkeit  haben 
seine  Erbschaft,  wie  oben  ausgeführt,  die  Stoiker  angetreten. 

Indessen  hängt  gerade  dies  eigenthümlicheVerhältniss  mit  der  epikureischen 
Ethik  und  dem  entscheidenden  Einfluss,  den  sie  auf  die  Physik  ausübte,  auf  das 
Genaueste  zusammen:  ja,  man  darf  sagen,  dass  die  individualisirende  Tendenz, 
welche  die  sittliche  Reflexion  des  nacharistotelischen  Zeitalters  nahm,  gerade  in 
der  Lehre  Epikur's  die  ihr  am  meisten  adäquate  Metaphysik  gefunden  hat.  Für 
eine  Moral,  welche  die  Yerselbständigung  des  Einzelwesens  und  dessen  Rückzug 
auf  sich  selbst  zu  ihrem  wesentUchsten  Inhalt  hatte,  musste  eine  Weltanschauung 
willkommen  sein,  welche  die  Urbestandtheile  der  Wirklichkeit  als  vollkommen 
unabhängig  ebenso  von  einander  wie  von  einer  einheitUchen  Kraft  und  ihre  Thä- 
tigkeit  als  lediglich  durch  sie  selbst  bestimmt  betrachtete  ^).  Nun  enthielt  aber 
Demokrit^s  Lehre  von  der  unverbrüchlichen  Naturnoth  wendigkeit  alles  Geschehens 
unverkennbar  ein  (heraklitisches)  Moment,  welches  diese  Selbstherrlichkeit  der 
Einzeldinge  aufhebt,  und  gerade  der  Aufnahme  dieses  Moments  verdankten  die 
Stoiker  (vgl.  §  14,  5)  das  Hinauswachsen  ihrer  Ethik  über  deren  kynisch  einseitige 
Voraussetzungen.  Um  so  begreiflicher  ist  es,  dass  Epikur  eben  dies  Moment  fallen 
liess :  und  seine  Weltanschauung  charakterisirt  sich  der  Stoa  gegenüber  gerade 
dadurch,  dass,  während  diese  alles  Einzelne  aus  dem  (iranzen  heraus  bestimmt 
sein  liess,  er  vielmehr  das  Ganze  als  ein  Erzeugniss  ursprünglich  seiender  und 
ebenso  ursprünglich  functionirender  Einzeldinge  betrachtete.  Seine  Lehre  ist 
in  jeder  Beziehung  consequenter  Atomismus. 

So  haite  der  Dcmokritismus  das  Unglück,  dass  er  für  die  Tradition  des 
Alterthums  und  damit  auch  des  Mittelalters  in  einem  Systeme  fortgepflanzt  wurde, 
welches  zwar  seine  atomistische,  auf  die  ausschliessliche  Realität  der  Quantitäts- 
verhältnisse und  die  mechanische  Auffassung  des  Geschehens  gerichtete  An- 
schauung beibehielt,  aber  seinen  Gedanken  des  gesetzmässigen  Naturzusammen- 
hanges zur  Seite  schob. 

4.  In  diesem  Sinne  gestaltete  Epikur  die  Weltentstehungslehre  des  Ate- 
mismus  um^).  Gegenüber  der  wohl  schon  von  den  Pythagoreern,  jedenfalls  aber 
von  Demokrit,  Piaton  und  Aristoteles  gewonnenen  Einsicht,  dass  im  Raum  an 
sich  keine  andere  Richtung  als  die  vom  Centrum  nach  der  Peripherie  und  umge- 
kehrt gegeben  sei,  beruft  er  sich  —  seiner  Erkenntnisslehre  (vgl.  §  1 7)  gemäss  — 
auf  die  Aussage  der  Sinne*),  wonach  es  ein  absolutes  Oben  und  Unten  giebt,  und 
behauptet  demgemäss,  dass  die  Atome  vermöge  ihrer  Schwere  sich  ursprüngUch 
sämmtlich  in  der  Bewegung  von  oben  nach  unten  befanden.  Um  aber  aus  diesem 
Landregen  der  Atome  die  Entstehung  von  Atomcomplexen  herzuleiten,  nahm  er 
an,  dass  einige  derselben  willkürUch  von  der  geraden  Fall-Linie  abgewichen  seien: 
daraus  sollten  sich  dann  die  Zusammenstösse,  die  Atomanhäufungen  und  schUess- 
lich  die  Wirbelbewegungen  erklären,  welche  zur  Bildung  von  Welten  führen  und 


l)  So  begründete  Epikur  seine  Abweichung  von  der  demokritiscben  WelterklSrung 
durch  Berufung  auf  die  menschliche  Willensfreiheit:  vgl.  §  16;  und  dazu  die  Belege  bei  Zrller, 
IV  ■,  408,  1.  —  2)  Ps.-Plut.  plac.  I,  3.  Dox.  D.  2ö5;  Cic.  de  fin.  I,  6,  17.  üdyäü,  Morale 
d'Epic.  74.-31  Diog.  Laert.  X,  60. 


§  15.  Mechanismus  nnd  Teleologie.  (Epikureer.)  145 

welche  der  alte  Atomismus  aus  dem  ZusammentrefFen  der  regellos  bewegten 
Atome  hergeleitet  hatte  *). 

Merkwürdig  ist  es  nun  aber,  dass  Epikur,  nachdem  er  in  dieser  Weise  den 
inneren  Zusammenhang  der  demokritischen  Lehre  verdorben  hatte ,  für  die  wei- 
tere Erklärung  der  einzelnen  Vorgänge  des  Naturgeschehens  auf  die  Willkür  der 
Atome  verzichtete  und  von  dem  Punkte  an,  wo  ihm  die  Wirbelbewegung  der 
Atomcomplexe  begriffen  zu  sein  schien,  nur  noch  das  Princip  mechanischer  Noth- 
wendigkeit  gelten  liess^).  Er  brauchte  also  die  willkürliche  Selbstbestimmung 
der  Atome  nur  als  dasjenige  Princip,  welches  den  Anfang  einer  nachher  rein 
mechanisch  sich  vollziehenden  (Wirbel-)  Bewegung  begreiflich  machen  sollte,  d.  h. 
genau  ebenso,  wie  etwa  Anaxagoras  den  Kraftstoff  vooc  (vgl.  S.  40).  Denn  auf 
diesem  metaphysischen  Unterbau  errichtete  Epikur  eine  physicalische  Lehre, 
welche  für  die  Erklärung  ausnahmslos  aller  Erscheinungen  der  Natur  lediglich 
die  Mechanik  der  Atome  anerkannte,  und  er  führte  dies  namentlich  auch  hin- 
sichtlich der  Organismen  aus,  indem  er  für  das  Begreifen  von  deren  zweckmässiger 
Gestaltung  den  empedokleischen  Gedanken  von  dem  Ueberleben  des  Zweck- 
mässigen anwendete. 

Das  demokritische  Princip  der  Natumothwendigkeit  kommt  endlich  bei 
Epikur  auch  darin  zur  Geltung,  dass  er  annahm,  bei  dem  fortwährenden  Ent- 
stehen und  Vergehen  der  Welten,  welche  sich  durch  die  Atomanhäufungen  bilden, 
müsse  schliesslich  —  in  einer  Weise,  die  man  jetzt  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  begründen  würde,  —  jede  mögliche  Oombination 
und  damit  jede  Form  der  Weltbildung  sich  vdederholen,  sodass  in  Anbetracht 
der  Unendlichkeit  der  Zeit  nichts  geschehen  könne,  was  nicht  in  derselben  Weise 
schon  einmal -dagewesen  sei^).  In  dieser  Lehre  begegnet  Epikur  sich  dann  wieder 
mit  den  Stoikern,  welche  eine  Vielheit  zwar  nicht  coexistirender,  aber  in  der  Zeit 
aufeinanderfolgender  Welten  lehrten,  dabei  jedoch  sich  zu  der  Behauptung  ge- 
nöthigt  sahen,  dass  diese  sich  bis  in  die  letzte  Besonderheit  der  Einzelgestaltung 
und  des  Einzelgeschehens  immer  völlig  gleich  sehen  müssten.  Wie  die  Welt 
aus  dem  göttlichen  Urfeuer  hervorgeht,  so  wird  sie  nach  vorher  bestimmtem 
Zeitmass  jedesmal  wieder  in  dasselbe  zurückgenommen:  wenn  dann  aber  nach 
der  Weltverbrennung  die  Urkraft  mit  der  Bildung  einer  neuen  Welt  beginnt,  so 
entfaltet  sich  diese  ewig  sich  gleichbleibende  yiK3t<;  ihrer  Vernünftigkeit  und  Noth- 
wendigkeit  gemäss  immer  wieder  in  derselben  Weise.  Diese  Wiederkehr  aller 
Dinge  (iraXtYYevsota  oder  aroxatdoraotc)  erscheint  danach  als  nothwendige  Con- 
sequeuz  der  beiden  stoischen  Wechselbegriffe  Xö^oc  und  Ei|iap|iiyifj. 

1)  Vgl.  §4,  9.  Es  scheint,  dass  spätere  Epikureer,  welche  an  den  sinnlichen  Grundlagen 
dieser  Vorstellung  festhalten  und  doch  die  Willkör  der  Atome  ausschliessen  und  wieder  mehr 
den  demokritischen  Gedanken  der  Naturgesetzlichkeit  durchfuhren  wollten,  auf  den  Ausweg 
verfielen,  die  Zusammenhäufung  (aO-poiapiGi;)  der  Atome  daraus  zu  erklären,  dass  die  massigeren 
im  leeren  Räume  schneller  fielen  als  die  „leichteren":  wenigstens  polemisirt  gegen  solche 
Ansichten  Lucr.  de  rer.  nat.  II,  225 flf.  —  2)  Im  gewissen  Sinne  könnte  man  daher  —  vom 
Standpunkt  heutiger  Kritik  —  sagen,  dass  der  Unterschied  zwischen  Demokrit  und  Epikur 
nur  relativ  sei.  Als  unerklärte  Urthatsache  gilt  dem  ersteren  die  Bew^egungsrichtung,  welche 
jedes  Atom  von  vom  herein  hat,  dem  letzteren  eine  willkürliche,  zu  irgend  einem  Zeitpunkte 
eintretende  Abweichung  von  einer  für  alle  gleichmässigen  Fallrichtung:  der  wesentliche  Unter- 
schied bleibt  aber  der,  dass  diese  Urthatsache  bei  Demokrit  etwas  zeitlos  Gegebenes,  bei 
Epikur  dagegen  ein  einmaliger  zeitlicher  Act  der  Willkür  ist,  welcher  ausdrücklich  mit 
der  ursachlosen  Selbstbestimmung  des  menschlichen  Willens  (vgl.  §  16)  in  Parallele  gestellt 
wird.  —  3)  Plut.  bei  Euseb.  Dox.  D.  581,  19.  Us.  fr.  266. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  iq 


146  II-  Hellenistisch- römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

5.  Die  theoretischen  YorstellungcD  dieser  beiden  Hauptschulen  des  späteren 
Alterthums  sind  sonach  nur  darin  mit  einander  einig,  dass  sie  durchweg  materia- 
listisch  sind,  und  sie  haben  gerade  im  Gegensatz  zu  Piaton  und  Aristoteles 
diese  ihre  Stellung  ganz  ausdrücklich  hervorgehoben.  Beide  behaupten,  dass  das 
Wirkliche  (ta  Svta),  weil  es  sich  im  Wirken  und  im  Leiden  (icotstv  xal  närr/ßiv) 
offenbare,  nur  körperlich  sein  könne;  nur  den  leeren  Raum  erklärten  die  Epikureer 
für  etwas  Unkörperliches.  Dagegen  bekämpften  sie  die  (platonische)  Ansicht^ 
dass  die  Eigenschaften  der  Körper  etwas  an  sich  (xaö-'  eaoTÖ)  Uukörperliches 
seien ^),  und  die  Stoiker  gingen  sogar  so  weit,  dass  sie  selbst  die  Eigenschaften, 
Kräfte  und  Verhältnisse  der  Dinge,  welche  sich,  an  diesen  wechselnd,  doch  als 
wirklich  darstellen,  für  „Körper"  erklärten*),  und  mit  einer  Vorstellung,  welche 
an  das  Kommen  und  Gehen  der  Homöomerien  bei  Anaxagoras  erinnert^),  be- 
trachteten sie  das  Vorhandensein  und  Wechseln  der  Eigenschaften  an  den  Dingen 
als  eine  Art  von  Beimischung  dieser  Körper  in  den  anderen,  woraus  sich  dann  die 
Ansicht  von  der  allgemeinen  Mischung  und  gegenseitigen  Durchdringung  aller 
Körper  (xpaGtc  SC  oXcov)  ergab. 

In  der  Ausführung  der  materialistischen  Theorie  haben  nun  die  Epikureer 
kaum  etwas  Neues  geleistet;  dagegen  weist  die  stoische  Naturlehre  eine  An- 
zahl von  neuen  Anschauungen  auf,  welche  nicht  nur  an  sich  interessant  sind, 
sondern  auch  ftir  die  Weltvorstellung  der  folgenden  Jahrhunderte  wesentliche 
Linien  vorgezeichnet  haben. 

Zunächst  treten  bei  dieser  Ausführung  die  beiden  Gegensätze,  welche  in 
dem  einheitlichen  Naturbegriffe  aufgehoben  (oder  identificirt)  sein  sollten,  wieder 
auseinander.  Das  göttliche  Urwesen  theilt  sich  in  das  AVirkende  und  das  Leidende, 
die  Kraft  und  den  Stoff.  Als  Kraft  ist  die  Gottheit  Feuer  oder  wanner  Lebens- 
hauch, Pneuma,  als  Stoff  verwandelt  sie  sich  aus  feuchtem  Dunst  (Luft)  theils 
in  AVasser  theils  in  Erde.  So  ist  das  Feuer  die  Seele  und  das  „Feuchte"  der 
Leib  des  Weltgottes;  beide  aber  bilden  doch  ein  in  sich  selbst  identisches,  ein- 
heitliches Wesen.  AVährend  die  Stoiker  so  in  der  Lehre  von  der  Verwandlung 
und  Rückverwandlung  der  Stoffe  sich  an  Heraklit,  in  der  Charakteristik  der  vier 
Elemente  hauptsächlich  an  Aristoteles  anschliessen ,  und  dem  letzteren  auch  in 
der  Darstellung  des  AVeltgebäudes  und  des  zweckmässigen  Systems  seiner  Be- 
wegungen der  Hauptsache  nach  folgen,  ist  das  Wichtigste  in  ihrer  Physik  zweifel- 
los die  Lehre  vom  Pneuma. 

Gott  als  schaffende  Vernunft  (Xöyo?  aÄspjJLartxöc)  ist  dieser  warme  Lebens - 
hauch,  der  gestaltende  Feuergeist,  welcher  alle  Dinge  durchdringt  und  in  ihnen 
als  das  thätige  Princip  waltet:  er  ist  das  AVeltall  als  in  sich  selbst  bewegtes, 
zweck  voll  und  gesetzmässig  entfaltetes  Lebewesen.  Alles  dies  wird  von  den  Stoi- 
kern in  dem  Begi-iffe  des  7rvsi>{j.a  zusammengefasst  *),  einer  ausserordentlich  be- 
ziehungsvollen und  verdichteten  Vorstellung,  in  der  sich  Anregungen  aus  Hera- 
klit   (XÖ70?),   Anaxagoras   (voö?),   Diogenes  von  Apollonia    (aigp),    Demokrit 


1)  Diog.  Laert.  X,  67.  —  2)  Plut.  c.  not.  50,  1085.  —  3)  Eine  ähnliche,  an  Anaxagoras 
erinnernde  MaterialiBirung  der  platonischen  Ideenlehre  (Plat.  Phaed.  102)  hat,  wie  es  scheint, 
schon  der  zur  Akademie  zählende  £udoxo8  (S.  7^)  vollzogen:  Arist.  Metaph.  I  9,  991  a  17 
und  dazu  Alex.  Aphr.»  Schol.  in  Arist.  573  a  12.  —  4)  Stob.  Ecl.  I,  374.    Dox.  D.  463,  16: 

sivai  xb  Sv  icvsu^a  x'.vo5v  iomxb  np&c  komxb  xal  fi{  a6toü,   Yj   icvsu^oi  ioLOxb   xivoüv   :cp63a>   xal 
6m3(u  xxX* 


§  15.  MechanisTnnB  und  Teleologie.   (Stoiker.)  147 

(Peueratome)  und  nicht  zum  wenigsten  solche  aus  der  peripatetischen  Natur- 
philosophie und  Physiologie  mit  einander  verschlungen  haben  ^). 

6.  Am  wirksamsten  erweist  sich  dabei  die  von  den  Stoikern  aus  Aristoteles 
übernommene  Analogie  zwischen  Makrokosmos  und  Mikrokosmos, 
Weltall  und  Menscli.  Auch  die  Einzelseele,  die  Lebenskraft  des  Leibes,  welche 
das  Fleisch  zusammenhält  und  regiert,  ist  Peuerhauch,  Pneuma ;  aber  auch  alle 
die  einzelnen  Kräfte,  die  in  den  Gliedern  thätig  sind  und  deren  zweckmässige 
Function  beherrschen,  sind  solche  Lebensgeister  (spiritus  animales).  Im  mensch- 
lichen und  thierischen  Organismus  erscheint  die  Thätigkeit  des  Pneuma  an  das 
Blut  und  seinen  Umlauf  gebunden ;  gleichwohl  ist  das  Pneuma  selbst  —  gerade 
weil  es  auch  ein  Körper  ist,  sagte  Chrysippos  *),  —  von  den  niederen  Elementen, 
die  es  beseelt,  im  Einzelnen  trennbar,  wie  es  im  Tode  geschieht. 

Dabei  ist  jedoch  die  Einzelseele,  wie  sie  nur  ein  Theil  der  allgemeinen 
Weltseele  ist,  in  ihrem  Wesen  und  ihrer  Thätigkeit  durchgängig  durch  diese  be- 
stimmt :  sie  ist  mit  dem  göttlichen  Pneuma  wesensgleich  und  von  ihm  abhängig. 
Eben  deshalb  ist  die  Weltvernunft,  der  Xoyoc,  fiir  sie  das  oberste  Gesetz  (vgl. 
oben  §  14,  3).  Darum  aber  ist  ihre  Selbständigkeit  nur  eine  zeitlich  beschränkte, 
und  ihr  letztes  Geschick  ist  jedenfalls,  bei  dem  allgemeinen  Weltbrande  in  den 
göttlichen  Gesammtgeist  zurückgenommen  zu  werden,  lieber  die  Dauer  dieser 
Selbständigkeit,  d.  h.  über  die  Ausdehnung  der  individuellen  Unsterblichkeit 
sind  in  der  Schule  verschiedene  Ansichten  im  Umlauf  gewesen:  einige  haben 
die  Dauer  bis  zum  Weltbrande  allen  Seelen  zuerkannt,  andere  dieselbe  nur  für 
die  Weisen  zurückbehalten. 

Wie  nun  aber  das  einheitliche  Pneuma  des  Universums  (dessen  Sitz  übri- 
gens von  den  Stoikern  bald  an  den  Himmel,  bald  in  die  Sonne,  bald  in  die  Mitte 
der  Welt  verlegt  wurde)  sich  als  beseelende  Kraft  in  alle  Dinge  ergiesst,  so 
sollte  auch  der  leitende  Theil  der  Einzelseele  (tö  T^7s(iovixöy  oder  Xo7to|jLÖ(;),  in 
welchem  Vorstellungen,  Urtheile  und  Triebe  wohnen  und  als  dessen  Sitz  das 
Herz  angenommen  wurde,  seine  einzelnen  Auszweigungen  „wie  Polypenarme" 
durch  den  ganzen  Leib  erstrecken,,  und  solcher  einzelnen  Pneumata  nahm  die 
Stoa  noch  sieben  an :  die  fünf  Sinne,  das  Sprachvermögen  und  die  Zeugungs- 
kraft. Wie  die  Einheit  des  göttlichen  Urwesens  im  Weltall,  so  lebt  die  Einzel- 
persönlichkeit im  Leibe. 

Es  ist  nun  bezeichnend  genug,  dass  diesen  äusserlichen  Apparat  der 
psychologischen  Anschauungen  die  Epikureer  ganz  zu  dem  ihrigen  machen 
konnten.  Auch  ihnen  ist  die  Seele  —  nach  Demokrit  aus  den  feinsten  Atomen 
bestehend  —  ein  feuriger,  lullbartiger  Hauch  (sie  wenden  ebenfiills  den  Terminus 
Pneuma  an),  nur  dass  sie  darin  etwas  dem  Leibe  äusserlidi  Eingefugtes,  von 
ihm  Festgehaltenes  und  mechanisch  Gebundenes  sehen,  das  sich  im  Tode  so- 
gleich zerstreut;  auch  sie  unterscheiden  zwischen  dem  vernünftigen  und  dem 
vemunftlosen  Theile  der  Seele,  ohne  freilich  dem  ersteren  jene  metaphysische 
Würde  geben  zu  können,  die  er  in  der  stoischen  Theorie  gewann.  Im  Ganzen 
ist  ihre  Lehre  auch  hier  dürftig  und  unselbständig. 

7.  Metaphysik  und  Physik  der  Stoiker  bilden,  wie  es  nach  der  pan- 
theistischen  Voraussetzung  sich  von  selbst  versteht,  zugleich  eine  Theologie, 

1)  Vgl.  die  S.  116  Anm.  4  erwähnte  Abhandlung^  von  SdübecK«  — >  2)  Nemesius,  de  nat. 
hom.  p.  34. 

10* 


148  n.  HelleoifitiBch-rÖmiscbe  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

ein  auf  wissenscliaftliche  Darlegung  gegründetes  System  der  Naturreligion, 
und  dieselbe  hat  in  dieser  Schule  auch  poetische  Darstellungen  wie  den  Hym- 
nus des  Kleanthes  gefunden.  Dagegen  ist  der  Epikureismus  seinem  ganzen 
Wesen  nach  antireligiös.  Er  vertritt  durchweg  den  aufklärerischen  Stand- 
punkt, dass  durch  die  AVissenschaft  die  Religion  überwunden  und  dass  es  Auf- 
gabe und  Triumph,  der  Weisheit  sei;  die  aus  Furcht  und  Unwissenheit  erwach- 
senen Wahngebilde  des  Aberglaubens  bei  Seite  zu  schaffen :  der  Dichter  dieser 
Schule  schildert  ^)  in  grotesken  Zügen  die  Uebel,  welche  die  Religion  über  die 
Menschen  gebracht,  und  singt  den  Ruhm  ihrer  Besiegung  durch  die  wissen- 
schaftliche Erkenntniss.  Um  so  komischer  ist  es,  dass  die  epikureische  Lehre 
selbst  sich  in  der  Ausmalung  einer  eigenen,  wie  sie  glaubte,  harmlosen  Mytho- 
logie gefiel.  Sie  meinte,  dass  dem  allgemeinen  Glauben  an  Götter  doch  eine 
gewisse  Wahrheit  beiwohnen  müsse  *),  aber  sie  fand,  dass  diese  richtige  Vor- 
stellung durch  tische  Annahmen  entstellt  sei.  Die  letzteren  aber  suchte  sie 
in  den  Mythen,  welche  eine  Theilnahme  der  Götter  an  dem  menschlichen  Leben 
und  Eingriffe  derselben  in  den  Lauf  der  Dinge  erdichteten:  selbst  der  Vor- 
sehungsglaube der  Stoiker  erschien  ihnen  in  dieser  Hinsicht  nur  als  ein  ver- 
feinerter Wahn.  Epikur  sah  daher  —  nach  Demokrit's  Lehre  von  den  Idolen 
(§  10,  4)  —  in  den  Göttern  menschenähnliche  Riesengebilde,  welche  in  den  Zwi- 
schenräumen der  Welten  (Intermundien),  unberührt  vom  Wechsel  des  Geschehens 
und  unbekümmert  um  das  Geschick  der  niederen  Wesen,  ein  seliges  Leben  der 
Betrachtung  und  der  geistigen  Lebensgemeinschaft  fuhren  sollten ;  und  so  ist 
auch  diese  Lehre  im  Grunde  genommen  nur  der  Versuch  des  Epikureismus, 
sein  Lebensideal  des  ästhetischen  Sclbstgenusses  zu  mythologisiren. 

8.  Ganz  anders  fugten  sich  die  Vorstellungen  der  Volksreligion  der  stoi- 
schen Metaphysik  ein,  und  während  bis  hierher  in  der  Entwicklung  des  griechi- 
schen Denkens  die  philosophische  Theologie  sich  immer  weiter  von  der  heimischen 
Mythologie  entfernt  hatte,  begegnen  wir  hier  zum  ersten  Male  dem  Versuche, 
natürliche  und  positive  Religion  systematisch  in  Einklang  mit  einander 
zu  bringen.  Wenn  damit  die  Stoiker  auch  ihrerseits  dem  Bedürfniss  nachgaben, 
die  Berechtigung  ganz  allgemein  im  Menschengeschlecht  verbreiteter  Vorstellun  - 
gen  anzuerkennen  (vgl.  §  17,  4),  so  bot  ihnen  doch  dazu  ihre  Pneumalehre  nicht 
nur  willkommene  Handhaben,  sondern  geradezu  bestimmende  Anlässe.  Denn 
die  Betrachtung  des  Universums  musste  sie  lehren,  dass  die  göttliche  Weltkrafl 
offenbar  noch  mächtigere  und  lebenskräftigere  Theilerscheinungen  gestaltet  habe, 
als  die  menschliche  Individualseele :  und  so  traten  neben  die  Eine,  ungewordene 
und  unvergängliche  Gottheit,  welche  sie  meist  als  Zeus  bezeichneten,  eine  grosse 
Anzahl  „gewordener  Götter".  Zu  diesen  rechneten  die  Stoiker,  wie  schon 
Piaton  und  Aristoteles,  in  erster  Linie  die  Gestirne,  in  denen  auch  sie  reinere 
Gestaltungen  des  Urfeuers  und  höhere  Intelligenzen  verehrten,  weiterhin  aber 
auch  die  Personificationen  anderer  Naturkräfte,  in  denen  sich  das  dem  Menschen 
gütige  Walten  der  Vorsehung  offenbart.  Von  hier  aus  begreift  sich,  wie  in  der 
stoischen  Schule  eine  umfangreiche  Mythendeutung  an  der  Tagesordnung  war, 
welche  durch  allerlei  Allegorien  die  volksthündichen  Gestalten  dem  metaphysi- 
schen Systeme  einzuverleiben  suchte.   Dazu  trat  dann  weiter  eine  ebenso  will- 


1)  Lucret.  de  rer.  nat.  I,  62fiF.  —  2)  Diog.  Lacrt.  X,  lL'3f.  U?.  p.  69f. 


§  16.   Willensfreiheit  und  Weltvollkommenheit.  (Stoiker.)  149 

kommene  AusbentuDg  der  euemeristischen  Theorie,  welche  nicht  nur  die  Ver- 
götterung hervorragender  Menschen  begreiflich  machte  und  rechtfertigte,  sondern 
auch  in  den  Dämonen  die  Schutzgeister  der  einzelnen  Menschen  heilig  halten 
lehrte. 

So  bevölkerte  sich  die  stoische  Welt  mit  einer  ganzen  Schaar  höherer  und 
niederer  Götter:  aber  sie  alle  erschienen  doch  schUesslich  nur  als  Ausflüsse  der 
Einen  höchsten  Weltkraft,  als  die  untergeordneten  Kräfte,  welche,  selbst  durch 
das  allgemeine  Pneuma  bestimmt,  als  die  waltenden  Geister  des  Weltlebens  auf- 
gefasst  wurden.  Sie  bildeten  deshalb  für  den  Glauben  der  Stoiker  die  vermitteln- 
den Organe,  welche,  jedes  in  seinem  Bereich,  die  Lebenskraft  und  die  Vorsehung 
der  Weltvernunft  darstellen,  und  an  sie  wendete  sich  in  den  Cultusformen  der 
positiven  Beligion  die  Frömmigkeit  der  Stoiker.  Damit  war  der  Polytheismus 
des  Volksglaubens  philosophisch  restituirt  und  als  integrirender  Bestandtheil  in 
den  metaphysischen  Pantheismus  aufgenommen. 

Im  Zusammenhange  mit  dieser  wissenschaftlichen  Reconstruction  der  posi- 
tiven Beligion  steht  bei  den  Stoikern  die  theoretische  Begründung  der  Mantik, 
welcher  sie  —  wenige,  kühler  denkende  Männer  wie  Pauaitios  ausgenommen  — 
ein  grosses  Interesse  zuwandten.  Der  einheitliche,  von  der  Vorsehung  geleitete 
Zusammenhang  des  Weltgeschehens  sollte  sich  u.  A.  darin  zeigen,  dass  verschie- 
dene Dinge  und  Vorgänge,  die  in  keinem  directen  Causalverhältniss  zu  einander 
stehen,  doch  durch  feine  Beziehungen  auf  einander  deuten  und  deshalb  für  ein- 
ander als  Zeichen  gelten  dürfen :  diese  zu  verstehen  sei  die  Menschenseele  schon 
vermöge  ihrer  Verwandtschaft  mit  dem  allwaltenden  Pneuma  befähigt,  aber  zur 
Deutung  solcher  verzückter  Offenbarungen  müsse  die  auf  Erfahrung  beruhende 
Kunst  und  Wissenschaft  der  Mantik  hinzutreten.  Auf  dieser  Grundlage  hielt  der 
Stoicismus  —  namentlich  in  seinen  jüngeren  Vertretern,  besonders,  wie  es  scheint, 
Poseidonios  —  sich  für  stark  genug,  um  den  gesammten  Weissagungsaberglauben 
der  antiken  Welt  philosophisch  zu  verarbeiten. 

§  16.   Willensfreiheit  und  Weltvollkommenheit. 

Die  scharfe  Ausprägung  der  Gegensätze  von  mechanischer  und  teleolo- 
gischer Weltanschauung,  insbesondere  aber  die  Verschiedenheit  der  begrifflichen 
Formen,  in  denen  dabei  der  (mit  gewisser  Beschränkung)  gemeinsame  Gedanke 
der  allgemeinen  Naturgesetzlichkeit  entwickelt  worden  war,  führte  im  Zusammen- 
hange mit  den  ethischen  Postulaten  und  Voraussetzungen,  welche  das  Denken 
jener  Zeit  beherrschten,  zwei  neue,  von  vornherein  mannichfach  verwickelte  Pro- 
bleme herbei :  das  von  der  menschlichen  Willensfreiheit  und  das  von  der  Güte 
und  Vollkommenheit  der  Welt.  Beide  Probleme  wurzelten  in  Widersprüchen, 
welche  zwischen  den  moralischen  Bedürfnissen  und  eben  den  metaphysischen 
Ansichten  zu  Tage  traten,  die  zu  ihrer  Befriedigung  hatten  herangezogen 
werden  sollen. 

1.  Der  eigentliche  Heerd  dieser  neuen  Problembildungen  ist  die  stoische 
Lehre,  und  sie  lassen  sich  als  die  nothwendige  Folge  eines  tief  gehenden  und  in 
letzter  Instanz  nicht  auszufüllenden  Antagonismus  zwischen  den  Grundbestim- 
mungen dieses  Systems  begreifen.  Diese  aber  sind  der  metaphysische  Monis- 
mus und  der  ethische  Dualismus.  Die  moralische  Grundlehre  der  Stoiker, 
wonach  der  Mensch  die  Welt  in  seinen  eigenen  Trieben  durch  die  Tugend  über- 


150  ^^<  Hellenistiscb-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

winden  soU^  setzt  eine  anthropologische  Dualität^  einen  Gegensatz  in  der  mensch- 
lichen Natur  voraus,  wonach  der  Vernunft  die  vernunftwidrige  Sinnlich- 
keit gegenübersteht.  Ohne  diesen  Gegensatz  ist  die  ganze  stoische  Ethik 
hinfällig.  Die  metaphysische  Lehre  aber,  durch  welche  das  Vernunftgebot  im 
Menschen  begreiflich  gemacht  werden  soll,  statuirt  eine  so  unumschränkte  und 
allwaltende  Wirklichkeit  der  Weltvernunfl,  dass  damit  die  Realität  des  Vernunft- 
widrigen weder  im  Menschen  noch  im  Weltlauf  zu  vereinigen  ist.  Auf  diesem 
Grunde  sind  die  beiden  Fragen  erwachsen,  welche  seitdem  nicht  wieder  aufgehört 
haben,  das  Grübeln  der  Menschen  zu  beschäftigen,  obwohl  alle  wesentlichen 
Gesichtspunkte,  die  dabei  in  Betracht  kommen  können,  heller  oder  dunkler  schon 
damals  beleuchtet  worden  sind. 

2.  Die  begrifflichen  Voraussetzungen  für  das  Freiheitsproblem  liegen 
bereits  in  den  ethischen  Reflexionen  über  die  Freiwilligkeit  des  Unrechtthuns,  die 
von  Sokrates  begonnen  und  von  Aristoteles  in  einer  glänzenden  Untersuchung ') 
zu  einem  vorläufigen  Abschluss  geführt  waren.  Die  Motive  dieser  Gedanken  sind 
durchweg  ethisch,  und  das  Gebiet,  auf  dem  sie  sich  bewegen,  ist  ausschliessUch 
das  psycliologische.  Es  handelt  sich  daher  wesentUch  um  die  Frage  der  Wahl- 
freiheit, und  während  die  Realität  derselben  aus  dem  unmittelbaren  Gefühl  heraus 
und  mit  Beziehung  auf  das  Bewusstsein  des  Menschen  von  seiner  Verantwort- 
hchkeit  zweifellos  bejaht  wird,  entsteht  die  Schwierigkeit  nur  durch  die  intellec- 
tualistische  Auffassung  des  Sokrates,  welcher  den  Willen  in  durchgängige  Ab- 
hängigkeit  von  der  Einsicht  brachte ;  und  diese  entwickelt  sich  zunächst  in  der  seit- 
dem immer  wieder  in  den  mannichfachsten  Verschiebungen  wiederholten  Doppel- 
bedeutung  der  „Freiheit"  oder  wie  es  hier  noch  heisst  „Freiwilligkeit"  (exoootov). 
Alles  sittUch  falsche  Handeln  geht  nach  Sokrates  aus  einer  durch  Begierden  ge- 
trübten, falschen  Ansicht  hervor:  wer  so  handelt,  „weiss"  also  nicht,  was  er  thut, 
und  er  handelt  in  diesem  Sinne  unfreiwilHg  -).  D.  h.  nur  der  Weise  ist  frei,  der 
Böse  ist  unfrei^).  Von  diesem  ethischen  FreiheitsbegrifTmuss  nun  aber  der 
psychologische  Freiheitsbegrifif,  d.  h.  der  Begriff  der  Wahlfreiheit  als  der 
Fähigkeit  zwischen  verschiedenen  Motiven  zu  entscheiden,  wohl  getrennt  werden. 
Ob  Sokrates  dies  gethan  hat,  ist  fraglich^):  jedenfalls  aber  ist  es  bei  Piaton  ge- 
schehen. Dieser  bejahte  ausdrückhch  mit  Berufung  auf  die  Verantwortlichkeit  die 
Wahlfreiheit  des  Menschen  ^),  —  eine  psychologische  Entscheidung  aus  wesent- 
Uch ethischen  Gründen  — ,  und  er  hielt  doch  zugleich  an  der  sokratischen  Lehre 
fest,  dass  der  Böse  unfreiwillig,  d.  h.  ethisch  unfrei  handle:  er  verbindet  sogar 
beides  direct,  wenn  er  ®)  ausfuhrt,  dass  durch  eigene  Verschuldung  (also  mit  psy- 
chologischer Freiheit)  der  Mensch  in  den  Zustand  der  sittlichen  Unfreiheit  ver- 
sinken könne. 

Bei  Aristoteles,  der  sich  von  dem  sokratischen  Intellectualismus  mehr 
entfernte,  tritt  der  psychologische  Freiheitsbegriff  klarer  und  selbständiger  heraus. 
Er  geht  davon  aus,  dass  die  ethische  Qualification  überhaupt  nur  für  „freiwillige" 
Handlungen  in  Betracht  kommt,  und  er  erörtert  zunächst  die  Beeinträchtigungen, 
welche  diese  Freiwilligkeit  theils  durch  äusseren  Zwang  (ßwf)  bzw.  auch  psychischen 

iy  Eth.  Nik.  III,  1—8.  —  2)  Xen.  Mem.  III,  9,  4.  Kyrop.  lU,  1,  38.  —  3)  Vgl.  Arist. 
Etil.  Nik.  III  7,  113  b  14.  —  4)  Nach  einer  Notiz  iu  den  peripatetischeu  Magna  Moral.  (I  9, 
1187  a  7)  hätte  Sokrates  sogar  ausdrücklich  gesagt,  „es  stehe  nicht  bei  uns",  gut  oder  schlecht 
zu  sein:  er  hätte  danach  die  psychologische  Fremeit  verneint.  —  5)  Plat.  fiep.  X,  617  ff.  — 
6)  Fiat.  Phaed.  81  b. 


§16.  Willensfreiheit  und  Weltvollkommenheit.  (Stoiker.)  151 

Zwang  theils  durch  Unkenntniss  der  Sachlage  erfahrt:  yollkommen  freiwillig  ist 
nur  diejenige  Handlung,  welche  in  der  Persönlichkeit  selbst  bei  völhger  Kenntniss 
der  Verhältnisse  ihren  Ursprung  hat  *).  Die  ganze  Untersuchung  ist  ^)  vom  Stand- 
punkte der  Verantwortlichmachung  aus  gehalten,  und  der  gefundene  Begriff  der 
Freiwilligkeit  soll  auf  den  der  Zurechnungsfahigkeit  fuhren.  Er  enthalt  in  sich 
die  Merkmale  der  äusseren  Freiheit  des  Handelns  und  der  durch  keine  Täuschung 
getrübten  Auffassung  der  Sachlage.  Deshalb  muss  er  aber  noch  weiter  einge- 
schränkt werden :  denn  zurechnungsfähig  sind  unter  den  freiwilUgen  Handlungen 
nur  solche,  welche  aus  einer  Wahlentscheidung  (icpoatpeot^;)  hervorgehen  ^).  Erst 
die  Wahlfreiheit  also,  welche  mit  der  Ueberlegung  der  Zwecke  wie  der  Mittel 
verfährt,  ist  die  Bedingung  der  sittlichen  Zurechnung. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  die  Psychologie  der  Motivation  und  auf  die  be- 
stimmenden Ursachen  dieser  Wahlentscheidung  hat  Aristoteles  vermieden :  er  be- 
gnügt sich  mit  der  Feststellung,  dass  die  Persönlichkeit  selbst  der  zureichende 
Grund  für  die  Handlungen  ist^),  die  ihr  zugerechnet  werden:  und  an  dieser  Be- 
hauptung der  Wahlfreiheit  hielt  auch  seine  Schule,  vor  Allem  Theophrast,  der 
eine  eigene  Schrift  über  die  Freiheit  verfasste,  energisch  fest. 

3«  Auf  demselben  Boden  finden  wir  nun,  soweit  es  sich  um  rein  ethische 
Betrachtungen  handelt,  zunächst  auch  die  Stoiker.  Gerade  das  lebhafte  Ver- 
antwortlichkeitsgefuhl,  welches  ihre  Moral  charakterisirt,  verlangte  von  ihnen  die 
Anerkennung  dieser  freien  Wahlentscheidung  des  Individuums,  und  sie  suchten 
dieselbe  deshalb  auch  auf  alle  Weise  aufrechtzuerhalten. 

Um  so  bedenklicher  aber  war  es,  dass  ihre  Metaphysik  mit  der  Lehre  vom 
Schicksal  und  von  der  Vorsehung  sie  darüber  hinaustrieb.  Denn  indem  diese 
Theorie  den  Menschen,  wie  alle  anderen  Einzelwesen,  in  seiner  ganzen  äusseren 
und  inneren  Gestaltung  und  in  all  seinem  Thun  und  Lassen  durch  die  alllebendige 
Weltkraft  bestimmt  sein  liess,  hörte  die  Persönlichkeit  auf,  der  wahre  Grund 
(ipX^)  ilif^^  Handlungen  zu  sein  und  erschienen  die  letzteren  auch  nur  wie  alles 
übrige  Geschehen  als  vorherbestimmte  und  unentfliehbar  nothwendige  Wir- 
kungen der  Gott-Natur.  In  der  That  schreckte  die  Stoa  vor  dieser  äussersten 
Consequenz  des  Determinismus  nicht  zurück:  vielmehr  häufte  Chrysippos 
Beweis  auf  Beweis  für  diese  Lehre.  Er  'begründete  sie  durch  den  Satz  vom  zu- 
reichenden Grunde  (vgl.  oben  §  15,  2);  er  zeigte,  dass  nur  unter  ihrer  Voraus- 
setzung die  Richtigkeit  von  Urtheilen  über  Zukünftiges  behauptet  werden  könne, 
indem  nur,  wenn  die  Sache  schon  bestimmt  sei,  ein  Kriterium  für  ihre  Waiirheit 
oder  Falschheit  gegeben  sei*^);  er  änderte  dieselbe  Argumentation  auch  dahin 
um,  dass,  da  nur  das  Nothwendige  und  nicht  das  noch  Unentschiedene  gewusst 
werden  könne,  das  Vorherwissen  der  Götter  die  Annahme  des  Determinismus 
erforderlich  mache ;  und  er  verschmalite  es  selbst  nicht,  die  Erfüllung  von  Weis- 
sagungen als  willkommenes  Argument  heranzuziehen. 

In  dieser  vom  Standpunkte  der  stoischen  Logoslehre  vollkommen  con- 
sequenten  Lehre  sahen  nun  freilich  die  Gegner  eine  entschiedene  Leugnung  der 


1)  Eth.  Nik.  III  3,  1111  a  73:  oh  4|  «?/•/]  ev  aottj»  slSoxt  xa  xad-'  ixa^a  iv  o:^  rj  ?rpä4'<;-  — 
2)  Wie  deutlich  im  Eingang  fa.  a.  0. 1109  b  34)  der  Hinweis  auf  das  Strafrecht  zeigt.  —  *d)  Ibid. 
4,  1112  a  1.  —  4)  Ibid.  5,  1112  b  31:  eoixe  Sy]  .  .  avO-ptuico«;  elvat  öpj^-rj  tdiv  icpdc^ewv.  —  5)  Cic. 
de  fato  10,  20.  Soweit  es  sich  dabei  um  disjunctive  Sätze  handelte,  gab  daher  auch  Epikur  die 
Wahrheit  der  Disjunction  preis :  Cic.  de  nat.  deor.  I,  25,  70. 


152  n.  HellenistiBch-römische  Philo8ophie.   l.  Elhische  Periode. 

Willensfreiheit,  und  von  den  Vorwürfen,  welche  das  System  erfuhr,  war  dieser 
wohl  der  häufigste  und  zugleich  der  einschneidendste.  Unter  den  zahlreichen 
Angriffen  ist  der  bekannteste  die  sog.  ignava  ratio  (apy^c  W^oc),  welche  aus  der 
Behauptung  von  der  unentrinnbaren  Nothwendigkeit  der  zukünftigen  Ereignisse 
den  fatalistischen  Schluss  zieht,  dann  solle  man  sie  unthätig  erwarten,  —  ein  An- 
griff, dem  auch  Chrysippos  nur  mit  sehr  geschraubten  Unterscheidungen  zu 
entschlüpfen  wusste '). 

Die  Stoiker  dagegen  mühten  sich  ab,  zu  zeigen,  dass  trotz  dieses  Determi- 
nismus und  vielmehr  gerade  vermöge  desselben  der  Mensch  die  Ursache  seiner 
Handlungen  in  dem  Sinne  bleibe,  dass  er  dafür  verantwortlich  zu  machen  sei. 
Auf  Grund  einer  Unterscheidung^)  von  Haupt-  und Nebenursachen  (die  übrigens 
durchaus  an  das  platonische  alttov  und  £uvamov  erinnert),  zeigte  Chrysippos,  dass 
allerdings  jede  Willensentscheidung  nothwendig  aus  der  Zusammenwirkung  des 
Menschen  mit  der  Umgebung  folge,  dass  aber  eben  dabei  die  äusseren  Umstände 
nur  die  Nebenursachen,  die  von  der  Persönlichkeit  erfolgende  Zustimmung  da- 
gegen die  Hauptursache  sei,  welche  denn  auch  die  Zurechnung  treffe.  Wenn 
aber  dies  freiwilUg  handelnde  >j7e[i.ovixöv  des  Menschen  aus  dem  allgemeinen  Pneuma 
bestimmt  sei,  so  gest^te  sich  dies  eben  in  jedem  Sonderwesen  zu  einer  selbstän- 
digen, von  den  anderen  verschiedenen  Natur,  die  als  eigene  aftyri  zu  gelten  habe^). 
Insbesondere  aber  hoben  die  Stoiker  hervor,  dass  das  Verantwortlichmachen 
als  ein  Urtheil  über  die  sittliche  Qualität  der  Handlungen  und  der  Charaktere 
ganz  unabhängig  von  der  Frage  sei,  ob  die  Personen  oder  Thaten  im  Weltlauf 
auch  hätten  anders  sein  können  oder  nicht  ^). 

4,  Das  schon  ethisch  und  psychologisch  verschlungene  Problem  der  Willens- 
freiheit erfuhr  auf  diese  AVeise  noch  eine  metaphysische  und  (im  Sinne  der  Stoiker) 
theologische  Complication,  und  die  Folge  war  die,  dass  die  indeterministi- 
schen Gegner  der  Stoa  dem  Freiheitsbegriff,  den  sie  durch  deren  Lehre  be- 
droht erachteten,  eine  neue  und  scharf  zugespitzte  Wendung  gaben. 

Die  Annahme  des  ausnahmslosen  Causalnexus,  dem  auch  die  WUlens- 
functionen  untergeordnet  sein  sollten,  schien  die  Fähigkeit  der  freien  Entscheidung 
auszuschliessen :  aber  diese  Wahlfreiheit  galt  seit  Aristoteles  bei  allen  Schulen 
als  unerlässliche  Voraussetzung  der  sittlichen  Zurechnung.  Deshalb  meinten  die 
Gegner  —  und  das  gab  dem  Streit  seine  besondere  Heftigkeit  —  ein  -  sittliches 
Gut  zu  vertheidigen,  wenn  sie  die  stoische  Schicksalslehre  und  damit  das  demo- 
kritische Princip  der  Naturnothwendigkeit  bestritten.  Und  wenn  Chrysipp  sich 
zur  Begründung  derselben  auf  den  Satz  vom  zureichenden  Grunde  berufen  hatte, 
so  scheute  Karneades,  dem  die  WillensfreUieit  als  unumstössliche  Thatsache 
galt,  sich  nicht,  die  allgemeine  und  ausnahmslose  Geltung  dieses  Satzes  in  Frage 
zu  ziehen  *). 

Noch  weiter  aber  ging  Epikur.  Er  fand  den  stoischen  Determinismus  mit 
der  Selbstbestimmung  des  Weisen,  die  den  wesentlichen  Zug  semes  ethischen 
Ideals  bildete,  so  unvereinbar,  dass  er  lieber  noch  die  Walmvoretellungen  der 
Religion  annehmen,  alstan  eine  solche  Ejiechtschaft  der  Seele  glauben  wollte  •). 
Darum  leugnete  auch  er  die  Allgemeingiltigkeit  des  Causalgesetzes  und  subsu- 
mirtc  die  Freiheit  mit  dem  Zufcill  zusammen  unter  den  Begriff  des  ursachlosen 

1)  Cic.  de  fato  12,  28  ff.  —  2)  Ibid.  16,  36  ff.  —  3)  Alex.  Aphr.  do  fato  S.  112,  —  4)  Ibid. 
S.  106.  —  5)  Cic.  do  fato  5,  9;  11,  23;  14,  31.  —  6)  Diog.  Laert.  X,  133f.   Us.  p.  65. 


§  16.   Willensfreiheit  und  WeltvoUkommenbeit.  (Epikur,  Eameaden.)  153 

Geschehens.  So  ist  im  Gegensatz  gegen  den  stoischen  Determinismus  der 
metaphysische  Freiheitsbegriff  entstanden,  vermöge  dessen  Epikur  die 
ursachlose  Willensfunction  des  Menschen  mit  der  ursachlosen  Abweichung  des 
Atoms  von  der  FallUnie  (vgl.  §  15,  4)  in  Parallele  stellte.  Die  Freiheit  des  In- 
determinismus soll  somit  die  durch  keine  Ursachen  bestimmte  Wahl  zwischen 
verschiedenen  Möglichkeiten  bedeuten,  und  Epikur  meinte  damit  die  moralische 
Verantwortlichkeit  zu  retten. 

Dieser  metaphysische  Begriff  der  Freiheit  als  Ursachlosigkeit 
steht  auch  in  dem  wissenschaftUchen  Denken  des  Alterthums  durchaus  nicht  iso- 
lirt.  Nur  die  Stoa  hat  an  dem  Princip  der  Causalität  unverbrüchUch  festgehalten : 
aber  selbst  Aristoteles  hatte  (vgl.  S.  111)  die  Geltung  der  allgemeinen  begriff- 
lichen Bestimmungen  nicht  bis  in  das  Einzelne  hinein  verfolgt,  er  hatte  sich  mit 
dem  iiA  vb  nokh  begnügt,  und  er  hatte  seinen  Verzicht  auf  ein  volles  Begreifen 
des  Besonderen  durch  die  Annahme  des  Zufälligen  in  der  Natur,  d.  h.  des  Gesetz^ 
und  Ursachlosen  ausgesprochen.  In  dieser  Hinsicht  sind  allein  die  Stoiker  als 
Vorläufer  der  modernen  Naturforschung  zu  betrachten. 

5.  Auf  nicht  minder  grosse  Schwierigkeiten  stiess  der  Stoicismus  mit  seiner 
Durchfuhrung  der  Teleologie.  Das  pantheistische  System,  welches  die  ganze 
Welt  als  das  lebendige  Erzeugniss  einer  zweckthätigen  götüichen  Vernunft  be- 
trachtete und  in  dieser  den  einzigen  Erklärungsgrund  fand,  musste  selbstver- 
ständUch  auch  die  Zweckmässigkeit,  Güte  und  Vollkommenheit  dieses  Uni- 
versums behaupten ,  und  umgekehrt  pflegten  die  Stoiker  das  Dasein  der  Götter 
und  der  Vorsehung  gerade  durch  den  Hinweis  auf  die  Zweckmässigkeit,  Schön- 
heit und  Vollkommenheit  der  Welt,  d.  h.  auf  dem  sog.  physicotheologischen 
Wege  zu  beweisen  *). 

Die  Angriffe,  welche  dieser  Gedankenzusamraenhang  im  Alterthum  erfuhr, 
haben  sich  weniger  gegen  die  Richtigkeit  des  Schlussverfahrens  (obwohl  auch  hier 
Karneades  einsetzte),  als  vielmehr  gegen  die  Prämisse  gerichtet,  und  die  nahe- 
liegende Aufzeigung  der  vielen  Mängel  und  Unzweckmässigkeiten,  der  Uebel  und 
der  sittlichen  Schäden  in  der  Welt,  wurde  umgekehrt  als  Gegengrund  gegen  die 
Annahme  einer  vernünftigen,  zweckthätigen  Weltursache  und  einer  Vorsehung 
verwendet.  Zunächst  und  mit  voller  Energie  geschah  dies  natürUch  von  Epikur, 
der  da  fragte,  ob  Gott  die  Uebel  in  der  Welt  entweder  zwar  auflieben  wolle,  aber 
nicht  könne,  oder  zwar  aufheben  könne,  aber  nicht  wolle,  oder  etwa  gar  beides 
nicht  ^),  —  der  auch  schon  auf  die  Ungerechtigkeiten  hinwies,  womit  der  Lauf 
des  Lebens  so  oft  die  Guten  elend  und  die  Bösen  glückUch  macht  ^). 

In  verstärktem  Masse  und  in  besonders  sorgfaltiger  Ausfuhrung  wurden 
diese  Einwürfe  von  Karneades  in's  Feld  geführt*).  Er  fiigte  aber  dem  Hinweis 
auf  die  Uebel  und  auf  die  Ungerechtigkeit  des  Weltlaufs  den  für  die  Stoiker 
sicher  empfindlichsten  Einwurf  hinzu  *):  woher  denn  in  dieser  von  der  Vernunft 
geschaffenen  Welt  das  Vernunftlose  und  Vernunftwidrige,  woher  in  dieser  vom 
göttUchen  Geiste  durchlebten  Welt  die  Sünde  und  die  Thorheit,  das  grösste  aller 
Uebel,  komme?  und  wenn  die  Stoiker,  wie  es  trotz  des  Determinismus  in  der 
That  wold  geschehen  war*),  daftir  den  freien  Willen  verantwortlich  machen  woU- 

1)  Cic.  de  nat.  deor.  II,  5,  13  ff.  —  2)  Lactant.  Do  ira  dei  13,  19.  Us.  fr.  374.  —  3)  Id. 
Inst.  div.  UI,  17,  8.  Us.  fr.  370.  —  4)  Cic.  Acad.  II,  38,  120.  De  nat.  deor.  III,  32,  SOflT,  — 
5)  Cic.  de  nat.  deor.  III,  25—31.  —  6)  Kleanth,  hymn.  v.  17. 


154  n.  Hellenistisch- römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

tei);  80  erhob  sich  die  weitere  Frage^  weshalb  die  allmächtige  Weltvemunft  dem 
Menschen  eine  Freiheit  gegeben  habe^  die  so  zu  missbrauchen  war,  und  weshalb 
sie  diesen  Missbrauch  zulasse. 

6.  Solchen  Fragen  gegenüber  waren  die  Stoiker  mit  ihrer  monistischen 
Metaphysik  viel  schlimmer  daran,  als  etwa  Piaton  und  Aristoteles ,  welche  die 
Zweckwidrigkeiten  und  das  Böse  auf  den  Widerstand  des  „Nichtseienden"  bzw. 
der  Materie  hatten  zurückfuhren  können.  Trotzdem  sind  die  Stoiker  muthig  an 
die  Bewältigung  dieser  Schwierigkeiten  herangetreten  und  haben  die  meisten  der- 
jenigen Argumente,  in  denen  sich  später  immer  wieder  dieTheodicee  bewegt 
hat,  nicht  ohne  scharfsinnige  Mühe  zu  Tage  gefördert. 

Es  kann  aber  die  teleologische  Lehre  von  der  Vollkommenheit  des  Uni- 
versums gegen  solche  Einwürfe  in  Schutz  genommen  werden,  indem  die  dysteleo- 
logischen  Thatsachen  entweder  geleugnet  oder  als  unerlässliche  Mittel  bzw.  Neben- 
erfolge in  dem  Zweckzusammenhange  des  Ganzen  gerechtfertigt  werden.  Beide 
Wege  hat  die  Stoa  eingeschlagen. 

Ihre  psychologischen  und  ethischen  Theorien  erlaubten  die  Behauptung, 
dass,  was  ein  physisches  Uebel  genannt  wird,  an  sich  gar  nicht  ein  solches  sei, 
sondern  erst  durch  die  Zustimmung  des  Menschen  dazu  werde,  dass  daher,  wenn 
Krankheiten  und  Aehnliches  durch  die  Nothwendigkeit  des  Naturverlaufs  her- 
beigeführt werden,  es  nur  die  Schuld  des  Menschen  sei,  welche  daraus  ein  üebel 
mache :  wie  denn  auch  vielfach  nur  der  falsche  Gebrauch,  den  der  thörichte  Mensch 
von  den  Dingen  macht,  diese  schädlich  werden  lässt  '),  während  sie  an  sich  ent- 
weder gleichgiltig  oder  gar  förderlich  sind.  Ebenso  wird  der  Einwurf  wegen  der 
Ungerechtigkeit  des  Weltlaufs  damit  zurückgewiesen,  dass  in  Wahrheit  fiir  den 
Guten  und  Weisen  die  physischen  Uebel  gar  keine  Uebel  sind,  dass  dagegen 
andrerseits  für  den  Schlechten  nur  eine  sinnliche  Scheinbefriedigung  möglich  ist, 
welche  ihn  nicht  wahrhaft  glücklich  macht,  sondern  vielmehr  die  sittliche  Krank- 
heit, in  der  er  sich  befindet,  nur  verschlimmert  und  befestigt  *). 

Andrerseits  aber  lassen  sich  die  physischen  Uebel  doch  auch  damit  ver- 
theidigen,  dass  sie,  wie  dies  z.  B.  Chrysipp  von  den  Krankheiten  zu  zeigen  suchte  ^), 
die  uncrlässlichen  Folgen  an  sich  zweckmässiger  Natureinrichtungen  sind,  die  ihre 
Absicht  nicht  verfehlen.  Insonderheit  aber  wohnt  ihnen  die  moralische  Bedeu- 
tung inne,  dass  sie  zum  Theil  als  bessernde  Strafe  der  Vorsehung  *),  zum  Theil 
auch  als  nützlicher  Anlass  zur  Uebung  sittlicher  Kräfte*)  dienen. 

Wenn  so  die  äusseren  Uebel  hauptsächlich  durch  den  Nachweis  ihrer  ethi- 
schen Zweckmässigkeit  gerechtfertigt  wurden,  so  erschien  es  für  die  Stoiker  um  so 
dringender,  erwies  sich  aber  auch  um  so  schwieriger,  das  moralische  Uebel,  die 
Sünde,  begreiflich  zu  machen.  Hier  war  die  negative  Ausflucht  ganz  unmöglich; 
denn  die  KeaUtät  der  Schlechtigkeit  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Menschen  war 
der  (Jegenstand  der  beliebtesten  Declamationen  in  der  stoischen  Moralpredigt. 
Hier  war  also  der  Kernpunkt  der  ganzen  Theodicee:  zu  zeigen,  wie  in  der  Welt, 
welche  das  Erzeugniss  der  göttlichen  Vernunft  ist,  das  Vernunftwidrige  in  den 
Trieben,  Gesinnungen  und  Handlungen  der  vernunftbegabten  Wesen  möglich  sei. 
Hier  griffen  die  Stoiker  deshalb  zu  ganz  allgemeinen  Wendungen:  sie  wiesen 
darauf  hin,  wie  die  Vollkommenheit  des  Ganzen  diejenige  aller  einzelnen  Theile 

1)  Senec.  qu.  nat.  V,  18,  4.  —  2)  Senec.  Ep.  87,  11  ff.  —  3)  Gell.  N.  A.  \lh  1,  7ff,  — 
4)  Plut.  Stüic.  rep.  35,  1.  —  5)  Marc.  Aurel.  VIII,  35, 


§  17.  Die  Kriterien  der  Wahrheit.   (Feripatetiker,  Stoiker.)  155 

nicht  nur  nicht  einscbliesse,  sondern  ausschliesse  ');  und  begründeten  in  dieser 
Weise,  dass  Gott  noth wendig  auch  die  Unvollkommenheit  und  Schlechtigkeit  des 
Menschen  habe  zulassen  müssen.  Insbesondere  aber  betonten  sie,  dass  erst  durch 
den  Gegensatz  zum  Bösen  das  Gute  als  solches  zu  Stande  komme:  gäbe  es  keine 
Sünde  und  Thorheit,  so  gäbe  es  auch  keine  Tugend  und  Weisheit  ^).  Und  wenn 
so  das  Laster  als  die  nothwendige  Folie  für  das  Gute  deducirt  ist,  so  gaben  die 
Stoiker  am  Ende  zu  bedenken  ^)f  dass  die  ewige  Vorsehung  schUesslich  auch 
das  Böse  zum  Guten  wende  und  in  ihm  nur  ein  scheinbar  widerstrebendes  Mittel 
zur  Erfüllung  ihrer  höchsten  Zwecke  habe  *). 

%  11.    Die  Kriterien  der  Wahrheit. 

Am  geringfügigsten  ist  der  philosophische  Ertrag  der  nacharistotelischen 
Zeit  auf  dem  logischen  Gebiete.  Eine  so  gewaltige  Schöpfung,  wie  die  Analytik 
des  Stagiriten,  welche  die  Principien  der  griechischen  Wissenschaft  in  so  muster- 
hafter Weise  zu  geschlossenem  Gesammtbewusstsein  brachte,  musste  natürlich 
das  logische  Denken  auf  lange  Zeit  beherrschen  und  hat  dies  in  der  That  bis  an 
den  Ausgang  des  Mittelalters  und  selbst  noch  darüber  hinaus  gethan.  Die  Fun- 
damente dieses  Systems  waren  so  fest  gelegt,  dass  daran  zunächst  nicht  gerüttelt 
wurde  und  dass  der  Schulthätigkeit  nur  der  Ausbau  einzelner  Theile  übrig  blieb, 
wobei  sich  denn  schon  damals  viel  verschnörkeltes  Epigonenwesen  breit  machte. 

1.  Schon  die  Feripatetiker  haben  in  dieser  Richtung  die  aristoteUsche 
Analytik  durch  ausführlichere  Behandlung,  theil weise  Neubegründung,  weiter- 
gehende Eintheilung,  schulmässigerc  Formulirung  systematisch  auszubilden  ge- 
socht.  Insbesondere  haben  Eudemos  und  Theophrast  Untersuchungen  über 
das  hypothetische  und  das  disjunctive  Urtheil  und  über  die  durch  deren  Vor- 
kommen in  den  Prämissen  veranlasste  Erweiterung  der  Syllogistik  angestellt.  Die 
Stoiker  führten  diese  Bestrebungen  fort;  sie  setzten  diese  neuen  Formen  des 
rrtheils  (a4tco|ioc)  als  zusammengesetzte  den  einfachen  ^)  (kategorischen)  gegenüber, 
entwickelten  bis  in  alle  Einzelheiten  die  daraus  folgenden  Schlussformen,  be- 
tonten auch  besonders  die  Qualität  ^)  der  Urtheile  und  leiteten  die  Denkgesetze 
in  veränderten  Formen  ab.  Ueberhaupt  aber  spannen  sie  die  logischen  Regeln 
zu  einem  trockenen  Schematismus  und  echt  schulmässigen  Formalismus  aus,  der 
dadurch  sich  von  den  inhaltlichen  Grundgedanken  der  aristoteUschen  Analytik 
mehr  und  mehr  entfernte  und  zu  einem  todten  Formelkram  wurde.  Die  un- 
fruchtbare Spitzfindigkeit  dieses  Treibens  gefiel  sich  namentlich  in  der  Auflösung 
sophistischer  Fangschlüsse,  bei  denen  der  sachliche  Sinn  unrettbar  in  den  Wider- 
streit der  Formen  verstrickt  war. 

Erst  in  diesen  Schulbearbeitungen  hat  die  von  Aristoteles  geschaffene 
Wissenschaft  der  Logik  den  rein  formalen  Charakter  angenommen,  der  ihr  dann 
bis  zu  Kant  hin  geblieben  ist.  Je  pedantischer  dabei  sich  die  Ausfuhrung  des 
Einzelnen  gestaltete,  um  so  mehr  trat  an  die  Stelle  des  Bewusstseins  vom  leben- 
digen Denken,  das  Aristoteles  angestrebt  hatte,  ein  schulmeisterliches  Maschen- 
netz von  Regeln,  —  wesentlich  dazu  bestimmt,  die  Gedanken  einzufangen  und  auf 
ihre  formelle  Legitimation  zu  prüfen,  aber  unfähig,  der  schöpferischen  Kraft  der 
wissenschaftlichen  Thätigkeit  gerecht  zu  werden.    Hatte  schon  bei  Aristoteles 

1)  Plnt.  Stoic.  rep.  44,  6.  —  2)  Ibid.  36,  1.  —  3)  Ibid.  35,  3.  —  i)  Kleanth,  hymn. 
V.  I8f.  —  5)  Sext  Emp.  adv.  niath.  VllI,  93.  —  6)  Diog.  Laert.  VII,  65. 


156  II.  Hellenistisch-römiBche  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

die  Rücksicht  auf  Beweisen  und  Widerlegen  im  Vordergrunde  gestanden,  so 
waltet  sie  hier  nur  noch  allein^  und  zu  einer  Theorie  der  Forschung  hat  es  das 
Alterthum  nicht  gebracht.  Denn  die  schwachen  Ansätze,  welche  sich  dazu  in 
den  Untersuchungen  eines  jüngeren  Epikureers  '),  des  Philodemos  *),  über  In- 
ductions-  und  Analogieschlüsse  finden,  stehen  verhältnissmässig  einsam  ohne 
nenneuswerthen  Ertrag. 

2.  Mehr  Sachliches  sollte  man  in  der  Kategorienlehre  erwarten,  von 
deren  Umarbeitung  die  Stoiker  viel  Wesens  machten.  Da  war  es  nun  zwar 
durchaus  richtig,  aber  auch  wenig  fruchtbar,  dass  darauf  hingewiesen  wurde,  die 
oberste  Kategorie,  von  der  die  anderen  nur  besondere  Bestimmungen  darstellen, 
sei  diejenige  des  Seins  (zbSv)^)  oder  des  Etwas  (ti);  und  ebenso  wurde  die 
Coordination  der  Kategorien,  welche  wenigstens  nach  der  Art  der  Aufeählung 
bei  Aristoteles  stattfand,  durch  eine  ausdrückhch  systematische  Reihenfolge  er- 
setzt, nach  welcher  jede  Kategorie  durch  die  folgende  näher  bestimmt  werden 
sollte.  Das  Seiende  als  bleibendes  Substrat  aller  möglichen  Beziehungen  ist 
Substanz  (o7co7cei|i£vov);  diese  ist  der  Träger  von  festen  Eigenschaften  (tcoiov),  und 
nur  in  dieser  Hinsicht  befindet  sie  sich  in  wechselnden  Zuständen  (rö  ttox;  I/^^) 
und  in  Folge  deren  auch  in  Beziehungen  zu  anderen  Substanzen  (tö  icf/ö<;  ti 

Aus  der  Kategorienlehre  wird  damit  eine  Ontologie,  d.  h.  eine  meta- 
physische Theorie  über  die  allgemeinsten  Formbeziehungen  der  Wirklichkeit, 
und  dieselbe  nimmt  deshalb  bei  den  Stoikern  ihrer  allgemeinen  Tendenz  gemäss 
(vgl.  §  15,  5)  einen  durchweg  materialistischen  Charakter  an.  Als  Substanz 
ist  das  Seiende  die  an  sich  eigenschafbslose  Materie  (5X>]),  und  die  ihr  im  Ganzen 
wie  im  Besonderen  innewohnenden  Eigenschaften  und  Kräfte  (Äotönjtec —  Sovdjutc) 
sind  ebenfalls  ihr  beigemischte  (xpaaic  8t*  oXwv)  Stoffe  (Luftströmungen),  Dabei 
werden  beide,  Substanz  und  Attribute,  sowohl  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
allgemeinen  Begriffs,  als  auch  unter  demjenigen  des  Einzeldinges  betrachtet,  und 
in  letzterer  Beziehung  hervorgehoben,  dass  jedes  Einzelding  von  allen  anderen 
wesentlich  und  bestinmit  unterschieden  sei  *). 

Neben  diese  Kategorien  des  Seins  treten  aber  bei  den  Stoikern  diejenigen 
Begriffsformen,  durch  welche  sie  das  Verhaltniss  des  Denkens  zum  Sein  aus- 
drückten, und  in  diesen  kommt  nun  die  Trennung  des  Subjectiven  vom 
Objectiven,  welche  in  der  Entwicklung  des  griechischen  Denkens  immer  stärker 
vorbereitet  worden  war,  zum  entschiedenen  Ausdruck.  Während  nämlich  die 
Stoiker  alle  Gegenstände,  auf  die  sich  das  Denken  bezieht,  für  körperlich, 
während  sie  ebenso  die  Denkthätigkeit  selbst  und  nicht  minder  den  sprachlichen 
Ausdruck  derselben  *)  für  körperliche  Functionen  ansahen,  mussten  sie  doch  zu- 


1)  Epikur  selbst  uud  im  Ganzen  auch  seine  Schule  kümmerte  sich  um  die  formale 
Logik  grundsätzlich  nicht :  man  könnte  darin  Geschmack  und  Verstandniss  sehen,  es  war  aber 
in  Wahrheit  nur  die  Gleichmütigkeit  gegen  Alles,  was  nicht  dircct  praktischen  Nutzen  ver- 
sprach. —  2)  Uebor  dessen  m  Hcrculauum  aufgefundene  Schrift  «epl  <n]|JLeta>v  xal  OY^jtEiwaswv 
vgl.  Th.  Gomi'ERTZ,  Herculanensische  Studien,  Heft  1  (Leipzig  1865).  Fr.  Bahüsch  (Lyck  1879). 
R.  Philippson  (Berlin  1881).  —  3)  Dass  auch  die  Pcripatetikcr  sich  mit  dieser  Kategorie^  be- 
schäftigten, beweist  die  von  Straton  erhaltene  Definition:  tb  ov  eatt  t6  rrji;  StajJLovrj^  aittov 
(Prokl.  in  Tim.  242  e).  —  4)  In  der  Entgegensetzung  der  beiden  ersten  und  der  beiden  letzten 
Kategorien  kommt  auch  hier  das  sprachliche  Venialtniss  von  Nomen  und  Verbum  (nach 
stoischer  Terminologie  nxoiot^  und  xany^op-iwia)  zu  Tage.  —  5)  Auf  die  unterscheidende  Zu- 
sammenstellung des  Denkens  und  des  Sprechens,   der  inneren  Vemunflthätigkeit  (Xofo^ 


§17.  Die  Kriterien  der  Wahrheit.  (Skeptiker.)  157 

gestehen^  dass  der  Vorstellungsinhalt  als  solcher  (tö  Xsxtöv)  unkörperlicher 
Natur  sei.  Indem  aber  so  zwischen  Sein  und  Bewusstseinsinhalt  scharf  unter- 
schieden wurde,  trat  das  erkenntnisstheoretische  Grundproblem  hervor, 
wie  das  Verhältniss  der  Beziehung  und  der  Uebereinstimraung  zwischen  beiden 
zu  denken  sei. 

3.  Diese  Frage  war  aber  ausserdem  durch  die  lebhafte  Entwicklung  nahe 
gelegt,  welche  der  Skepticismus  inzwischen  erfahren  hatte,  und  durch  die  ver- 
hältnissmässig  starke  Stellung,  welche  derselbe  den  dogmatischen  Systemen  gegen- 
über behauptete. 

Gleichviel  ob  von  Pyrrhon  oder  Timon,  jedenfaUs  waren  um  dieselbe  Zeit, 
wo  die  grossen  Schulsysteme  sich  dogmatisch  ausbildeten  und  befestigten,  auch 
alle  die  Argumente  zu  einem  geschlossenen  Ganzen  systematisirt  worden,  durch 
welche  schon  die  sophistische  Zeit  das  naive  Vertrauen  in  die  Erkenntnissßihig- 
keit  des  Menschen  erschüttert  hatte.  Obgleich  auch  dabei  der  ethische  Zweck, 
den  Menschen  durch  Urtheilsenthaltung  unabhängig  vom  Schicksal  zu  stellen, 
letzthin  massgebend  war  (vgl.  §  14,  2),  so  bildet  doch  dieser  Skepticismus  eine 
sorgfältig  ausgeführte  theoretische  Doctrin.  Er  bezweifelt  die  MögUchkeit  der 
Erkenntniss  in  ihren  beiden  Formen,  als  Wahrnehmung  ebenso  wie  als  urtheilen- 
des  Denken,  und  nachdem  er  jeden  dieser  beiden  Factoren  einzeln  zersetzt  hat, 
iiigt  er  ausdrücklich  hinzu^  dass  ebendeshalb  auch  ihre  Vereinigung  kein  sicheres 
Ergebniss  haben  könne  ^). 

In  Bezug  auf  die  Wahrnehmung  bemächtigten  sich  die  Skeptiker  des 
pro tagoreischen Relativismus,  und  noch  in  den  sog.  zehn  Tropen^),  in  welchen 
Ainesidemos  ®)  die  skeptische  Theorie  mit  sehr  mangelhafter  Anordnung  dar- 
stellte, nimmt  diese  Tendenz  den  breitesten  Raum  ein.  Die  Wahrnehmungen 
wechseln  nicht  nur  bei  den  verschiedenen  Grattungen  der  Lebewesen  (1),  nicht 
nur  bei  den  verschiedenen  Menschen  (2)  je  nach  ihren  Gewöhnungen  (9)  und 
ihrer  ganzen  Entwicklung  (10),  sondern  sogar  bei  demselben  Individuum  zu 
verschiedenen  Zeiten  (3),  in  Abhängigkeit  von  den  körperlichen  Zuständen 
(4)  und  von  dem  verschiedenen  Verhältniss,  in  dem  es  sich  schon  räumlich  zu 
dem  Gegenstande  befindet  (5):  aber  sie  ändern  sich  auch  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Zustände  des  Objects  (7),  und  sie  haben  auf  den  Werth 
einer  unmil^elbaren  Wiedergabe  der  Dinge  schon  deshalb  keinen  Anspruch,  weil 
ihre  Entstehung  durch  Zwischenzustände,  in  Medien  wie  der  Luft,  bedingt  ist, 
deren  Mitwirkung  wir  nicht  in  Abzug  zu  bringen  vermögen  (6).  Der  Mensch  ist 
daher  in  alle  Wege  ausser  Stande,  die  Dingo  rein  zu  erkennen  (8),  und  er  hat 
gegenüber  der  widerspruchsvollen  Mannichfaltigkeit  der  Eindrücke,  kein  Mittel, 
einen  wahren  von  einem  falschen  zu  unterscheiden.  Der  eine  gilt  nicht  mehr 
(oo  (tdXXov)  als  der  andere. 

cv3;a{^eT0^)  und  ihres  Ausdrucks  durch  die  Stimme  (Xo^o?  irpo^opixoc)  legten  die  Stoiker  grosses 
Gewicht:  daher  auch  die  Annalime  (vgl.  §  15,  6)  des  Sprachvermögens  als  eigenen  Seelen- 
theils ;  daher  ihre  ausführliche  Behandlung  der  Rhetorik  (und  Grammatik)  neben  der  Logik. 
1)  Von  zwei  Betrügern  zusammen  ist  erst  recht  keine  Wahrheit  zu  erwarten:  Diog, 
Laert  IX,  1 14.  —  2)  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I,  38  ff.  —  3)  Diesem  wird  von  den  alten  Schrift- 
stellern neben  der  Skepsis  ein  Anschluss  an  die  Metaphysik  Heraklit's  nachgesagt.  Die  Frage, 
ob  ein  solcher  thatsSchlich  vorlag  oder  ihm  nur  missverständlich  zugeschrieben  wurde,  hat 
lediglich  antiquarische  Bedeutung.  Denn  wäre  auch  das  Erstere  der  Fall  gewesen,  so  hätte 
sich  darin  nur  wieder  eine  sachliche  Verwandtschaft  gezeigt,  auf  welche  schon  Flaton, 
Theaet.  152  e  ff.  hingewiesen  hatte.  Vgl.  S.  70  Anni.  3. 


158  II>  Hellenistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

Ebenso  relativ  aber  wie  die  Wahrnehmungen  sind  auch  die  Ansichten  (döfai) 
der  Menschen.  In  dieser  Hinsicht  machen  sich  beim  Pyrrhonismus  die  Einflüsse 
der  eleatischen  Dialektik  geltend.  Es  wird  gezeigt,  dass  jeder  Meinung  die  ent- 
jQ^egengesetzte  mit  gleich  guten  Gründen  gegenübergestellt  werden  kann,  und  dies 
Gleichgewicht  der  Gründe  (looo^vsia  rdivXöYcov)  erlaubt  daher  wieder  nicht, 
Wahres  und  Falsches  zu  unterscheiden :  bei  solchem  Widerspruch  (amkorfia)  gilt 
auch  hier  das  Eine  nicht  mehr  als  das  Andere.  Somit  bestehen  —  nach  der  von 
den  Skeptikern  aufgenommenen  Redeweise  der  Sophistik  —  alle  Meinungen  nur 
durch  Convention  und  Gewohnheit  (vo|i(|)  ts  xai  Sd-st),  nicht  mit  wesenhafter  Be- 
rechtigung (fuoet). 

Energischer  noch  hat  die  spätere  Skepsis  die  Möglichkeit  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntniss  angegriffen,  indem  sie  die  Schwierigkeiten  des 
syllogistischcn  Verfahrens  und  der  von  Aristoteles  darauf  gebauten  Methode 
aufdeckte  *).  Hierin  scheint  Karneades  vorangegangen  zu  sein,  welcher  zeigte, 
dass  jeder  Beweis,  indem  er  für  die  Giltigkeit  seiner  Prämissen  andere  Beweise 
voraussetze  u.  s.  f.,  einen  regressus  in  infinitum  erforderlich  mache,  —  eine  Con- 
sequenz,  welche  für  den  Skeptiker,  der  nicht  wie  Aristoteles  etwas  unmittelbar 
Gewisses  (ajuGov;  vgl.  12,  4)  anerkannte,  durchaus  zutreffend  war.  Dasselbe 
Argument  hat  Agrippa  weiter  geführt,  der  den  Skepticismus  in  fünf  Troi)en*) 
viel  klarer  und  umfassender  als  Aenesidem  formulirte.  Er  erinnerte  wiederum 
an  die  Relativität  der  Wahrnehmungen  (3)  und  der  Ansichten  (1);  er  zeigte,  wie 
jeder  Beweis  in's  Endlose  treibe  (2 :  6  sie  äireipov  sxßdXXcov)  und  wie  unrecht  es 
sei,  beim  Beweisen  von  nur  hypothetisch  anzunehmenden  Prämissen  auszugehen 
(4),  endUch  wie  vielfach  auch  in  der  Wissenschaft  als  Grund  der  Prämissen  schon 
das  vorausgesetzt  werden  müsse,  was  dadurch  erst  bewiesen  werden  sollte  (6:  6 
StdXXTjXoc  —  die  Diallele).  In  lezterer  Hinsicht  wurde  auch  daran  erinnert,  dass 
bei  der  syllogistischen  Ableitung  eines  particularen  Satzes  aus  einem  generellen, 
dieser  doch  von  vornherein  nur  unter  der  Bedingung,  dass  jener  gelte,  berechtigt 
wäre'). 

Da  somit  das  Wesen  der  Dinge  der  menschlichen  Erkenntniss  unzugäng- 
lich sei  *),  so  verlangten  die  Skeptiker,  dass  der  Mensch  sich  des  Urtheils  mög- 
lichst enthalte  (s^co^ifj).  lieber  die  Dinge  können  wir  nichts  sagen  (i'faata),  wir 
können  nur  aussprechen,  dass  uns  Dies  und  Jenes  so  oder  so  erscheine,  und  da- 
mit berichten  wir  (so  hatten  schon  die  Kyrenaiker  gelehrt :  §  8,  3)  eben  nur  über 
unsere  eigenen  augenblicklichen  Zustände.  Selbst  die  skeptische  Behauptung 
von  der  Unmöglichkeit  der  Erkenntniss  sollte  (um  dem  Widerspruch  zu  ent- 
gehen, dass  hier  wenigstens  Negatives  theoretisch  behauptet  und  begründet  er- 
schien) ^)  mehr  als  Bekenntniss  denn  als  Erkenntniss,  mehr  als  Meinungsenthaltung 
denn  als  Behauptung  aufgefasst  w^erden. 

Vffl.  V.  Brochard,  Los  sceptiques  grrecs.  (Paris  1887). 

1)  Sext.  Emp.  adv.  math.  VIII,  316ff.  —  2)  Scxt.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I,  164flr.:  1)  Der 
Widerstreit  der  Meinungen.  2)  Die  Endlosigkeit  des  Begründens.  3)  Die  Relativität  aller 
Wahrnehmungen.  4)  Die  Unmöglichkeit  anderer  als  hypothetischer  Prämissen.  5)  Der  Cirkel 
im  Syllogismus.  —  3)  Sext.  Emp.  Pyrrh  hyp.  II,  194  ff.  Erneuert  hei  J.  8t.  Mill,  Logik  II,  3, 2; 
berichtigt  bei  Chr.  Sigwart,  Logik  I,  §  55,  3.  —  4)  Die  einfachste  Formulirung  der  Skepsis 
war  schliesslich  diejenige,  welche  Agrippa's  fünf  Tropen  in  zwei  zusammenzog:  es  giebt  nichts 
unmittelbar  Oewisaes,  und  es  giebt  eben  deshalb  auch  zweitens  nichts  mittelbar  Gewisses, 
somit  gar  nichts  Gewisses.  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I,  178 f.  —  5)  Cic.  Acad.  II,  9,  28  und  34, 
109.   «ext.  Emp.  adv.  math.  VIII,  463  ff. 


§  17.  Die  Kriterien  der  Wahrheit.  (Epikureer,  Stoiker.)  159 

4,  Am  schärfsten  fasste  sich  der  Angriff  der  Skepsis  in  dem  Satze  ')  zu- 
sammen^  dass  den  Täuschungen  gegenüber^  denen  der  Mensch  bei  allen  seinen 
Vorstellungen,  welchen  Ursprungs  auch  immer,  ausgesetzt  ist,  es  kein  eindeutiges, 
sicheres  Erkennungszeichen,  kein  Kriterium  der  Wahrheit  gebe.  Wenn  des- 
halb die  dogmatischen  Schulen,  schon  aus  dem  sokratischen  Motiv,  dass  Tugend 
ohne  Wissen  unmöglich  sei  ^),  an  der  Realität  der  Erkenntniss  festhielten,  so  er- 
wuchs ihnen  die  Aufgabe,  ein  solches  Kriterium  anzugeben  und  gegen  die  skepti- 
schen Einwürfe  zu  vertheidigen.  Das  haben  denn  auch  die  Epikureer  und 
Stoiker  gethan^  obwohl  ihnen  ihre  materialistische  Metaphysik  und  die  damit 
zusammenhangende  sensualis tische  Psychologie  dabei  erhebliche  und  in  letzter 
Instanz  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereitete. 

In  der  That  war  die  psychogenetische  Lehre  beider  Schulen  diejenige,  dass 
der  Inhalt  aller  YorsteUungen  und  Erkenntnisse  lediglich  aus  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  stamme.  Das  Zustandekommen  der  letzteren  erklärten  sich 
die  Epikureer  durch  die  demokritische  Idolentheorie  (§  10,  3);  diese  gab  ja  auch 
den  Sinnestäuschungen,  Träumen  u.  s.  w.  den  Char£Ü£ter  von  Wahrnehmungen 
entsprechender  Wirklichkeit,  und  auch  die  Gebilde  der  combinirenden  Phantasie 
Hessen  sich  durch  Vereinigungen,  welche  schon  objectiv  zwischen  den  Bilderchen 
stattgefunden  haben  sollten,  liiernach  begreiflich  machen.  Aber  auch  den  Stoikern 
galt  die  Wahrnehmung  als  ein  körperUcher  Vorgang,  als  ein  Eindruck  der 
äusseren  Dinge  auf  die  Seele  (totcoioic),  dessen  Möglichkeit  bei  der  allgemeinen 
Mischung  aller  Körper  ihnen  sich  von  selbst  zu  verstehen  schien.  Diese  grob 
sinnliche  Auffassung  drückten  sie  durch  den  seitdem  oft  wiederholten  Vergleich 
aus,  die  Seele  sei  ursprünglich  wie  eine  unbeschriebene  Wachstafel,  in  welche 
die  Aussenwelt  mit  der  Zeit  ihre  Zeichen  eindrücke  *).  Fehler,  aber  unbestimmter, 
immer  jedoch  noch  durchaus  mechanisch  klingt  die  Bezeichnung  von  Chrysippos, 
welcher  die  Wahrnehmung  eine  Eigenschaftsveränderung  (Itsf/oicDGcc)  in  der  Seele 
nannte;  denn  jedenfalls  bleibt  auch  ihm  die  Vorstellung  (^avtaaia)  eine  körper- 
liche Wirkung  des  Vorgestellten  (y avtaoTÖv). 

Lediglich  durch  das  Beharren  dieser  Eindrücke  oder  ihrer  Theile,  sowie 
durch  ihre  Zusammenfügung  erklärten  nun  beide  Schulen  auch  das  Vorkommen 
der  Begriffe  und  Allgemeinvorstellungen  (ic(jokiji^Qi<;  und  bei  den  Stoikern  auch 
xoival  Iwotat).  Sie  bekämpften  deshalb,  wie  namentUch  schon  die  Kyniker,  die 
platonisch-aristotelische  Lehre  von  den  Ideen  und  Formen  *),  insbesondere  auch 
die  Annahme  einer  selbständigen  Thätigkeit  oder  Kraft  der  Begriffsbildung,  und 
sie  führten  auch  die  allgemeinsten  und  abstractesten  Begriffe  auf  diesen  Mechanis- 
mus der  Wahmehmungselemente  (den  sie  übrigens  kaum  genauer  analysirten) 
zurück:  und  wenn  die  Stoiker  diesen  kunstlos  und  unwillkürlich  (fpu'sixco«;)  zu 
Stande  kommenden  Allgemeinvorstellungen  der  Erfahrung  (s|irstpta)  die  mit 
methodischem  Bewusstsein  erzeugten  Begriffe  der  Wissenschaft  gegenüberstellten, 
so  soUte  doch  auch  deren  Inhalt  lediglich  aus  den  Sinnesempiindungen  her- 


1)  Sext.  Erap.  adv.  math.  VII,  159.  —  2)  Diog.  Laert.  X,  146  f.  K.  A.  Us.  p.  76f., 
andrerseits  Plut.  Stoic.  rep.  47,  12.  —  ä)  Flut.  Plac.  IV,  11.  Dox.  D.  400;  Plut.  comm.  not. 
47.  Vgl.  übrigens  schon  Fiat.  Thcaet.  191  c.  —  4)  Die  Stoiker  fassten  daher  die  platonischen 
„Ideen" (Gattungsbegriffe)  nur  als  menschliche  Vorstellungsgebilde  (ewot^iiata  ^jfjietepa;  vgl. 
Flut.  plac.  1 10  Dox.  D.  309)  auf  und  gaben  so  die  erste  Veranlassung  zu  der  späteren  sub- 
jectiven  Bedeutung  des  Terminus  „Idee" :  vgl.  §  19. 


160  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   1.  Ethische  Periode. 

stammen.  Dabei  wurde  von  beiden  Schulen  auf  die  Mitwirkung  der  Sprache  in 
der  Entstehung  der  Begriffe  besonderes  Gewicht  gelegt. 

Insofern  nun  aber  der  Gesammtinhalt  der  Eindrücke  und  ebenso  auch  die 
Natur  des  Denkens  bei  allen  Menschen  die  gleichen  sind  y  so  müssen  sich  unter 
diesen  Umständen  vermöge  des  psychologischen  Mechanismus  auch  überall  die 
gleichen  Allgemeinvorstellungen  sowohl  auf  dem  theoretischen  als  auch  auf  dem 
praktischen  Gebiete  bilden.  Diese  Consequenz  haben  namentlich  die  Stoiker 
gezogen,  welche  ihrer  ganzen  Metaphysik  nach  auf  die  Gemeinsamkeit  der  seeli- 
schen Functionen^  die  ja  alle  aus  dem  göttlichen  Pneuma  stammen  sollten,  energisch 
hingewiesen  wa^en.  Sie  lehrten  daher,  dass  in  denjenigen  Vorstellungen,  welche 
sich  mit  natürlicher  Nothwendigkeit  bei  allen  Menschen  gleichmässig  entwickeln, 
die  sicherste  Wahrheit  zu  suchen  sei,  und  sie  nahmen  auch  für  die  wissenschaft- 
lichen Beweisführungen  den  Ausgangspunkt  gern  bei  diesen  xoiyat  gwotai  oder 
communes  notiones:  sie  beriefen  sich  mit  Vorliebe  auf  den  consensus  gentium, 
die  Ucbcreinstimmung  aller  Menschen,  —  ein  Argument,  dessen  Geltung  freiUch 
von  den  Skeptikern  leicht  mit  dem  Hinweis  auf  die  negativen  Instanzen  der  Er- 
fahrung zu  erschüttern  war  ^). 

Es  war  deshalb  nicht  mehr  im  Sinne  der  Stoiker,  wenn  in  der  späteren 
eclectischen  Litteratur  diese  Gemeinvorstellungen  als  eingeboren  (innatae) 
bezeichnet  wurden,  wenn  namentlich  Cicero  in  ihnen  nicht  nur  das  sah,  was  die 
Natur  Alle  gleichmässig  lehrt,  sondern  auch  das,  was  sie  oder  die  Gottheit  mit 
der  Vernunft  zugleich  ui-sprüngUch  Jedem  eingepflanzt  habe.  Cicero  behauptet 
dies  nicht  nur  fui*  die  Grundbegriffe  der  Sittlichkeit  und  des  Rechts,  sondern 
auch  für  den  Glauben  an  die  Gottheit  und  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele : 
insbesondere  gilt  dabei  die  Erkenntniss  Gottes  nur  als  die  Besinnung  des  Men- 
schen auf  seinen  wahren  Ursprung  ^).  Mit  dieser  Lehre  war  die  beste  Brücke 
zwischen  platonischer  und  stoischer  Erkenntnisstheorie  geschlagen,  und  unter 
dem  stoischen  Namen  der  xotval  ewoiai  ist  die  rationalistische  Erkenntnisse 
lehre  bis  in  die  Anfange  der  neueren  Philosophie  hinein  fortgepflanzt  worden: 
sie  hat  eben  dadurch  den  psychologistischen  Nebensinn  erhalten,  dass  Ver- 
nunfterkenntniss  aus  eingeborenen  Begriffen  bestehe. 

6.  Wenn  nun  aber  ursprünglich  Stoiker  wie  Epikureer  in  psychogenetischer 
Hinsicht  allen  Vorstellungsinlialt  auf  Sinneseindrücke  zurückführten,  so  haben  nur 
die  Epikureer  daraus  die  consequente  Folgerung  gezogen,  dass  das  Erkennungs- 
zeichen der  Wahrheit  lediglich  das  Gefühl  der  Nothwendigkeit  sei,  mit  der  sich 
die  Wahrnehmung  dem  Bcwusstsein  aufdringt,  die  unwiderstehliche  Augen- 
scheinlichkeit oder  Evidenz  (Ivdf/jfeta),  mit  der  die  Aufnahme  der  Wirklich- 
keit in  der  Function  der  Sinne  verbunden  ist.  Jede  Wahrnehmung  ist  als  solche 
wahr  und  unwiderleglich:  sie  besteht,  sozusagen,  als  selbstgewisses  Atom  der  Vor- 
stellungswelt zweifellos  in  sich  selbst,  unabhängig  und  unerschütterlich  von  irgend 
welchen  Gründen^).  Und  wenn  von  denselben  Gegenständen  verschiedene  und 
einander  widersprechende  Wahrnehnmngen  vorzuliegen  scheinen,  so  ist  der  Irr- 
thum  nur  bei  der  beziehenden  Meinung  und  nicht  in  den  Wahrnehmungen,  welche 
eben  durch  ihre  Verschiedenheit  beweisen,  dass  ihnen  verschiedene  äussere  Ver- 

1)  Cic.  de  nat.  deor.  I,  23,  62  f.  —  2)  Id.  De  lepj.  I,  8,  24:  .  .  ut  is  aguoscat  deuni,  qui 
unde  ortus  sit  quasi  recordetur  ac  iioscat.  —  3)  Die  Parallele  dieses  erkenntnisstheoretischen 
mit  dem  physischen  und  ethischen  Atomismus  der  Epikureer  liegt  auf  der  Hand. 


§17.  Die  Kriterien  der  Wahrheit.    (Epikureer.)  161 

anlassuDgen  entsprechen :  die  Elelativität  ist  hiemach  keine  Instanz  gegen  die 
Richtigkeit  aller  Wahrnehmungen  ^). 

Indessen  gehen  nun  über  diesen  unmittelbaren  Bestand  der  Sinneseindrücke 
fortwährend  und  nothwendig  die  Meinungen  (Sö^ai)  hinaus:  denn  die  für  das 
Handeln  erforderliche  Erkenntniss  bedarf  auch  des  Wissens  von  demjenigen,  was 
nicht  unmittelbar  wahrnehmbar  ist,  einerseits  nämlich  der  Gründe  der  Er- 
scheinungen (SStjXov)  ,  andrerseits  der  daraus  zu  erschliessenden  Erwartung  für 
das  Zukünftige  :(icpoqiiyov).  Aber  auch  für  aUe  diese  weiteren  Functionen  des 
psychischen  Mechanismus  giebt  es  nach  den  Epikureern  keine  andere  Gewähr 
als  wiederum  die  Wahrnehmung.  Denn  wenn  die  Begriffe  (icpokif^Bi^)  nur  die  in 
der  Erinnerung  festgehaltenen  Sinneseindrücke  sind,  so  haben  sie  in  der  Evidenz 
der  letzteren  auch  ihre  eigene,  weder  beweisbare  noch  angreifbare  Gewissheit  ^): 
und  die  Hypotheseny-uicoX')^et<;,  sowohl  über  die  unwahmehmbaren  Gründe  der 
Dinge  als  auch  über  zukünftige  Ereignisse  finden  ihr  Kriterium  lediglich  in  der 
Wahniehmungy  insofern  sie  von  dieser  bestätigt  oder  wenigstens  nicht  widerlegt 
werden:  ersteres  gilt  fUr  die  Yoraussagung  des  Zukünftigen,  letzteres  für  die  er- 
klärenden Theorien^).  Von  einer  selbständigen  Ueberzeugungskraft  des  Denkens 
ist  also  bei  den  Epikureern  keine  Rede:  ob  unsere  Erwartung  irgend  eines  Ereig- 
nisses richtig  isty  können  wir  nach  ihnen  erst  wissen,  wenn  dies  eintritt.  Damit 
ist  auf  eine  wirkliche  Theorie  der  Forschung  principiell  verzichtet. 

6«  Es  ist  hieraus  ersichtlich,  dass  die  Epikureer  ihre  eigene  atomistische 
Metaphysik  nur  als  eine  durch  die  Thatsachen  nicht  widerlegtOi  aber  auch  nicht 
bewiesene  Hypothese  hätten  ansehen  dürfen,  —  eine  Hypothese,  deren  sie  sich 
ja  auch  wesentlich  nur  zu  dem  Zweck  bedienten,  um  andere,  ihnen  ethisch  be- 
denklich erscheinende  Hypothesen  zu  verdrängen.  Bei  ihnen  ist  somit  der  Dog- 
matismus nur  problematisch,  und  ihre  Erkenntnisslehre  ist,  soweit  es  sich  um 
rationelles  Wissen  liandelt,  sehr  stark  skeptisch  durchsetzt:  insofern  als  sie  nur 
dasjenige,  was  der  Wahrnehmung  als  „Thatsache"  gUt,  anerkennen,  dies  aber 
auch  für  völlig  gewiss  ansehen,  ist  ihr  Standpunkt  als  degenige  des  Positivis- 
mus zu  bezeichnen. 

Noch  consequenter  und  mit  Abstreifung  von  Epikur's  ethisch-metaphysi- 
schen Neigungen  ist  dieser  Positivismus  im  Alterthum  dui*ch  die  Ansichten  der 
jüngeren  empiristischen  Aerzteschulen  ausgebildet  worden,  die  zwar  hinsichtlich 
der  Erkenntniss  alles  Un wahrnehmbaren  und  hinsichtlich  aller  rationalen  Theorien 
mit  den  Skeptikern,  dagegen  in  der  Anerkennung  der  sinnlichen  Evidenz  der 
Wahrnehmungen  mit  den  Epikureern  gingen.  Als  die  Grundlage  der  ärztlichen 
Kunst  wird  hier  die  Beobachtung  (tTJpTfjotc)  geschildert  und  als  das  Wesen  der 
Theorie  nur  die  in  der  Erinnerung  festgehaltene  Beobachtung  angesehen;  nament- 
lich aber  werden  die  ätiologischen  Erklärungen  principiell  abgewiesen. 

Im  Zusammenhange  damit  steht  der  Umstand,  dass  auch  die  späteren 
Skeptiker  in  eingehenden  Untersuchungen  den  Begriff  der  Causalität  behandel- 
ten und  die  Schwierigkeiten  desselben  aufdeckten.  Schon  Ainesidemos  hat  eine 
Reihe  solcher  Aporien  aufgestellt  %  und  bei  Sextus  Empiricus  finden  wir  sie 


1)  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  203 ff.  —  2)  Wie  das  letzte  Kriteriam  auch  deft  geistig 
Guten  bei  Epikur  die  sinnliche  Lust,  so  ist  auch  das  Wahrheitskriterium  der  Begriffe  nur  die 
sinnliche  Evidenz.  —  8)  Sext.  Emp.  VII,  211.  —  4)  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I,  180  ff. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  n 


lf)2  II.  Hellenistisch-römische  Philosophie.  1.  Ethische  Periode. 

noch  breiter  und  umfangreicher  entwickelt ').  Da  werden  nicht  nur  die  Mängel 
der  ätiologischen  Theorien  bezeichnet,  welche  das  Bekannte  auf  Unbekanntes 
reduciren^  das  ebenso  unerklärlich  ist,  welche  unter  yielen  Möglichkeiten  eine 
einzebe  ohne  zureichenden  Grund  behaupten^  welche  nicht  sorgfältig  genug  die 
Erfahrung  nach  etwaigen  negativen  Instanzen  durchmustern;  welche  endlich  das 
der  Wahrnehmung  Unzugängliche  doch  schUesslich  irgendwie  nach  einem  aus 
der  Wahrnehmung  bekannten  und  besonders  einfachen,  deshalb  auch  scheinbar 
selbstverständlichen  Schema  erklären:  da  werden  auch  ausserdem  alle  allgemeinen 
Schwierigkeiten  hervorgesucht,  welche  es  verhindern,  von  dem  ursächUchen  Yer- 
hältniss  eine  anschauliche  Vorstellung  zu  gewinnen.  DerProcess  der  Einwirkung, 
der  Uebergang  der  Bewegung  von  einem  Dinge  auf  das  andere,  ist  weder  bei  der 
Annahme,  dass  das  Wirkende  (als  Kraft)  immateriell  sei,  noch  bei  der  entgegen- 
gesetzten begreiflich  zu  machen ;  auch  die  Berührung  {&f'fi)i  die  man  (und  das 
geschah  schon  von  Aristoteles)  als  conditio  sine  qua  non  des  causalen  Vorgangs 
annahm,  lässt  ihn  keineswegs  erklärhcher  werden.  Ebenso  ist  das  Zeitverbält- 
niss  von  Ursache  und  Wirkung  äusserst  schwer  zu  bestimmen.  Als  die  wichtigste 
Einsicht  aber  erscheint  in  diesen  Erörterungen  der  Hinweis  auf  die  Relativität 
des  causalen  Verhältnisses:  nichts  ist  an  sich  Ursache  oder  Wirkung,  son- 
dern jedes  von  beiden  ist  es  nur  mit  Rücksicht  auf  das  andere:  airtov  und  icdo^ov 
sind  coiTclative  Bezeichnungen ,  welche  nicht  absolut  gesetzt  werden  dürfen. 
Damit  ist  denn  auch  der  (stoische)  Begriff  einer  wesentlich  wirkenden  Ursache, 
der  Begriff  der  schöpferischen  Gottheit,  ausgeschlossen. 

7.  In  einer  anderen  Richtung  haben  die  Skeptiker  der  Akademie  einen 
Ersatz  fiir  die  auch  von  ihnen  aufgegebene  Gewissheit  der  rationalen  Erkenntniss 
gesucht.  Da  nämlich  im  praktischen  Leben  die  Enthaltung  nicht  durchzuführen 
und  das  Handeln  unerlässlich  ist,  für  dieses  aber  bestimmende  Vorstellungen  er- 
forderlich sind,  so  führte  schon  Arkesilaos  aus,  dass  die  Vorstellungen,  auch 
wenn  man  ihnen  die  volle  Zustimmung  versage,  den  Willen  zu  bewegen  im 
Stande  seien  ^)  und  d^ss  man  im  praktischen  Leben  sich  mit  einem  gewissen 
Vertrauen  (ma-nc)  begnügen  müsse,  wonach  einzelne  Vorstellungen  vor  anderen 
als  wahrscheinlich  (siSXoYov),  zweckmässig  und  vernünftig  gelten  dürfen  ^). 

Die  Theorie  des  Probabilismus  hat  sodann  Karneades  weiter  aus- 
geführt^), indem  er  die  einzelnen  Grade  dieses  „Glaubens"  nach  logischen  Ver- 
hältnissen näher  zu  bestimmen  suchte.  Der  geringste  Grad  der  Wahrschein- 
lichkeit (mdavÖTYjc)  ist  derjenige,  welcher  (als  eine  undeutliche  und  unvoll- 
kommene Form  der  sinnlichen  Evidenz  —  ivip^sta)  der  einzelnen,  nicht  in  weiteren 
Zusammenhängen  stehenden  Vorstellung  zukommt.  Ein  höherer  Grad  der 
Wahrscheinlichkeit  gebürt  derjenigen  Vorstellung,  welche  mit  anderen,  in 
deren  Zusammenhang  sie  gehört,  widerspruchslos  vereinbar  ist  (aTcepiaicaatoc) ; 
die  höchste  Stufe  endlich  des  Glaubens  wird  da  erreicht,  wo  ein  ganzes  System 
derartig  zusammenhangender  Vorstellungen  auf  seine  durchgängige  Ueberein- 
stimmung  und  erfahrungsmässige  Bestätigung  geprüft  (x£pui>§60|iivY])  ist.  Das 
empirische  Vertrauen  steigt  also  von  dem  sinnlich  Vereinzelten  zu  den  logischen 
Zusammenhängen  wissenschaftlicher  Forschung.    Aber  wenn  es  auch  in  der 


1)  Adv»  math,  IX,  195  ff.  Vgl  K.  Göhikg,  Der  Begriff  der  Ursache  in  der  griechischen 
Philosophie.  Leipzig  1874.  —  2)  Plut.  adv.  Col.  26,  3.  —  S)  Sext.  Emp.  adv.  inath.  VII,  158.  — 
4)  Ibid.  166  ff. 


§  17.   Die  Kriterien  der  Wahrheit.    (Stoiker.)  163 

letzteren  Form  zum  praktischen  Leben  völlig  ausreichen  mag  (wie  dies  Kameades 
annahm),  so  ist  es  doch  nicht  im  Stande,  zu  einer  völlig  sicheren  Ueberzeugung 
zu  fuhren. 

8.  Dem  gegenüber  haben  nun  die  Stoiker  die  äussersten  Anstrengungen 
gemacht,  um  für  ihre  Metaphysik,  der  sie  aus  ethischem  Interesse  so  hohen  Werth 
beilegten,  einen  erkenntnisstheoretischen  Unterbau  zu  gewinnen  und  trotz  des 
psychogenetischen  Sensualismus  den  rationalen  Charakter  der  Wissenschaft 
zu  retten ').  Schon  ihre  Lehre  von  der  Weltvemunft  verlangte  nach  dem  Grund- 
satz, dass  Gleiches  durch  Gleiches  erkannt  wird,  eine  Erkenntniss  des  äusseren 
Logos  durch  den  inneren  Logos  des  Menschen,  durch  seine  Vernunft*),  und  der 
ethische  Antagonismus  (bezw.  Dualismus)  zwischen  der  Tugend  und  den  sinn- 
lichen Trieben  erforderte  eine  parallele  Unterscheidung  zwischen  der  Erkenntniss 
und  der  sinnlichen  Vorstellung.  Wenn  deshalb  auch  aus  der  letzteren  das  ganze 
Material  des  Wissens  erwachsen  sollte,  so  wiesen  die  Stoiker  andrerseits  darauf 
hin,  dass  in  der  Wahi*nehmung  als  solcher  allein  überhaupt  keine  Erkenntniss 
enthalten,  dass  sie  weder  als  wahr  noch  als  falsch  zu  bezeichnen  sei.  Wahrheit 
und  Falschheit  sind  vielmehr  erst  Prädicate  der  Urtheile  (a£ub(i.aTa),  in  denen 
über  die  Beziehung  der  Vorstellungen  etwas  ausgesagt  (bezw.  verneint)  wird '). 

Das  Urtheil  fassen  jedoch  die  Stoiker  —  und  hierin  nehmen  sie  eine  neue 
und  bedeutungsvolle  Stellung  ein,  der  im  Alterthum  nur  noch  die  Skeptiker 
einigermassen  nahe  kommen  —  durchaus  nicht  nur  als  den  theoretischen  Vor- 
gang der  Vorstellung  und  Vorstellungsverbindung  auf,  sondern  sie  erkannten 
darin  als  wesentlichstes  Merkmal  den  eigenthümlichen  Act  der  Zustimmung 
(aiyptard^eot^),  des  Billigens  und  Ueberzeugtseins ,  womit  der  Geist  den  Vor- 
stellungsinhalt  zu  dem  seinigen  macht,  ergi^cift  und  von  ihm  gewissermassen  Be- 
sitz nimmt  (xataXajißdivstv).  Diesen  Act  des  Erfassens  sehen  die  Stoiker  in  der- 
selben Weise  als  eine  selbständige  Function  des  Bewusstseins  (i^s(i.ovixöy)  an, 
wie  die  im  Affect  auftretende  Zustimmung  zu  den  Trieben.  Die  Entstehung  der 
Vorstellungen  ist  wie  diejenige  der  Gefuhlserregungen  ein  naturnothwendiger, 
von  der  menschlichen  Willkür  völlig  unabhängiger  Process  (axoftotov):  aber  die 
Zustimmung,  wodurch  wir  die  einen  zu  Urtheilen  und  die  andern  zu  AflFecten 
machen,  ist  eine  von  der  Aussenwelt  freie  (sxouotov)  Entscheidung  (xpiatc)  des  Be- 
wusstseins*). 

Diese  Zustimmung  tritt  nun  aber  bei  dem  Weisen,  vermöge  der  Identität 
des  individuellen  mit  dem  allgemeinen  Logos,  nur  bei  denjenigen  Vorstellungen 
ein,  welche  wahr  sind:  indem  also  die  Seele  diesen  Vorstellungsinhalt  ergreift, 
so  ergreift  sie  damit  zugleich  die  WirkUchkeit.  Eine  solche  Vorstellung  nannten 
die  Stoiker  ^avra^iot  xaraXTjTrrtxi^  *),  und  sie  waren  der  Ueberzeugung,  dass  eine 
solche  die  Zustimmung  des  vernünftigen  Menschen  in  unmittelbarer  Evidenz 

1)  y^l.  M.  Hbinzr,  Zur  Erkenn tnisslehre  der  Stoiker.  Leipzig  1880,  —  2)  Sext.  Emp. 
adv.  math.  VII,  93.  —  S)  Ibid.  VIII,  10.  —  4)  Ibid.  VIH,  39,  7.  —  5)  In  der  Deutung  dieses 
Terminus  gehen  die  Ansichten  weit  auseinander:  den  Quellen  nach  scheint  es  in  der  That  bald, 
als  sei  die  Vorstellung  gemeint,  welche  der  Geist  ergreift,  bald  diejenige,  welche  den  wirklichen 
Thatbestand  ergreift,  bald  diejenige,  durch  welche  der  Geist  die  Wirklichkeit  ergreift,  bald  so- 
gar diejenige,  welche  ihrerseits  den  Geist  so  ergreift,  dass  er  ihr  zustimmen  muss.  Es  ist  daher 
gemeint  worden,  die  Stoiker  hätten  den  Ausdruck  absichtlich  in  dieser  mehrdeutigen  Form 
gebildet,  indem  alle  diese  Beziehungen  darin  anklingen  sollten,  und  vielleicht  hat  E.  Zeller 
(IV",  83)  diese  Mehrdentigkeit  durch  die  Uebersetzung  „begriffliche  Vorstellung**  wiedergeben 
wollen,  welche  aber  einen  logischen  Nebensinn  bat,  den  die  Stoiker  sicher  nicht  gemeint  haben. 

11* 


164  n.  Hellemstisch-römische  Philosophie. 

hervorrufen  müsse.  Daher  wird  zwar  die  Zustimmung  selbst  (oöYxatd^satc)  als 
eine  Thätigkeit  der  denkenden  Seele  aufgefasst;  aber  als  Objecte  derselben  er- 
scheinen ebenso  die  einzelnen  Wahrnehmungen  wie  die  darauf  fussenden  Ver- 
standesthätigkeiten  des  Begriffs,  Urtheils  und  Schlusses. 

Verstanden  somit  die  Stoiker  unter  der  ^avtaata  xaToXiijTmxi^  diejenige  Vor- 
stellung, durch  welche  der  Geist  die  Wirklichkeit  erfasst  und  die  ihm  deshalb  so 
einleuchtet,  dass  er  sie  zustimmend  zu  der  seinigen  macht,  so  war  das  wohl  der 
richtige  Ausdruck  für  die  Anforderung,  welche  sie  an  die  wahre  Vorstellung 
stellten  ^),  aber  es  eignete  sich  diese  Definition  durchaus  nicht  für  den  Zweck, 
aus  dem  sie  gebildet  wurde,  für  ein  Erkennungszeichen  der  Wahrheit.  Denn  das 
subjective  Merkmal  darin,  die  Zustimmung,  Hess  sich  ja,  wie  die  Skeptiker*)  sehr 
richtig  einwandten,  als  psychologisches  Factum  auch  bei  einer  Fülle  von  offen- 
bar falschen  Vorstellungen  thatsächlich  nachweisen. 

So  zeigt  sich  der  anthropologische  Zwiespalt  der  stoischen  Lehre  auch  in 
diesem  Centralbegriff  ihrer  Erkenntnisslehre.  Wie  es  nach  ihrer  Metaphysik 
nicht  zu  erklären  war,  dass  die  aus  der  Weltvemunft  stammende  Einzelseele 
unter  die  Herrschaft  der  Sinnentriebe  geräth,  so  ist  es  ehensowenig  zu  begreifen, 
dass  die  theoretische  Zustimmung  unter  umständen  auch  den  falschen  Vor- 
stellungen zufallt.  Beide  Schwierigkeiten  aber  haben  schliesslich  ihren  gemein- 
samen Grund.  Mit  Heraklit  identificirten  die  Stoiker  in  ihrer  Metaphysik,  obwohl 
die  Begriffe  sich  inzwischen  schon  viel  mehr  gesondert  hatten,  die  normative 
und  die  thatsächliche  Ordnung  der  Dinge.  Die  Vernunft  galt  ihnen 
ebenso  als  das  was  sein  soll,  wie  als  das  was  ist:  sie  war  zugleich  vö[ioc  und  fixsic. 
Und  dieser  Gegensatz,  dessen  beide  Seiten  in  ihrer  Freiheitslehre  und  ihrer 
Theodicee  hart  auf  einander  stiessen,  war  das  Problem  der  Zukunft. 

2.  Kapitel  Die  religiöse  Periode. 

J.  Simon,  Histoire  de  T^cole  d^Alexandrie  (Paris  1843  ff.). 

£.  Matter,  Essai  sur  Tecole  d'Alexandrie  (Paris  1840 f!.). 

E.  Vachbrot,  Histoire  critiqae  de  Tecole  d^Alexandrie  (Paris  1846  ff.). 

Barthäleht  St-Hiladie,  Sur  le  concours  ouvert  par  Vacademie  etc.  sur  T^cole  d'Ale- 
xandrie  (Paris  1845). 

K.  Vogt,  Neuplatonismns  und  Obristenthum  (Berlin  1836). 

Georgii,  lieber  die  Gegensätze  in  der  Auffassung  der  alexandriniscben  Keligionsphilo- 
sopbie  (Zeitscbr.  f.  bist.  Tbeol.  1839). 

E.  DEUTmoER,  Geist  der  christlicben  Ueberliefening  (Regensburg  1850/51). 

A.  RrrscHL,  Die  Entstebung  der  altkathoüscben  Kircbe  (2.  Aufl.  Bonn  1857). 

Chr.  Baur,  Das  Obristenthum  der  drei  ersten  Jahrhunderte  (Tübingen  1860). 

J.  Alzog,  Grundriss  der  Patrologie  (3.  Aufl.  Freiburg  i.  B.  1876). 

Alb.  StöckL)  Geschichte  der  Philosophie  der  patristischen  Zeit  (Würzburg  1859). 

.T.  Huber,  Die  Philosophie  der  Kirchenväter  (München  1859). 

Fr.  Overbeck,  Ueber  die  Anfänge  der  patristischen  Litteratur  (Hist.  Zeitscbr.  1882). 

A.  Harnack,  Lehrbuch  der  Dogmengeschichte  (3  Bd.  Freiburg  i.  B.  1886—90). 

Die  allmähliche  Ueberleitung  der  hellenistisch -römischen  Philosophie  von 
dem  ethischen  auf  den  religiösen  Standpunkt  hatte  gleichmässig  ihre  inneren 
Ursachen  in  dieser  Philosophie  selbst,  wie  ihre  Anlässe  in  den  gebieterischen  An- 
forderungen des  Zeitbedürfhisses.  Je  weiter  nämlich  die  Berührung  zwischen  den 

1)  Es  verlohnt  sich  darauf  hinzuweisen,  dass  in  den  Bezeichnungen  über  das  Verhältniss 
des  erkennenden  Geistes  zur  äusseren  Wirklichkeit  bei  den  Stoikern  überall  die  Ausdrücke  aus 
dem  Gebiete  des  Tastsinns  (Eindruck,  Ergreifen  etc.)  vorwalten,  während  früher  optische 
Analogien  bevorzugt  wurden  i  vgl  S.  92.  —  2)  Sext.  Emp.  adv.  math.  VIT,  402  ff. 


2.  Religiöse  Periode.  165 

Systemen  griff,  um  so  mehr  stellte  sich  heraus,  wie  wenig  die  Philosophie  die 
Aufgabe  zu  erfüllen  vermochte,  die  sie  sich  selbst  gesetzt  hatte:  den  Menschen 
durch  sichere  Einsicht  zur  Tugend  und  GltickseUgkeit,  zur  inneren  Unabhängigkeit 
Ton  der  Welt  zu  erziehen.  Lehrte  schon  die  immer  weiter  sich  ausdehnende  skep- 
tische Denkart,  dass  die  Tugend  schliesslich  eher  in  dem  Verzicht  auf  das  Wissen, 
als  in  einem  Wissen  selbst  bestehe,  so  kam  auch  bei  den  Stoikern  mehr  und  mehr 
die  Ansicht  zum  Durchbruch,  dass  ihr  so  scharf  und  schroff  gezeichnetes  Ideal 
des  Weisen  in  keinem  Menschen  ganz  verwirklicht  werde,  und  so  fand  sich  in  jeder 
Richtung,  dass  der  Mensch  aus  eigener  Kraft  weder  wissend  noch  tugendhaft  und 
glücklich  werden  könne. 

Musste  schon  danach  in  der  Philosophie  selbst  eine  Stimmung  hervorgerufen 
werden,  welche  zur  Annahme  einer  höheren  Hilfe  fiir  die  ethischen  Zwecke  geneigt 
war,  so  enthielten  auch  die  theoretischen  Lehren  eine  grosse  Anzahl  von  religiösen 
Momenten.  Die  Epikureer  freilich  schlössen  solche  absichtlich  aus;  um  so  leich- 
teren Eingang  dagegen  gewähi*ten  ihnen  die  Stoiker.  Bei  diesen  führte  nicht  nur 
die  Metaphysik  darauf,  das  Princip  der  Moral  in  einem  göttlichen  Gebot  zu 
suchen,  sondern  es  bot  sich  auch  in  der  Pneumalehre  die  Möglichkeit,  den  Gebilden 
des  Mythos  eine  philosophische  Bedeutung  zu  gewähren,  die  sich  dann  auch  allen 
Formen  des  Cultus  mittheilen  konnte.  Unvergessen  waren  endlich  der  Mono- 
theismus des  Geistes  in  der  Lehre  des  Aristoteles  und  jener  ideale  Zug,  mit  dem 
Piaton  das  bleibende  Wesen  der  Dinge  in  einer  höheren  Welt  des  Uebersinnlichen 
gesucht  hatte. 

Gerade  dieser  Dualismus  aber,  der  die  irdische  Welt  des  Vergänglichen 
einer  übersinnlichen  Welt  des  Göttlichen  gegenüberstellte ,  erwies  sich  schUess- 
lich  ab  der  rechte  Ausdruck  für  jenen  inneren  Zwiespalt,  der  durch  das  gesammte 
Leben  der  alternden  Griechen-  und  Römerwelt  ging.  Wohl  feierte  noch  die  alte 
GenussbegehrUchkeit  in  Macht  und  Sinnentaumel  ihre  Orgien ;  aber  mitten  darin 
erwuchs  aus  Ueberdruss  und  Ekel  ein  neues  Begehren  nach  reinerer,  höherer 
Freude :  und  angesichts  der  ungeheuren  Gegensätze,  welche  der  sociale  Zustand 
desBömerreichs  mit  sich  führte,  richtete  sich  der  Blick  all  der  Millionen,  die  von 
den  Gütern  dieser  Erde  sich  ausgeschlossen  sahen,  sehnsuchtsvoll  auf  eine  bessere 
Welt.  So  war  denn  auf  allen  Wegen  ein  tiefes,  leidenschaftUches  Bedürfhiss  nach 
wahrem  Seelenheil  (cM)T7]p(a)  erwachsen,  ein  Hunger  nach  dem  Ueberirdischen,  ein 
religiöser  Drang  ohne  Gleichen. 

Diese  Lebhaftigkeit  der  religiösen  Bewegung  bethätigte  sich  zunächst 
in  der  begierigen  Aufnahme,  welche  fremde  Cultusformen  in  der  römisch -grie- 
chischen Welt  fanden,  in  der  Mischung  und  Verschmelzung  orientalischer  und 
occidentalischer  Beligionen :  aber  mit  der  Ausgleichung,  den  die  Gegensätze  der- 
selben hie  und  da  fanden,  trat  doch  viel  energischer  noch  ihr  Streit  um  die  Herr- 
schaft über  die  Gemüther  hervor,  und  so  wurde  der  Boden  der  antiken  Culturwelt, 
nachdem  er  die  Früchte  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  getragen,  zum  Kampf- 
platz der  B.eligionen.  Das  wesentliche  Interesse  des  Menschen  verschob  sich 
damit  für  lange  Jahrhunderte  aus  der  irdischen  in  die  himmlische  Sphäre:  er 
begann  sein  Heil  jenseits  der  Sinnenwelt  zu  suchen. 

Allein  die  Formen,  in  denen  dieser  Kampf  der  Beligionen  sich  abspielte, 
beweben  nun  trotz  alledem,  zu  welcher  geistigen  Macht  die  griechische  Wissen- 
schaft herangewachsen  war.  Denn  so  sehr  war  die  alte  Welt  zu  des  Gedankens 


16f>  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie. 

Blässe  angekränkelt,  so  tief  von  dem  Bedürfniss  nach  Erkenntniss  durchsetzt, 
dass  jede  der  Religionen  nicht  nur  dem  Gefühl,  sondern  auch  dem  Verstände 
Genüge  thun  woUte  und  deshalb  ihr  Leben  in  eine  Lehre  zu  verwandeln  bemüht 
war.  Das  gilt  selbst  vom  Christenthum  und  gerade  von  ihm.  Freilich  lag  die 
wahre  Siegeskraft  der  Beligion  Jesu  darin,  dass  sie  in  diese  abgelebte,  blasirte 
Welt  mit  der  Jugendkraft  eines  reinen,  hohen  Gottesgefiihles  und  einer  todes- 
muthigen  Ueberzeugung  trat:  aber  sie  vermochte  die  alte  Culturwelt  nur  dadurch 
zu  erobern,  dass  sie  dieselbe  in  sich  aufnahm  und  verarbeitete;  und  wie  sie  in  dem 
äusseren  Kampf  gegen  dieselbe  ihre  Verfassung  ausbildete ')  und  dadurch  schUess- 
lieh  so  weit  erstarkte,  dass  sie  von  dem  römischen  Staate  Besitz  ergreifen  konnte, 
so  hat  sie  auch  in  ihrer  Vertheidigung  gegen  die  alte  Philosophie  deren  Begriffs- 
welt sich  zu  eigen  gemacht,  um  damit  ihr  dogmatisches  System  aufzubauen. 

So  begegneten  sich  die  Bedürfnisse  der  Wissenschaft  und  des  Lebens:  jene 
suchte  die  Lösung  des  Problems,  an  dem  sie  sich  vergebens  abmühte,  in  der  Re- 
ligion, und  dieses  verlangte  fiir  seine  religiöse  Sehnsucht  oder  Ueberzeugung  eine 
vnssenschaftUche  Formung  und  Begründung.  Daher  ist  von  hi^  an  auf  weite 
Strecken  die  Geschichte  der  Philosophie  mit  derjenigen  der  Dogmatik^)  ver- 
wachsen, und  es  beginnt  die  Periode  der  religiösen  Metaphysik.  Das  Denken 
des  Alterthums  hat  die  eigenthümliche  Linie  beschrieben,  dass  es  sich  von  der 
Religion,  von  der  es  ausging,  mehr  und  mehr  entfernte  —  den  äussersten  Abstand 
erreichte  es  im  Epikureismus  —  und  dann  derselben  wieder  stetig  näherte,  um 
schliesshch  ganz  darin  zurückzukehren. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  ist  es  zu  verstehen,  dass  diejenige  Welt- 
anschauung, welche  UebersinnUches  und  Sinnliches  unter  den  Werthgesichts- 
punkten  göttlicher  Vollkommenheit  und  irdisqjier  Schlechtigkeit  sonderte,  den 
gemeinsamen  Boden  der  gesanmdten  religiös-philosophischen  Bewegung  ausmachte. 
Diese  Anschauung  war  zwar  schon  von  den  Pythagoreem  eingeftihii;  (vgl.  §  5,  7) 
und  auch  von  Aristoteles  festgehalten  worden:  ihre  kräftigste  Ausprägung  aber 
hatte  sie  zweifellos  in  der  platonischen  Metaphysik  erfahren.  Diese  hat 
deshalb  für  die  rehgiöse  Schlussentwicklung  des  antiken  Denkens  den  beherr- 
schenden Mittelpunkt  abgegeben:  eine  religiöse  Ausbildung  des  Piatonismus  ist 
der  Grundcharakter  dieser  Periode. 

Den  räumlichen  Mittelpunkt  aber  derselben  finden  wir  in  derjenigen  Stadt, 
welche  durch  ihre  Geschichte  wie  durch  ihre  Bevölkerung  die  Mischung  der  Völker 
und  der  Rehgionen  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  brachte:  Alexandria.  Hier, 
wo  in  der  regsamen  Arbeit  des  Museums  alle  Schätze  der  griechischen  Bildung 
aufgespeichert  waren,  drängten  sich  in  dem  grossen  Völkergewühl  der  Handels- 
hauptstadt alle  Religionen  und  Cultusformen  herzu,  um  die  wissenschaftliche  Ab- 
klärung ihres  drängenden  und  stürmenden  Gefiildsinhaltes  zu  suchen. 

Die  erste  Richtung  der  alexandrinischen  Philosophie  ist  der  sog. 
NeupythagoreismuSy  eine  Denkart,  welche,  aus  der  religiösen  Praxis  der 
pythagoreischen  Mysterien  hervorgegangen,  die  Zahlenmystik  der  alten  Pythago- 
reer,  nach  denen  sie  sich  und  ihre  Schriften  nennt,  nur  äusserlich  verwendet. 


1)  Vgl.  K.  J.  Nkumann,  Der  römische  Staat  und  dio  allgemeine  Kirche  bis  auf  Diocletian. 
l.Bd.  Leipzig  1890.  —  2)  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  folgende  Darstellung  alle  speci- 
fisch  dogmatischen  Elemente  nur  da  nicht  bei  Seite  gelassen  hat,  wo  sie  ganz  untrennbar  mit 
den  philosophischen  Principien  ve  flochten  sind. 


2.  ReligiÖRe  Periode.  167 

während  sie  den  theoretischen  Rahmen  für  ihre  weltflüchtige,  religiös-asketische 
Ethik  in  einer  Umdeutung  der  platonischen  Metaphysik  findet^  die  für  die  Auf- 
fassung des  geistigen  Wesens  in  der  Folgezeit  von  tiefstgreifendem  Werthe  gewesen 
ist.  Als  typischer  Vertreter  dieser  Schide  ist  der  Keligionsstifter  Apollonios 
von  Ty an a  anzusehen. 

Nicht  ohne  Einfluss  dieser  Schule  hat  in  der  Eaiserzeit  auch  die  Stoa  die 
religiösen  Momente  ihrer  Weltanschauung  energischer  herausgekehrt;  sodass  nicht 
nur  der  anthropologische DuaUsmus  verschärftwurde,  sondernauch  dem  ursprüng- 
lichen Pantheismus  der  Schule  sich  allmählich  eine  mehr  theistische  Vorstellungs- 
weise  unterschob.  In  Männern  wie  Seneca,  Epiktet  und  Marc  Aurel  ist  die 
stoische  Lehre  völlig  zu  einer  Philosophie  der  Erlösung  geworden. 

In  reUgiösem  Gewände  lebte  um  diese  Zeit  sogar  der  Eynismus  als  eine 
derbe  Volkspredigt  der  Entsagung  wieder  auf:  als  bekanntester  Vertreter  des- 
selben gilt  Demonax. 

Kaum  zu  scheiden  von  den  Neupythagoreem  sind  in  den  ersten  Jahrhun- 
derten unserer  Zeitrechnung  die  eclectischen  Platoniker^  wie  etwa  Plut- 
archos  von  Chaironeia  und  Apuleius  von  Madaura:  und  in  späterer  Zeit  er- 
scheinen Numenios  von  Apamea  und  Nikomachos  von  Gerasa,  die  ausserdem 
schon  unter  jüdischen  und  christlichen  Einflüssen  stehen,  als  Zeugen  einer  voll- 
kommenen Verschmelzung  beider  Richtungen. 

Während  aber  in  allen  diesen  Formen  das  hellenische  Element  immer  noch 
die  Ueberhand  über  das  orientalische  behält,  tritt  das  letztere  sehr  viel  kräftiger 
in  der  jüdischen  Religionsphilosophie  hervor.  So  wie  vermuthlich ') 
aus  einer  Berührung  des  Neupythagoreismus  mit  dem  hebräischen  Religionsleben 
die  Secte  der  Essener  hervorgegangen  ist,  so  haben  die  mannigfachen  Versuche 
der  gelehrten  Juden,  sich  in  der  Darstellung  ihrer  Dogmen  der  griechischen 
Wissenschaft  zu  nähern,  schliesslich  zu  der  Lehre  des  PhilonvonAlexandria 
gefuhrt,  dessen  originelle  Verarbeitung  dieser  gährenden  Gedankenmassen  ihre 
weitere  Gestaltung  und  Bewegung  in  den  wichtigsten  Punkten  beeinflusst  hat. 

In  grösseren  Dimensionen  hat  sich  auf  analoge  Weise  die  Philosophie 
desChristenthums  entfaltet,  die  man  für  diese  ersten  Jahrhunderte  mit  dem 
Namen  der  Patristik  zu  bezeichnen  pflegt.  Diese  philosophische  Verweltlichung 
des  Evangeliums  beginnt  bei  den  Apologeten,  welche  in  der  Absicht,  das 
Christenthum  in  den  Augen  der  gebildeten  Welt  vor  Verachtung  und  Verfolgung 
zu  schützen,  seine  religiöse  Ueberzeugung  als  die  einzig  wahre  Philosophie  darzu- 
stellen suchten  und  deshalb  diesen  Inhalt  den  begrifflichen  Formen  der  griechischen 
Wissenschaft  anzupassen  anfingen:  die  bedeutendsten  unter  ihnen  sind  Justinus 
und  Minucius  Felix. 

Aber  auch  ohne  diese  polemische  Tendenz  machte  sich  in  den  christlichen 
Gemeinden  das  Bedürfniss,  den  Glauben  (kIoxk;)  in  Wissen  (yvcooic)  zu  verwandeln^ 
sehr  lebhaft  geltend.  Dieersten  Versuche  jedoch,  welche  dieGnostiker  machten, 
der  neuen  Religion  eine  adäquate  Weltvorstellung  zu  schafTen,  gingen  aus  den 
aufgeregten  Phantasien  syrischer  Religionsmischung  hervor  und  führten  trotz 
der  Benutzung  hellenistischer  Philosopheme  zu  so  grotesken  Bildungen,  dass  die 
in  sich  erstarkende  und  sich  abschliessende  Kirche  sie  von  sich  stossen  musste. 


1)  Vgl.  E.  Zellkr  V »  277  flf. 


168  n.  Hellenistisch-römisohe  Pbiloeophie. 

Als  die  bekanntesten  dieser  Männer  sind  SaturninuSy  Basileides  und 
Yalentinus  zu  nennen. 

Tm  Rückschlag  gegen  solche  Uebereilungen  der  religiösen  Phaatastik  griff 
in  der  christlichen  Literatur  bei  Männern  wie  T  atian  ^  T  ertuUi  an,  Arnobius 
zeitweilig  eine  heftige  Abneigung  gegen  jede  philosophische  Vermittlung  de& 
christUchen  Glaubeiis  und  damit  ein  ausdrücklicher  Antilogismus  Platz,  der 
sich  jedoch  dann  genöthigt  sah,  auch  seinerseits  auf  ilmi  verwandte  Lehren  der 
griechischen  Philosophie  zurückzugreifen.  Ohne  diese  Einseitigkeit  und  mehr  in 
Anlehnung  an  die  älteren  hellenisirenden  Apologeten  ist  der  Gnosticismus  von 
Eirenaios  und  seinem  Schüler  Hippolytos  bekämpft  worden. 

Erst  im  Anfange  des  dritten  Jahrhunderts  ist  es  nach  allen  diesen  Vor- 
gängen zur  Begründung  einer  positiven  christUchen  Theologie,  eines  begrifflich 
durchgeführten  Systems  derDogmatik  gekommen:  dies  geschah  in  der  al  ex  an- 
drinischon  Katechetenschule  durch  ihre  Leiter  Clemens  und  Origenes. 
Insbesondere  ist  der  letztere  als  der  philosophisch  bedeutendste  Vertreter  des 
Christenthums  in  dieser  Periode  anzusehen. 

Neben  ihm  aber  ging  aus  der  alexandrinischen  Phüosophenschule  der  Mann 
hervor,  welcher  die  religionsbildende  Tendenz  der  Philosophie  ledigUch  auf  dem 
hellenistischen  Boden  zum  Austrag  zu  bringen  versuchte:  Plotinos,  der  grösste 
Denker  dieser  Zeit.  Sein  Versuch,  alle  Hauptlehren  der  griechischen  und  der 
hellenistischen  Philosophie  unter  dem  religiösen  Grundprincip  zu  systematisiren, 
wird  als  Neuplatonismus  bezeichnet.  Seine  Lehre  ist  das  abgeschlossenste 
und  durchgebildetste  System  der  Wissenschaft,  welches  das  Alterthum  hervor- 
gebracht hat.  Wenn  jedoch  schon  sein  Schüler  Porphyrios  sich  mehr  geneigt 
zeigte,  aus  dieser  reUgiösen  Lehre  eine  Religion  zu  machen,  so  gestaltete  sie 
Jamblichos,  den  man  als  den  Führer  des  syrischen  Neuplatonismus  bezeich- 
net, zu  einer  Dogmatik  des  Polytheismus  um,  mit  welcher  die  gelehi*ten  und 
die  politischen  Gegner  des  Christenthums,  wie  Kaiser  Julian,  die  in  der  Auflösung 
begriffenen  Cultusformen  der  heidnischen  Religionen  neu  zu  beleben  hofften. 
Nachdem  dieser  Versuch  gescheitert,  hat  endlich  die  atheniensiche  Schule  des 
Neuplatonismus,  als  deren  Häupter  Plutarchos  von  Athen,  Proklos  und 
Damaskios  erscheinen,  sich  auf  einen  methodischen,  scholastischen  Ausbau 
des  plotinischen  Systems  zurückgezogen. 

So  sind  die  hellenistischen  Bestrebungen,  von  der  Wissenschaft  aus  zu  einer 
neuen  Religion  zu  gelangen,  in  dieser  Gestalt  erfolglos  geblieben:  die  Gelehrten 
liaben  keine  Gemeinde  gefunden.  Umgekehrt  dagegen  hat  das  Bedürfniss 
der  positiven  Religion,  sich  in  einer  wissenschaftlichen  Lehre  abzuschliessen  und 
zu  befestigen,  sein  Ziel  erreicht:  die  Gemeinde  hat  ihr  Dogma  geschaffen.  Und 
der  grosse  Gang  der  Geschichte  war  dabei  eben  der,  dass  der  unterliegende 
Hellenismus  iix  seinem  gewaltigen  Todeskampfe  selbst  noch  die  begrifflichen  Mittel 
schuf,,  mit  denen  die  neue  Religion  sich  zum  Dogma  gestaltete. 

Während  die  pythagoreischen  Mysterien  sich  durch  das  ganze  Alterthum  erhalten  hatten, 
war  der  wissenschaftliche  Pvthagorcismus  seit  seiner  Einverleibung  in  die  Akademie  (vgl. 
S.  23)  als  eigene  Schule  erloschen.  Erst  im  Laufe  des  ersten  Jahrhunderts  v.  Chr.  werden 
die  spccifisch  pythagoreischen  Lehren  wieder  bemerkbar:  sie  erscheinen  in  den  pvthagoreischen 
Schriften,  über  welche  Diogenes  Laertius  (YIU,  24  ff.)  nach  Alexander  Polyhistor  in  einer 
Weise  berichtet,  welche  auf  eine  wesentlich  stoische  Beeinflussung  derselben  schliessen  lässt; 
sie  werden  ausdrücklich  erneuert  von  Cicero *s  gelehrtem  Freunde  F.  Nigidius  Figulus 


X 


2.  Religiöse  Periode.  169 

(gest.  45  V.  Chr.)  und  findea  auch  bei  anderen  Männern  in  Rom  Anklang.  Vgl.  M.  Hertz, 
De  P.  Nig.  Fig.  studiis  atque  operibus.  Berlin  1845. 

Aber  der  eigentliche  Neupythagoreismus  ist  litterarisch  zunächst  durch  die  grosse 
Anzahl  von  Schriften  vertreten,  welche  um  die  Wende  unserer  Zeitrechnung  in  Alexandrien 
unter  dem  Namen  sei  es  des  Pythagoras  oder  des  Philolaos  oder  des  Archytas  oder  anderer 
älterer  Pythagoreer  in  die  Oeffentlichkeit  kappen,  und  deren  Bruchstücke  bei  der  Auflassung 
des  echten  Pyth^oreismus  so  grosse  Schwierigkeiten  machen:  vgl.  die  Litteratur  oben  S.  23 1. 

Von  den  Persönlichkeiten  der  neuen  Schule  dagegen  ist  uns  sehr  wenig  bekannt.  Die 
einzige  deutlicher  hervortretende  Gestalt  ist  Apollonio  s  von  Tyana,  von  dessen  Leben  und 
WeseD  im  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  der  Khetor  Philostratos  (Ausgabe  von  C.  L.  Katser, 
Leipzig  1870)  eine  romanhafte  Darstellung  gegeben  hat,  um  darin  das  Ideal  des  pythagoreischen 
Lebens  zu  schildern.  Yon  A.  selbst,  der  un  ersten  Jahrhundert  n.  Chr.  lebte,  sind  Bruchstücke 
einer  Biographie  des  Pythagoras  und  einer  Schrift  über  die  Opfer  erhalten.  Vgl.  Chr.  Baur, 
Apollonius  und  Christus,  in  3  Abhandl.  zur  Gesch.  d.  alt.  Philos.  (Leipzig  1876).  —  Neben  diesem 
wäre  etwa  noch  sein  Zeitgenosse  Moderatus  aus  Gades  zu  nennen. 

Neupythagoreische  und  stoische  Lehren  erscheinen  gemischt  bei  dem  den  Sextiem 
(vgl.  S.  128)  nahe  stehenden  Eclectiker  Sotion  von  Alexandria;  dessen  Schüler  war  der 
Führer  der  Stoiker  der  Kaiserzeit,  L.AnnaeusSeneca  aus  Corduba  (4 — 65),  der  durch  sein 
Schicksal  bekannte  Lehrer  des  Nero,  der  auch  als  Tragödiendichter  die  strenge  Lebensauf- 
fassung seiner  Schule  entfaltete.  Von  seinen  Schriften  sind  neben  den  Epistolae  eine  ziemliche 
Anzahl  meist  moralphilosophischer  Abhandlungen  erhalten.  (Ausgabe  von  Haase,  3  Bde. 
Leipzig  1852  f.^  Vgl.  Chr.  Baür,  S.  und  Paulus,  in  den  drei  Abhandl.  s.  oben.  — 

Neben  ihm  ist  ausser  L.  Annaeus  Cornutus  (Phumutus),  einem  Hauptvertreter  der 
stoischen  Mythendeutung  (llspl  ty]^  tu>v  ^?u)v  ^uaeca^,  herausg.  von  Osann,  GÖttingen  1844), 
dem  Satirendichter  P e r s i u s ,  dem  Moralisten  C^.  Musonius  Rufus,  besonders  Epiktetos  (zur 
Zeit  Domitian's)  zu  nennen,  dessen  Lehren  von  Arrianus  in  zwei  Werken  Atatpißai  und 
'EYY^iplSiov  herausgegeben  wurden  (neuerdings  mit  dem  Commentar  des  Simplicius  von 
J.  ScHWEiOHAUSER,  Leipzig  1799  f.).  Vgl.  A.  Bonhöffer,  E.  und  die  Stoa  (Stuttgart  1890). 

Mit  dem  edlen  Marcus  Aurelius  Antoninus  bestieg  die  Stoa  den  römischen 
Kaiserthron  (161— 180).  Seine  Betrachtungen,  tot  el^  a6T6v  (Ausg.  von  J.  Stich,  Leipzig  1882J 
sind  das  charakteristische  Denkmal  dieses  eclectisch-religiösen  Stoicismus. 

Schon  in  der  altgriechischen  Zeit  war  aus  der  kynischen  Schule  eine  so  originelle  Figur 
wie  der  mönchische  Wanderprediger  Tcles  (vgl.  v.  Wilamovitz-Möllbndorf,  Philol.  Unters. 
IV,  292  ff.)  hervorgegangen :  in  der  Kaiserzeit  wurde  dies  barocke  Wesen  mehrfach  copirt  und 
bis  in's  Lächerlichste  übertrieben.  Demetrios,  Oiuomaos  aus  Gadara,  Demonax  (vgl.  Fkitsche, 
Leipzig  1866)  und  der  aus  Lukian  bekannte  Peregrinos  Proteus  gehören  zu  diesen  Figuren. 
Vgl.  J.  Bernats,  Lukian  und  die  Kyniker  (Berlin  1879). 

Von  den  Vertretern  des  religiösenPlatonismus,die  der  Zahlenlehre  femer  blieben, 
seien  genannt:  die  eclectischen  Commentatoren  Eudoros  und  Areios  Didymos,  der 
Herausgeber  von  Platon's  und  Demokrit's  Werken  Thrasyllos;  besonders  aber  Plutarchos 
von  Chaironeia  (um  100  n.  Chr.),  von  dem  neben  den  berühmten  Biographien  eine  grosse  An- 
zahl anderer  Schriften,  besonders  philosophische  Abhandlungen  dogmatischen  und  polemischen 
Inhalts  (Moralia,  ed.  Di)BNER,  Paris  Didot,  Bd.  III  u.  IV  1855)  erhalten  sind  (vgl.  R.  Volkmann, 
Leben,  Schriften  und  Philosophie  des  P.  Berlin  1872);  femer  Maximus  von  Tyrus  aus  der 
Zeit  der  Antonier ^,  sein  Zeitgenosse  Apuleius  von  Madaura,  der  nicht  nur  wegen  seiner 
philosophischen  Schriften  (Ausg.  von  A.  Goldbacher,  Wien  1876),  sondern  auch  wegen  seines 
allegonsch-satirischen  Komans  „Der  goldene  Esel**  in  diese  Beihe  gehört  (vgl.  Hildebrand 
in  der  Einleitung  zu  den  ges.  Werken  Leipzig  1842);  der  Gegner  des  Christenthums  K  e  1  s  o  s , 
dessen  Schrift  &X-r)dj)cX6foc  (etwa  18())nur  aus  der  Gegenschrift  des  Origenes  Uaxä  KcXooo)  be- 
kannt ist  (vgl.  Th.  E.EIU,  C.  „wahres  Wort",  Zürich  1873);  endlich  der  Arzt  Claudius  Galenos 
(gest.  um  200),  der  freilich  mit  ganz  breitem  Eclecticismus  ebenso  als  Peripatetiker  und  auch 
als  Stoiker  gelten  könnte  (vgl.  K.  Sprengel,  Beiträge  zur  Gesch.  d.  Medicin  I,  117  ff.)«  Dem- 
selben Vorstellungskreise  sind  auch  die  unter  dem  Namen  des  Hermes  Trismegistos  ver- 
breiteten Schriften  entsprungen,  die  schoti  dem  dritten  Jahrhundert  augehören  (in  franz. 
Uebers.  von  L.  M^nard,  Paris  1866;  theilweise  von  G.  Parthky,  Berlin  1854  herausg.). 

Stark  neupythagoreisch  sind  unter  den  Platonikem  des  zweiten  Jahrhunderts  Niko- 
m ach 0  8  von  Gerasa  in  Arabien,  von  dem  arithmetische  Lehrbücher  und  (durch  Photius)  ein 
Auszug  aus  einem  Werke  ?Apt^fi.Yjttxa  d^oXo^ouaeva  erhalten  sind,  und  Numenios  von 
Apamea,  über  den  wir  wesentlich  durch  Eusebius  unterrichtet  sind.  Vgl.  F.  I^dinoa 
(Bonn  1875). 

Das  Eindringen  der  griechischen  Philosophie  in  die  jüdische  Theologie  lässt  sich  bis 
in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.  zurtickverfolgen,  wo  es  sich  in  der  Schrifterklarung 


1 70  n.  HePenistisch-römische  Philosophie    2.  Religiöse  Periode. 

des  Aristobulzu  erkennen  giebt;  es  tritt  sodann  besonders  and  in  einer  dem  alexandrinischen 
Gedankenkreise  schon  viel  näheren  Form  in  dem  pseudo-salomonischen  Bach  derWeisheit 
zu  Tage.  Doch  sind  dies  nur  schwache  Vorgänger  für  die  bedeutende  Schöpfung  des  Philo n 
von  Alexandria,  über  dessen  Leben  wenig  mehr  bekannt  ist,  als  dass  er  im  Jahre  89,  schon 
vorgerückteren  Alters,  einer  Gesandtschaft  seiner  heimathlichen  Gemeinde  an  den  Kaiser 
Caligula  angehörte.  Seine  zahlreichen  Schriften,  unter  die  auch  manches  Unächte  gerathen 
ist,  sind  von  Th.  Manoet  (London  1742)  herausgegeben:  Leipziger  Stereotypausgabe  8  Bde. 
1851—53. 

F.  Dähne,  Die  jüdisch-alexandrinische  Religionsphilosophie,  Halle  1834.  — 

A.  Gfrörbb,  Philon  und  die  alexandrinische  Theosophie,  Stuttgart  1835.  —  M.  Wolff, 
Die  philonische  Philosophie  (Gothenburg  1868).  —  Ewald,  Gesch.  des  Volkes  Israel  VI,  231  ff. 

Unter  den  c  h  r  i  s  1 1  i  c  h  e  n  A  p  o  1  o  ge  t  e  n ,  deren  Schriften  in  dem  von  Otto  (Jena  1842  ff.) 
herausgegebenen  Corpus  Apologetarum  Christianorum  secundi  saeculi  gesammelt  sind,  ist  der 
hervorragendste  FlaviusJustinusMartyr  aus  Sichern,  der  in  der  Mitte  des  zweiten  Jahr- 
hunderts lebte.  Zwei  Schutzschriften  und  der  Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  liegen  von  ihm 
vor.  Ueber  ihn  handeln  K.  Semisch  (2  Bde.  Breslau  1840—42),  B.  Aub^  (Paris  1861).  Weitere 
Apologeten  aus  dem  hellenischen  Bildungskreise  sind  Aristides  (dessen  in  armenischer 
Sprache  aufgefundene  Reden  mit  lateinischer  Uebersetzung  Venedig  1878  gedruckt  sind) 
Athenaj^oras  von  Athen  (icpoßeta  icepl  Xptoxtavwv,  um  176  an  Mieirc  Aurel  eingereicht) 
Theophilos  von  Antiochia  (Schrift  an  Autolykos,  um  180),  Meliton  von  Sardes,  Apol- 
linaris  von  Hierapolis  und  Andere.  —  Die  lateinische  Litteratur  weist  hauptsächlich  Minucius 
Felix  auf,  dessen  Dialog  Octavins  (im  Corpus  scriptorum  ecclesiasticomm  latinorum  von 
C.  Halm,  Wien  1867  herausg.^  um  200  geschrieben  wurde.  Anzureihen  ist  der  Bhetor  Fir- 
mianus  Lactantins  (um  3(X)):  seine  Hauptschrift  sind  die  Institutiones  Divinae. 

Von  den  Gnostikern  weiss  man  wesentlich  durch  ihre  Gegner  Irenaeus  (140—200; 
seine  Schrift  ^'FXz^o^  xal  &yatpoir}i  rvj^  tj^euSouvopLoo  f  vu»9to)(  herausg.  von  A.  Stieben,  Leipzig 
1853),  Hippolytos  (Kata  icaadiv  atplaswv  i\f^y(p^j  herausg.  von  Duncker  und  Schneidewin, 
Göttingen  1859) Tertullian  ( Adveraus  Valentinianos)  etc.:  von  gnostischen Schriften  ist  nur  eine 
unbekannten  Verfassers  erhalten :  ritaxt^  9o<pi«x  (herausg.  von  Petermann,  Berlin  1851).  Von  den 
Hauptvertretem  dieser  Lehre  wirkten  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  Satur- 
ninus  aus  Antiochia,  Basilides,  ein  Syrer,  undKarpokrates  in  Alexandria,  gegen  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  der  bedeutendste,  Valentinus  (gest.  um  160),  gegen  Ende  Bardesanes 
aus  Mesopotamien.  —  Darstellungen  der  gnostischen  Systeme  von  A.  W.  Neander  (Berlin 
1818),  E.  Matter  (Paris  1843),  Chr.  Baür  (Tübingen  1835),  A.  Hiloenfeld  (Jena  1884), 
ders.  Bardesanes,  der  letzte  Gnostiker  (Leipzig  1864).  —  A.  Harnack,  Zur  Quellenkritik  der 
Geschichte  des  Gnosticismus  (Leipzig  1873). 

Der  radicalste  Gegner  der  griechischen  Wissenschaft  istTatiann8,ein  Assyrer,  dessen 
Schrift  Ilpöc  ''EXXiqva^  um  170  entstand,  der  aber  später  selbst  der  valentinianischen  Gnosis 
verfiel.  Ebenso  endete  im  Gegensatz  zur  allgemeinen  Kirche  (in  der  montanistischen  Secte) 
der  leidenschaftliche  Apologet  Qu.  Septimius  Florens  Tertnllianus  (160—220,  eine  Zeit 
lang  Presbyter  in  Karthago).  Seine  Werke  sind  von  Fr.  Oehler  (3  Bde.,  Leipzig  1853  f.), 
neuerdings  von  A.  Reifferscheid  und  WissoWA  (I.  Bd.  Wien  1890,  in  Corp.  Script,  eccl.  lat.) 
herausgegeben.  Vgl.  A.  W.  Neander,  Antignosticns,  Geist  des  Tertullian  etc.  (2.  Aufl.  Berlin 
1849),  A.  Haück,  T.'s  Leben  und  Schriften,  Erlangen  1877).  —  Ihm  reiht  sich  aus  späterer  Zeit 
der  afrikanische  Rhetor  Arn  ob  ins  an,  dessen  sieben  Bücher  Ad  versus  gentes  um  300  verfasst 
wurden  (Ausgabe  von  A.  Beifferschieid  im  Corp.  Script,  eccl.  lat.  Wien  1875). 

Von  Clemens  Alexandrinus  (gest.  um  217)  sind  drei  Schriften  erhalten:  Ao^o^ 
itpoTpeitTtx6^  Kph^  "EXXinva^  —  Urxihajio^o^  —  Stpüi^iatelg.  (Ausg.  v.  J.  PoTTER,  Oxford  1715). 
Aus  seiner  Schule  (vgl.  über  die  Alex.  Katechetenschule  Guericke,  Halle  1824 1,  und  Hassslbach, 
Stettin  1826)  ging  der  Begründer  der  christlichen  Theologie  hei*vor,  Origenes  (mit  dem  Bei- 
namen Adamantius).  185  in  Alexandrien  geboren  und  mit  der  vollen  Bildung  der  Zeit  aus- 
gerüstet, trat  er  früh  als  Lehrer  auf,  gerieth  jedoch  wegen  seiner  Lehren  in  Conflicte  mit  der 
Synode,  welche  ihn  seines  Amtes  enthob,  und  lebte  später  in  Caesarea  und  Tyrus :  in  letzterem 
Orte  starb  er  254.  Von  seinen  Schriften  kommt  ausser  derjenigen  gegen  Kelsos  (s.  oben) 
hauptsächlich  llsp)  &p)(uiv  in  Betracht,  ein  Werk,  welches  fast  nur  m  der  lateinischen  Bearbei- 
tung des  Rufinus  erhalten  ist  (Ausg.  von  Redepennino,  Leipzig  1836).  Vgl.  J.  Reinkens,  De 
demente  presbytero  AI.  (Breslau  1851),  Redepenning,  0.,  Darstellung  seines  Lebens  und  seiner 
Lehre  ^Bonn  1841—46). 

Eine  Quellensammlung  der  ^fosammtcn  Kirchenschriftsteller  dieser  Zeit  hat  J.  P.  Mione, 
Patrologiae  cursus  completus,  Pans  seit  1840  herausgegeben. 

Als  Begründer  des  Neuplatonismus  erscheint  in  der  alten  Ueberlieferung ein  gewisser 
Ammonius  Saccas;  doch  ist  nichts  bekannt,  was  diese  Notiz  rechtfertigte.  Zu  seinen 
Schülern  gehörte  ausser  Plotin  auch  Origenes,  femer  der  Rhetor  Longinos  (213—273),  dem 
das  Buch  llepl  ty^oo^  zugeschrieben  wurde,  und  ein  anderer  Origenes. 


§  18.   Autorität  und  Ofifenbarung.  171 

Der  wahre  Gründer  der  Schule  ist  P 1  o  ti  n  o  s  (204 — 269).  In  dem  ägyptischen  Lykopolis 
geboren  und  in  Alexandria  gebildet,  betheiligte  er  sich  behufs  religiöser  Studien  an  einem 
Feldzage  gegen  die  Perser,  trat  gegen  244  in  Rom  als  Lehrer  mit  grossem  Erfolge  auf  und  starb 
auf  einem  Landgute  in  Kampanien.  Seine  im  späteren  Alter  geschriebenen  Abhandlungen 
wurden  von  seinem  Schüler  Porphyrios,  in  6  Enneaden  geordnet,  herausgegeben.  Ausgabe  von 
H.  MCllbb  (Leipzig  1878—80),  mit  deutscher  Uebersetzung.  Vgl.  H.  Kirchner,  Die  Philos. 
Je«  PL  (Halle  1854).  —  A.  Richter,  Ncuplatouische  Studien  (Halle  1864  ff.).  —  H.  v.  Kleist, 
Neoplat  Studien  (Heidelberg  1883). 

Zum  alexandrinischen  Neuplatonismus  werden  femer  Gentilianus  Amelius  aus 
Amena  imd  der  Tyrier  Porphyrios  (etwa  230 — 300)  gerechnet.  Unter  den  erhaltenen 
Schriften  sind  ausser  den  Biographien  von  Plotin  und  Pythagoras  zu  erwähnen:  'Atpopjxat  noh^ 
Td  voiqxo,  ein  aphoristischer  Abriss  der  plotinischen  Lehre  (gedr.  in  Creuzer^s  Ausgabe  der 
Werke  Plotin's,  Paris  1855),  die  Schrift  über  die  Enthaltsamkeit  («cpl  aKoy(y\(;  töv  ^jt^^ox*"^» 
wichtig  wegen  der  Benutzung  von  Theophrast's  itepl  söospeia^:  vgl.  J.  Bernays,  Berlin  1866), 
und  von  den  Commontaren  die  Kloa^ iüY"*}  e'.?  tA?  xarrj^opio^  (Ausg.  von  Busse,  Berlin  1877; 
auch  in  der  Berliner  Aristotclesausgabe  iV). 

Den  syrischen  Neuplatonismus  gründete  Jamblichos  aus  Chalkis  in  Koilesyrien 
(gest.  um  330),  ein  Hörer  des  Porphyrios,  dessen  Schriften  hauptsächlich  hellenistische  und 
(orientalische  Theologie  commentirten.  Erhalten  ist  theilweise:  llepl  xoö  nüO-a-coptxoö  ßtoo  (Ausg. 
vnnWESTERiUNN,  Paris  1850),  Aoifo^  npotpsicttx&(  Et<;  (piXooo(pt«v  (Ausg.  von  KiESSLiNO,  Leipzig 
1813),  (Ifpl  r?]^  xotvTj^  |xaO-r]|xattx7]^  eKtox-f||i.7|^  (herausg.  von  Villoison,  Venedig  1781). 

Von  den  Schülern  hat  Dexippos  die  aristotelischen  Kategorien  commentirt  (herausg. 
von  L.  Spengel,  München  1859),  Sallustios  ein  Oompendium  der  Metaphysik  geschrieben 
(Ä08g.  von  Orelli,  Zürich  1821)  und  Themistios  (etwa  317 — 387)  sich  als  Paraphrast  und 
(.'ommentator  aristotelischer  Werke  bekannt  gemacht.  Aus  dem  gleichen  Kreise  stammt  die 
Schrift  De  mysteriis  Aegyptiorum  (herausg.  von  G.  Parthby,  Berlin  1857 ;  vgl.  darüber  Harless, 
München  1858). 

Einen  vorübergehenden  politischen  Erfolg  hatte  diese  Richtung  durch  den  Beitritt  des 
Kaiser  Julianus,  der  mit  ihrer  Hilfe  die  alte  Religion  zu  erueueni  und  das  Christenthum  zu 
verdrängen  hoffte.  Seine  Schriften  gegen  die  Christen  hat,  mit  deutscher  Uebersetzung,  K.  J. 
Xkdmank  (Leipzig  1880)  herausgegeben.  Vgl.  A.  W.  Neandbr,  lieber  den  Kaiser  J.  und  sein 
Zeitalter  (Berlin  1812).  —  D.  Fr.Strauss,  J.  der  Abtrünnige,  der  Romantiker  auf  dem  Throne 
der  CSaaren  (Mannheim  1847).  —  A.  Mücke,  J.  nach  den  Quellen  (Gotha  1866—68). 

Begründer  des  atheniensischen  Neuplatonismus  ist  Plutarchos  von  Athen 
ij^est.  nach  430)  mit  seinen  Schülern  Syrianos  und  Hierokles:  alle  diese  wie  die  folgenden 
habeD,  zum  Theil  erhaltene,  Commentare  platonischer  und  aristotelischer  Werke  oder  pytha- 
goreischer Schriften  verfasst.  Bedeutender  war  Proklos  (411—485),  unter  dessen  Werken 
Ihpl  vTfi  xatdt  nXttTwva  ^soXofwt?  hervorzuheben  ist.  (Ausg.  der  Werke  von  V.  Cousin,  Paris 
1830-25).  Vgl.  H.  Kirchner,  De  Procl.  metaphysica  (Berlin  1846).  K.  Stkinhart's  Art.  in 
Ersch  und  Gmber^s  Encyklopädie. 

Das  letzte  Haupt  der  i)latonischcn  Akademie  war  Dam as eins,  von  dem  der  Anfang 
einer  Schrift  icspl  xuiv  K^tiixmv  ap^cuv  und  der  Schluss  eines  Parmenides-Commentars  (herausg. 
von  J.  Kopp,  Frankfurt  a.  M.  1826.  Vgl.  E.  Heitz,  in  Strassburger  Abhandlungen  zur  Philos. 
1^84)  sowie  eine  Biographie  seines  Lehrers  Isidoros  erhalten  sind.  Unter  den  Commentatoren 
dieser  Zeit  ragt  Simplicius  hervor  (zur  Physik,  Ed.  pr.  Venedig  1526,  die  vier  ersten  Bücher 
DiELS,  Berlin  1882;  zu  de  coelo,  Karsten,  Utrecht  1865;  zu  de  anima  Haydück,  Beriin  1882). 

Die  beiden  letzteren  wanderten  mit  ihren  nächsten  Genossen  für  einige  Zeit  nach  Persien 
aas,  als  im  Jahr  529  der  Kaiser  Justinian  die  Akademie  schloss,  ihr  Vermögen  einzog  und 
darch  das  Verbot  der  Vorträge  über  heidnische  Philosophie  das  Ende  derselben  äusserlich 
bekräftigte. 

g  18«  Autorität  und  Offenbanuig. 

Die  unerschütterliche  Selbstgewissheit  und  SelbstherrUchkeit,  welche  die 
nacharistotelische  Philosophie  für  den  Weisen  gesucht  und  zum  Theil  behauptet 
hatte,  war  mit  der  Zeit  so  tief  erschüttert  worden,  dass  sie  einer  theoretischen 
und  ethischen  Hilfs bedürftigkeit  gewichen  war.  Das  philosophirende  Indi- 
viduum traute  sich  nicht  mehr  zu,  aus  eigener  Kraft  zu  rechter  Einsicht  oder  zum 
Seelenheil  zu  gelangen,  und  es  suchte  somit  seine  Hilfe  theils  bei  den  grossen  Er- 
scheioungen  der  Vergangenheit,  theils  bei  einer  göttUchen  Offenbarung.  Beide 
Richtungen  aber  fassen  schUessUch  auf  demselben  Grunde:  denn  das  Vertrauen^ 


172  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.  2.  Religiöse  Periode. 

welches  den  Männern  und  Schriften  der  Vorzeit  entgegengebracht  wurde,  beruhte 
doch  nur  darauf,  dass  in  ihnen  besonders  begnadete  Gefasse  der  höheren  0£fen- 
barung  gesehen  wurden.  Did  Autorität  gewann  also  ihren  Werth  als  die  mittel- 
bare, historisch  bewährte  Offenbarung,  während  die  göttliche  Erleuchtung  des 
Einzelnen  als  unmittelbare  Offenbarung  ihr  an  die  Seite  trftt.  So  verschieden 
auch  das  Verhaltniss  zwischen  diesen  beiden  Formen  aufgefasst  wurde,  so  ist 
doch  das  gemeinsame  Kennzeichen  aller  alexandrinischen  Philosophie,  dass  sie 
die  göttliche  Offenbarung  als  höchste  Erkenntnissquelle  betrachtet. 
Schon  in  dieser  erkenntniss- theoretischen  Neuerung  aber  kommt  der  gesteigerte 
Werth  zum  Ausdruck,  welchen  diese  Zeit  auf  die  Persönlichkeit  und  ihre 
gefdhlsmässige  Bethätigung  legte.  Die  Wahrheit  wollte  für  die  Sehnsucht  dieser 
Zeit  erlebt  sein  als  eine  innige  Gemeinschaft  des  Menschen  mit  dem  höchsten 
Wesen. 

1.  Die  Berufung  auf  die  Autorität  erscheint  in  der  griechischen  und 
hellenistischen  Philosophie  zwar  vielfach  im  Sinne  der  Bestätigung  und  Bekräf- 
tigung eigener  Ansichten,  aber  nicht  als  entscheidendes  und  ausschlaggebendes 
Argument :  zwar  mochte  bei  den  untergeordneten  Mitgliedern  der  Schulen  das 
jurare  in  verba  magistri  üblich  genug  sein  *);  aber  die  Schulhäupter  und  die  selb- 
ständig forschenden  Männer  überhaupt  verhielten  sich  zu  den  Lehren  der  Vorzeit 
weit  mehr  kritisch  als  mit  unbedingter  Unterwerfung*).  Und  wenn  auch  in  den 
Schulen,  zumal  der  akademischen  und  der  peripatetischen,  durch  die  Gewohnheit 
des  Commentirens  die  Neigung  gefordert  worden  war,  die  Lehre  des  Stifters  als 
einen  unantastbaren  Schatz  zu  bewahren  und  zu  behaupten,  so  war  doch  bei  allem 
Streit  um  die  Kriterien  der  Wahrheit  nicht  das  Frincip  aufgestellt  worden,  dass 
etwas  darum  geglaubt  werden  müsse,  weil  es  dieser  oder  jener  grosse  Mann 
gesagt  habe. 

Wie  stark  aber  in  der  späteren  Zeit  das  Autoritätsbedüi*fniss  angewachsen 
war,  erkennt  man  schon  aus  den  zahllosen  Unterschiebungen,  welche  in  der  ge- 
sammten  alexandrinischen  Litteratur  an  der  Tagesordnung  waren.  Ihre  Urheber, 
die  vielleicht  grössten  Theils  bona  fide  handelten,  indem  sie  selbst  ihre  Gedanken 
nur  für  Ausbildungen  und  Fortsetzungen  der  alten  Lehren  ansahen,  glaubten 
offenbar  ihren  Werken  nicht  besser  Eingang  verschaffen  zu  können,  als  indem  sie 
ihnen  den  Namen  eines  der  Heroen  der  Weisheit,  eines  Aristoteles,  Piaton,  Py- 
thagoras  beilegten.  In  ausgedehntestem  Masse  tritt  diese  Erscheinung  bei  den 
Neupythagoreem  auf,  denen  es  vor  Allem  darum  zu  thun  war,  ihre  neue  Lehre 
mit  dem  Nimbus  uralter  Weisheit  zu  bekleiden.  Je  mehr  aber  die  auf  diese 
Weise  zu  begründenden  Ueberzeugungen  einen  reUgiösen  Charakter  trugen,  um 
so  lebhafter  wurde  das  Bedürfniss,  diese  Autoritäten  selbst  als  Träger  einer 
religiösen  Offenbarung  aufeufassen,  und  deshalb  wurden  in  ihnen  alle  die  Züge 
aufgesucht  oder  auch  wohl  solche  in  sie  hineingelegt,  welche  sie  dazu  stempeln 
konnten.  Nicht  zufrieden  aber  damit,  glaubten  die  späteren  Griechen  ihrer 
Philosophie  (wie  ihrer  gesammten  Cultur)  dadurch  eine  höhere  Weihe  zu  geben, 
dass  sie  dieselbe  aus  den  orientalischen  ReUgionen  herleiteten :  so  nahm  Nume- 


1)  Indess  ist  selbst  das  bekannte  aotö«  ttfa  der  Pythafforeer  erst  durch  Spätere  (Cicero) 
bezeugt.  —  2)  Auch  die  Bewunderung  des  Sokrates,  in  der  alle  folgenden  Schulen  einig  waren, 
führte,  seinem  eigenen  Wesen  nach,  nicht  dazu,  dass  er  als  Autorität  für  bestimmte  phüo- 
sophischc  Lehren  hätte  gelten  können. 


§18.  Autorität  und  Offenbarung.    (Philon.)  17  3 

nios  ')  keinen  Anstand;  zu  behaupten,  Fythagoras  und  Piaton  hätten  nur  die 
alte  Weisheit  der  Brahmanen^  Magier,  Aegypter  und  Juden  vorgetragen.  Damit 
wuchs  denn  die  Ausdehnung  der  Utterarischen  Autoritäten  ausserordentlich :  die 
späteren  Neuplatonjker;  ein  Jamblichos  und  ProkloS;  commentirten  nicht  nur 
griechische  Philosophen,  sondern  auch  die  gesammte  hellenische  und  barbarische 
Theologie  *)  und  nahmen  ihre  Mythen  und  Wunderberichte  gläubig  auf. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  bezeugte  nun  aber  auch  die  orientalische  Litteratur 
dem  Hellenismus  ihre  Hochachtung.  Unter  den  Vorgängern  Philon's  hat  nament- 
lich Aristobulos  sich  auf  Yerse^  welche  dem  Orpheus  und  LinoS;  dem  Homer 
und  Hesiod  untergeschoben  wurden^  berufen,  und  bei  Philon  selbst^  dem  grossen 
jüdischen  Theologen^  erscheinen  neben  dem  alten  Testament  die  Grössen  der 
griechischen  Philosophie  als  Träger  der  Weisheit. 

Am  stärksten  natürlich  macht  sich  das  Autoritätsbedürfniss  in  dem  un- 
bedingten Glauben  an  die  religiösen  Urkunden  geltend.  Hier  war  von  vornherein 
das  alte  Testament  die  feste  Grundlage  für  die  Wissenschaft  des  Judenthums 
und  ebenso  für  die  des  (orthodoxen)  Christenthums.  In  der  christhchen  Kirche 
aber  hat  sich  das  Bedürfbiss  nach  der  Feststellung  einer  Sammlung  von  Schriften^ 
in  denen  die  Glaubenslehre  sicher  bestimmt  wäre,  zuerst  bei  Marcion  entfaltet 
und  hat  dann  erst  allmählich  sich  in  der  Abschliessung  des  neuen  Testamentes 
erfüllt:  schon  bei  Irenaeus  und  Tertullian  erscheinen  beide  Testamente  mit  der 
vollen  Geltung  kirchlicher  Autorität. 

2«  Wenn  nun  auf  diese  Weise  auch  das  wissenschaftliche  Denken,  das  sich 
in  Folge  der  skeptischen  Zersetzung  selbst  nicht  mehr  die  Kraft  der  Wahrheit 
zutraute,  sich  freiwillig  den  Autoritäten  des  Alters  und  der  religiösen  Satzung 
unterwarf,  so  ist  es  doch  dadurch  keineswegs  in  dem  Masse  gebunden  worden, 
wie  man  voraussetzen  sollte :  vielmehr  hat  sich  dies  Verhältniss  auf  allen  Linien 
in  der  Weise  gestaltet,  dass  die  wissenschaftlichen  Lehren,  die  aus  den  neuen 
religiösen  Bewegungen  entsprangen,  aus  den  autoritativen  Quellen  heraus- 
gedeutet und  in  dieselben  hineingedeutet  wurden ').  Wo  man  dabei  nicht  aus- 
drücklich zu  jenen  Unterschiebungen  griff,  die  sich  ebenso  wie  im  Neupytha- 
goreismus  mehr  oder  minder  in  der  ganzen  Litteratur  jener  Zeit  finden,  da 
bediente  man  sich  des  methodischen  Mittels  der  allegorischen  Schrift- 
auslegung. 

Zuerst  begegnet  uns  diese  in  der  jüdischen  Theologie.  Ihr  Vorbild  hat  sie 
freilich  in  der  allegorischen  Mythendeutung,  welche  früh  in  der  griechischen 
Litteratur  hevorgetreten,  von  den  Sophisten  gehandhabt  und  von  den  Stoikern  in 
grossem  Umfang  betrieben  worden  war.  Auf  die  religiösen  Urkunden  wendete 
sie  schon  Aristobulos,  mit  methodischer  Durchführung  aber  P  h  i  1  o  n  ^)  an,  der 
von  der  Ueberzeugung  ausging,  es  müsse  in  der  Schrift  zwischen  der  buchstäb- 
lichen und  der  geistigen  Bedeutung,  zwischen  ihrem  Leibe  und  ihrer  Seele  unter- 
schieden werden.  Gott  habe,  um  der  grossen  Masse  der  Menschen,  die  in  ihrer 
Sinnlichkeit  das  Göttliche  nicht  rein  zu  fassen  vermöchte,  doch  seine  Gebote 


1)  Bei  Eus.  praep.  ev.  IX,  7.  —  2)  Marinus,  Procl.  vit.  22.  —  3)  Selbst  ein  Mann  wie 
Plutarch  von  CThaeronea,  der  den  Schriften  Platon*8  wie  den  Offenbarungen  einer  religiösen 
Urkunde  folgt,  trägt  doch  kein  Bedenken,  in  die  Lehre  seines  Meisters  aristotelische  und 
stoische  Lehren  ebenso  wie  die  eigene  religiöse  Anschauung  einzuführen.  —  4)  Vgl.  Siegfried, 
Philon  V.  Alexandria  als  Ausleger  des  alten  Testaments  (Jena  1875). 


174  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Religiöse  Periode. 

ZU  lehren,  der  Oflfenbarung  die  anthropomorphistische  Form  gegeben,  hinter 
welche  nun  der  geistig  reifere  Mensch  zu  dem  wahren  Sinne  dringen  solle.  Dieser 
aber  ist  in  den  philosophischen  Begrififen  zu  suchen,  welche  in  den  historischen 
Hüllen  verborgen  liegen.  Danach  ist  seit  Philo  die  Aufgabe  der  Theologie  darauf 
gerichtet,  die  religiösen  Urkunden  in  ein  System  wissen- 
schaftlicher Lehren  umzudeuten :  und  wenn  er  dazu  die  griechische 
Philosophie  benutzt,  in  ihr  also  den  höheren  Sinn  der  Schrift  wiederfindet,  so 
erklärt  er  sich  dies  Yerhältniss  so,  dass  auch  die  Denker  des  Griechenthums  aus 
der  mosaischen  Urkunde  geschöpft  haben  sollen  '). 

Nach  seinem  Vorgänge  haben  dann  die  Gnostiker  orientalische  Mythen 
durch  allegorische  Ausdeutung  in  griechische  Begriffe  umzusetzen  gesucht  und  da- 
mit eine  Geheimlehre  der  apostolischen  Tradition  zu  entwickeln  gemeint,  —  haben 
die  Apologeten  die  Einhelligkeit  der  Christenlehre  mit  den  Dogmen  der  griechi- 
schen Philosophie  behauptet,  —  haben  selbst  Männer  wie  Irenaeus  und  TertuUian 
das  neue  Testament  bearbeitet  und  hat  endlich  Origenes  die  Philosophie 
des  Christenthums  mit  den  Urkunden  desselben  in  Einklang  zu  bringen  gewusst. 
Wie  schon  die  Gnostiker,  welche  zuerst  eine  christliche  Theologie  zu  schaffen 
suchten,  so  unterschied  auch  der  grosse  alexandrinische  Theologe  —  im  Zu- 
sammenhange der  metaphysisch-anthropologischen  Vorstellungen  der  Zeit,  vgl. 
§  19  f.  —  zwischen  der  leiblichen  (somatischen),  seelischeu  (psychischen)  und 
geistigen  (pneumatischen)  Auffassung  der  religiösen  Urkunden :  und  die  Aufgabe 
der  Theologie  ist  auch  bei  ihm,  aus  der  buchstäblich-historischen  Ueberheferung, 
welche  für  sich  nur  ein  fleischliches  Christenthum  (xpfjttaviofiöc  (3a)|iattwi<;)  ergiebt, 
durch  die  moralische  Deutung  hindurch,  bei  der  die  Psychiker  stehen  bleiben,  zu 
dem  ideellen  Gehalt  der  Schrift  zu  fuhren,  welcher  dann  als  die  selbstverständ- 
liche Wahrheit  einleuchten  muss.  Erst  wer  diese  erfasst,  gehört  zu  den  Pneu- 
matikern, denen  aus  der  Umhüllung  das  ewige  Evangelium  sich  offenbart. 

Dieselbe  Herausdeutung  des  philosophischen  Sinnes  aus  der  religiösen 
Ueberlieferung  findet  sich  dann  in  weitestem  Umfange  bei  den  Neuplatonikern. 
Jamblichos  übt  sie  nach  stoischem  Muster  an  allen  Formen  orientalischer  und 
occidentalischer  Mythologie,  und  auch  Proklos  erklärt  ausdrücklich,  die  Mythen 
verhüllen  die  Wahrheit  vor  den  Sinnenmenschen,  die  ihrer  nicht  würdig  sind  -). 

3.  In  allen  solchen  Lehren  überwiegt  nun  aber  doch  schliesslich  noch  immer 
das  Interesse  der  Wissenschaft  (in  den  christlichen  Lehren  yvwoi?)  über  dasjenige 
des  Glaubens :  sie  sind  Accommodationen  der  Philosophie  an  das  religiöse  Au* 
toritätsbedürihiss  der  Zeit.  Als  Grundvoraussetzung  aber  gut  deshalb  die  wesent- 
liche Identität  der  Autorität  und  der  Vernunfterkennt- 
nis s ;  sie  gilt  in  solchem  Masse,  dass  eben  da,  wo  sie  bedroht  erscheint,  alle 
Kunststücke  der  allegorischen  Auslegung  versucht  werden,  um  sie  zu  retten. 
Dies  Vertrauen  jedoch,  womit  die  Wissenschaft  daran  ging,  ihren  eigenen  Inhalt 
als  denjenigen  der  religiösen  Urkunde  zu  entwickeln,  beruhte  im  letzten  Grunde 
auf  der  Ueberzeugung,  dass  beide,  die  historische  Autorität  und  die  wissenschaft- 
liche Lehre,  nur  verschiedenartige  Offenbarungen  derselben  göttlichen 
Macht  seien. 

Zwar  ist  die  psychologische  Wurzel  des  Autoritätsglaubens  in  dieser  Zeit 
neben  der  Heils-  und  Hilfsbedürftigkeit  die  gesteigerte  Bedeutung  der  P  er  sön- 

i)Phii.  Vit.  Mos.  657  a.  (137  M.)  —  2)  Proci.  iu  remp.  369. 


§  18.   Autorität  und  Offeubarung.  (Justinus.)  175 

lichkeit.  Sie  zeigt  sich  in  dem  lebhaften  Ausdrucke  der  Bewunderung  für  die 
Grossen  der  Vergangenheit,  wie  wir  ihn  bei  Philon  und  in  allen  Richtungen  des 
Piatonismus  finden^  und  nicht  minder  in  dem  unbedingten  Vertrauen  der  Jünger 
zu  ihren  Meistern^  welches  namentlich  im  späteren  Neuplatonismus  zu  übertrieben- 
ster Verehrung  der  Schulhäupter  ausartete  ^).  Dasselbe  Motiv  erscheint  in 
grossartigster  Weise  als  eine  weltgeschichtliche  Macht  in  dem  ungeheuren;  über- 
wältigenden Eindrucke  der  Persönlichkeit  Jesu :  der  Glaube  an  ihn  ist  das  eini- 
gende Band  gewesen,  welches '  die  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Richtungen  des 
jungen  Christenthums  siegreich  zusammenhielt. 

Allein  für  die  Theorie  rechtfertigte  sich  nun  dies  psychologische  Motiv  ge- 
rade damit;  dass  die  bewunderte  Persönlichkeit  in  Lehre  und  Leben  als  Offen- 
barung der  göttlichen  Weltvemunft  aufgefasst  wurde.  Die  metaphysischen  und 
eikenntnisstheoretischen  Grundlagen  dafür  waren  im  Piatonismus  und  nament- 
lich im  Stoicismus  gegeben.  Anlehnung  an  die  platonische  Lehre  von  der  Er- 
kenntniss  als  Erinnerung;  mit  der  (schon  bei  Cicero  ausgesprochenen)  Wendung, 
dass  das  rechte  Wissen  von  Gott  der  Seele  eingepflanzt;  ihr  eingeboren  sei;  und 
Ausführung  der  stoischen  Logoslehre  und  der  in  ihr  enthaltenen  Vorstellung, 
dass  der  vernünftige  Seelentheil  ein  wesensgleicher  Ausfluss  aus  der  göttlichen 
Weltvernunft  sei;  —  alles  dies  führte  dazu,  jede  Form  richtiger  Erkenntniss  als 
eine  Art  von  göttlicher  Offenbarung  im  Menschen  zu  betrachten  ^) :  alles  Wissen 
ist,  wie  Numenios  sagte  %  die  Anzündung  des  kleinen  Lichts  an  dem  grossen, 
das  die  Welt  erleuchtet. 

Von  dieser  Lehre  aus  begriff  namentlich  Justinus  die  von  ihm  be- 
banptete  Verwandtschaft  der  alten  Philosophie  mit  dem  Christenthum  und  zu- 
gleich die  Ueberlegenheit  des  letzteren.  Gott  hat  sich  zwar  wie  nach  aussen 
durch  die  Vollkommenheit  seiner  Schöpfung,  so  innerUch  durch  die  vernünftige 
Anlage  ^)  (aff^pfia  Xö^oo  S[i^t>tov)  des  nach  seinem  Ebenbilde  geschaffenen  Men- 
schen offenbart :  aber  die  Entwicklung  dieser  allgemeinen;  mehr  poten- 
tiellen Offenbarung  wird  durch  die  bösen  Dämonen  und  die  Sinnentriebe  des 
Menschen  gehemmt.  Deshalb  hat  Gott  zur  Hilfe  des  Menschen  sich  der  beson- 
deren Offenbarung  bedient,  welche  nicht  nur  in  Moses  und  den  Propheten; 
sondern  auch  in  den  Männern  der  griechischen  Wissenschaft  ^)  zu  Tage  getreten 
ist.  Justin  nennt  jene  über  das  ganze  Menschengeschlecht  verbreitete  Offen- 
barung den  Xö^oc  oiEsp(iaTtxöc.  Allein,  was  so  zerstreut  und  vielfach  verdunkelt 
in  der  Voi'zeit  erschienen;  das  ist  noch  nicht  die  volle  Wahrheit:  der  ganze, 
reine  Logos  ist  in  ChristuS;  dem  Sohne  Gottes  und  dem  zweiten  GottO;  offenbart 
worden. 

In  dieser  Lehre  waltet  bei  dem  Apologeten  einei*seits  das  Bestreben  ob; 
dasChristenth  um  als  die  wahre  und  höchste  Philosophie 
darzustellen  und  zu  zeigen;  dass  es  alle  Lehren  in  sich  vereinige  *),  welche  in 


1)  Cultnrgeschichtlicb  läset  sich  auch  die  masslose  Vergötterung  der  römischen  Kaiser 
io  Parallele  ziehen.  —  2)  So  wird  auch  von  den  Stoikern  der  Kaiserzeit  die  Philosophie,  welche 
bei  ihnen  ja  ebenfalls  eine  Heilung  der  kranken  Seele  sein  wollte  (Epiktet,  Dissert.  III,  23,  30), 
«Is  eine  Predigt  der  Gottheit  selbst  durch  den  Mund  des  Weisen  dargestellt  (ibid.  1,  36).  — 
8)  Bei  Eus.  praep.  ev.  XI,  18,  8.  —  4)  Apol.  II,  8;  vkL  Min.  Fei.  Oct.  16,  5.  —  5)  Andrer- 
seits freilich  leitet  auch  Justin  wie  Philon  die  griechische  Philosophie  historisch  von  der 
jadischen  Religion  als  Entlehnung  ab.  —  6)  Apol.  U,  13:  8aa  icapa  icaai  xaXu»^  etpYjxai, 
Yjuav  Xpisttavoiv  tativ. 


176  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.  2.  Religiöse  Periode. 

der  früheren  Philosophie  von  bleibendem  Werthe  erfunden  werden  können. 
Christus  wird  der  Lehrer  (St8a(3xaXoc  genannt),  und  dieser  Lehrer  ist  die  Ver- 
nunft selbst.  Wurde  dadurch  das  Christenthum  der  rationalen  Philosophie  so 
nahe  wie  möglich  gerückt  und  das  Erkenntnissprincip  der  Philosophie  wesentlich 
mit  dem  der  Religion  gleichgestellt,  so  hatte  das  doch  auch  gleichzeitig  zur 
Folge,  dass  die  Auffassung  des  religiösen  Inhalts  selbst  bei  Justin  und  ahnlichen 
Apologeten,  wie  Minucius  Felix,  stark  rationalistisch  wurde:  die  speci- 
fisch  religiösen  Momente  erscheinen  mehr  zurückgedrängt,  und  das  Christenthum 
nimmt  den  Charakter  eines  moraUsirenden  Deismus  an,  in  welchem  es  die  grösstc 
AehnUchkeit  mit  dem  rehgiösen  Stoicismus  gewinnt '). 

Andrerseits  spricht  sich  doch  auch  in  diesem  Yerhältnias  das  Selbstbewnsst- 
sein  des  Christen thums  aus,  das  mit  seiner  vollkommenen  Offenbarung 
alle  anderen  Arten  derselben,  die  allgemeine  so  gut  wie  die  besonderen,  überflüssig 
werden  sah :  und  an  diesem  Punkte  wurde  die  Apologetik,  wie  sich  namentlich 
bei  Athenagoras  zeigt,  von  selbst  polemisch.  Die  Offenbarung  gilt  auch 
hier  noch  als  das  wahrhaft  Vernünftige :  aber  eben  deshalb  soll  das  Vernünftige 
nicht  demonstrirt,  sondern  nur  geglaubt  werden.  Die  Philosophen  haben,  weil 
sie  Gott  nicht  von  Gott  selbst  lernen  wollten  oder  konnten,  die  volle  Wahrheit 
nicht  gefunden. 

4.  So  bereitet  sich  in  der  Apologetik  doch  allmählich,  obwohl  in  ihr  ge- 
rade das  Vernünftige  als  supranatural,  als  übernatürlich  offenbart  gilt,  ein 
Gegensatz  zwischen  Offenbarung  undVernunfterkennt- 
n  i  s  s  vor.  Je  mehr  sich  die  Gnostiker  in  der  Ausbildung  ihrer  theologischen 
Metaphysik  von  dem  einfachen  Inhalt  des  Christenglaubens  entfernten,  um  so 
mehr  warnte  Irenaeus*)  vor  den  Speculationen  weltlicher  Weisheit,  um  so 
heftiger  verwarf  T  a  t  i  a  n  mit  orientalischer  Griechenverachtung  alles  Blend- 
werk der  hellenischen  Philosophie,  welche  unter  einander  ewig  uneins  sei  und  von 
deren  Lehrern  jeder  nur  seine  eigenen  Meinungen  zum  Gesetz  erheben  wolle, 
während  die  Christen  sich  der  göttlichen  Offenbarung  glcichmässig  unterwerfen. 

Noch  schärfer  spitzt  sich  dieser  Gegensatz  beiTertullian  und  A  r  n  o  - 
b  i  u  s  zu.  Der  erstere  hat  sich,  wie  theilweise  schon  Tatian,  in  metaphysischer 
Hinsicht  den  stoischen  Materialismus  zu  eigen  gemacht,  daraus  aber  nur  die 
Consequenz  einer  rein  sensualistischen  Erkenntnisstheorie  gezogen.  Diese  hat 
Amobius  in  interessanter  Weise  ausgeführt,  indem  er  zur  Bekämpfung  der  pla- 
tonischen und  der  platonisirenden  Erkenntnisstheorie  zeigte,  dass  ein  von  der 
Geburt  an  völlig  der  Einsamkeit  überlassener  Mensch  geistig  leer  bleiben  und 
höhere  Erkenntniss  nicht  gewinnen  würde  ^).  Ihrer  Natur  nach  lediglich  auf  den 
Eindruck  der  Sinne  beschränkt,  ist  deshalb  die  menschliche  Seele  aus  eigener 
Kraft  durchaus  unfähig,  die  Erkenntniss  der  Gottheit  und  ihrer  über  dies  Leben 
hinausgehenden  Bestimmung  zu  gewinnen.  Eben  deshalb  bedarf  sie  der  Offen- 
barung und  findet  ihr  Heil  nur  in  dem  Glauben  an  diese.  So  erweist  sich  hier 
zum  ersten  Male  der  Sensualismus  als  Grundlage  für  den 
Orthodoxismus:  je  niedriger  und  sinnlich  beschränkter  die  natürliche 
Erkenntnisskraft  des  Menschen,  um  so  nothwendiger  erscheint  die  Offenbarung. 


1)  Y^l.  Min.  Fei.  Oct.  31  ff.,  wo  die  christliche  Liebes^enosäenschaft  geradesa  als  der 
stoische  Weltstaat  der  Philosophen  erscheint  —  2)  Ref.  II,  25 ff.  —  3)  Am.  adv.  gent.  II,  20 ff. 


§18.  Autorität  und  Offenbarung.  (Terfullian.)  177 

Danach  ist  nun  bei  T  e  r  t  u  1 1  i  a  n  der  Inhalt  der  Offenbarung  nicht  nur 
übervernünftig,  sondern  in  gewissem  Sinne  auch  widervernünftig, 
insofern  unter  Vernunft  die  natürUche  Erkenntnissthätigkeit  des  Mensclien  ver- 
standen werden  soll.  Das  Evangelium  ist  nicht  nur  unbegreiflich,  sondern  es 
ist  auch  im  nothwendigen  Widerspruch  mit  der  weltHchen  Einsicht :  credibüe  est, 
quia  ineptum  est;  certum  est,  quia  impossibile  est  —  credo  quia  absurdum.  Da- 
her hat  nach  ihm  das  Christenthum  mit  der  Philosophie,  Jerusalem  mit  Athen  *) 
Nichts  za  schaffen:  die  Philosophie  als  natürliche  Erkenntniss  ist  Unglaube; 
dämm  giebt  es  keine  christUche  Philosophie. 

5.  Zu  einer  solchen  Abgrenzung  der  Offenbarung  gegen  die 
natürliche  Erkenntniss  fanden  sich  aber  auch  Veranlassungen  genug  für  die 
rationalistische  Ansicht.  Denn  durch  jene  Identification  drohte  das  Kriterium 
der  Wahrheit  verloren  zu  gehen :  die  Menge  dessen,  was  in  dieser  religiös  so  auf- 
geregten Zeit  sich  als  Offenbarung  gab,  machte  eine  Entscheidung  über  die 
rechte  Offenbarung  unerlässhch,  und  das  Kriterium  dafür  konnte  wiederum  nicht 
in  der  Vemunflerkenntniss  des  Einzelnen  gesucht  werden,  weil  damit  das  Offcn- 
harungsprincip  verletzt  gewesen  wäre.  Diese  Schwierigkeit  machte  sich  gerade 
auch  in  der  hellenistischen  Richtung  sehr  bemerklich.  Plutarch  z.  B.,  der  alle 
Erkenntniss  für  Offenbarung  ansieht,  will  zwar,  der  stoischen  Eintheilung  in  die 
drei  Arten  der  Theologie  der  Dichter,  der  Gesetzgeber  und  der  Philosophen 
folgend,  die  höchste  Entscheidung  über  religiöse  Wahrheit  der  Wissenschaft  zu- 
erkennen-) und  erklärt  sich  lebhaft*)  gegen  den  Aberglauben  (8stai8ott(tovta);  aber 
er  selbst  zeigt  sich  doch  schliessUch  in  seinen  Schriften  bei  der  Aufnahme  von 
allerlei  Weissagungs-  und  Wunderberichten  so  naiv  und  leichtgläubig  wie  seine 
ganze  Zeit:  und  die  unglaubliche  Kritiklosigkeit,  mit  der  in  dieser  Hinsicht  die 
späteren  Neuplatoniker,  ein  Jamblichos  und  Proklos  verfuhren,  erweist  sich 
als  das  folgerichtige  Ergebniss  des  Verzichts  auf  die  eigene  Einsicht,  welchen 
das  Offenbarungsbedürfniss  von  vornherein  mit  sich  brachte. 

Hier  hat  nun  die  Entwicklung  der  sich  organisirenden  Kirche  mit  dem 
Princip  der  Tradition  und  der  historisch  beglaubigten  Au- 
torität eingesetzt.  Sie  betrachtet  die  religiösen  Urkunden  des  dten  und  des 
neoen  Testaments  als  durchgängig,  aber  auch  allein  i  n  s  p  i  r  i  r  t;  sie  nimmt  an, 
dass  die  Verfasser  derselben  sich  bei  der  Aufzeichnung  dieser  höchsten  Wahr- 
heit stets  in  dem  Zustande  reiner  Receptivität  dem  göttlichen  Geiste  gegenüber 
hefunden  haben  *),  und  sie  findet  die  Bewährung  dieses  göttlichen  Ursprunges 
nicht  in  der  Uebereinstimmung  mit  der  menschlichen  Vernunfterkenntniss,  son- 
dern wesentlich  in  der  ErfüllungderWeissagungen,  welche  darin  ent- 
luilten  sind,  und  in  dem  zweckvollen  Zusammenhange  ihrer  zeit- 
lichen Reihenfolge. 

Der  für  die  weitere  Entwicklung  der  Theologie  so  ausserordenthch  wichtig 
gewordene  Weissagungsbeweis  ist  somit  aus  dem  Bedürfniss  entsprungen, 
ein  Kriterium  für  die  Unterscheidung  der  wahren  und  der  falschen  Offenbarung 

1)  Tertull.  de  came  Chr.  5;  de  praescr.  7.  An  der  letzteren  Stelle  polcmisirt  er  auch 
uchdrucklich  gegen  diejenigen,  welche  ein  stoisches  oder  platonisches  Christenthum  vortragen : 
er  ist  der  extreme  Gegner  der  Hellenisirung  des  Doprmas;  er  kennt  keinen  Compromiss,  und  mit 
der  Heiüsblutigkeit  seines  Wesens  verlang  er  unbcdin^e  Unterwerfung  unter  die  OlTenbarung. 
^  Id  noch  populärerer  Weise  hat  Amobius  (adv.  gent.  II 74  fT.)  die  Hilflosigkeit  der  natürlichen 
Eiiemitniss  dargestellt.  —  2)  De  Isid.  68.  —  3)  De  superst.  14.  —  4)  Just  Apol.  I,  31. 

Windelband,  Geschichte  dnr  Philosophie.  ]2 


178  n.  HelleniBtiach-römische  Philosophie.   2.  Reli^öso  Periode. 

ZU  gewinnen.  Da  dem  Menschen  das  Wissen  der  Zukunft  durch  natürliche  Er- 
kenntniss  versagt  ist,  so  gelten  die  Voraussagen  der  Propheten,  welche  sich  er- 
füllen, als  Kennzeichen  der  Inspiration,  vermöge  deren  sie  ihre  Lehren 
aufgestellt  haben. 

Diesem  Argument  tritt  nun  aber  ein  zweites  hinzu.  Altes  und  neues  Testa- 
ment stehen  nach  der  Lehre  der  Kirche,  welche  in  dieser  Hinsicht  hauptsächlich 
durch  Irenaeus  ')  vertreten  ist,  in  dem  Zusammenhange,  dass  derselbe  Eine  Gott 
sich  den  Menschen  im  Laufe  der  Zeit  je  nach  dem  Grade  ihrer  EmpfangHchkeit 
in  immer  höherer  und  reinerer  Weise  offenbart  hat :  dem  ganzen  Geschlecht  in 
dessen  vernünftiger,  freilich  zu  missbrauchender  Veranlagung,  dem  Volke  Israel 
in  dem  strengen  Gesetz  Mosis,  der  ganzen  Menschheit  wiederum  in  dem  Gesetze 
der  Liebe  und  der  Freiheit,  das  Jesus  verkündigt  hat  *).  In  dieser  zusammen- 
hangenden ReihederPropheten  entwickelt  sich  damit  der  göttliche 
Erziehungsplan,  wonach  die  Offenbarungen  des  alten  Testaments  als 
Vorbereitungen  für  das  sie  bestätigende  neue  Testament  zu  betrachten  sind. 
Auch  hier  gilt  in  der  patristischen  Litteratur  die  Erfüllung  der  Weissagungen 
als  das  Bindeglied  zwischen  den  verschiedenen  Phasen  der  Offenbarung. 

Das  sind  die  gedanklichen  Formen,  in  denen  sich  für  die  christliche  Kirche 
die  göttiiche  Offenbarung  als  historische  Autorität  fixirt  hat.  Die 
psychologische  Grundmacht  aber,  die  dabei  thätig  war,  blieb  doch  immer  die 
gläubige  Hingabe  an  die  Person  Jesu,  welche  als  Inbegriff  der  göttlichen  Offen- 
barung den  Mittelpunkt  des  christhchen  Lebens  bildete. 

6.  Eine  ganz  andere  Richtung  hat  die  Entwicklung  der  Offenbarungslehre 
in  der  hellenistischen  Philosophie  eingeschlagen.  Hier  fehlte 
der  wissenschaftlichen  Bewegung  der  lebendige  Zusammenhang  mit  der  Gemeinde 
und  damit  der  Halt  einer  historischen  Autorität:  hier  musste  deshalb  die  Offen- 
barung, welche  als  Ergänzung  für  die  natürliche  Erkenntnisskraft  gefordert  wurde, 
in  einer  unmittelbaren  Erleuchtung  des  Individuums  durch 
die  Gottheit  gesucht  werden.  Deshalb  gilt  hier  die  Offcnbaiimg  als  ein 
über  vern  ü  nftiges  Erfassen  der  gö  t  tlichen  Wah  rhei  t , 
welches  dem  einzelnen  Menschen  in  unmittelbarer  Berührung  («f ij) 
mit  der  Gottheit  selbst  zu  Theil  wird :  und  wenn  auch  zugestanden  werden  muss, 
dass  es  nur  wenige  sind,  die  dazu  gelangen,  und  auch  diese  nur  in  seltenen  Äugen- 
bUcken,  so  wird  doch  eine  bestimmte,  historisch  autoritative  Sonderoffenbanmg, 
die  für  alle  massgebend  wäre,  hier  abgelehnt.  Diese  Auffassung  der  Offenbarung 
ist  später  die  mystische  genannt  worden,  und  insofern  ist  der  Neuplatonis- 
mus  die  Quelle  aller  späteren  Mystik. 

Die  Ursprünge  dieser  Auffassung  aber  sind  wiederum  bei  P  hi  l  o  n  zu  suchen. 
Denn  er  schon  lehrte,  dass  alle  Tugend  des  Menschen  nur  durch  die  Wirkung 
des  göttlichen  Logos  in  uns  entstehen  und  beharren  könne,  und  dass  die  Er- 
kenntniss  Gottes  nur  in  der  Selbstentäusserung,  in  dem  Aufgeben  der  Individu- 
alität und  in  dem  Aufgehen  in  das  göttliche  ürwesen  selbst  bestehe  ■).  Die  Er- 
kenntniss  des  Höchsten  ist  Lebenseinheit  mit  ihm,  unmittelbare  Berührung.  Der 

1)  Ref.  III, 

barungspbase  das  , 

ru  suchen  ißt.  Vjfl.  die  Ausführung  

geschlechts.  —  3>  Phil.  Leg.  all.  48  c.j  55  d.;  57  b.  (53—62  M.). 


§  18.   Autorität  und  Offenbarung.   (Philon,  Neuplatoniker.)  179 

Geist,  der  Gott  schauen  will,  muss  selbst  Gott  werden^).  In  diesem 
Zustande  verhält  sich  die  Seele  nur  leidend  und  empfangend  ^),  sie  hat  sich  aller 
Selbstthätigkeit,  alles  eigenen  Denkens  und  aller  Besmnung  auf  sich  selbst  zu 
entäussern.  Auch  der  voöc,  die  Vernunft,  muss  schweigen,  damit  die  Seligkeit  der 
Gottesanschauung  über  den  Menschen  kommen  kann :  bei  diesem  Zustand  der 
Ekstase  (Ixataatc)  wohnt  (nach  Philon)  im  Menschen  der  göttliche  Geist. 
Daher  ist  er  in  diesem  Zustand  ein  Prophet  göttlicher  Weisheit,  ein  Weissager 
und  Wunderthäter.  Wie  schon  die  Stoa  auf  die  Wesensgleichheit  menschlichen 
und  göttlichen  Pneumas  die  mantischen  Künste  zurückgeführt  hatte,  so  be- 
greifen auch  die  Alexandriner  diese  „Vergottung^  des  Menschen  aus  seiner 
Wesensvereinigung  mit  dem  Weltgrunde.  Hinter  diesem  Zustande  der  Ekstase, 
lehrt  Plotin,  liegt  alles  Denken;  denn  Denken  ist  Bewegung,  ist  Erkennenwollen ; 
die  Ekstase  aber  ist  Gottesgewissheit,  selige  Ruhe  in  ihm^) :  an  der  göttlichen 
^siApioL  (Aristoteles)  hat  der  Mensch  nur  Antheil,  wenn  er  sich  selbst  ganz  zur 
Gottheit  erhoben  hat. 

Die  Ekstase  ist  also  ein  Zustand,  welche,  wie  ihr  Gegenstand  (vgl.  §  21) 
über  alle  einzelne  Bestimmtheit,  deshalb  auch  über  das  Selbstbewusstsein  des 
Individuums  hinausliegt :  es  ist  ein  selbstbewusstloses  Versenken  in  das  göttliche 
Wesen,  ein  Besitz  der  Gottheit,  eine  Lebenseinheit  mit  ihr,  die  aller  Beschrei- 
bung, aller  Anschauung  und  aller  begrifflichen  Gestaltung  spottet  *). 

Wie  dieser  Zustand  zu  erreichen  sei  ?  Er  ist  auf  alle  Fälle  eine  Gabe  der 
Gottheit,  ein  Geschenk  des  Unendlichen,  welches  das  Endliche  in  sich  aufnimmt. 
Aber  der  Mensch  hat  mit  seinem  freien  Willen  sich  dieser  Vergottung  würdig 
zu  machen.  Er  soll  alles  sinnliche  Wesen  und  allen  Eigenwillen  von  sich  abthun^ 
er  soll  aus  der  Fülle  der  Einzelbeziehungen  heraus  zu  seinem  lauteren  einfachen 
Wesen  zurückkehren  (SäXodoic*)  .'die  Wege  dazu  sind  nach  Proklos  Liebe,  Wahr- 
heit und  Glaube ;  aber  erst  in  dem  letzteren,  der  über  alle  Vernunft  liinausgehtj 
findet  die  Seele  ihr  völliges  Einswerden  mit  Gott  und  den  Frieden  seliger  Ver- 
zückung •).  Als  wirksamste  Unterstützung  in  der  Vorbereitung  auf  diese  göttliche 
Gnadenwirkung  wird  dann  von  Jamblichos  und  seiner  Schule  das  Gebet  ^)  und 
alle  Handlungen  ^)  des  religiösen  Cultus  empfohlen :  und  wenn  diese  nicht  immer 
zu  den  höchsten  Offenbarungen  der  Gottheit  leiten,  so  gewähren  sie,  wie  schon 
Apuleius  meinte  ^),  doch  wenigstens  die  tröstenden  und  helfenden  Offenbarungen 
der  niederen  Götter  und  Dämonen,  der  Heiligen  und  Schutzgeister.  So  erscheinen 
denn  auch  im  späteren  Neuplatonismus  die  Verzückungen  der  Weissagung,  welche 
die  Stoiker  gelehrt  hatten,  als  niedere  und  vorbereitende  Formen  für  jene  höchste 
Ekstase  der  Vergottung.  Denn  in  letzter  Instanz  sind  dem  Neuplatoniker  alle 
Cultusformen  nur  symbolische  Handhaben  für  jene  unmittelbare  Einigung  des 
Individuums  mit  Gott.    . 

So  tritt  in  Christenthum  und  Neuplatonismus  die  Inspirationstheorie  zu 
zwei  ganz  verschiedenen  Formen  aus  einander:  dort  ist  die  göttliche  Offenbarung 
als  historische  Autorität  fixirt,  hier  gilt  sie  als  die  von  aller  äusseren  Vermitt- 

1)  'Aitod-ecufl-rlvai  findet  sich  auch  in  den  hermetischen  Schriften:  Poemand.  10,  5  f. 
Das  ^eoöaÖ-ai  (deiücatio)  ist  später  ein  allgemeiner  Terminus  der  Mystik.  —  2)  Vgl.  Plut,  d. 
Pyth.  orac.  21  ff.  (404  ff.)  —  «)  Plot.  Ennead.  VI,  7.  —  4)  Ibid.  V,  3.  —  5)  Ein  Ausdruck,  der 
sich  schon  bei  Marc  Aurel  findet  (Hpö^  ^aot,  IV,  26)  und  den  auch  Plotin  (Enn.  VI,  7,  35)  an- 
wendet. —  6)  Prokl.  Theol.  Plat.  I  24  f.  —  7)  Jambl.  bei  Prokl.  im  Tim.  64  c.  —  8)  De  myst. 
Aeg.  II,  11  (96).  —  0)  Apul.  de  Socr.  6  ff. 

12* 


180  II.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Reliffiöse  Periode. 

lung  befreite  Versenkung  des  Einzelmenschen  in  den  göttlichen  Urgrund.  Dort 
ist  fiir  das  Mittelalter  die  Quelle  der  Scholastik,  hier  entspringt  diejenige 
der  Mystik. 

g  19.    Geist  und  Materie. 

Unter  den  Argumenten,  in  denen  die  Offenbarungsbedürftigkeit  der  alexan- 
drinischen  Philosophie  sich  entwickelt,  ist  keines  so  einschneidend  wie  dasjenige, 
welches  davon  ausgeht,  dass  der  in  die  Sinnenwelt  verstrickte  Mensch  nur  durch 
übernatürliche  Hilfe  zur  Erkenntniss  der  höheren,  geistigen  Welt  gelangen 
könne:  hierin  zeigt  sich  der  religiöse  Dualismus,  der  die  Grund- 
anschauung der  Zeit  bildete.  Seine  Wurzeln  sind  theils  anthropologisch  theils 
metaphysisch:  die  stoische  Entgegensetzung  der  Vernunft  und  des  Vernunft- 
widrigen verbindet  sich  mit  der  platonischen  Unterscheidung  der  übersinnlichen, 
ewig  sich  gleichbleibenden  und  der  sinnlichen,  immer  wechselnden  Welt. 

Die  Identification  des  Geistigen  und  des  Immateriellen, 
bei  Piaton  nur  angebalmt,  aber  keineswegs  vollzogen,  war  von  Aristoteles  auf  das 
göttliche  Selbstbewusstsein  beschränkt  worden :  dagegen  galten  die  gesammten 
geistigen  Thätigkeiten  des  Menschen,  so  sehr  auch  in  erkenntnisstheoretischem 
und  ethischem  Interesse  das  Vernünftige  der  Sinnlichkeit  gegenübergestellt 
werden  mochte,  doch  selbst  bei  Piaton  als  zur  Erscheinungswelt  (Y^ea?)  gehörig 
und  blieben  damit  von  der  Welt  des  unkörperlichen  Seins  (ooofa)  ausgeschlossen; 
und  wenn  in  den  antagonistischen  Motiven,  welche  sich  in  der  aristotelischen 
Lehre  vom  voöc  kreuzten,  auch  der  Versuch  sich  geltend  gemacht  hatte,  die  Ver- 
nunft als  immaterielles,  von  aussen  in  die  animale  Seele  eintretendes  Princip  zu 
betrachten,  so  hatte  doch  die  Entwicklung  der  peripatetischen  Schule  (vgl.  §  1 5, 1) 
diesen  Gedanken  sogleich  wieder  bei  Seite  geschoben.  Am  stärksten  aber  war 
in  den  Lehren  Epikur's  und  der  Stoa  die  bewusste  Materialisirung  des  Seelen- 
wesens und  der  Seelenthätigkeiten  zum  Ausdruck  gelangt. 

Auf  der  anderen  Seite  dagegen  war  jener  ethische  DuaUsmus,  der  die 
auf  sich  selbst  zurückgezogene  Innerlichkeit  des  Menschen  gegen  die  sinn- 
liche Aussenwelt  so  stark  als  möglich  abgrenzte,  im  Laufe  der  Zeit  immer 
schärfer  accentuirt  worden,  und  je  mehr  religiöse  Form  er  annahm,  um  so  mehr 
drängte  er  auch  auf  eine  Weltanschauung  hin,  welche  diesen  Gegensatz  zum 
metaphysischen  Princip  machte. 

1.  Am  anschaulichsten  tritt  dies  Verhältniss  vielleicht  in  den  Aeusserungen 
der  späteren  Stoiker  zu  Tage,  welche  den  anthropologischen  Dualismus 
so  stark  betonen,  dass  er  mit  der  Metaphysik  der  Schule  in  handgreiflichen 
Widerspruch  kommt.  Die  Vorstellung  von  der  Einheitlichkeit  des  menschlichen 
Wesens,  welche  die  Stoiker  bis  dahin  gelehrt  hatten,  war  freilich  schon  von  Po- 
seidonios  in  Frage  gestellt  worden,  wenn  er  platonisirend  meinte,  die  Affecte 
könnten  nicht  aus  dem  Y/7£(iovixöy  herstammen,  sondern  nur  aus  anderen  unver- 
nünftigen Seelentheilen  ').  Jetzt  aber  finden  wir  bei  Seneca  ^)  einen  schroffen 
Gegensatz  zwischen  Seele  und  „Fleisch^:  der  Leib  ist  nur  eine  Hülle,  er  ist 
eine  Fessel,  ein  Kerker  für  den  Geist.  Ebenso  nennt  Epiktet  Vernunft  und 
Leib  die  beiden  Bestandtheile  des  Menschen  ^),  und  wenn  dann  auch  Marc 

1)  Vgl.  Galkn,  De  Hipp,  et  Plat.  IV,  3  ff.  —  2)  Seoec.  Epist.  65,  29;  92,  13;  ad  Marc. 
24,  5.  —  3)  Epikt.  Diasert.  I,  3,  3. 


§  19.   Geist  und  Materie.   (Neupythagoreer.)  181 

Aurel  im  sinnlichen  Wesen  des  Menschen  zwischen  dem  groben  Stoffe  und  dem 
ihn  belebenden  seelischen  Hauche,  dem  Pneuma,  unterscheidet,  so  will  er  doch 
von  dem  letzteren  die  eigentliche  Seele,  als  ein  unkörperliches  Wesen,  den  Geist 
(voög  und  didvota)  um  so  schärfer  getrennt  wissen  ').  Dem  entsprechend  findet 
sich  denn  auch  bei  allen  diesen  Männern  eine  Vorstellung  von  der  Gottheit, 
welche  nur  die  geistigen  Merkmale  aus  dem  stoischen  Begriffe  beibehält  und  die 
Materie  als  ein  der  Gottheit  entgegengesetztes,  der  Vernunft  feindliches  Princip 
ansieht  ^). 

Vielleicht  beruhen  diese  Aenderungen  in  der  Stoa  auf  dem  steigenden  Ein- 
flüsse des  Neupythagoreismus,  welcher  zuerst  wieder  den  platonischen 
Dualismus  mit  seinen  ethisch-religiösen  Werthmotiven  zum  Mittelpunkte  seiner 
Lehre  gemacht  hat.  Von  den  Anhängern  dieser  Lehre  wird  die  Wesensver- 
schiedenheit der  Seele  vom  Leibe  auf  das  nachdrücklichste  betont  %  und  damit 
steht  in  unmittelbarstem  Zusammenhange  ^)  einerseits  die  Lehre,  welche  Gott 
als  rein  geistiges  Wesen  nur  geistig  verehrt  wissen  will  *),  durch  Gebet  und 
tugendhafte  Gesinnung,  nicht  durch  äussere  Handlungen,  andrerseits  die  durch- 
weg asketische  Moral,  welche  durch  Waschungen  und  Beinigungen,  durch 
Vermeidung  gewisser  Nahrungsmittel,  namentlich  von  Fleisch,  durch  ge- 
schlechtUche  Enthaltsamkeit,  durch  das  Abtödten  aller  sinnlichen  Triebe  die 
Seele  aus  der  Umstrickung  der  Materie  frei  machen  und  zu  ihrem  geistigen  Ur- 
gründe zurückleiten  will.  Der  Gottheit  gegenüber,  die  das  Princip  des  Guten 
ist,  wird  die  Materie  (oXtj)  als  der  Grmid  alles  Bösen,  die  Neigung  zu  ihr  als  die 
eigentliche  Sünde  des  Menschen  betrachtet. 

Derselben  Auffassung  begegnen  wir  ethisch  bei  den  Essenern  und  theoretisch 
überall  in  der  Lehre  des  Philo  n.  Auch  er  unterscheidet  zwischen  der  Seele, 
die  als  Lebenskraft  des  leiblichen  Organismus  im  Blute  ihren  Sitz  habe,  und  dem 
Pneuma,  welches  als  Ausfluss  der  rein  geistigen  Gottheit,  das  wahre  Wesen  des 
Menschen  ausmache  ^) :  auch  er  findet,  dass  dies  im  Leibe  eingekerkert  und  in 
seiner  Entfaltung  von  dessen  Sinnlichkeit  (aiodnfjaK;)  gehemmt  ist,  sodass,  da 
darin  die  allgemeine  Sündhaftigkeit  ^)  der  Menschen  wurzelt,  ihr  Heil  nur  in  der 
Ausrottung  aller  sinnUchen  Begierden  gesucht  werden  darf;  auch  ihm  gilt  des- 
halb die  Materie  als  das  körperliche  Substrat,  welches  zwar  von  der  Gottheit  zu 
der  zweckmässigen,  guten  Welt  geordnet  worden,  dabei  aber  doch  der  Grund 
des  Bösen  und  der  UnvoUkommenheit  geblieben  ist. 

2.  Verwandt  und  doch  verschieden  ist  die  Vorstellung  bei  den  christlichen 
Apologeten.  Der  aristotelische  Begriff  von  Gott  als  dem  reinen  Geiste  (voög 
teXeioc)  verbindet  sich  bei  ihnen  mit  der  Lehre ,   dass  Gott  die  Welt  aus  der 


1)  Marc  Aur.  Med.  11,  2;  XII,  3.  —  2)  Senec.  Ep.  65,  24.  Epikt.  Diss.  II,  8,  2.  Marc. 
Aur.  Med.  XII,  2.  —  3)  Claud.  Main,  de  statu  anim.  II,  7.  —  4)  Insofern  als  auch  hier  der 
Mensch  als  Mikrokosmus  gilt:  Ps.-Fythag.  bei  Phot.  Cod.  249,  p.  440 a.  —  5)  ApoUouius  von 
Tyana  (icspl  ^ootwv)  bei  Eus.  praep.  ev.  IV,  13.  —  6)  Dabei  nennt  Fhilon  irveöjia  dasjenige, 
was  bei  den  Stoikern,  Aristotelikem  und  Platonikem  der  Zeit  voo^  heisst;  vgl.  Zeller  v', 
395,  3.  Doch  giebt  es  bei  ihm  auch  wieder  andere  Aeusserungen,  in  denen  noch  ganz  nach 
stoischer  Weise  das  Pneuma  als  Luft  im  Sinne  feinster  physischer  Wirklichkeit  erscheint:  vgl. 
H.  Siebeck,  Gesch.  d.  Psych.  Ib  302  ff.  —  7)  Es  ist  auch  bezeichnend,  dass  die  Silndhafbigkeit 
aller  Menschen,  welche  dem  altstoischen  Glauben  an  die  Verwirklichung  des  Ideals  des  Weisen 
vollkommen  zuwiderläuft,  von  den  Stoikern  der  Kaiserzeit  allgemein  anerkannt  und  als 
Motiv  für  die  Noth wendigkeit  übernatürlicher  Hilfe  betrachtet  wird:  vgl.  Senec.  Benef.  I,  10; 
Vn,  27.  Epikt.  Dissert.  11,  11,  1. 


182  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Religiöse  Periode. 

gestaltlosen  Materie  geschaffen  habe :  doch  wird  hier  nicht  unmittelbar  die  Materie 
als  selbständiges  Princip  betrachtet,  sondern  der  Grund  des  Bösen  vielmehr  in 
dem  verkehrten  Gebrauch  der  Freiheit  von  Seiten  des  Menschen  und  der  diesen 
verfuhrenden  Dämonen  gesucht.  Hier  tritt  der  ethische  und  rehgiöse  Grund- 
charakter des  Dualismus  jener  Zeit  ganz  rein  heraus :  die  Materie  selbst  gilt  als 
etwas  Indifferentes,  welches  erst  durch  den  Gebrauch  von  Seiten  der  geistigen 
Mächte  zum  Guten  oder  zum  Bösen  wird.  In  derselben  Weise  haben  helle- 
nistische Platoniker,  wiePlutarch,  von  dem  Begriffe  der  Materie  als  des  form- 
los Nichtseienden  ausgehend,  das  Princip  des  Bösen  nicht  in  ihr,  sondern  viel- 
mehr in  einer  eigenen,  der  guten  Gottheit  gegenüberstehenden  Kraft  gesucht  *), 
die  mit  jener  gewissermassen  um  die  Gestaltung  der  Materie  ringe.  Plutarch 
fand  diesen  Gedanken  in  den  Mythen  der  verschiedenen  Religionen;  aber  er 
durfte  auch  an  eine  Stelle  erinnern,  wo  Piaton  von  der  bösen  Weltseele  im 
Gegensatze  zur  guten  geredet  hatte  *). 

Indessen  macht  sich  nun  doch  auch  hier  die  Tendenz  den  Gegensatz  des  Guten 
und  des  Bösen  mit  demjenigen  des  Geistes  und  der  Materie  zu  identificiren, 
immerhin  darin  geltend,  dass  wiederum  das  Wesen  des  Bösen  in  seiner  Neigung 
zum  Sinnlichen  und  Fleischlichen,  zur  Materie,  das  Gute  dagegen  in  der  Liebe 
zu  der  rein  geistigen  Gottheit  gesucht  wird.  Das  ist  nicht  nur  ein  durchgängiger 
Zug  der  altchristhchen  Moral,  sondern  es  findet  sich  auch  in  derselben  Weise 
bei  jenen  Piatonikern.  Auch  für  Plutarch  gilt  die  Befreiung  vom  Leibe  als  die 
nothwendige  Vorbereitung  für  die  Empfangniss  der  göttlichen  Gnadenwirkung, 
die  das  Ziel  des  menschlichen  Lebens  bildet,  und  wenn  Numenios  dessen  Theorie 
dahin  weiter  ausführte,  dass,  wie  im  Universum,  so  auch  im  Menschen  zwei 
Seelen,  eine  gute  und  eine  böse,  mit  einander  streiten  "),  so  sucht  doch  auch  er 
wieder  den  Sitz  der  bösen  Seele  im  Leibe  und  seinen  Begierden. 

Ebenso  aber  wird  auch  in  diesen  Lehren  überall  nicht  nur  die  reine  Geistig- 
keit und  Unkörperlichkeit  Gottes,  sondern  in  gleicher  Weise  auch  die  Unkörper- 
lichkeit  des  individuellen  Geistes  betont.  Bei  Plutarch  zeigt  sich  das  wiederum 
in  der  Form,  dass  er  den  voö<;,  den  vernünftigen  Geist,  von  der  ^05^1],  welche  mit 
der  Kraft  den  Leib  zu  bewegen  auch  die  Sinnlichkeit  und  den  Affect  besitze, 
getrennt  sehen  will.  Ebenso  unterscheidet  dann  auch  Irenaeus^)  den  seeli- 
schen Lebenhauch  (jtvot]  Co>:^<;),  der  zeitlicher  Natur  und  an  den  Leib  gebunden 
ist,  von  dem  belebenden  Geiste  (7cvsD[ia  Cwoirotoöv),  welcher  seiner  Natur  nach 
ewig  ist. 

Ueberall  erscheinen  diese  Ansichten  selbstverständUch  in  Verbindung  mit 
den  Lehren  von  der  Unsterblichkeit,  bezw.  von  der  Präexistenz  und  der  Seelen- 
wanderung, von  dem  Sündenfall,  durch  welchen  oder  zu  dessen  Strafe  der  Mensch 
in  die  Materie  versetzt  worden  ist,  und  der  Reinigung,  durch  die  er  sich  wieder 
davon  befreien  soll ;  und  gerade  auch  darin  vollzieht  sich  die  in  Rede  stehende 
Synthese  immer  kräftiger,  indem  das  wandellos  sich  gleichbleibende  Ewige 
(die  platonische  ooofa)  in  dem  Geist,  das  Vergängliche  und  Wechselnde  in  der 
Materie  erkannt  wird. 

3.  In  diesen  Zusammenhängen  entwickelte  sich  nun  allmählich  eine  Schei- 
dung der  beiden  Merkmale,  welche  ursprünglich  in  dem  Seelenbegriff  vereinigt 

1)  Flut,  de  Isid.  46  ff.  —  2)  Plat.  Nom.  896  e.  -  3)  Jambl.  bei  Stob.  Ecl.  I,  894.  - 
4)  Iren.  adv.  haor.  V,  12,  2. 


§  19.  Geist  und  Materie.  (Neupythagoreer,  Plotin.)  183 

gewesen  waren,  des  physiologischen  und  des  psychologischen,  des  Merkmals  der 
Jjebenskraft  und  desjenigen  der  Thätigkeit  des  ßewusstseins.  Wie  es  schon  bei 
Aristoteles  angelegt  war,  so  erscheint  jetzt  neben  der  „Seele",  welche  den  Leib 
bewegt,  als  selbständiges  und  davon  unabhängiges  Princip  der  „Geist",  und  in 
dem  letzteren  wird  nicht  mehr  nur  eine  allgemeine  Vernunftthätigkeit,  sondern 
das  eigentliclie  Wesen  der  individuellen  (wie  auch  der  göttlichen)  Persönlich- 
keit gefunden.  In  den  mannichfachsten  Ausdrucksweisen ')  wird  dieDreitheihing 
des  Menschen  in  Leib,  Seele  und  Geist  auf  allen  Linien  eingeführt,  und  es  ist  be- 
greiflich, dass  dabei  die  Grenzbestimmungen  einerseits  zwischen  Leib  und  Seele, 
andrerseits  aber  noch  mehr  zwischen  Seele  und  Geist  noch  sehr  schwankend 
waren:  denn  die  Seele  spielt  dabei  die  Rolle  einer  Vermittlung  zwischen  den  beiden 
Extremen  Materie  und  Geist. 

Eine  unmittelbare  Folge  davon  aber  war  die,  dass  von  den  Thätigkeiten 
des  Bewusstseins,  die  nun  als  „geistige"  von  den  physiologischen  Functionen 
der  Seele  abgetrennt  wurden,  eine  neue  und  tiefere  Vorstellung  gewonnen  werden 
konnte.  Denn,  der  Körperwelt  einmal  wesentlich  entrückt,  konnte  der  Geist  weder 
in  seiner  Thätigkeit  noch  in  dem  Gegenstande  derselben  von  den  sinnlichen 
Einflüssen  abhängig  gedacht  werden:  und  während  in  der  gesammten  griechischen 
Philosophie  das  Erkennen  als  das  Anschauen  und  Aufnehmen  eines  Gegebenen 
betrachtet,  das  Verhalten  des  Denkens  als  wesentUch  receptiv  angesehen 
worden  war,  so  bricht  sich  nun  die  Vorstellung  vom' Geist  als  einem  selbständigen, 
erzeugenden  Princip  durch. 

4.  Die  Anfänge  dazu  liegen  schon  in  der  neupythagoreischen  Lehre 
insofern,  als  in  ihr  zuerst  die  Geistigkeit  der  immateriellenWelt  behauptet 
worden  ist.  Die  immateriellen  Substanzen  der  platonischen  Metaphysik,  die 
Ideen,  erscheinen  nicht  mehr  als  selbständige  Wesen,  sondern  als  Inhalts- 
bestimmungen der  geistigen  Thätigkeit:  und  wenn  sie  für  das  menschUche 
Erkennen  noch  etwas  Gegebenes,  Bestimmendes  bleiben  sollen,  so  werden  sie  zu 
ursprünglichen  Gedanken  Gottes^).  Damit  sind  die  körperlosen  Urbilder 
der  Erfahrungswelt  in  die  Innerlichkeit  des  Geistes  aufgenommen;  die  Vernunft 
ist  nicht  mehr  nur  etwas  zur  oooia  Gehöriges  oder  nur  ihr  Verwandtes,  sie  ist 
die  ganze  ooata  selbst:  die  immaterielle  Welt  ist  anerkannt  als  die  Welt 
des  Geistes"). 

Dem  entsprechend  wird  dann  bei  Plotin^)  der  Geist (voöc)  als  die  Einheit 
definirt,  welche  die  Vielheit  in  sich  trägt,  d.  h.  metaphysisch  gesprochen  als  die 
durch  die  Einheit  bestimmte,  an  sich  unbestimmte  Zweiheit  (vgl.  §20),  undanthro- 
IH)logisch  gesprochen  als  die  synthetische  Function,  welche  aus  ihrer  höheren 

1)  Von  der  verschiedenen  Teiininolopfie  ('^ox^  anima,  Kveöjxa,  spiritus,  animus  etc.),  in 
der  diese  Lehren  auftraten,  sind  oben  schon  Beispiele  gegeben,  die  sich  sehr  leicht  vermehren 
Hessen.  Interessant  ist  diese  Lehre  namentlich  von  Origeues  (De  princ.  III,  1 — 5)  entwickelt, 
wo  die  „Seele"  theils  als  Bewegungskraft,  theils  als  Vermögen  des  Vorstellens  und  Begehrens 
t>ehandelt,  der  Geist  dagegen  als  das  Princip  der  Beurtheilung,  einerseits  des  Guten  und  des 
Hosen,  andrerseits  des  Wahren  und  des  Falschen,  dargestellt  wird:  in  diesem  allein,  lehrt 
Ori^enes,  besteht  die  Freiheit  des  Menschen.  Die  gleiche  Dreitheiluug  erscheint  dann  bei 
IMotin  im  Zusammenhange  seiner  ganzen  metaphysischen  Construction :  £nn.  11, 9, 2.  Vgl.  §  20. 
—  •)  Vgl.  Nikomachos,  Arithm.  Intr.  I,  6.  —  B)  Mit  dieser  Veränderung  ist  die  platonische 
Ideeulehre  auf  die  Zukunft  übergegangen,  weil  Plotin  und  mit  ihmdergesammteNeuplatonismus 
MC  acceptirte.  Doch  geschah  dies  nicht  ohne  Widerspruch:  wenigstens  hat  Longinos  dagegen 
protestirt  und  als  sein  Schüler  Porphyrios  eine  eigene  Schrift  Sxt  cSu>  xoö  vou  6(pe(3Tir|X6  xä  voir]ta 
geschrieben:  Porph.  vit.  Plot.  18  ff.  —  4)  Plot.  Enn.  V,  9,  6;  3,  15;  4,  2. 


184  II'  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Reli^öse  Periode. 

Einheit  die  Vielheit  erzeugt.  Von  diesem  allgemeinen  Gesichtspunkt  aus  haben  die 
Neuplatoniker  die  Psychologie  des Erkennens  unter  demPrincip  der  Activität 
des  Eewusstseins  durchgeführt.  Denn  die  „höhere  Seele^  kann  hiernach 
nicht  mehr  als  leidende,  sondern  ihrem  Wesen  nach  auch  in  aUen  ihren  Functionen 
nur  als  thätig  angesehen  werden^).  All  ihre  Einsicht  (oovsoic)  beruht  auf  der  Zu- 
sammenfassung (ouv^saic)  verschiedener  Momente^);  selbst  da,  wo  die  Erkenntniss 
sich-  auf  das  sinnlich  Gegebene  bezieht,  leidet  nur  der  Körper,  während  die  Seele 
in  dem  Bewusstwerden  (aovataftYjat^  und  JcapaxoXooftYjatc)  sich  activ  verhält*): 
und  dasselbe  gilt  von  den  sinnlichen  Gefühlen  und  Affecten.  So  wird  auf  dem 
sinnlichen  Gebiete  der  Erregungszustand  von  seinem  Innewerden  unterschieden: 
der  erstere  ist  ein  Leiden  des  Leibes  (oder  auch  der  niederen  Seele);  das  letztere, 
schon  in  der  bewussten  Wahrnehmung  (avrtXTjfptc),  ist  ein  Act  der  höheren  Seele, 
den  Plotin  als  eine  Art  von  Zurückbiegen  (Reflexion)  des  Gedankens  beschreibt*). 

Wenn  so  das  Bewusstsein  als  das  thätige  Bemerken  der  eigenen  Zu- 
stände, Functionen  und  Inhaltsbestimmungen  des  Geistes  begriffen  wurde,  —  eine 
Theorie,  die  (nach  Philoponus)  besonders  auch  von  dem  neuplatonischen  Plutarch 
ausgeführt  worden  ist  — ,  so  ergab  sich  daraus  bei  Plotin  auch  der  Begriff 
des  Selbstbewusstseins  (icapa^oXoty^siv  eaorq))*).  Er  fasste  denselben  so, 
dass  der  Geist  als  bewegtes,  thätiges  Denken  (vörjoic)  sich  selbst  als  ein  ruhendes, 
gegenständliches  Denken  (voYjrdv)  zum  Gegenstande  habe :  der  Geist  als  Wissen 
und  der  Greist  als  Sein  sind  dabei  identisch. 

Der  Begriff  des  Selbstbewusstseins  nimmt  nun  aber  im  Sinne  der  Zeit  auch 
eine  ethisch-religiöse  Färbung  an.  Die  o6v6at<:  ist  zugleich  oovstSTjotc  —  Gewissen , 
d.h.  das  Wissen  des  Menschen  nicht  nur  von  seinen  eigenen  Zuständen  und  Hand- 
lungen, sondern  auch  von  deren  sittlichem  Werthe  und  von  dem  Gebote,  nach 
dessen  Erfüllung  sich  derselbe  richtet:  und  gerade  in  der  Lehre  der  christlichen 
Kirchenväter  entwickelt  sich  deshalb  die  Lehre  vom  Selbstbewusstsein  nicht  nur 
als  das  Wissen  des  Menschen  von  seiner  Sünde,  sondern  auch  in  der  thätigen 
Bekämpfung  derselben  als  Reue  ((isidtvoia). 

5.  Die  Auffassung  des  Geistes  als  selbstthätigen,  schöpferischen 
Princips  ist  aber  nicht  bei  der  psychologischen,  ethischen  und  erkenntniss- 
theoretischen Bedeutung  desselben  stehen  geblieben,  sondern  hat  sich  am  Aus- 
gange des  Alterthums  zum  beherrschenden  Gedanken  der  religiösen 
Metaphysik  erhoben.  Denn  diese  Auffassung  bot  die  Möglichkeit,  jenen  Dua- 
lismus, welcher  die  Voraussetzung  der  ganzen  religiösen  Gedankenbewegung 
der  Zeit  bildete,  schliesslich  zu  überwinden,  indem  der  Versuch  gemacht  wurde, 
auch  die  Materie  aus  diesem  schöpferischen  Geiste  abzuleiten. 

Daher  ist  das  letzte  und  höchste  Problem  der  alten  Philosophie  dies  ge- 
worden: die  Welt  als  einErzeugniss  desGeistes  zu  verstehen, 
auch  die  Körperwelt  mit  allen  ihren  Erscheinungen  alö  wesentlich  geistigen  Ur- 
sprungs und  Inhalts  zu  begreifen.  Die  Vergeistigung  des  Univer- 
sums ist  das  Schlussresultat  der  alten  Philosophie. 

1)  Pori)hyr.  Sentent.  10,  19  u.  a.  —  2)  Plot.  Enn.  IV,  3,  26.  -  3)  Ibid  IV,  4,  18  f. 
Der  Tcniiinus  aovaio^oi?  —  dessen  Bedeutung  übrigens  an  das  xotvöv  aio^rfjpiov  bei  Aristo- 
teles und  damit  schliesslich  an  Plat.  Theaet.  184  f.  erinnert  —  findet  sich  ähnlich  schon  bei 
Alexander  Aphrodisias,  Quaest.  lU,  7  p.  177,  und  ebenso  wendet  Galen  gegenüber  der  Ver- 
änderung des  leiblichen  Organes  den  Ausdruck  SiaYvwsi^  zur  Bezeichnung  ihres  Bowusst- 
werdens  an.  -  4)  Plot.  Enn.  I,  4,  10.  —  5)  Ibid.  IIJ,  9. 


§  20.  Gott  und  Welt.  (Die  Schrift  „über  die  Welt")  185 

An  dieser  Aufgabe  haben  gleichmässig  das  Cliristenthum  und  der  Neu- 
platonismus^  Origenes  und  Plotin,  gearbeitet.  Für  beide  bleibt  zwar,  soweit  es 
sich  um  die  AuflPassung  der  Erscheinungswelt  und  speciell  um  ethische  Fragen 
handelt;  der  Duahsmus  von  Geist  und  Materie  vollkräftig  bestehen.  Immer  noch 
gilt  das  Sinnliche  als  das  Böse  und  Grottfremde,  wovon  die  Sünde  sich  losmachen 
soll,  um  zur  Einheit  mit  dem  reinen  Geiste  zurückzukehren :  aber  auch  dies  Dunkle 
soll  aus  dem  ewigen  Lichte  erklärt,  die  Materie  soll  als  eine  Schöpfung  des  G  eistes 
erkannt  werden.  So  ist  der  letzte  Standpunkt  der  alten  Philosophie  der  Monis- 
mus des  Geistes. 

In  der  Lösung  dieses  gemeinsamen  Problems  aber  gehen  die  Philosophie 
desChristenthums  und  der  Neuplatonismus  weit  aus  einander:  denn  diese  Entwick- 
lung des  göttlichen  Geistes  in  die  Erscheinungswelt  bis  hinab  in  ihre  materielle 
Gestaltung  musste  selbstverständlich  durch  die  Vorstellungen  von  dem  Wesen 
Gottes  und  seinem  Yerhältniss  zur  Welt  bestimmt  werden,  und  gerade  hierin 
befand  sich  der  Hellenismus  unter  vöUig  anderen  Voraussetzungen  als  die  Lehre 
der  neuen  Religion. 

§  20.  Gott  und  Welt 

Die  eigenthümhche  Spannung  zwischen  metaphysischem  Monismus  und 
ethisch-rehgiösen  Dualismus,  welche  der  gesammten  alexandiinischen  Philosophie 
ihren  Charakter  bestimmt,  drängt  die  ganzen  Gedanken  der  Zeit  zu  dem  ver- 
dichtetsten  und  schwersten  Probleme,  demjenigen  des  Verhältnisses  von  Gott  und 
Welt  zusammen. 

1.  Schon  von  der  rein  theoretischen  Seite  her  war  dies  Problem  durch  den 
Gegensatz  der  aristotelischen  und  der  stoischen  Philosophie  nahe  gelegt:  jene 
behauptete  ebenso  stark  die  Transscendenz  Gottes,  d.  h.  die  völlige  Trennung 
desselben  von  der  Welt,  wie  diese  die  Immanenz,  d.  h.  das  vöUige  Aufgehen  Gottes 
in  die  Welt.  Deshalb  ist  das  Problem  und  die  Grundrichtung  seiner  Lösung 
bereits  in  der  eclectischenVermischung  *)  peripatetischer  und  stoischer  Kosmologie 
zu  erkennen,  als  deren  Typus  die  pseudo-aristotelische  Schrift  „über  die  Welt** 
angesehen  wird*).  Mit  der  aristotelischen  Lehre,  dass  das  Wesen  Gottes  weit 
über  die  Natur  (als  den  Inbegi'iff  der  bewegten  Einzeldinge)  und  besonders  über 
den  Wechsel  des  irdischen  Daseins  hinausgesetzt  werden  müsse,  verbindet  sich 
hier  das  stoische  Bestreben,  seine  Kraftwirkung  durch  das  ganze  Universum 
hindurch  bis  in  alles  Einzelste  hinein  zu  verfolgen.  Wenn  somit  die  Welt  bei  den 
Stoikern  als  Gott  selbst  galt,  wenn  Aristoteles  in  ihr  ein  zweckvoll  bewegtes 
Lebewesen  sah,  dessen  äusserste  Sphäre  nur  von  der  Sehnsucht  nach  der  ewig 
unbewegten  reinen  Form  in  den  Umschwung  versetzt  werde,  welcher  sich  dann  mit 
immer  geringerer  Vollkommenheit  den  niederen  Sphären  mittheile,  so  erscheint 
hier  der  Makrokosmos  als  das  in  sich  sympathische  System  der  Einzeldinge,  in 
welchem  die  Kraft  des  an  sich  überweltlichen  Gottes  in  den  verschiedensten  Ge- 
stalten als  das  Princip  des  Lebens  waltet.  Die  Vermittlung  zwischen  Theismus 
und  Pantheismus  wird  theils  durch  die  Unterscheidung  zwischen  Wesen  und  Kraft 


1)  lieber  den  Stratonismus  als  eine  der  Stoa  verwandte  Umbüdung  der  aristotelischen 
Lehre  nach  der  Richtung  panthcistischcr  Immanenz  ist  oben  gehandelt  worden:  §  15,  1.  — 
2)  Dies  Buch  (abgedr.  bei  den  Schriften  des  Aristoteles,  391  £Q  dürfte  etwa  im  ersten  Jahr- 
hundert n.  Chr.  entstanden  sein :  Apuleius  hat  eine  lateinische  Ueberarbeitung  davon  gemacht. 


186  n»  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Religiöse  Periode. 

Gottes,  theils  durch  die  Stufenfolge  der  göttlichen  Wirkungen  gewonnen,  welche 
vom  Fixsternhimmel  bis  zur  Erde  herabsteigt.  Die  Pneumalehre  verbindet  sich 
mit  dem  aristotelischen  Gottesbegriflfe,  indem  die  Kräfte  des  Naturlebens  als  die 
Wirkungen  des  reinen  Geistes  aufgefasst  werden '). 

Durch  diese  Wendung  aber  wurde  nur  die  Schwierigkeit  vermehrt,  welche 
schon  in  der  aristotelischen  Lehre  von  der  Wirkung  der  Gottheit  auf  die  Welt 
steckte :  denn  mit  der  reinen  Geistigkeit,  welche  das  Wesen  der  Gottheit  aus- 
machen sollte,  war  die  Materialisirung  seiner  Wirkung  ~  und  diese  sollte  gerade 
in  der  Bewegung  der  Materie  bestehen  —  schwer  zu  vereinbaren,  und  auch  Ari- 
stoteles hatte  das  Verhältniss  des  unbewegt  Bewegenden  zu  dem  Bewegten 
(vgl.  §  13)  nicht  zu  voller  Klarheit  gebracht^). 

2.  Eine  weitere  Verschärfung  erfuhr  das  Problem  mit  derjenigen  des  reli- 
giösen Duaüsmus,  welcher,  nicht  zufrieden  Gott  als  Geist  der  Materie,  die  über- 
sinnliche Sphäre  der  sinnlichen  gegenüberzustellen,  vielmehr  die  Tendenz  verfolgte, 
das  göttliche  Wesen  über  alles  Erfahrbare  und  über  jeden  bestimmten  Inhalt 
hinaus  zu  potenziren  und  damit  den  überweltlichen  auch  zu  einem  über- 
geistigen Gott  zu  machen.  Man  findet  dies  schon  bei  den  Neupythagoreern, 
bei  denen  sich  das  Schwanken  zwischen  den  verschiedenen  Stadien  des  Dualismus 
hinter  der  zahlen-symbolischen  Ausdrucksweise  versteckt.  Wenn  da  als  Principien 
die  „Eins"  und  die  „unbestimmte  Zweiheit"  behauptet  werden,  so  bedeutet  die 
letztere  freilich  immer  die  Materie  als  das  Unreine,  als  den  Grund  des  Unvoll- 
kommenen und  des  Bösen;  die  Eins  aber  wird  bald  als  die  reine  Form,  als  Geist, 
bald  aber  auch  als  die  über  alle  Vernunft  hinausliegende  „Ursache  der  Ursachen" 
behandelt,  als  das  Urwesen ,  welches  den  Gegensatz  jener  abgeleiteten  Eins  und 
der  Zweiheit,  des  Geistes  und  der  Materie,  erst  aus  sich  habe  hervorgehen  lassen : 
in  diesem  Falle  erscheint  die  zweite  Eins,  das  erstgeborene  Eine  (^cpwtÖYovov  h) 
als  das  vollkommene  Abbild  der  höchsten  Eins*). 

Dies  Bestreben  führte  nun  dazu,  indem  der  Geist  erst  zu  einem  Erzeugniss, 
wenn  auch  dem  ersten  und  vollkommensten  der  Gottheit  gemacht  wui'de,  den 
Begriff  der  letzteren  selbst  zu  vollständiger  Qualitätslosigkeit  zu  steigern. 
Dies  zeigt  sich  schon  bei  Philon,  der  den  Gegensatz  zwischen  allem  Endlichen 
und  Gott  so  scharf  hervorhob,  dass  er  diesen  ausdrücklich  *)  als  eigenschaftslos 
(ä7coto<;)  bezeichnete:  denn  da  Gott  über  Alles  erhaben  sei,  so  könne  von  ihm 
immer  nur  gesagt  werden,  dass  er  alle  menschlicher  Einsicht  bekannten  endlichen 
Prädicate  nicht  habe:  ihn  nennt  kein  Name.  Diese  (später  so  genannte) 
„negative  Theologie"  finden  wir  auch  bei  den  in  ihren  Begrifi*en  von  Philon  be- 
einfiussten  Apologeten  des  Cliristenthums,  besonders  bei  Justin*),  und  ebenso 
zum  Theil  bei  den  Gnostikern. 

Dieselbe  begegnet  uns  aber,  in  womöglich  noch  gesteigerter  Form,  auch 
imNcuplatonismus.   Wie  schon  in  den  hermetischen  Schriften®)  Gott  als 


1)  V^l.  hauptsächlich  cap.  6,  397  b  9.  —  2)  Diese  Schwierij^keiten  drängten  sich  bei 
Aristoteles  namentlich  in  dem  Jiegriffe  der  d'f-rj  zusammen :  da  nämlich  die  „Berührung"  des 
Bewegenden  mit  dem  Bewej^ten  als  Bedingung  der  Bewegung  angesehen  wurde,  so  musste 
auch  von  einer  „Berührung"  zwischen  Gott  und  dem  Fixsternhimmel  gesprochen  werden, 
was  aber  bei  dem  rein  geistigen  Wesen  der  (Jottheit  auf  Bedenken  stiess  und  der  a^"?]  in  diesem 
Falle  eine  eingeschränkte  und  geistig  umgebildete  Bedeutung  („unmittelbare  Beziehung")  gab: 
vgl.  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  6,  323  a  20.  —  3)  Nikomachos,  Thcol.  Arithm.  p.  44.  —  4)  Phil. 
Leg.  alleg.  47  a;  qu.  D.  s.  immut.  301  a.  —  5)  Just.  Apol.  I,  61  ff.  —  0)  Poemand.  4 f. 


§  20.   Gott  und  Welt.   (Nciiplatoiiismus  und  Chriatenthum.)  187 

unendlich  und  unbegreiflich^  als  namenlos,  als  der  über  alles  Sein  erhabene  Grund 
des  Seins  und  der  Vernunft,  der  diese  erst  erzeugt,  betrachtet  worden  war,  so  ist 
auch  für  Plotin  die  Gottheit  das  absolut  transscendente  Urwesen,  als  vollkommene 
Einheit  noch  erhaben  über  den  Geist,  der  als  das  Princip,  welches  die  Vielheit 
bereite  in  der  Einheit  enthält  (§  19,  4),  aus  Gott  erst  hervorgegangen  sein  kann. 
Dies  Eine,  zb  ev,  geht  allem  Denken  und  Sein  vorher,  es  ist  unendlich,  gestaltlos, 
und  Jenseits"  (i;rdxetva)  der  geistigen  ebenso  wie  der  sinnhchen  Welt,  dämm  auch 
ohne  Bewusstsein  und  ohne  Thätigkeit  ^). 

Hatte  endlich  Plotin  dann  doch  dies  unaussagbare  Erste  (t6  Tcpwrov)  noch 
als  das  Eine,  welches  allen  Denkens  und  allen  Seins  Ursache  sei,  und  als  das 
Gute,  als  den  absoluten  Zweck  alles  Geschehens,  bezeichnet,  so  genügte  den 
Späteren  auch  dies  noch  nicht :  Jamblichos  setzte  über  das  plotinische  h  noch 
wieder  ein  höheres,  völlig  unaussprechliches  (TrdtvtTj  äpprjtoi;  oLpyii)  *)  Eins,  und 
Proklos  folgte  ihm  darin  nach. 

3.  Solchen  dialectischen  Verflüchtigungen  gegenüber  hat  nun  die  kirch- 
liche Entwicklung  des  christlichen  Denkens  ihre  eindrucksvolle 
Energie  darin  bewahrt,  dass  sie  an  dem  Begriff  Gottes  als  geistiger 
Persönlichkeit  festhielt.  Sie  that  dies  nicht  aus  philosophischer Ueberlegung 
und  Begründung,  sondern  vermöge  des  unmittelbaren  Anschlusses  an  die  lebendige 
Ueberzeugung  der  Gemeinde,  und  eben  darin  bestand  ihre  psychologische,  ihre 
weltgeschichthche  Kraft.  Diesen  Glauben  athmet  das  Neue  Testament,  diesen 
vertheidigen  bei  aller  Verschiedenheit  ihrer  sonstigen  Richtungen  und  Ansichten 
sämmtliche  Vertreter  der  Patristik,  und  gerade  durch  ihn  grenzt  sich  überall  die 
christliche  Lelire  gegen  die  hellenistischen  Lösungen  des  religions-philosophischen 
Hauptproblems  ab. 

Der  Hellenismus  sieht  in  der  Pcrsönhchkeit,  auch  wo  sie  rein  geistig  gefasst 
wird,  eine  Beschränkung  und  Verendlichung,  welche  er  von  dem  höchsten  Wesen 
ferngehalten  und  nur  für  die  besonderen  Götter  zugelassen  sehen  will:  das  Christen- 
thum  verlangt  als  lebendige  Religion  ein  persönliches  Verhältniss  des 
Menschen  zu  dem  als  höchste  Persönlichkeit  gefassten  Welt- 
grunde, und  es  prägt  dies  in  dem  Gedanken  der  Gottessohnschaft  des 
Menschen  aus. 

Wenn  daher  der  Begriff  der  Persönlichkeit  als  der  geistigen  Innerlichkeit 
das  wesenthch  neue  Resultat  darstellt,  zu  dem  sich  in  dem  griechischen  und  dem 
hellenistischen  Denken  die  theoretischen  und  die  ethischen  Motive  verschlangen, 
so  hat  diese  Erbschaft  der  Antike  das  Christenthum  angetreten,  während  der 
Ncuplatonismus  in  die  alte  Vorstellung  zurückbog,  welche  in  der  Persön- 
lichkeit nur  ein  vorübergehendes  Erzeugniss  eines  unpersönlichen  Gesammt- 
lebens  sah.  Das  ist  das  Wesentliche  der  christlichen  Weltanschauung,  dass  sie 
als  den  Kern  der  WirkUchkeit  die  Person  und  das  Verhältniss  der  Personen  zu 
einander  betrachtet. 

4.  Trotz  dieser  bedeutsamen  Verschiedenheit  bleibt  nun  aber  für  alle  Rich- 
tungen der  alexandrinischen  Philosopliie  das  gleiche  Problem,  die  so  der  Sinnen- 


1)  Es  ist  leicht  begreiflich,  dass  fiir  die  Beziehimg  des  Mensehen  zu  diesem  über- 
vernünftigen, allem  Thun,  Wollen  und  Denken  überhobenen  Gott-Sein  auch  ein  Zustand  über- 
vemünftiger,  willens-  und  bewusstseinsloser  Ekstase  erforderlich  erschien :  vgl.  oben  §  18,6.  — 
2)  Damasc.  de  princ.  43. 


188  n.  Hcllenistiscb-röinische  Philosophie.   2.  Relif^Öse  Periode. 

weit  entrückte  Gottheit  doch  zu  derselben  wieder  in  diejenigen  Beziehungen  zu 
setzen,  welche  das  religiöse  Bedürfniss  verlangte :  denn  je  tiefer  der  Gegensatz 
zwischen  Gott  und  Welt  gefühlt  wurde,  um  so  brennender  wurde  die  Sehnsucht, 
ihn  zu  überwinden,  —  ihn  zu  überwinden  durch  eine  Erkenntniss,  welche  auch 
die  Welt  aus  Gott  begreifen,  und  durch  ein  Leben,  welches  aus  der  Welt  zu 
Gott  zurückkehren  wollte. 

Daher  ist  der  DuaHsmus  von  Gott  und  Welt,  wie  der  von  Geist  und  Materie 
nur  der  gefühlsmässige  Ausgangspunkt  und  die  Voraussetzung  der  alexandrini- 
schen  Philosophie :  ihr  Ziel  aber  ist  überall,  theoretisch  wie  praktisch,  seine  Be- 
sieguug.  Eben  darin  besteht  das  EigenthümUche  dieser  Zeit,  dass  sie  die  tiefe 
Kluft,  die  sie  in  ihrem  Gefühle  vorfindet,  im  Wissen  und  Wollen  zu  schliessen 
bemüht  ist. 

Freilich  erzeugte  diese  Zeit  auch  solche  Weltanschauungen,  in  welchen 
der  Dualismus  sich  so  übermächtig  geltend  machte,  dass  er  zu  unverrückbaren 
Grundlinien  derselben  fixirt  wui'de.  Daliin  gehören  zunächst  die  Platoniker  wie 
Plutarch,  welche  nicht  nur  die  Materie  als  ursprüngliches  Princip  neben  der 
Gottheit  behandelten,  weil  diese  in  keiner  Weise  der  Grund  des  Bösen  sein 
könne,  sondern  auch  in  der  Gestaltung  dieser  indifferenten  Materie  zur  Welt 
neben  Gott  als  drittes  Princip  die  „böse  Weltseele"  in  Anspruch  nahmen.  Ganz 
besonders  aber  kommt  hier  ein  Theil  der  gnostischen  Systeme  in  Betracht. 

Dieser  erste  phantastische  Versuch  einer  christlichen  Theologie  war  durch- 
weg durch  die  Gedanken  der  Sünde  und  der  Erlösung  beherrscht,  und  der  Grund- 
charakter des  Gnosticismus  besteht  darin,  dass  von  hier  aus  die  Begriffe  der 
griechischen  Philosophie  mit  den  Mythen  orientalischer  ReUgionen  in  Beziehung 
gesetzt  wurden.  So  erscheint  denn  bei  Valentin  neben  der  in  die  Fülle  (xb 
7tXTjp(ö|jLa)  geistiger  Gestalten  ergossenen  Gottheit  (TTpoitdrcop)  die  von  Ewigkeit 
her  gleich  ursprüngliche  Leere  (tö  xdvü)|jLa),  neben  der  Form  der  Stoff,  neben 
dem  Guten  das  Böse:  und  wenn  auch  aus  der  Selbstentwicklung  der  Gottheit 
(vgl.  unten  6)  schon  eine  ganze  Geisteswelt  in  jener  „Fülle"  gestaltet  ist,  so  gilt 
doch  die  körperliche  Welt  ei'st  als  das  Werk  eines  gefallenen  Aeonen  (vgl.  §  21), 
der  dem  Stoffe  seine  Innerlichkeit  einbildet.  Ebenso  stellte  Saturninus  dem 
Lichtreiche  Gottes  die  Materie  als  das  Herrschaftsgebiet  des  Satauas  gegenüber 
und  betrachtete  die  irdische  Welt  als  einen  streitigen  Grenzraum,  um  dessen 
Besitz  die  guten  und  die  bösen  Geister  durch  ihre  Einwirkung  auf  den  Menschen 
ringen;  und  ähnlich  war  auch  die  Mythologie  des  Bardesanos  angelegt,  welche 
dem  „Vater  des  Lebens"  eine  weibliche  Gottheit  als  die  empfangende  Potenz 
bei  der  Weltbildung  zur  Seite  gab. 

Die  schärfste  Zuspitzung  aber  erreichte  der  Dualismus  in  einer  Misch- 
religion, welche  unter  dem  Einflüsse  der  gnostischen  Systeme  mit  Rückgang  auf 
die  altpei'sische  Mythologie  im  dritten  Jahrhundert  entstand,  dem  Manichaeis- 
mus  *).  Die  beiden  Reiche  des  Guten  und  des  Bösen,  des  Lichts  und  der  Finster- 
niss,  des  Friedens  und  des  Streites  stehen  sicli  hier  gleich  ewig  wie  ihre  Fürsten, 

1)  Der  Stifter,  Mani,  (vermuthlich  240—280)  bctrachtoto  seine  Lehre  als  die  Vollendung 
des  Cliristcnthums  und  als  Offenbaning  des  Parakletcn:  er  erlag  zwar  der  Verfolgung  der 
poraischcn  l'riester,  aber  seine  Religion  fand  sehr  schnell  grosse  Verbreitung  und  hat  sich  bis 
lief  in  das  Mittelalter  hinein  lebendig  erhalten.  Am  besten  sind  wir  über  sie  durch  Augustinus 
unterrichtet,  der  ihr  selbst  eine  Zeit  lang  anhing.  Vgl.  F.  C.  Baur,  Das  manichaische  Religions* 
System.  Tübingen  1836.   0.  Flüukl,  Mani  und  seine  Lehre.  Leipzig  1863. 


§20.   Gott  und  Welt.  (Philon.)  189 

Gott  und  der  Satan,  gegenüber:  auch  hier  wu:d  die  Weltbildung  als  eine  durch 
Grenzverletzung  hervorgerufene  Mischung  aus  guten  und  bösen  Elementen  auf- 
gefasst,  im  Menschen  der  Kampf  einer  guten,  dem  Lichtreich  angehörigen  und 
einer  bösen,  der  Finsterniss  entstammenden  Seele  angenommen  und  eine  Er- 
lösung erwartet,  die  beide  Gebiete  wieder  vöUig  trennen  soll. 

So  zeigt  sich  zum  Schluss  am  deutlichsten,  dass  der  DuaUsmus  dieser  Zeit 
wesentlich  auf  ethisch-religiösen  Motiven  beruhte.  Indem  man  die  Werthbeur- 
theilung,  welche  Menschen,  Dinge  und  Verhältnisse  als  gut  oder  böse  charakterisirt, 
zum  Gesichtspunkt  der  theoretischen  Erklärung  macht,  gelangt  man  dazu,  den 
Ursprung  des  so  getheilten  Universums  auf  zwei  verschiedene  Ursachen  zurück- 
zufuhren, von  denen  zwar  im  Sinne  der  Beurtheilung  nur  die  eine,  die  des  Guten, 
als  positiv  gelten  und  den  Namen  der  Gottheit  haben  soll,  in  theoretischer  Hin- 
sicht aber  auch  die  andere  vöUig  den  Anspruch  auf  metaphysische  Ursprünglich- 
keit und  Ewigkeit  (ooata)  behauptet.  Schon  aus  diesem  Verhältniss  aber  lässt 
sich  absehen,  dass,  sobald  das  metaphysische  Verhältniss  dem  ethischen  vollständig 
angepasst  wurde,  dies  von  selbst  zu  einer  Aufhebung  des  Dualismus  fuhren  musste. 

5.  In  der  That  erzeugte  der  Dualismus  aus  seinen  eigensten  Motiven  heraus 
eine  Vorstellungsreihe,  durch  die  er  selbst  seine  Ueberwindung  vorbereitete.  Je 
schroffer  nämlich  der  Gegensatz  zwischen  dem  geistigen  Gott  und  der  materiellen 
Welt,  je  grösser  der  Abstand  zwischen  dem  Menschen  und  dem  Gegenstande  seiner 
religiösen  Sehnsucht  gedacht  wurde,  um  so  mehr  machte  sich  das  Bedürfniss 
geltend,  das  so  Getrennte  durch  Z wi sc hen gli  eder  wieder  zu  vermitteln.  Theo- 
retisch bestand  deren  Bedeutung  darin,  die  Einwirkung  der  Gottheit  auf  die  ihm 
fremde,  seiner  unwürdige  Materie  begreiflich  und  unbedenklich  zu  machen ;  prak- 
tisch hatten  sie  den  Sinn,  zwischen  Mensch  und  Gott  als  die  Mittler  zu  dienen, 
welche  den  Menschen  aus  seiner  sinnlichen  Niedrigkeit  durch  ihre  Hilfe  zu  dem 
Höchsten  emporleiten  könnten.  Beide  Interessen  aber  wiesen  gleichmässig  auf 
die  Methode  hin,  mit  welcher  schon  die  Stoiker  den  Glauben  an  die  niederen 
Götter  in  ihre  Naturreligion  hineinzuarbeiten  gewusst  hatten. 

Im  grossen  Styl  ist  die  Durchfuhrung  dieser  Vermittlungstheorie  zuerst 
von  Philon  versucht  worden,  der  ihr  dadurch  die  bestimmte  Richtung  gab,  dass 
er  sie  einerseits  zu  der  neupythagoreischen  Ideenlehre,  andererseits  zu  der  Engel- 
lehre seiner  Religion  in  nahe  Beziehungen  brachte.  Die  vermittelnden  Mächte, 
bei  deren  Betrachtung  Philon  noch  mehr  die  theoretische  Bedeutung  und  die 
Erklärung  des  Einflusses  von  Gott  auf  die  Welt  im  Auge  hatte,  bezeichnet  er  je 
nach  dem  Wechsel  der  Untersuchung  bald  als  die  Ideen  bald  als  die  wirkenden 
Kräfte  bald  als  die  Engel  Gottes :  aber  stets  ist  damit  der  Gedanke  verbunden, 
dass  diese  Zwischenglieder  ebenso  an  Gott  wie  an  der  Welt  Theil  haben,  dass 
sie  zu  Gott  gehören  und  doch  von  ihm  verschieden  sind.  So  gelten  die  Ideen 
einerseits  (neupythagoreisch)  als  Gottes  Gedanken  und  als  Inhalt  seiner  Weisheit, 
andererseits  aber  auch  wieder  (altplatonisch)  als  eine  von  Gott  geschaffene  intelli- 
gible  Welt  von  Urbildern :  und  wenn  diese  Urbilder  zugleich  die  wirkenden  Kräfte 
sein  sollen ,  welche  die  ungeordneten  Stoffe  nach  ihrem  zweckvollen  Inhalt  ge- 
stalten, so  erscheinen  dabei  die  Kräfte  bald  als  so  selbständige  Potenzen,  dass, 
indem  ihnen  Weltbildung  und  Welterhaltung  zufallen,  jede  unmittelbare  Be- 
ziehung zwischen  Gott  und  Welt  vermieden  sein  soll,  bald  aber  doch  wieder  eben 
als  ein  am  göttlichen  Wesen  Haftendes  und  es  selber  Darstellendes :  als  Engel 


190  II-  Hellenistisch- römische  Philosophie.   2.  Religiöse  Periode. 

endlich  sind  sie  zwar  eigene  mythische  Gestalten  und  werden  als  die  Diener,  die 
Gesandten,  die  Boten  Gottes  bezeichnet,  aber  auf  der  anderen  Seite  repräsen- 
tiren  sie  doch  die  verschiedenen  Seiten  und  Eigenschaften  des  göttlichen  Wesens, 
das  zwar  als  Ganzes  in  seiner  Tiefe  unerkennbar  und  unaussagbar  ist,  aber  ge- 
rade in  ihnen  sich  offenbart.  Diese  durch  den  Grundgedanken  des  Systems  selbst 
bedingte  Doppelnatur  bringt  es  mit  sich,  dass  diese  ideellen  Kräfte  die  Bedeutung 
allgemeiner  Begriffsinhalte  haben  und  dabei  doch  mit  allen  Merkmalen  der  Per- 
sönlichkeit ausgerüstet  sind :  und  gerade  diese  cigenthümliche  Verquickung  von 
wissenschaftHcher  und  mythischer  Auffassung ,  dies  unbestimmte  Dämmerlicht, 
worin  die  ganze  Lehre  verharrt,  ist  das  Wesentliche  und  Bedeutsame  daran. 

Dasselbe  gilt  von  der  letzten  Folgerung  mit  der  Philon  diesen  Gedanken- 
gang abschloss.  Die  Fülle  der  Ideen,  Kräfte  und  Engel  war  selbst  wieder  eine 
ganze  Welt,  in  der  Vielheit  und  Bewegung  herrschte:  zwischen  ihr  und  der  Einen, 
unbewegten,  veränderungslosen  Gottheit  bedurfte  es  noch  eines  höheren  Zwischen- 
gliedes. Wie  die  Idee  zu  den  einzelnen  Erscheinungen,  so  muss  sich  zu  den  Ideen 
die  höchste  derselben  (tö  YsvtxwtaTov) ,  die  „Idee  der  Ideen'*,  —  wie  die  Kraft 
zu  ihren  sinnhchen  AVirkuugen ,  so  muss  sich  zu  den  Kräften  die  vernünftige 
Weltkraft  überhaupt  verhalten :  die  Engelwelt  muss  in  einem  Erzengel  ihren  ein- 
heitlichen Abschluss  finden.  Diesen  Inbegriff  der  göttlichen  Weltwirksamkeit 
bezeichnet  Philon  mit  dem  stoischen  Begriffe  des  Logos.  Auch  dieser  aber  er- 
scheint deshalb  bei  ihm  in  schwankender,  wechselnder  Beleuchtung:  der  Logos 
ist  einerseits  die  in  sich  ruhende  göttliche  Weisheit  (aoyia-XöYoc  evStAdstoc;,  vgl. 
S.  156  Anm.  5)  und  die  zeugende  Vemunftkraft  des  Höchsten,  er  ist  aber 
andererseits  auch  die  aus  der  Gottheit  heraustretende  Vernunft  (Xöyo<;  Trpoyoptxöc), 
das  selbständige  Abbild,  der  erstgeborene  Sohn,  weder  unentstanden  wie  Gott 
noch  entstanden  wie  wdr  Menschen,  er  ist  der  zweite  Gott^).  Durch  ihn  hat 
Gott  die  Welt  gebildet,  und  er  ist  umgekehrt  auch  der  Hohepriester,  der  durch 
seine  Fürbitte  die  Beziehungen  zwischen  dem  Menschen  und  der  Gottheit  her- 
stellt und  erhält ;  er  ist  erkennbar,  während  Gott  selbst  als  über  alle  Bestimmung 
hinausgehoben  unerkennbar  bleibt :  er  ist  Gott,  sofern  dieser  das  Lebensprincip 
der  Welt  bildet. 

So  legen  sich  Transscendenz  imd  Immanenz  Gottes  als  gesonderte  Potenzen 
aus  einander,  um  doch  vereint  zu  bleiben ;  der  Logos  als  der  innerweltliche  Gott 
ist  „die  Wohnstätte'*  des  ausserweltlichen  Gottes.  Je  schwieriger  dies  Verhält- 
niss  sich  begrifflich  gestaltet,  um  so  reicher  sind  die  bildlichen  Ausdrucksweisen, 
in  denen  es  von  Philon  dargestellt  wird  2). 

6.  Mit  dieser  Logoslehre  war  nun  der  erste  Schritt  gethan,  um  die  Kluft 
zwischen  Gott  und  der  Sinnenwelt  durch  eine  bestimmte  Stufenfolge  von  Gestalten 
auszufüllen,  welche  mit  allmählichen  Ucbergängen  von  der  Einheit  zur  Vielheit, 
von  der  Unveränderlichkeit  zur  Veränderlichkeit,  vom  Immateriellen  zum  Ma- 
teriellen, vom  Geistigen  zum  Sinnlichen,  vom  Vollkommenen  zum  unvollkommenen, 


1)  Phil,  bei  Eus.  praep.  ev.  VII,  13,  1.  Mit  etwas  stärkerer  Betonung  der  Persönlich- 
keit finden  sich  dieselben  Begriffsbestimmungen  bei  Justiuus,  Apol.  I,  32.  Dial.  c.  Tryph. 
56  f.  —  2)  Im  Zusammenhanpr  mit  allen  diesen  Lehren  steht  es,  dasa  bei  Philon  das  Geistige 
der  Erfahrungswelt  eine  unklare  Stellung  zwischen  Immateriellem  und  Materiellem  einnimmt ; 
der  vou^  des  Menschen,  das  VernuJgen  des  Denkens  und  der  Willenskraft,  ist  ein  Theil  des 
göttlichen  Logos  (auch  die  Dämonen  werden  stoisch  als  Xoyoi  bezeichnet),  und  er  wird  doch 
auch  wieder  als  feinstes  Pneuma  charakterisirt. 


■ 


§20.   Gott  und  Welt.    (Gnostiker.)  191 

vom  Guten  zum  Bösen  herabstieg,  und  wenn  diese  Rangordnung  zugleich  als 
ein  System  von  Ursachen  und  Wirkungen,  die  selbst  wieder  Ursachen,  aufgefasst 
wurde,  so  ergab  sich  daraus  eine  neue  Darstellung  des  kosmogonischen 
Processes,  durch  welchen  vermöge  aller  dieser  Zwischenglieder  die  Sinnen- 
welt aus  dem  göttlichen  Wesen  abgeleitet  wurde :  zugleich  aber  lag  dann 
der  Gedanke  nahe ,  die  Etappen  dieses  Hervorganges  auch  rückläufig  als  die 
Stufen  der  Wiedervereinigung  des  in  die  Sinnenwelt  verstrickten  Menschen  mit 
Gott  zu  betrachten.  Und  so  bahnt  sich  theoretisch  und  praktisch  die  Ueberwindung 
des  Dualismus  an. 

Damit  wurde  ein  Problem  wieder  aufgenommen,  welches  Piaton  in  seiner 
letzten  pythagoreisirenden  Periode  und  die  ältesten  Akademiker  im  Auge  gehabt 
hatten,  wenn  sie  mit  Hilfe  der  Zahlentheorie  den  Hervorgaug  der  Ideen  und  der 
Dinge  aus  der  göttlichen  Einheit  zu  begreifen  suchten.  Aber  schon  damals  hatte 
sich  gezeigt,  dass  dies  Schema  der  Entwicklung  der  Vielheit  aus  der  Eins  hin- 
sichtlich seiner  Beziehung  zu  den  Werthprädikaten  zwei  entgegengesetzte  Deu- 
tungen zuliess:  der  platonischen,  von  Xenokrates  vertretenen  Auffassung,  dass 
die  Eins  das  Gute  und  Vollkommene,  das  aus  ihr  Abgeleitete  aber  das  Unvoll- 
kommene und  schliesslich  das  Schlechte  sein  müsse,  trat  in  Speusippos  die  An- 
sicht entgegen,  dass  das  Gute  nur  das  Endprodukt,  nicht  der  Ausgangspunkt 
der  Entwicklung,  letzterer  dagegen  in  dem  Unbestimmten,  Unfertigen  zu  suchen 
sei*).  Man  pflegt  die  so  unterschiedenen  Lehren  als  Emanationssystem 
und  Evolutionssystem  zu  unterscheiden.  Der  erstere  Name  entstammt 
daher,  dass  in  diesem  System,  welches  in  der  reHgiösen  Philosopliie  des  Alexan- 
drinismus  entschieden  vorwaltete,  die  Sondergestaltungen  des  weltzeugenden 
Logos  vielfach  mit  dem  stoischen  Terminus  als  „Ausflüsse"  (a;c6f^poiat)  des  gött- 
lichen Wesens  bezeichnet  wurden. 

Doch  fehlt  es  in  der  alexandrinischen  Philosophie  auch  nicht  an  evolutio- 
nistischen  Versuchen ;  insbesondere  lagen  dieselben  dem  Gnosticismus  nahe : 
denn  dieser  musete  bei  seiner  scharfen  Spannung  des  Dualismus  von  Geist  und 
Materie  den  monistischen  Ausweg  mehr  in  einem  indifferenten  Urgründe, 
der  sich  in  die  Gegensätze  auseinander  gelegt  habe,  zu  suchen  geneigt  sein.  Wo 
daher  die  Gnostiker  —  und  das  ist  gerade  bei  den  bedeutenderen  der  Fall  —  über 
den  Dualismus  hinausstreben,  da  entwerfen  sie  nicht  nur  einen  kosmogonischen, 
sondern  einen  theogonischen  Process,  durch  welchen  die  Gottheit  sich  aus 
dunklem  Urwesen  durch  den  Gegensatz  zur  vollen  Offenbarung  entfaltet  habe. 
So  heisst  beiBasileides  der  namenlose  Urgrund  der  (noch)  nicht  seiende  Gott 
(6  oox  o>v  ^eö(;) :  dieser,  hören  wir,  habe  den  Weltsamen  (itavo7csp|jLtot)  erzeugt,  in 
welchem  ungeordnet  neben  den  materiellen  Kräften  (ajiop^pta)  die  geistigen  (otÖTTjtec;) 
lagen:  die  Gestaltung  und  Ordnung  aber  dieses  Kräftechaos  vollzieht  sich  durch 
die  Sehnsucht  desselben  nach  der  Gottheit.  Dabei  scheiden  sich  die  verschiedenen 
„Sohnschaften",  die  geistige  Welt  (o?cspxo(3[i[a)  von  der  materiellen  Welt  (xöaiioc) 
und  im  zeitlichen  Verlaufe  des  Geschehens  schliesslich  alle  Sphären  der  so  ent- 
wickelten Gottheit;  jede  gelangt  an  den  ihr  bestimmten  Ort,  die  Unruhe  des 
Strebens  hört  auf,  und  der  Friede  der  Verklärung  ruht  über  dem  All. 

In  eigenthümlicher  Mischung  erscheinen  evolutionistische  und  emanatis- 
tische  Motive  in  der  Lehre  Valentin' s.    Hier  wird  nämlich  die  geistige  Welt 

iFVgL  Aristot.  Met.  XIV  4,  1091  b  16  j  XII  7,  1072  b  31.  — 


192  n.  HcllcnifltiBch-römischo  Philosophie.   2.  Relip^iöae  Periode. 

(^XTjpoojxa)  oder  das  System  der  „Aeonen",  der  ewigen  Wesenheiten,  zum  ersten 
Theil  als  Entfaltung  der  dunklen  Urtiofe  (ßoO'tx;)  zur  SelbstoflPenbarung,  zum 
anderen  Theil  dann  aber  als  absteigende  Erzeugung  unvollkommnerer  Gestalten 
entwickelt.  Das  mythische  Schema  ist  dabei  die  orientalische  Paarung  männlicher 
und  weiblicher  Gottheiten.  In  der  obersten  ^Syzygie"  tritt  neben  den  Urgrund  das 
„Schweigen"  (otx/J),  welches  auch  das  „Denken"  (svvota)  genannt  wird.  Aus  dieser 
Verbindung  des  Urseins  mit  der  Fähigkeit  des  Bewusstwerdens  geht  als  das  Erst- 
geborene der  Geist  (hier  voö<;  genannt)  hervor ,  der  in  der  zweiten  Syzygie  die 
„Wahrheit",  d.  h.  die  intelligible  Welt,  das  Reich  der  Ideen  zu  seinem  Gegen- 
stände hat.  So  sich  selbst  zur  vollen  Offenbarung  geworden,  gestaltet  die  Gott- 
heit sich  in  der  dritten  Syzygie  zu  „Vernunft"  (Xöyoc)  und  „Leben"  (C««»})  und 
wird  zum  Princip  der  äusseren  Offenbarung  in  der  vierten  Syzygie  als  „Ideal- 
mensch" (av^p(ö?coc)  und  „Lebensgemeinschaft"  (IxxXrjoia).  Hat  nun  damit  schon 
der  absteigende  Process  begonnen,  so  setzt  er  sich  weiterhin  dadurch  fort,  dass 
aus  der  dritten  und  der  vierten  Syzygie  noch  weitere  Aeonen  hervorgehen ,  die 
mit  jener  heiligen  Achtzahl  erst  das  ganze  Pleroma  bilden,  die  aber  immer  ferner 
von  dem  Urgründe  stehen:  erst  der  letzte  dieser  Aeonen,  die  „Weisheit"  (oo^ia) 
ist  es,  der  durch  sündige  Sohnsucht  nach  dem  Urgründe  den  Anlass  dazu  giebt, 
dass  diese  Sehnsucht  von  ihm  abgelost  und  in  die  stoffliche  Leere,  das  x^va>|JLa  ge- 
worfen wird,  um  dort  zur  Bildung  der  irdischen  Welt  zu  fuhren. 

Sieht  man  auf  die  philosophischen  Gedanken,  welche  sich  hinter  dieser  viel- 
deutigsten Mythenconstruction  verbergen,  so  ist  es  leicht  verständlich,  dass  die 
Schule  der  Valentinianer  in  mannichfache  Ansichten  auseinander  ging.  Denn  in 
keinem  anderen  Systeme  jener  Zeit  sind  so  sehr  dualistische  und  monistische 
Motive  beider  Art,  der  evolutionistischen  wie  der  emanatistischen,  mit  einander 
gemischt  wie  hier. 

?•  In  begrifflicher  Abklärung  und  mit  Ablösung  des  mythischen  Apparates 
erscheinen  die  gleichen  Motive  in  der  Lehre  PI  ot  in 's,  so  jedoch,  dass  in  der 
Durchführung  des  Ganzen  das  Princip  der  Emanation  die  beiden  anderen 
fast  ganz  verdrängt. 

Die  Synthese  von  Transscendenz  und  Immanenz  wird  auch  von  Plotin  in  der 
Richtung  gesucht,  dass  das  Wesen  Gottes  als  das  absolut  Einheitliche  und  Un- 
veränderliche bewahrt  bleibt,  während  Vielheit  und  Veränderlichkeit  nur  seinen 
Wirkungen ')  zukommen.  Von  dem  über  alle  endlichen  Bestimmungen  und  Gegen- 
sätze erhabenen  „Ersten"  kann  im  strengen  Sinne  gar  nichts  ausgesagt  werden 
(vgl.  oben  2)*,  nur  uneigentlich,  in  seiner  Beziehung  zur  Welt  kann  es  als  das  unend- 
liche Eine,  als  das  Gute  und  als  höchste  Kraft  (npiüzri  ?i)va(uc)  bezeichnet  werden, 
und  die  Wirkungen  dieser  Kraft,  welche  das  Weltall  ausmachen,  sind  nicht  als  Ab- 
zweigungen und  Theilungen  seiner  Substanz,  nicht  somit  als  eigentliche  ^Aus- 
flüsse", sondern  vielmehr  als  überquellende,  die  Substanz  selbst  in  keiner  Weise 
verändernde,  doch  aber  aus  der  Nothwcndigkeit  ihres  Wesens  sich  ergebende 
Nebenerfolge  zu  betrachten. 

Als  bildliche  und  doch  auch  die  Auffassung  dieses  Verhältnisses  bestim- 
mende Darstellung  wendet  Plotin  das  Gleichniss  des  Lichtes  an,  welches,  ohne 

1)  Insofern  finden  wir  hier  in  die  theologische  Form  umG^epräpTt  das  eleatisch- 
heraklitische  Anfangsproblem  der  griechischen  Metaphysik,  das  auch  den  Piatonismus  be- 
stimmte. 


§20.   Gott  und  Welt.  (Plotin.)  193 

damit  an  seinem  Wesen  einzubüssen  oder  selbst  in  Bewegung  zu  treten^  in  die 
Finsterniss  strahlt  und  um  sich  eine  Atmosphäre  der  Helhgkeit  derart  erzeugt, 
dass  dieselbe  von  dem  Quellpunkte  aus  immer  mehr  an  Intensität  abnimmt  und 
schUesslich  sich  von  selbst  in  die  Finsterniss  verliert.  So  sollen  auch  die  Wirk- 
ungen des  Einen  und  Guten,  je  mehr  sie  durch  die  einzelnen  Sphären  hindurch 
sich  von  demselben  entfernen,  immer  unvollkommener  werden  und  am  Ende  in 
das  finstere,  böse  Gegentheil  umschlagen,  —  die  Materie. 

Die  erste  Sphäre  dieser  göttlichen  Wirksamkeit  ist  nach  Plotin  der  Geist 
(voöc);  in  welchem  sich  die  erhabene  Einheit  in  die  Zweiheit  von  Denken  und 
Sein,  d.  h.  in  diejenige  des  Bewusstseins  und  seiner  Gegenstände  auseinander- 
legt. In  ihm  ist  das  Wesen  der  Gottheit  als  Einheitlichkeit  der  Denkfimction 
(vÖYjaK;)  erhalten :  denn  dies  mit  dem  Sein  identische  Denken  wird  nicht  als  eine 
anhebende  oder  aufhörende,  an  den  Gegenständen  etwa  wechselnde  Thätigkeit, 
sondern  als  die  immer  gleiche,  ewige  Anschauung  des  eigenen  wesensgleichen  In- 
haltes betrachtet.  Aber  dieser  Inhalt,  die  Ideenwelt,  den  Erscheinungen  gegen- 
über das  ewige  Sein  (oi>ata  in  platonischem  Sinn),  ist  als  intelhgible  Welt  (xöo[jlo<; 
voT]TÖ<;)  zugleich  das  Princip  der  Vielheit.  Denn  die  Ideen  sind  nicht  blos  Ge- 
danken und  Urbilder,  sondern  zugleich  die  bewegenden  Kräfte  (vo':-Sovd|ieic)  der 
niederen  Wirklichkeit.  Die  GrundbegriflFe  (Kategorien)  dieser  intelhgiblen  Welt 
sind  daher,  weil  in  ihr  Einheit  und  Mannichfaltigkeit  als  die  Principien  des  Be- 
harrens und  des  Geschehens  vereinigt  und  doch  wieder  getrennt  sind,  die  fünf  ^) : 
das  Seiende  (töSv),  die  Ruhe  (otäcjk;),  das  Geschehen  (xtvtjotc),  die  Identität 
(ta&TÖx>j<;)  und  die  Verschiedenheit  (stepönji;).  Der  Geist  also  als  inhaltlich  be- 
stimmte, die  Vielheit  in  sich  tragende  Function  ist  die  Gestalt,  durch  welche  die 
Gottheit  alle  empirische  Wirklichkeit  aus  sich  hervorgehen  lässt:  Gott  als  er- 
zeugendes Princip,  als  Weltgrund  ist  Geist. 

Aber  der  Geist  bedarf  nun  einer  ähnUchen  Ausstrahlung,  um  aus  sich  die 
Welt  zu  erzeugen;  sein  nächstes  Product  ist  die  Seele,  und  diese  wiederum  be- 
thätigt  sich  dadurch,  dass  sie  die  Materie  zur  Körperlichkeit  gestaltet.  Die  eigen- 
thümliche  Stellung  der  „Seele^  besteht  also  darin,  dass  sie  den  Inhalt  des  Geistes, 
die  Ideenwelt,  anschauend  empfangt  und  nach  diesem  Urbilde  (stxa)v)  das  Sinn- 
liche bildet.  Dem  schöpferischen  Geiste  gegenüber  ist  sie  das  empfangende,  der 
Materie  gegenüber  das  wirkende  Princip.  Und  diese  Dualität  der  Beziehungen 
auf  das  Höhere  und  das  Niedere  wird  hier  so  stark  betont,  dass  (ebenso  wie  der 
„Geist"  in  Denken  und  Sein  auseinanderging)  die  „Seele"  sich  für  Plotin  ge- 
radezu verdoppelte:  in  die  selige  Anschauung  der  Ideen  versunken,  ist  sie  die 
höhere,  eigentüche  Seele,  die  ^o/ti]  im  engeren  Sinne  des  Worts;  als  gestal- 
tende Bj^t  ist  sie  die  niedere  Seele,  die  y6ot<;  (gleich  dem  X6yo<;  oirepitatixöc  der 
Stoiker). 

Alle  diese  Bestimmungen  treffen  einerseits  die  allgemeine  Seele  (Weltseele 
—  Piaton)  andererseits  aber  auch  die  einzelnen  Seelen ,  welche  als  ihre  Sonder- 
gestaltungen von  ihr  ausgegangen  sind,  namentlich  also  auch  die  menschlichen 
Seelen.  Von  der  reinen  idealen  Weltseele  wird  die  <p{)ot<;,  die  gestaltende  Natur- 
kraft unterschieden :  aus  jener  emaniren  die  Götter,  aus  dieser  die  Dämonen. 
Unter  der  erkennenden  Seele  des  Menschen,  welche  sich  zu  dem  heimatlichen 

])  Aus  dem  Dialog  Sophistes  des  Corpus  platonicum  bekannten:  vgl«  daselbst  254  b  AT. 
Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  13 


194  n.  Hellenistisch-römisclie  Philosophie.  2.  llelij;riöse  Periode. 

Geiste  zurückschwingt,  steht  die  Lebenskraft,  welche  den  Leib  bildet.  So  er- 
scheint die  Scheidung  in  den  Merkmalen  des  Seeleubegriffs,  welche  sich  sachlich 
aus  dem  Dualismus  entwickelte  (vgl.  §  19,  3),  liier  formell  durch  den  Zusammen- 
hang des  metaphysischen  Systems  gefordert. 

Dabei  wird  diese  Wirkung  der  „Seele"  auf  die  Materie  zwar  selbstverständ- 
Uch  als  zweckmässig  aufgefasst,  weil  sie  ja  zuletzt  auf  den  Geist  und  die  Ver 
nunft  (k6^o(;)  zurückgeht,  aber  doch,  da  sie  Sache  der  niederen  Seele  ist,  als 
absichtsloses,  unbewusstes,  naturnoth wendiges  Walten  angesehen.  Wie  die 
äusseren  Strahlenschichten  des  Lichts  in  die  Pinstemiss  dringen ,  so  gehört  es 
zum  Wesen  der  Seele,  mit  ihrem  Glanz,  der  aus  dem  Geist  und  aus  dem  Einen 
stammt,  die  Materie  zu  durchleuchten. 

Diese  Materie  aber  —  und  das  ist  einer  der  wesentlichsten  Puncto  in  Plo- 
tin's  Metaphysik  —  darf  nicht  etwa  als  eine  für  sich  neben  dem  Einen  bestehende 
körperliche  Masse  angesehen  werden ,  sie  ist  vielmehr  selbst  körperlos,  immate- 
riell*). Zwar  werden  aus  ihr  die  Körper  gebildet,  aber  sie  selbst  ist  kein  Körper,  und 
da  sie  so  weder  geistiger  noch  körperlicher  Natur  ist,  so  kann  sie  durch  keine 
Eigenschaften  bestimmt  werden  (ättoioc).  Aber  diese  f^rkenntnisstheoretische 
Unbestimmbarkeit  gilt  nun  bei  Plotin  zugleich  als  metaphysische  Unbestimmtheit. 
Die  Materie  ist  ihm  die  absolute  Negativität,  die  reine  Privation  (aT^p7]'5tc),  die 
völlige  Abwesenheit  des  Seins,  das  absolute  Nichtsein:  sie  verhält  sich  zum 
Einen  wie  die  Pinstemiss  zum  Lichte ,  wie  die  Leere  zur  Fülle.  Diese  oXt]  der 
Neuplatoniker  ist  nicht  die  aristotelische  oder  die  stoische,  sondern  wiejder  die  pla- 
tonische :  es  ist  der  leere,  finstereRaum^).  So  weit  reicht  in  dem  antiken 
Denken  die  Wirkung  der  eleatischen  Identification  des  leer.en  Raums  mit  dem 
Nichtsein  und  der  demokritisch-platonischen  Weiterbildung  dieser  Lehre:  auch 
im  Neuplatonismus  gilt  der  Raum  als  die  Voraussetzung  tär  dieVervielföltigung, 
welche  die  Ideen  in  der  sinnlichen  Erscheinungswelt  finden.  Deshalb  ist  auch  bei 
Plotin  die  niedere,  für  die  Ausstrahlung  auf  die  Materie  bestimmte  Seele,  die 
^ooic,  das  Princip  der  Theilbarkeit  *),  während  die  höhere  Seele  die  dem  Geist 
verwandte  üngetheiltheit  besitzt. 

In  dieser  reinen  Negativität  begründet  es  sich  nun  aber,  dass  diese  eigen- 
schaftslose Materie  auch  durch  ein  Werthprädikat  bestimmt  werden  kann:  sie 
ist  das  Böse.  Als  der  absolute  Mangel  (irsvta  TravteXif]!;),  als  die  Negation  des 
Einen  und  des  Seins,  ist  sie  auch  die  Negation  des  Guten :  afcon'zia  «Ya^^oö.  In- 
dem aber  der  Begriff  des  Bösen  so  eingeflihrt  wird,  erhält  er  auch  seine  beson- 
dere Pormung :  das  Böse  ist  nicht  selbst  etwas  positiv  Vorhandenes ,  sondern  es 
ist  der  Mangel,  es  ist  das  Pehlen  des  Guten,  das  Nichtsein.  Diese  Begriffs- 
bildung gab  für  Plotin  ein  willkommenes  Argument  fiir  die  Theodicee:  wenn 
das  Böse  nicht  ist,  so  braucht  es  nicht  gerechtfertigt  zu  werden,  und  so  folgt  aus 
den  blossen  begrifflichen  Bestimmungen,  dass  alles,  was  ist,  gut  ist. 

Darum  ist  nun  für  Plotin  die  Sinnen  weit  nicht  an  sich  böse,  so  w^enig  wie 
sie  an  sich  gut  ist;  sondern  weil  in  ihr  das  Licht  in  die  Pinstemiss,  das  Eine  in 
die  Materie  übergeht,  weil  sie  somit  eine  Mischung  von  Sein  und  Nichtsein  dar- 


1)  ototufiaTo? :  Ennead.  III,  6,  7.  —  2)  Ibid.  III,  6,  18.  Der  allgemeine  leere  Raum 
bildet  die  Möglichkeit  (üitoxsifjLevov)  für  die  Existenz  der  Körper;  während  andererseits  die 
einzelne  Raumbestimmtheit  durch  das  Wesen  der  Körper  bedingt  ist:  II,  4,  12.  —  8)  Ibid. 

m,9,i. 


§80.  Oott  UD(1  Welt.   (PlotiD.)  195 

stellt  (der  platonische  Begiiff  der  -fävsaic  wird  hier  von  Neuem  mächtig),  so  ist 
sie  gut,  soferu  «ie  an  Gott  oder  dem  Guten  Theil  hat,  d.  b.  so  feto  sie  ist,  und 
so  ist  sie  böse,  sofern  sie  an  der  Materie  oder  dem  Bösen  Theilbat,  d.  Ii.  sofern 
sie  nicht  ist.  Das  wahre,  eigentliche  Böse  (zptäxw  x^xiv)  ist  die  Materie,  die 
Negation:  die  Körperwelt  darf  nur  böse  genannt  werden,  weil  sie  daraus  gestaltet 
ist,  sie  ist  das  secundäre  Böse  (Seürspov  xaxöv);  und  den  Seeleu  gebührt  das  Prä- 
dikat böse  nur,  wenn  sie  sich  der  Materie  hingehen.  Freitich  gehört  dies  Ein- 
gehen in  die  Materie  zu  den  weaentUchen  Merkmalen  der  Seele  seihst;  diese  bildet 
eben  diejenige  Sphäre,  durch  welche  die  Ausstrahlung  der  Gottheit  in  die  Materie 
übergeht,  und  dies  Theilnehmen  am  Bösen  ist  deshalb  iUr  sie  eine  Naturnoth- 
wendigkeit,  die  als  Fortsetzung  ihres  eigenen  Hervorgehens  ans  dem  Geiste  zu 
fassen  ist '). 

Durch  diese  Unterscheidung  der  Sinnenwelt  von  der  Materie  vermochte 
Plotin  auch  dem  Positiven  in  den  Erscheinungen  gerecht  zu  werden*).  Denn 
da  die  Urkraft  durch  Geist  und  Seele  hindurch  auf  die  Materie  wirkt,  so  ist 
hiernach  Alles,  was  in  der  Sinnenwelt  wahrhaft  ist,  offenbar  selbst  Seele  und 
Geist.  Hierin  wurzelt  die  SpirituaHsirung  der  Körperwelt,  die  Vergeistigung 
des  Universums,  welche  das  Charakteristische  von  Plotin's  Naturauffassung  bildet. 
Das  Materielle  ist  nur  die  äussere  Hülle,  hinter  der  als  das  waiirhafl  Wirkende 
Seelen  und  Geister  stecken.  Der  Körper  ist  das  Abbild  oder  der  Schatten  der 
Idee,  die  in  ihm  sich  der  Materie  eingebildet  hat,  sein  wahres  Wesen  ist  dies 
Geistige,  welches  in  dem  Sinnenbildc  ei-scheint. 

In  solchem  Durchleuchten  aber  der  idealen  Wesenbaftigkeit  durch  ihre 
sinnliche  Erscheinung  besteht  die  Schönheit:  vermöge  dieses  Einstrahlens  des 
geistigen  Lichts  in  die  Materie  ist  die  ganze  Sinnenwelt  und  ist  in  ihr  das  einzehie, 
seinem  Urbild  nachgestaltete  Ding  schön.  Hier  begegnet  uns  in  Plotin's  Ab- 
handlung Über  die  Schönheit  (Ennead.  I,  6)  dieser  Begriff  zum  ersten  Mal  unter 
den  Grundbegriffen  der  Weltanschauung :  es  ist  der  erste  Verauch  einer  meta- 
physischen Aesthetik.  Bis  hierher  trat  das  Schöne  immer  nur  in  Homonymie 
mit  dem  Guten  und  Vollkommenen  auf,  und  die  leisen  Anfänge  einer  Ablösung 
und  Veraelbständigung  des  Begriffs,  welche  Platon's  Symposion  enthielt,  sind 
eben  erst  von  Plotin  wieder  aufgenommen  worden:  denn  aucli  die  Theorie  der 
Kunst,  auf  welche  sich  die  ästhetische  Wissenschaft  beschränkte,  hat,  wie  es  am 
deutlichsten  in  dem  Bruchstück  der  aristotelischen  Poetik  hervortritt,  das  Schöne 
wesentlich  nach  seinen  ethischen  Wirkungen  betrachtet  (vgl.  g  13,  14).  Es  hat 
des  ganzen  Ahlaufs  der  antiken  Lehensbowegung  und  jener  Yerinnerltcliunf;, 
welche  sie  in  der  religiösen  Periode  erfuhr,  bedurft,  um  das  wissenschaftliche 


196  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.  2.  Religiöse  Periode. 

des  Geistes  in  der  Veräusserlichung  seiner  sinnlichen  Erscheinungen.  Auch  dieser 
Begriff  ist  ein  Triumph  des  Geistes^  der  in  der  Entfaltung  seiner  Thätigkeiten 
7.uletzt  sein  eigenes  Wesen  erfasst  und  als  Weltprincip  begriffen  hat. 

HinsichtUch  der  Erscheinungswelt  steht  also  Plotin  auf  einem  Standpunkte, 
den  man  als  Umdeutung  der  Natur  in  Seelenleben  bezeichnen  muss, 
und  so  erweist  sich;  dass  in  Betreff  dieser  Gegensätze  das  antike  Denken  seinen 
Lauf  von  einem  Extrem  zum  andern  beschrieben  hat :  die  älteste  Wissenschaft 
kannte  die  Seele  nur  als  eins  neben  den  vielen  anderen  Naturprodukten,  —  dem 
Neuplatonismus  gilt  die  ganze  Natur  nur  so  weit  als  wirklich,  als  sie  Seele  ist. 

Indem  aber  dies  idealistische  Princip  auf  die  Erklärung  der  einzelnen  Dinge 
und  Vorgänge  in  der  Sinnenwelt  angewendet  wird,  hört  alle  Nüchternheit  und 
Klarheit  der  Naturforschung  auf.  An  die  Stelle  gesetzmässiger  Causalzusammen- 
hänge  tritt  das  geheimnissvolle,  traumhaft  unbewusste  Weben  der  Weltseele,  das 
Walten  der  Götter  und  Dämonen,  die  geistige  Sympathie  aller  Dinge,  welche 
sich  in  wunderbaren  Beziehungen  unter  ihnen  ausspricht.  Alle  Foiinen  der 
Mantik,  Astrologie,  Wunderglaube  fliessen  von  selbst  in  diese  Naturbetrachtung 
ein,  und  der  Mensch  scheint  in  ihr  von  lauter  höheren,  geheimnissvoUen  Kräften 
umgeben :  diese  geistgezeugte,  seelenvolle  Welt  umfangt  ihn  als  ein  magischer 
Zauberkreis. 

Der  ganze  Hervorgang  der  Welt  aus  der  Gottheit  erscheint  somit  als 
eine  zeitlose,  ewige  Nothwendigkeit,  und  wenn  Plotin  auch  von  einer  periodischen 
Wiederkehr  derselben  Einzelgestaltungen  redet,  so  ist  ihm  doch  der  Weltprocess 
selbst  anfangs-  und  endlos.  Wie  es  zum  Wesen  des  Lichtes  gehört,  ewig  in  die 
Pinsterniss  zu  scheinen,  so  ist  Gott  nicht  -ohne  die  Ausstrahlung,  mit  der  er  aus 
der  Materie  die  Welt  erzeugt. 

In  diesem  allgemeinen  Geistesleben  verschwindet  dann  die  individuelle 
Pe^önlichkeit  als  eine  untergeordnete  Sondererscheinung.  Aus  der  Gesammt- 
seele  als  eine  ihrer  zahllosen  Entfaltungen  entlassen,  ist  sie  wegen  der  schuld- 
voUen  Neigung  zum  Nichtigen  aus  der  reineren  Präexistenz  in  den  Sinnenleib 
geworfen,  und  ihre  Aufgabe  ist,  sich  ihm  und  dem  materiellen  Wesen  überhaupt  zu 
entfremden  und  sich  von  ihm  wieder  zu  „reinigen".  Erst  wenn  ihr  dies  gelungen, 
kann  sie  hoffen  rückwärts  die  Stufen  zu  durchlaufen,  in  denen  sie  selbst  aus  der 
Gottheit  hervorgegangen  ist,  und  so  zu  dieser  zurückzukehren.  Der  erste  positive 
Schritt  zu  dieser  Erhebung  ist  die  bürgerliche  und  poUtische  Tugend,  durch 
welche  der  Mensch  sich  als  vernünftig  gestaltende  Kraft  in  der  Erscheinungswelt 
geltend  macht ;  aber  da  diese  sich  nur  in  Beziehung  auf  das  sinnliche  Object  be* 
thätigt,  so  steht  weit  über  ihr  (vgl.  Aristoteles)  die  dianoetische  Tugend  der  Er- 
kenntniss,  mit  der  sich  die  Seele  in  ihren  eigenen  geistigen  Lebensgehalt  versenkt: 
und  als  anregende  Hilfe  dazu  feiert  Plotin  die  Betrachtung  des  Schönen,  welche 
im  Sinnending  die  Idee  ahnt  und  in  der  Ueberwindung  der  Neigung  zur  Materie 
von  dem  sinnlich  Schönen  zum  geistig  Schönen  aufsteigt.  Und  auch  diese  dianoe- 
tische Tugend,  diese  ästhetische  d^iüpla  und  Selbstanschauung  des  Geistes  ist 
nur  die  Vorstufe  für  jene  ekstatische  Verzückung,  mit  der  das  Individuum  zu 
bewusstloser  Einheit  mit  dem  Weltgrunde  eingeht  (§  18,  6).  Das  Heil  und  die 
Seligkeit  des  Individuums  ist  sein  Untergang  in  das  All-Eine. 

Die  späteren  Neuplatoniker,  schon  Forphyrios,  noch  mehr  aber  Jamblichos  und  Proklos 
betonen  bei  dieser  Erhebung  weit  mehr  als  Plotin  die  Hilfe,  welche  das  Individuum  daeu  in 


§20.  Gott  und  Welt.  (Neuplatoniker.)  197 

der  positiven  Religion  und  in  ihren  Cultushandlungen  finde.  Da  nämlich  diese  Männer  die 
verschiedenen,  von  ihnen  noch  stark  vermehrten  Stu^n  der  Abfolge  der  Welt  aus  dem  „Einen" 
durch  allerlei  mehr  oder  minder  willkürlidhe  Allegorien  mit  den  Göttergestalten  der  ver- 
schiedenen ethnischen  Religionen  identificirten,  so  lag  es  nahe  bei  der  Rückkehr  der  Seele  zu 
Gott,  welche  ja  dieselben  Stufen  bis  zur  ekstatischen  Vergottung  zu  durchlaufen  haben  sollte, 
die  Unterstützung  dieser  niederen  Götter  in  Anspruch  zu  nehmen:  und  wie  die  Metaphysik 
der  Neuplatoniker  in  Mythologie,  so  artete  ihre  Ethik  intheurgische  Künste  aus. 

8.  Im  Ganzen  folgt  hiernach  die  plotinische  Ableitung  der  Welt  aus  Gott 
trotz  aller  Verinnerlichung  und  Vergeistigung  der  Natur  doch  dem  physischen 
Schema  des  Geschehens.  Diese  Ausstrahlung  der  Dinge  aus  der  Urkraft  ist  eine 
ewige,  im  Wesen  der  letzteren  begründete  Nothwendigkeit,  das  Erzeugen  ist  be- 
wusstlos  und  absichtslos  zweckmässiges  Wirken. 

Zugleich  aber  spielt  in  diese  Auffassung  ein  logisches  Motiv  hinein, 
welches  in  dem  altplatonischen  Charakter  der  Ideen  als  Gattungsbegriffe  seinen 
Ursprung  hat.  Wie  nänüich  die  Idee  zu  den  einzelnen  SinnendingeU;  so  verhält 
sich  zu  den  Ideen  wieder  die  Gottheit  wie  das  Allgemeine  zu  dem  Besonderen: 
Gott  ist  das  absolut  Allgemeinste,  und  nach  einem  Gesetz  der  formalen  Logik, 
wonach  die  Begriffe  an  Inhalt  um  so  ärmer  werden,  je  mehr  ihr  Umfang  wächst, 
sodass  dem  Umfang  cx)  der  Inhalt  O  entsprechen  muss,  ist  das  absoliut  Allge- 
meinste auch  der  inhaltlose  Begriff  des  „Ersten".  Wenn  aber  aus  diesem  Ersten 
zunächst  die  intelligible,  sodann  die  psychische,  endUch  die  sinnliche  Welt  hervor- 
gehen soll,  so  entspricht  dies  metaphysische  Verhältniss  dem  logischen  Processe 
der  Determination  oder  der  Partition.  Dieser  Gesichtspunkt,  wonach 
durchweg  das  Allgemeinere  als  die  höhere,  metaphysisch  ursprünglichere  Wirk- 
lichkeit betrachtet  und  durch  eine  Hypostasirung  der  syllogistischen  Methode  des 
Aristoteles  (vgl.  §  12,  3)  das  Besondere  auch  seiner  metaphysischen  KeaUtät 
nach  als  ein  Produkt  aus  dem  Allgemeineren  abgeleitet  werden  soll,  ist  unter  den 
älteren  Neuplatonikem  hauptsächlich  von  Porphyriosin  seiner  Einleitung  zu 
den  Kategorien  des  Aristoteles  ausgesprochen  worden. 

Indessen  sah  nun  Proklos,  der  dieses  logische  Schema  der  Emanation 
methodisch  durchzuführen  unternahm  und  diesem  Princip  zu  Liebe  z.  B.  dem 
obersten,  völUg  merkmallosen  h  zunächst  eine  Anzahl  einfacher,  ebenfalls  uner- 
kennbarer „Henaden"  unterordnete,  sich  auch  in  der  Nothwendigkeit,  für  dies 
logische  Hervorgehen  des  Besonderen  aus  dem  Allgemeineren  noch  ein  eigenes 
dialectischesPrincipin  Anspruch  zu  nehmen.  Einen  solchen  Schematismus 
fand  der  Systematisator  des  Hellenismus  in  dem  logisch-metaphysischen  Verhält- 
niss, welches  Plotin  der  Entwicklung  der  Welt  aus  der  Gottheit  zu  Grunde  gelegt 
hatte.  Der  Hervorgang  des  Vielen  aus  dem  Einen  bringt  es  mit  sich,  dass  einer- 
seits das  Besondere  dem  Allgemeinen  ähnlich  bleibt  und  somit  die  Wirkung  in 
der  Ursache  behan-t,  andererseits  aber  dies  Erzeugte  als  ein  Neues,  Selbständiges 
dem  Erzeugenden  gegenüber  und  aus  ihm  heraus  tritt,  endlich  aber  vermöge  eben 
dieses  antithetischen  Verhältnisses  das  Einzelne  wieder  zu  seinem  Grunde  zurück- 
strebt. Somit  sind  Beharren,  Heraustreten  und  Zurückkehren  ((loviijj 
;rpöo8o<;,  iTrtotpoy tJ)  oder  Identität,  Verschiedenheit  und  Verknüpfung  des  Unter- 
schiedenen die  drei  Momente  des  dialectischen  Processes,  und  Proklos  presste 
in  diese  Formel  der  emanatistischen  Entwicklung,  vermöge  deren  jeder  Begriff 
in  sich  —  aus  sich  —  in  sich  zurückkehrend  gedacht  werden  sollte,  die  gesammte 
metaphysisch-mythologische  Construction,  womit  er  in  einer  immer  dreigliedrig 
sich  weiter  spaltenden  Stufenfolge  der  begrifflichen  Determination  zugleich  den 


198  IL  HelleniBtisch-römischc  Philosophie.  9.  Religiöse  Periode. 

Göttersysteraen  der  verschiedenen  Religionen  ihren  Platz  in  dem  mystisch-magi- 
schen Weltzusammenhange  anzuweisen  wusste '). 

9.  Demgegenüber  besteht  nun  die  Eigenthümlichkeit  der  christlichen 
Philosophie  wesentlich  darin,  dass  sie  in  der  Auflassung  des  Verhältnisses 
von  Gott  und  Welt  durchweg  den  ethischen  Gesichtspunkt  des  freien  schöpfe- 
rischen Thuns  zur  Geltung  zu  bringen  gesucht  hat.  Indem  sie  von  ihrer  reUgiösen 
Ueberzeugung  aus  an  dem  Begriflfe  der  Persönlichkeit  des  Urwesens  fest- 
hielt, fasste  sie  den  Hervorgang  der  Welt  aus  Gott  nicht  als  physische  oder 
logische  Nothwendigkeit  der  Wesensentfaltung,  sondern  als  einen  Act  des 
Willens  auf,  und  in  Folge  dessen  galt  ihr  die  Weltschöpfung  nicht  als  ein 
ewiger  Process,  sondern  als  eine  einmalige,  zeitliche  Thatsache.  Der 
BegiifF  aber,  in  dem  sich  diese  Gedankenmotive  concentrirten,  war  derjenige  der 
Willensfreiheit. 

Der  Begriff  der  letzteren  hatte  zuerst  den  Sinn  gehabt,  der  endlichen,  sitt- 
lich handelnden  Persönlichkeit  die  Fähigkeit  einer  von  äusserem  Einfluss  und 
Zwang  unabhängigen  Entscheidung  zwischen  verschiedenen  gegebenen  Möglich- 
keiten zuzuerkennen  (Aristoteles);  er  hatte  sodann  die  metaphysische  Bedeutung 
einer  ursachlosen  Thätigkeit  einzelner  Wesen  angenommen  (Epikur):  auf  das 
Absolute  angewendet  und  als  Eigenschaft  Gottes  betrachtet,  wird  er  in  der  christ- 
lichen Philosophie  zu  dem  Gedanken  der  „Schöpfung  aus  Nichts",  zu  der  Lehre 
einer  ursachlosen  Erzeugung  der  AVeit  aus  dem  Willen  Gottes  umgebildet. 
Damit  wird  jeder  Versuch  einer  Erklärung  der  Welt  abgelehnt:  die  Welt  ist, 
weil  Gott  sie  gewollt  hat,  und  sie  ist  so,  wie  sie  ist,  weil  Gott  sie  so  gewollt  hat. 
An  keinem  Punkte  ist  der  Gegensatz  zwischen  Neuplatonismus  und  rechtgläu- 
bigem Chris tenthum  schärfer  als  an  diesem. 

Indessen  wird  nun  eben  dasselbe  Princip  der  Willensfreiheit  angewendet, 
um  die  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  welche  sich  aus  ihm  selbst  ergaben.  Denn 
die  schrankenlose  Schöpferfreiheit  des  allmächtigen  Gottes  treibt  noch  energischer 
als  in  den  anderen  Weltanschauungen  das  Problem  der  Theodicee  hervor,  wie 
dabei  mit  seiner  Allgüte  die  Realität  des  Bösen  in  der  Welt  vereinbar  sei.  Der 
Optimismus  der  AVeltschöpfungslehre  und  der  Pessimismus  des  Er- 
lösungsbedürfnisses, das  theoretische  und  das  praktische,  das  metaphysische 
und  das  ethische  Moment  der  religiösen  Ueberzeugung  stossen  hart  auf  einander. 
Den  Ausweg  aber  aus  diesen  Schwierigkeiten  findet  der  von  dem  Verantwort- 
lichkeitsgefiihl  getragene  Glaube  in  der  Annahme,  dass  Gott  die  Geister  und 
Menschenseelen,  die  er  schuf,  mit  einer  der  seinigen  analogen  Freiheit  ausge- 
stattet habe  und  dass  dann  durch  deren  Schuld  das  Böse  in  die  gute  Welt  ge- 
kommen sei^). 

Diese  Schuld  finden  die  kii*chhchen  Denker  nicht  eigentlich  in  der  Neigung 
zur  Materie  oder  zum  Sinnlichen :  denn  die  Materie  kann  als  von  Gott  geschaffen 
an  sich  nicht  böse  sein*).  Die  Sünde  der  freien  Geister  besteht  vielmehr  in  ihrer 

1)  Persönlich  charaktcrisirt  sich  dabei  Prokies  durch  eine  merkwürdige,  psychologisch 
höchst  intcresRante  Mischung  von  logischem,  bis  zur  Pedanterie  getriebenem  Formalismus  und 
überschwänglichcr,  wundergläubigster  Frömmigkeit :  er  ist  gerade  damit  vielleicht  der  aus- 
gesprochenste T^'pus  dieser  Zeit,  welche  ihre  inbrünstige  Religiosität  in  ein  wissenschaftliches 
System  umzusetzen  bemüht  ist. —  2)  Begrifflich  wird  das  von  Clemens  Alex.  (Strom.  IV,  13,605) 
so  ausgedrückt,  dass  das  Böse  nur  Handlung,  nicht  Substanz  (oüaia)  sei  und  deshalb  nicht 
als  Gottes  Werk  betrachtet  werden  könne.  —  8)  Deshalb  gerade  mussto  der  metaphysische 


§20.  Gott  und  Welt.  (Origenes.)  199 

Empörung  gegen  den  Willen  Gottes,  in  ihrer  Sehnsucht  nach  eigener,  schranken- 
loser Selbstbestimmung  und  erst  secundär  darin,  dass  sie  ihre  Liebe  statt  Gott 
seinen  Schöpfungen,  der  Welt,  zugewendet  haben.  Inhaltlich  waltet  also  auch  hier 
im  Begriff  des  Bösen  das  negative  Moment ')  der  Abkehr  und  des  Abfalls  von 
Gott  vor :  aber  der  ganze  Ernst  des  religiösen  Bewusstseins  macht  sich  darin 
geltend,  dass  dieser  Abfall  nicht  bloss  als  Abwesenheit  des  Guten,  sondern  als 
ein  positiver,  verkehrter  Willensact  aufgefasst  wird. 

Zwar  zieht  sich  hiernach  der  Dualismus  von  Gott  und  Welt  und  damit 
derjenige  von  Geist  und  Materie  auch  tief  in  die  christliche  Weltanschauung 
hinein.  Gott  und  das  ewige  Leben  des  Geistes,  die  Welt  und  das  vergängliche 
Leben  des  Fleisches,  —  sie  stehen  sich  auch  hier  schroff  genug  gegenüber.  Ln 
Widerspruch  mit  dem  göttlichen  Pneuma  ist  die  Sinnenwelt  von  „hylischen" 
Geistern^),  bösen  Dämonen  erfüllt,  die  den  Menschen  in  ihr  gottfeindliches  Treiben 
verstricken,  die  Stimme  der  allgemein-natürlichen  Offenbarung  in  ihm  ersticken 
und  dadurch  die  besondere  Offenbarung  nothwendig  machen :  und  ohne  die  Ab- 
kehr von  ihnen  und  von  dem  sinnlichen  Wesen  ist  auch  für  die  altchristliche  Ethik 
keine  B.ettung  der  Seele  möglich. 

Allein  seinem  eigentlichen  Wesen  nach  gilt  doch  dieser  Dualismus  hier 
weder  als  nothwendig  noch  als  ursprünglich :  es  ist  nicht  der  Gegensatz  zwischen 
Gott  und  der  Materie,  sondern  derjenige  zwischen  Gott  und  den  gefallenen 
Geistern,  es  ist  der  rein  innerliche  Antagonismus  des  unendlichen 
und  des  endlichen  Willens.  In  dieser  Kichtung  hat  die  christliche  Philo- 
sophie durch  Origenes  die  metaphysische  Vergeistigung  und  Verinner- 
lichung  der  Sinnenwelt  vollzogen.  In  ihr  erscheint  die  Körperwelt  ebenso  von 
geistigen  Functionen  durchsetzt  und  getragen,  ja  ebenso  in  geistige  Functionen 
aufgelöst  wie  bei  Plotin ;  aber  das  Wesentliche  dieser  Functionen  sind  hier  die  Ver- 
hältnisse des  Willens.  Wie  der  Uebergang  Gottes  in  die  Welt  nicht  physische 
Noth wendigkeit  sondern  ethische  Freiheit  ist,  so  ist  die  materielle  Welt  nicht 
eine  letzte  Ausstrahlung  von  Geist  und  Seele,  sondern  eine  Schöpfung  Gottes  zur 
Strafe  und  zur  Ueberwindung  der  Sünde. 

Freilich  hat  Origenes  in  die  Entwicklung  dieser  Gedanken  ein  dem  Neu- 
platonismus  verwandtes  Motiv  aufgenommen ,  welches  ihn  mit  der  Vorstellungs- 
weise der  Gemeinde  in  Conflict  brachte.  So  sehr  er  nämlich  an  dem  Begriffe 
der  göttlichen  Persönlichkeit  und  an  dem  der  Schöpfung  als  freier  That  göttlicher 
Güte  festliielt,  so  war  doch  das  wissenschaftliche  Denken,  welches  die  Handlung 
im  Wesen  begründet  sehen  will,  in  ihm  zu  mächtig,  als  dass  er  diese  Schöpfung 
als  einen  einmaligen ,  zeitlichen ,  ursachlosen  Act  hätte  ansehen  können.  Das 
ewige ,  unveränderliche  Wesen  Gottes  verlangt  vielmehr,  dass  er  von  Ewigkeit 
her  bis  in  alle  Ewigkeit  Schöpfer  ist,  dass  er  niemals  ohne  Schöpfung  sein  kann, 
dass  er  zeitlos  schafft  ^). 

Aber  diese  Schöpfung  des  ewigen  Willens  ist  deshalb  auch  nur  eine  solche, 
welche  sich  auf  das  ewige  Sein,  auf  die  geistige  Welt  (otioia)  bezieht.  In  dieser 


Dualismus  der  Gnostiker,  gleichviel  ob  er  mehr  orientalisch-mythologisches  oder  hellenistisch- 
bcgrifÜichejs  Gepräge  trug,  in  der  That  priocipicll  heterodox  sein,  wenn  er  auch  in  der  ethi- 
schen Consequenz  zum  grossen  Theil  mit  der  Kirchenlehre  zusammentraf. 

1)  In  diesem  Sinne  konnte  auch  Origenes  (In  Joh.  II  7,  65)  das  BÖse  xb  oüx  ov  nennen, 

2)  Tatian,  Orat.  ad  Graec.  4.  —  8)  Oi-ig.  de  princ.  I,  2,  10.  III,  4,  3. 


200  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Relif^iöse  Periode. 

ewigen  Weise  zeugt  Gott  —  so  lehrt  Origenes  —  den  ewigen  Sohn,  den  Logos 
als  den  Inbegriff  seiner  Weltgedanken  (lS^alS6d)v)  und  durch  ihn  das  Reich  der 
freien  Geister,  welches,  in  sich  begrenzt,  als  ewig  lebendiges  Kleid  die  Gott- 
heit umgiebt.  Diejenigen  nun  von  den  Geistern,  welche  in  der  Erkenntniss  und 
Liebe  des  Schöpfers  verharren,  bleiben  in  unveränderter  Seligkeit  bei  ihm:  die- 
jenigen aber,  welche  müde  und  nachlässig  werden  und  sich  in  Hochmuth  und  Auf- 
geblasenheit von  ihm  abwenden ,  werden  zur  Strafe  in  die  zu  diesem  Zwecke  ge- 
schaffene Materie  geworfen.  So  entsteht  die  Sinnen  weit,  die  also  nichts  Selb- 
ständiges, sondern  eine  symbolische  Veräusserlichung  der  geistigen  Functionen 
ist.  Denn  was  in  ihr  als  real  gelten  darf,  das  sind  nicht  die  einzelnen  Körper, 
sondern  vielmehr  die  geistigen  Ideen,  die  in  ihnen  verknüpft  und  wechselnd  an 
ihnen  vorhanden  sind  *). 

So  vereinigt  sich  bei  Origenes  der  Piatonismus  mit  der  Theorie  des  schöpfe- 
rischen Willens.  Die  ewige  Welt  der  Geister  ist  das  ewige  Erzeugniss  des  wandel- 
losen göttlichen  Willens.  Das  Princip  der  Zeitlichkeit  aber  und  der  Sinnlich- 
keit (Y^satc)  ist  der  w^echselnde  Wille  der  Geister:  um  ihrer  Sünde  willen  ent- 
steht die  Körperiichkeit,  und  mit  ihrer  Besserung  und  Reinigung  wird  sie  wieder 
verschwinden.  Damit  ist  als  der  letzte  und  tiefste  Sinn  aller  Wirklichkeit  das 
Wollen  und  das  Verhältniss  der  Persönlichkeiten  zu  einander,  ins- 
besondere dasjenige  der  endlichen  zu  der  unendlichen  Persönlichkeit  erkannt. 

%  21.  Das  Problem  der  Weltgeschichte. 

Mit  diesem  durch  das  Christenthum  besiegelten  Triumph  der  religiösen 
Ethik  über  die  kosmologische  Metaphysik  hängt  nun  das  Auftauchen  eines 
weiteren  Problems  zusammen,  welches  sogleich  eine  Reihe  bedeutsamer  Lösungs- 
versuche gefunden  hat:  des  geschichtsphilosophischen. 

1.  Hierin  tritt  der  griechischen  Weltanschauung  gegenüber  etwas  principiell 
Neues  zu  Tage.  Denn  die  Fragestellung  der  griechischen  Wissenschaft  war  von 
Anfang  an  auf  die  p<3t<;,  auf  das  bleibende  Wesen  gerichtet  (vgl.  S.  56),  und  diese 
aus  dem  Bedürfniss  der  Naturauffassung  hervorgegangene  Fragestellung  hatte  den 
Fortgang  der  Begriffsbildungen  so  stark  beeinflusst,  dass  der  zeitliche  Ablauf 
des  Geschehens  immer  nur  als  etwas  Secundäres  behandelt  wurde^  das  kein  eigenes 


1)  Sehr  ausführlich  hat  diese  Idealisirung  der  Sinnenwelt  der  bedeutendste  der  orien- 
talischen Kirchenväter,  Gregor  von  Nyssa  (331 — 394)  nach  ganz  platonischem  Muster  be- 
handelt. Seine  Hauptschrift  ist  der  Xo-fo?  xatYiv-riTixo? ;  Ausgabe  der  Werke  von  Morellus 
(Paris  1675).  Vgl.  J.  Rüpp,  G.  des  Bischofs  von  N.  Leben  und  Meinungen  (Leipzig  1834).  — 
Eine  höchst  poetische  Darstellung  hat  diese  Umsetzung  der  Natur  in  seelische  Bestimmungen  bei 
den  Gnostikern,  insbesondere  bei  dem  geistreichsten  derselben,  Valentin,  gefunden.  In  dessen 
theogonisch-kosmogonischer  Dichtung  wird  der  Ursprung  der  Sinnen  weit  so  geschildert:  als  der 
niederste  (weibliche)  der  Aeonen,  die  Weisheit  (ootpta)  in  übereilter  Sehnsucht  sich  in  den  Urgrund 
hatte  stürzen  wollen  und  von  dem  Geiste  des  Masses  (Spo^)  wieder  an  ihren  Platz  zurückgeführt 
worden  war,  da  löste  der  höchste  Gott  von  ihr  das  leidenschaftliche  Sehnen  (^cdd^g)  als  eine 
niedere  Weisheit  (xaio)  oo^pia),  Achamoth  genannt,  ab  und  verbannte  es  in  die  «Leere"  (vgl. 
§20, 4).  Diese  niedere  oo^^ia  jedoch,  zu  ihrer  Erlösung  von  8po^  befruchtet,  gebar  den  Demiurgen 
und  die  Sinnenwelt.  Desnalb  aber  spricht  sich  nun  m  allen  Formen  und  Gestalten  dieser  Welt 
jene  heisse  Sehnsucht  der  ao^pia  aus;  ihre  Gefühle  sind  es,  die  das  Wesen  der  Erscheinungen 
ausmachen,  ihr  Drängen  und  Klagen  zittert  durch  alles  Leben  der  Natur.  Aus  ihren  Thränen 
sind  Quellen,  Ströme  und  Meere,  aus  ihrem  Erstarren  vor  dem  göttlichen  Worte  sind  Felsen 
und  Berge,  aus  ihrer  Erlösungshoffnung  sind  Licht  und  Aether  geworden,  die  sich  versöhnend 
über  die  Erde  spannen.  Weiter  ausgenihrt,  mit  den  Klage-  und  Bussliedem  der  9091a  ist  diese 
Dichtung  in  der  gnostischen  Schrift  Iliatit  0091a. 


§  21.  Das  Problem  der  Weltgeschichte.  (Patriatik.)  201 

metaphysisches  Interesse  auf  sich  zog.  Dabei  betrachtete  die  griechische  Wissen- 
schaft nicht  nur  den  einzelnen  Menschen  y  sondern  auch  das  ganze  Menschen- 
geschlecht mit  allen  seinen  Geschicken^  Thaten  und  Leiden  doch  schliesslich  nur 
als  eine  Episode  y  als  eine  Sondergestaltung  des  ewig  in  gleichen  Gesetzen  sich 
wiederholenden  Weltprocesses. 

Das  spricht  sich  mit  schlichter  Grossartigkeit  in  den  kosmologischen  An- 
fangen des  griechischen  Denkens  aus,  und  auch  nachdem  in  der  Philosophie  die 
anthropologische  Richtung  zur  Herrschaft  gelangt  war,  blieb  doch  als  theore- 
tischer Hintergrund  für  jeden  Entwurf  der  Lebenskunst  der  Gedanke  lebendig, 
dass  das  Menschenleben ,  wie  es  aus  dem  immer  gleichen  Naturprocess  hervor- 
gequollen, so  auch  in  denselben  wieder  einmünden  solle  (Stoa).  Wohl  wurde 
nach  einem  letzten  Zweck  des  Erdenlebens  gefragt  (Piaton)  und  auch  wohl  die 
gesetzmässige  Reihenfolge  der  Gestaltungen  des  politischen  Lebens  untersucht 
(Aristoteles):  aber  die  Frage  nach  einem  Gesammtsinn  der  Menschen- 
geschichte, nach  einem  planvollen  Zusammenhange  der  historischen  Ent- 
wicklung war  niemals  aufgeworfen  worden,  und  noch  weniger  war  es  einem  dei* 
alten  Denker  eingefallen,  darin  das  eigentliche  Wesen  der  Welt  zu  sehen. 

Am  charakteristischsten  aber  verfahrt  gerade  in  dieser  Hinsicht  der  Neu- 
platonismus.  Auch  seine  Metaphysik  folgt  ja  dem  religiösen  Leitmotive;  aber  er 
wendet  dasselbe  echt  hellenisch;  wenn  er  den  Hervorgang  des  Unvollkommenen  aus 
dem  Vollkonmienen  als  einen  ewigen,  naturnothwendigenProcess  betrachtet,  in  dem 
auch  das  menschliche  Einzelwesen  seine  Stelle  findet  und  sich  darauf  angewiesen 
sieht,  für  sich  allein  durch  Rückkehr  zum  Unendlichen  sein  Heil  zu  suchen. 

2.  Das  Christen  th  um  aber  fand  von  vornherein  das  Wesen  des  ganzen 
Weltgetriebes  in  den  Erlebnissen  der  Persönlichkeiten:  ihm  war  die 
äussere  Natur  nur  ein  Schauplatz,  auf  dem  sich  das  Verhältniss  von  Person  zu 
Person  und  vor  allem  dasjenige  des  endlichen  Geistes  zur  Gottheit  entwickelte. 
Und  dazu  trat  als  weiterhin  bestimmende  Macht  das  Princip  der  Liebe^  das  Be- 
wusstsein  von  der  Solidarität  des  Menschengeschlechtes,  die  tiefe  Ueberzeugung 
von  der  allgemeinen  Sündhaftigkeit  und  der  Glaube  an  eine  gemeinsame  Erlösung. 
Dies  alles  führte  dazu,  dass  die  Geschichte  des  Sündenfalls  und  der  Erlösung  als 
der  wahre  metaphysische  Inhalt  der  Weltwirklichkeit  betrachtet  wurde,  und  dass 
statt  eines  ewigen  Naturprocesses  das  Drama  der  Weltgeschichte  als  eines 
zeitlichen  Ablaufe  freier  Willensthätigkeiten  zum  Inhalt  der  christlichen  Meta- 
physik wurde. 

Es  giebt  vielleicht  keinen  besseren  Beweis  für  die  Gewaltigkeit  des  Ein- 
drucks, den  die  Persönlichkeit  Jesu  von  Nazareth  hinterlassen  hatte,  als  die 
Thatsache,  dass  alle  Lehren  des  Christenthums,  so  weit  sie  sonst  philosophisch 
oder  mythisch  aus  einander  gehen  mögen,  doch  darin  einig  sind,  in  ihm  und  seinem 
Erscheinen  den  Mittelpunkt  der  Weltgeschichte  zu  suchen.  Durch  ihn 
wird  der  Kampf  zwischen  Gutem  und  Bösem ,  zwischen  Licht  und  Finsterniss 
entschieden. 

Dies  Siegesbewusstsein ,  mit  dem  das  Christenthum  an  seinen  Heiland 
glaubte,  hatte  aber  noch  eine  andere  Seite :  zu  dem  Bösen,  das  durch  ihn  über- 
wunden war,  gehörten  nicht  zum  mindesten  auch  die  anderen  Religionen.  Denn 
die  christliche  Vorstellung  jener  Tage  war  weit  davon  entfernt,  die  Realität  der 
heidnischen  Götter  zu  leugnen;  sie  sah  vielmehr  in  ihnen  böse  Dämonen,  gefallene 


202  n.  Hellenistisch-römische  Philosophie.   2.  Relij^öee  Periode. 

Geister,  welche  den  Menschen,  um  ihn  an  der  Heimkehr  zu  dem  wahren  Gotte 
zu  hindern,  verführt  und  zu  ihrer  Verehrung  überredet  haben  '). 

Dadurch  gewinnt  der  Kampf  der  Religionen,  der  sich  in  der  alexan- 
dtinischen  Periode  abspielte,  in  den  Augen  der  christlichen  Denker  selbst  meta- 
physische Bedeutung:  die  Mächte,  deren  Ringen  die  Weltgeschichte  bildet,  sind 
die  Götter  der  verschiedenen  Religionen,  und  die  Geschichte  dieses  Kampfes  ist 
die  innere  Bedeutung  aller  Wirklichkeit.  Und  indem  jeder  einzelne  Mensch  mit 
seiner  sittlichen  Lebensarbeit  in  diesen  grossen  Zusammenhang  verflochten  ist, 
hebt  sich  die  Bedeutung  der  Individualität  weit  über  das  Sinnenleben  hinaus  in 
die  Sphäre  metaphysischer  Realität. 

3.  Diesen  Zusammenhängen  gemäss  erscheint  dann  bei  fast  allen  christlichen 
Denkern  die  Weltgeschichte  als  ein  einmaliger  Ablauf  innerer  Begebenheiten, 
welche  die  Entstehung  und  das  Schicksal  der  Sinnen  weit  nach  sich  ziehen:  es  ist  im 
Wesentlichen  nur  Origenes,  der  an  dem  Grundcharakter  der  griechischen  Wissen- 
schaft (vgl.  Tbl.  I  Kap.  1,  S.  20)  insofern  festhielt,  als  er  die  Ewigkeit  des  Welt- 
processes  lehrte :  dieser  fand  zwischen  beiden  Motiven  den  Ausweg,  dass  er  aus 
der  ewigen  Geisterwelt,  die  er  als  unmittelbare  Schöpfung  Gottes  ansah,  eine 
Succession  zeitlicher  Welten  hervorgehen  liess,  die  je  mit  dem  Abfall  und  Sturz 
einer  Anzahl  freier  Geister  ihren  Anfang  nehmen  und  mit  deren  Erlösung  und 
Restitution  (a7roxaTdoTaat(;)  ihr  Ende  finden  sollten  *). 

Der  Grundzug  des  christlichen  Denkens  dagegen  geht  darauf,  das  welt- 
geschichtliche Drama  von  Sündenfall  und  Erlösung  als  einen  einmaligen  Zusammen- 
hang von  Begebenheiten  zu  schildern,  die  mit  einer  freien  Entscheidung  niederer 
Geister  zur  Sünde  beginnt  und  iliren  Wendepunkt  in  der  erlösenden  Offenbarung, 
dem  Entschluss  göttlicher  Freiheit,  hat.  Die  Geschichte  wird  —  den  natura- 
listischen Auffassungen  des  Griechenthums  gegenüber  —  als  das  Reich  ein- 
maliger freier  Handlungen  der  Persönlichkeiten  erfasst,  und  der 
Charakter  dieser  Handlungen  ist  d^m  gesammten  Zeitbewusstsein  gemäss  von 
wesentlich  religiöser  Bedeutung. 

4.  Höchst  interessant  ist  es  nun,  wie  in  den  mythisch-metaphysischen  Dich 
tungen  der  Gnostiker  sich  das  cigenthümliche  Verhältniss  des  Christenthuros 
zum  Juden thum  im  kosmogonischen  Gewände  zum  Ausdruck  bringt.  In  den 
gnostischen  Kreisen  überwiegt  die  sog.  heidenchristliche  Tendenz ,  welche  die 
neue  Religion  mögUchst  scharf  gegen  das  Judenthum  abgrenzen  will,  und  diese 
Tendenz  wächst  gerade  durch  die  hellenistische  Philosophie  bis  zu  offenster 
Feindschaft  gegen  das  Judenthum  an. 

Die  mythologische  Form  dafür  ist  die,  dass  der  Gott  des  alten  Testaments, 
der  das  mosaische  Gesetz  gegeben ,  als  der  Bildner  der  Sinnenwelt  —  meist 
unter  dem  platonischen  Namen  des  Demiurgen  —  betrachtet  wird  und  in  der 
Hierarchie  der  kosmischen  Gestalten  (Aeonen)  wie  in  der  Geschichte  des  Uni- 
versums denjenigen  Platz  angewiesen  erhält,  der  ihm  nach  dieser  Function 
gebührt. 

Anfänglich  ist  dies  Verhältniss  noch  nicht  dasjenige  ausgesprochenen 
Gegensatzes.    Schon  ein  gewisser  Kerinthos  (um  115)  unterschied  von  dem 


1)  So  selbst  Origenes,  vgl.  cont.  Geis.  III,  28.  —  2)  Orig.  de  princ.  III,  1,  3.  Diese 
Welten  sollen,  der  Freiheit  halber,  aus  der  sie  hervorgehen,  durchaus  nicht  einander  gleich, 
sondern  von  mannigfaltigster  Verschiedenheit  sein:  ibid.  II,  3,  3 f. 


§  21.  Das  Problem  der  Weltgeschichte,  (önostiker.)  203 

obersten  Gotte ,  der  durch  keine  Berührung  mit  der  Materie  befleckt  werden 
sollte,  den  Judengott  als  Demiurgen ')  und  lehrte ,  dass  dem  von  diesem  ge- 
gebenen „Gesetz"  gegenüber  Jesus  die  Offenbarung  des  höchsten  Gottes  gebracht 
habe.  Ebenso  erscheint  der  Judengott  bei  Saturninus  als  das  Haupt  der 
sieben  Planetengeister,  welche,  als  niedrigste  Emanation  des  Geisterreiches,  in 
dem  Gelüst  nach  Selbstherrschaft  ein  Stück  der  Materie  an  sich  reissen,  um 
daraus  die  Sinnenwelt  zu  bilden  und  als  Wächter  derselben  den  Menschen  ein- 
zusetzen: in  dem  Kampfe  aber,  der  sich  daraus  entspinnt,  da  Satanas,  um  jenes 
Stück  seines  Keichs  zurückzuerobern,  dem  Menschen  seine  Dämonen  und  das 
niedere,  „hylische"  Geschlecht  der  Menschen  entgegenschickt,  in  diesem  Kampfe 
erweisen  sich  die  Propheten  des  Demiurgen  als  machtlos,  bis  der  höchste  Gott 
den  Aeon  voöc  als  Heiland  sendet,  damit  er  die  pneumatischen  Menschen  und 
zugleich  auch  den  Demiurgen  und  seine  Geister  aus  der  Macht  des  Satans  befreie. 
Dieselbe  Erlösung  auch  des  Judengottes  lehrt  Basileides,  der  ihn  unter  dem 
Namen  des  „grossen  Archon"  als  Ausfluss  des  göttlichen  Weltsamens,  als 
Haupt  der  Sinnenwelt  einführt  und  ihn  durch  die  Heilsbotschaft  des  höchsten 
Gottes  in  Jesus  erschüttert  und  zur  Reue  wegen  seiner  Ueberhebung  geführt 
werden  lässt. 

In  ähnlicher  Weise  gehört  der  Gott  des  alten  Testaments  bei  Kar po- 
krates  zu  den  gefallenen  Engeln,  welche,  mit  der  Weltbildung  beauftragt,  sie 
nach  eigener  Willkür  vollziehen  und  gesonderte  Reiche  gründen,  in  denen  sie  von 
den  untergeordneten  Geisteni  und  den  Menschen  sich  selbst  verehren  lassen : 
während  aber  diese  besonderen  Religionen  sich  gegenseitig  befehden  wie  ihre 
Götter,  hat  die  höchste  Gottheit  in  Jesus,  wie  schon  vorher  in  den  grossen  Er- 
ziehern der  Menschheit,  einem  Pythagoras  und  Piaton,  die  Eine,  wahre,  universale 
Religion,  die  ihn  zum  Gegenstande  hat,  offenbart. 

In  entschiedener  Polemik  gegen  das  Judenthum  hatte  ferner  der  Syrer 
Kordon  den  Gott  des  alten  Testaments  von  dem  des  neuen  unterschieden:  der 
durch  Moses  und  die  Propheten  Verkündete  sei  als  der  zweckthätige  Weltbildner 
und  als  der  Gott  der  Gerechtigkeit  auch  der  natürlichen  Erkenntniss  zugänglich 
(—  der  stoische  Begriff  — );  der  durch  Jesus  Offenbarte  sei  der  unerkennbßxe, 
der  gute  Gott  (— -  der  philonische  Begriff).  In  scharfer  Zuspitzung  werden 
dieselben  Bestimmungen  bei'Marcion  (um  150*)  dazu  verwendet,  um  das  christ- 
liche, stark  asketisch  aufgefasste  Leben  als  einen  Kampf  gegen  den  Demiurgen 
und  für  den  höchsten,  durch  Jesus  offenbarten  Gott  zu  betrachten  %  und  sein 
Schüler  Apelles  behandelt  den  Judengott  gar  als  den  Lucifer,  der  in  die  Sinnen- 
welt, welche  von  dem  guten  „Demiurgen",  dem  obersten  Engel,  gebildet  worden 
ist,  die  fleischUche  Sünde  gebracht  habe,  sodass  auf  die  Bitte  des  Demiurgen  der 
höchste  Gott  ihm  den  Erlöser  entgegensendete. 

1)  Eine  Unterscheidung,  die,  ofTeubar  unter  gnostischen  Einflüssen,  auch  Numenios  auf- 
nahm :  vgl  Euseb.  praep.  ev.  XI,  18.  —  2)  Vgl.  Volkm  ar,  Pbilosophoumena  und  Marcion  (Theol. 
Jahrb.  Tübingen  1854).  Ders.,  Das  Evangelium  Marcion's  (Leipz.  1852).  —  8)  Eine  äusserst 
pikante  mythologische  Wendung  dieses  Gedankens  findet  sich  in  der  Sekte  der  Ophiten, 
welche  die  hebräische  Erzählung  des  Sündenfalls  dahin  umdeuten,  dass  die  Schlange,  die  im 
Paradies  den  Menschen  vom  Baum  der  Erkenntniss  essen  lehrte,  den  Anfang  machte,  um  dem 
unter  die  Herrschaft  des  Demiurgen  gefallenen  Menschen  die  Offenbarung  des  wahren  Gottes 
zu  bringen,  die  dann,  nachdem  der  Mensch  deshalb  den  Zorn  des  Demiurgen  erfahren,  in 
Jesus  siegreich  erschienen  sei.  Denn  diese  Erkenntniss,  welche  die  Schlange  lehren  wollte, 
sei  das  wahre  Heil  des  Menschen. 


204  H.  HellenlBtisch-römiscbe  Philosophie.  2.  Religiöse  Periode. 

5.  Dem  gegenüber  wird  nicht  nur  von  den  dem  Clemens  Romanus  zu- 
geschriebenen Recognitionen  (entstanden  etwa  160  n.  Chr. '),  sondern  in  der 
gesammten  orthodoxen  Entwicklung  der  christlichen  Lehre  daran  festgehalten, 
dass  der  höchste  Gott  und  der  Weltschöpfer;  dass  der  Oott  des  neuen  und  der 
des  alten  Testaments  derselbe  sei,  dafär  aber  eine  planvolle  erzieherische 
Entwicklung  seiner  Offenbarung  angenommen  und  in  dieser  die  Heils- 
geschichtC;  d.  h.  die  innere  Geschichte  der  Welt  gesucht.  Nach  den  Anregungen 
der  paulinischen  Briefe  ')  liaben  diesen  Standpunkt  Justinus  und  vor  Allem  Ire- 
naeus  eingenommen:  erst  in  dieser  geschieh tsphilosophischeu  Ausgestaltung  vol- 
lendet sich  ihre  Theorie  der  Offenbarung  (vgl,  §  18). 

Denn  die  einerseits  in  der  jüdischen  Prophetie  andererseits  in  der  helleni- 
schen Philosophie  auftauchenden  Antecipationen  der  christlichen  Offenbarung 
gelten  ihnen  unter  diesem  Gesichtspunkte  als  pädagogischeVorbereitungen 
für  die  letztere.  Und  da  nun  die  Erlösung  des  sündigen  Menschen  nach  chiist- 
lieber  Anschauung  den  einzigen  Sinn  und  Werthinhalt  der  Weltgeschichte  tind 
damit  der  gesammten  aussergöttlichen  Wirklichkeit  ausmacht,  so  erscheint  die 
planvolle  Reihenfolge  der  Offenbarungsthaten  Gottes  als  das  Wesent- 
liche in  dem  ganzen  Ablaufe  der  Weltbegebenheiten. 

Dabei  werden,  der  Lehre  von  der  Offenbarung  gemäss,  in  der  Hauptsache 
drei  Stufen  dieser  göttlichen  Heiiswirksamkeit  unterschieden  •) :  theoretisch 
die  allgemein-menschliche,  welche  objectiv  durch  die  Zweckmässigkeit  der  Na- 
tur, subjectiv  durch  die  vernünftige  Anlage  des  Geistes  gegeben  ist,  zweitens  die 
besondere,  dem  hebräischen  Volke  zu  Theil  gewordene  Vorbereitung  durch  das 
mosaische  Gesetz  und  die  Verheissungen  der  Propheten,  drittens  die  volle  Offen- 
barung durch  Jesus,  —  zeitlich  die  Perioden  von  Adam  bis  Moses,  von  Moses 
bis  Christus,  von  Christus  bis  zum  Weltende  *).  Diese  Dreitheilung  lag  dem  alten 
Christenthum  um  so  näher,  je  stärker  in  demselben  der  Glaube  lebte,  dass  die 
mit  dem  Erscheinen  des  Heilandes  begonnene  Schlussperiode  der  Welterlösung 
in  kürzester  Zeit  beendet  sein  würde.  Die  eschatologischen  Hoffnungen  sind 
ein  wesentlicher  Bestandtheil  der  altchristlichen  Metaphysik:  denn  die  Geschichts- 
philosophie, welche  Jesus  zum  Wendepunkt  der  Weltgeschichte  machte,  beruhte 
nicht  zum  wenigsten  auf  der  Erwartung,  dass  der  Gekreuzigte  wiederkehren  würde, 
um  die  Welt  zu  richten  und  den  Sieg  des  Lichtes  über  die  Pinsterniss  zu  voll- 
enden. So  verscliieden  sich  diese  Vorstellungen  mit  der  Zeit  und  mit  der  Ent- 
täuschung der  ersten  Hoffnungen  gestalteten,  so  sehr  sich  auch  hierin  die  Rich- 
tungen des  Dualismus  und  des  Monismus  geltend  machten,  indem  das  Weltgericht 
entweder  als  definitive  Trennung  des  Guten  und  des  Bösen  oder  als  volle  Ueber- 
windung  des  letzteren  durch  das  erstere  (aitoxatdataoK;  icdvTwv  bei  Origenes)  auf- 
gefasst  wurde,  und  so  vielfach  auch  hierin  materiellere  und  geistigere  Ansicht 
von  Seligkeit  und  Unseligkeit,  von  Himmel  und  Hölle  durch  einander  schillern, 


1)  Hrsg.  von  Gbbsdorf,  Leipzig  1838.  Vgl.  A.  HaoBNFELD,  Die  clementinischen  Re 
Cognitionen  und  Homilicn.  (Jena  1848).  G.  Uhlhorn,  Die  Homilien  und  Recognitionen  des 
Cl.  R.  (Göttinnen  1854).  —  2)  Welche  das  „Gesetz**  als  den  „Zuchtmeister**  auf  Christum 
(Kai^aftu-^b^  tl<;  yi^piaxov)  behandeln:  Gal.  3,  24.  —  8)  Zum  Theil  geschah  das  schon  von  den 
Gnostikem,  wenigstens  nach  Hippolyt  von  Basilides.  —  4)  Die  spätere  (häretische)  Ent- 
wicklung der  Eschatologie  fügte  diesen  drei  Perioden  noch  die  vierte  durch  das  Erscheinen 
des  „Paraklcten**  hinzu;  vgl.  z.  B.  TertuUian,  de  virg.  vel.  1,  p.  884  0. 


§  21.  Das  Problem  der  Weltgeschichte.   (Patristik.)  205 

—  immer  bildet  doch  das  Weltgericht  den  Abschluss  des  Erlösungswerkes  und 
damit  das  Endglied  des  göttlichen  Heilsplanes. 

6.  So  sind  es  zwar  ausschliesslich  religiöse  Gesichtspunkte,  unter  denen  die 
Weltgeschichte  von  den  christlichen  Denkern  betrachtet  wird ;  aber  es  kommt  in 
ihnen  das  allgemeinere  Princip  einer  historischen  Tele ologie  zum  Durch- 
bruch. Wenn  die  griechische  Philosophie  sich  in  die  Betrachtung  der  Zweck- 
mässigkeit der  Natur  mit  einer  Energie  vertieft  hatte;  welche  das  religiöse  Denken 
nicht  überbieten  konnte^  so  geht  hier  der  völlig  neue  Gedanke  auf;  dass  auch  der 
zeitliche  Ablauf  der  Begebenheiten  des  Menschenlebens  einen  zweckvollen  Ge- 
sammtsinn  habe,  lieber  der  Teleologie  der  Natur  erhebt  sich  diejenige  der  Ge- 
schichte; und  diese  erscheint  als  das  Werthvollere,  in  dessen  Dienst  jene  tritt  *). 

Eine  solche  Conception  war  nur  möglich  für  eine  Zeit;  welche  von  einem 
reifen  Resultat  her  auf  die  lebendige  Erinnerung  an  eine  grosse  weltgeschicht- 
liche Entwickelung  zurücksah.  Der  Weltcultur  des  Bömerreichs  dämmerte  in 
dem  Selbstbewusstsein  ihrer  Yerinnerlichung  die  Ahnung  eines  zweckvollen  In- 
einandergreifens  der  Yölkergeschicke  auf;  durch  welche  sie  selbst  zu  Stande  ge- 
kommen war;  und  die  Vorstellung  dieses  gewaltigen  Processes  ergab  sich  vor  Allem 
durch  die  ein  Jahrtausend  umspannende  continuirliche  Tradition  der  griechi- 
schen Litteratur.  Die  religiöse  Weltanschauung;  die  sich  aus  dieser  antiken 
Gesammtcultur  entwickelt  hattC;  gab  jenem  Gedanken  die  Form,  dass  der  Sinn 
der  historischen  Bewegung  in  den  Veranstaltungen  Gottes  zum  Heile  des  Men- 
schen zu  suchen  sei,  und  da  die  alten  Culturvölker  selbst  die  Zeit  ihres  Wirkens 
erfüllt  fühlten ,  so  ist  es  begreiflich ,  dass  sie  das  Ende  der  Geschichte  unmittel- 
bar vor  sich  da  zu  sehen  glaubten,  wo  die  Sonne  ihres  Tages  sich  senkte. 

Hand  in  Hand  aber  mit  dieser  Idee  einer  planvollen  Einheit  der  mensch- 
Uchen  Geschichte  geht  deshalb  auch  der  Gedanke  einer  über  Baum  und  Zeit  er- 
habnen Einheitlichkeit  des  Menschengeschlechtes.  Das  die  nationalen 
Schranken  durchbrechende  Bewusstsein  der  gemeinsamen  Cultur  vollendet  sich 
in  dem  Glauben  an  eine  gemeinsame  Offenbarung  imd  Erlösung  aller  Menschen. 
Indem  das  Heil  des  ganzen  Geschlechts  zum  Inhalt  des  göttlichen  Weltplans 
gemacht  wird,  erscheint  unter  den  Veranstaltungen  des  letzteren  als  die  vor- 
nehmste jene  Lebensgemeinschaft  (IxTcXiQda);  zu  der  alle  Glieder  des  Geschlechts 
durch  die  gläubige  Theilnahme  an  demselben  Erlösungswerke  berufen  sind.  In 
diesem  Zusammenhange  mit  der  reUgiösen  Geschichtsphilosophie  steht  der  aus 
dem  Leben  der  christlichen  Gemeinden  heraus  gebildete  Begriff  der  Kirche, 
unter  dessen  constitutiven  Merkmalen  somit  die  Allgemeinheit  (Katholicität)  eines 
der  wichtigsten  ist. 

7.  Auf  diese  Weise  wird  nun  aber  der  Mensch  und  sein  Geschick  zum 
Mittelpunkte  des  Universums.  Dieser  anthropocentrische  Charakter  unter- 
scheidet die  christliche  Weltansicht  wesentlich  von  der  neuplatonischen.  Wohl 
wies  auch  diese  dem  menschlichen  Individuum,  dessen  seelisch-geistiges  Wesen 
sie  ja  der  Vergottung  fähig  hielt,  eine  hohe  metaphysische  Stellung  an,  wohl  be- 
achtete sie  die  zweckvollen  Zusammenhänge  der  Natur  auch  unter  dem  (stoischen) 
Gesichtspunkte  ihrer  Zuträglichkeit  für  den  Menschen,  —  aber  niemals  würde 
der  Neuplatonismus  sich  dazu  verstanden  haben,  den  Menschen,  der  ihm  als  eine 


1)  Vgl.  Irenaeus,  Ref.  IV,  38,  4.  p.  702  f.  St. 


206  II»  Hellenistiach-röraische  Philosophie.   2.  Religiöse  Periode. 

Theilerscbeinung  der  göttlichen  Wirksamkeit,  galt,  fiir  den  Zweck  des  Ganzen  zu 
erklären. 

Gerade  dies  aber  ist  in  der  Patristik  der  Fall.  Nach  Irenaeus*)  ist  der 
Mensch  Ziel  und  Zweck  der  Schöpfung :  er  als  erkennendes  Wesen  ist  es,  dem 
Gott  sich  offenbaren  wollte,  und  um  seinetwillen  ist  das  Uebrige,  ist  die  ganze 
Natur  geschaffen;  er  ist  es  auch,  der  durch  den  Missbrauch  der  ihm  verliehenen 
Freiheit  die  weitere  Offenbarung  und  die  Erlösung  nöthig  gemacht  hat,  um 
dessen  willen  darum  auch  die  ganze  Geschichte  da  ist.  Der  Mensch  ist,  wie 
Gregor  von  Nyssa^)  lehrt,  als  höchste  Entfaltung  des  Seelenlebens  die  Krone  der 
Schöpfung,  ihr  Herrscher  und  König:  sie  ist  bestimmt,  von  ihm  augeschaut  und 
in  ihre  ursprüngliche  Geistigkeit  zurückgenommen  zu  werden.  Aber  auch  bei 
Origenes  sind  gerade  die  Menschen  jene  gefallenen  Geister,  die  zur  Strafe  und 
Besserung  mit  der  Sinnenwelt  bekleidet  werden:  nur  um  ihrer  Sünde  willen 
besteht  die  Natur,  und  sie  hört  wieder  auf,  wenn  der  historische  Process  durch 
die  Rückkehr  aller  Geister  zum  Guten  sein  Ende  erreicht  hat. 

So  hat  der  Anthropologismus,  der  zunächst  nur  als  eine  Verschiebung 
des  Interesses,  als  eine  Veränderung  der  Problemstellung  in  die  griechische 
Wissenschaft  eindrang,  während  der  hellenistisch-römischen  Zeit  sich  mehr  und 
mehr  auch  zum  sachlichen  Princip  der  Weltbetrachtung  entwickelt  und  zuletzt 
im  Bunde  mit  dem  rehgiösen  Bedürfniss  von  der  Metaphysik  Besitz  ergriffen. 
Das  Menschengeschlecht  hat  das  Bewusstsein  der  Einheit  seines  historischen 
Zusammenhanges  gewonnen  und  betrachtet  seine  Heilsgeschichte  als  das 
Mass  aller  endlichen  Dinge.  Was  in  Baum  und  Zeit  entsteht  und  vergeht, 
hat  seine  wahre  Bedeutung  nur  insofern,  als  es  in  die  Beziehung  des  Menschen 
zu  seinem  Gotte  aufgenommen  ist. 

Um  Sein  und  Werden  fragt  die  alte  Philosophie  an  ihrem  Anfange:  ihre 
Schlussbegriffe  sind  Gott  und  das  Menschengeschlecht. 


1)  Ref.  V,  29,  1.  p.  767  St.  —  2)  Conf.  I,  50--60.  Mor. 


207 


m.  Theü. 
Die  mittelalterliche  Philosophie. 

RoDSSELOT,  £tude8  sur  la  philosophie  du  moyen  age.  Paris  1840 — 42. 
£.  Haureau,  De  la  philosophie  scolastique.  Paris  1850. 

—  Histoire  de  la  philosophie  scolastique.   Paris  1872 — 80. 

A.  Stöckl,  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.   Mainz  1864 — 66. 

Als  die  Völkerwanderung  verheerend  über  das  römische  Reich  hereinbrac 
und  diesem  die  politische  Kraft  fehlte^  um  sich  der  nordischen  Barbaren  zu  er- 
wehren, da  gerieth  auch  die  wissenschaftliche  Kultur  in  die  Gefahr,  vollkommen 
zertreten  zu  werden:  denn  für  das  fein  ausgearbeitete  BegrifTsgefügeder  Philosophie 
brachten  die  Stämme,  auf  welche  nun  das  Scepter  überging,  noch  weniger  Sinn 
und  Yerständniss  mit,  als  fiir  die  lichten  Gestalten  der  griechischen  Kunst.  Und 
dabei  war  die  antike  Civilisation  so  in  sich  zersetzt  und  ihre  Lebenskraft  so  ge- 
brochen, dass  sie  unfähig  schien,  die  rauhen  Sieger  in  ihre  Schule  zu  nehmen. 

So  wären  die  Errungenschaften  des  griechischen  Geistes  rettungslos  dem 
Untergange  preisgegeben  gewesen,  wenn  nicht  mitten  in  dem  Zusammenbruch 
der  alten  Welt  eine  neue  geistige  Macht  erstarkt  wäre,  der  die  Söhne  des  Nordens 
sich  beugten  und  die  mit  fester  Hand  die  Güter  der  Kultur  über  die  Jahrhunderte 
des  Umsturzes  in  die  Zukunft  hinüberzuretten  wusste.  Diese  Macht  war  die 
christliche  Kirche.  Was  der  Staat,  was  Kunst  und  Wissenschaft  nicht  ver- 
mochte, das  vollbrachte  die  Rehgion.  Unzugätiglich  noch  für  die  feinen  Wirkungen 
aesthetischer  Anschauung  und  begrifflicher  Arbeit,  wurden  die  Germanen  in 
ihrem  tiefsten  Gefühl  durch  die  Predigt  des  Evangeliums  ergriffen,  das  mit  der 
ganzen  Gewalt  seiner  grossartigen  Einfachheit  auf  sie  wirkte. 

Nur  von  diesem  Punkte  der  religiösen  Erregung  aus  konnte  deshalb  der 
Process  der  Aneignung  der  antiken  Wissenschaft  durch  die  Völker  des  heutigen 
Europa  beginnen,  nur  an  der  Hand  der  Kirche  konnte  die  neue  Welt  in  die 
Schule  der  alten  gehen.  Die  natürliche  Folge  aber  dieses  Verhältnisses  war  die, 
dass  von  dem  geistigen  Inhalte  der  antiken  Kultur  zunächst  nur  dasjenige  lebendig 
blieb,  was  in  die  Lehre  der  christlichen  Kirche  aufgenommen  war,  und  dass  die 
lehrende  Macht  alles  Uebrige  und  besonders  das  ihr  Widerstrebende  mit  aller 
Rücksichtslosigkeit  ausschloss.  Damit  wurde  freilich  der  Verwirrung  in  dem 
jugendlichen  Gemüth  der  Völker,  das  noch  nicht  viel  und  vielerlei  zu  fassen  und 
zu  verarbeiten  vermocht  hätte,  weislich  vorgebeugt:  aber  damit  versanken  auch 
ganze  Welten  des  geistigen  Lebens  in  die  Tiefe,  aus  der  sie  erst  spät  unter  Mühe 
und  Kampf  wieder  hervorgezogen  werden  mussten. 

Der  grossen  Aufgabe,  die  Erzieherin  der  europäischen  Völker  zu  werden, 
war  aber  die  Kirche  in  erster  Linie  deshalb  gewachsen,  weil  sie  aus  den  unschein- 


208  in.  Mittelalterliche  Philosophie. 

baren  Anfangen  einer  religiösen  Genossenschaft  sich  mit  mächtiger  Stetigkeit  zu 
einer  einheitlichen  Organisation  entwickelt  hatte,  welche  in  der  Auflösung  des 
politischen  Lebens  die  einzige  feste  und  ihrer  selbst  sichre  Gewalt  dai-stellte. 
Und  da  diese  Organisation  von  dem  Gedanken  getragen  war,  dass  die  Kirche 
dazu  berufen  sei,  der  ganzen  Menschheit  das  Heil  der  Erlösung  zu  vermitteln,  so 
war  die  reUgiöse  Erziehung  der  Barbaren  eine  durch  ihr  eignes  Wesen  ihr  vor- 
geschriebene Aufgabe.  Um  so  mehr  aber  vermochte  sie  dieselbe  in  die  Hand 
zu  nehmen,  als  sie  auch  innerlich  mit  derselben  Sicherheit  zwischen  zahlreichen 
Abwegen  hindurch  zu  dem  Ziele  einer  einheitlichen,  in  sich  gesclüossenen  Lehre 
gelangt  war.  Dazu  aber  kam  noch  als  besonders  günstiger  Umstand,  dass  ihr 
an  der  Schwelle  des  neuen  Weltalters  die  Gesammtheit  ihrer  Ueberzeugungen 
als  ein  durchgebildetes  wissenschaftliches  System  von  einem  Geiste  ersten  Kanges 
dargeboten  wurde,  —  von  Augustin. 

Dieser  ist  der  währe  Lehrer  des  Mittelalters  gewesen.  In  seiner  Philosophie 
laufen  nicht  nur  die  Fäden  des  christhchen  und  des  neuplatonischen  Denkens, 
die  Ideen  des  Origenes  und  des  Plotin  zusammen,  sondern  er  hat  auch  mit 
schöpferischer  Energie  die  ganzen  Gedanken  seinerzeit  um  das  Heilsbedürfniss  und 
seine  Erfüllung  durch  die  kirchhche  Gemeinschaft  concentrirt:  seine  Lehre  ist 
die  Philosophie  der  christlichen  Kirche.  Damit  war  in  straffer  Einheit- 
Hchkeit  das  System  gegeben,  welches  der  wissenschaftlichen  Bildung  der  euro- 
päischen Völker  zu  Grunde  gelegt  wurde,  und  in  dieser  Form  traten  die  roma- 
nischen und  die  germanischen  Völker  die  Erbschaft  der  Griechen  an. 

Deshalb  aber  hat  das  Mittelalter  den  Weg,  welchen  die  Griechen  in  ihrer 
innerenBeziehungzur  Wissenschaft  durchgemacht  hatten,  umgekehrt  zurückgelegt. 
Im  Alterthum  war  die  Wissenschaft  aus  reiner,  aesthetischer  Freude  am  Erkennen 
selbst  entsprungen  und  war  erst  mit  allmählicher  Wandlung  in  den  Dienst 
des  praktischen  Bedürfnisses,  der  sittlichen  Aufgaben,  der  rehgiösen  Sehnsucht 
getreten.  Das  Mittelalter  beginnt  mit  der  vollbewussten  Unterordnung  des  Er- 
kennens  unter  die  grossen  Zwecke  des  Glaubens,  es  sieht  in  der  Wissenschaft 
zuerst  nur  die  Arbeit  des  Intellects,  sich  dasjenige  klar  zu  machen  und  begrifflich 
auszusprechen,  was  es  in  GeftLhl  und  Ueberzeugung  sicher  und  unanfechtbar  be- 
sitzt: aber  mitten  in  dieser  Arbeit  erwacht,  zuerst  schüchtern  und  unsicher, 
dann  immer  kräftiger  und  selbstgewisser  von  Neuem  die  Freude  am  Erkennen 
selbst,  sie  entfaltet  sich  zunächst' schülerhaft  auf  Gebieten,  welche  dem  unantast- 
baren Vorstellungskreise  des  Glaubens  ferner  zu  liegen  scheinen,  und  sie  bricht 
am  Ende  siegreich  wieder  durch,  indem  die  Wissenschaft  sich  gegen  den  Glauben, 
die  Philosophie  sich  gegen  die  Theologie  abzugrenzen  und  bewusst  zu  verselb- 
ständigen beginnt. 

Die  Erziehung  der  europäischen  Völker,  welche  die  Geschichte  der 
Philosophie  des  Mittelalters  darsteUt,  hat  also  zum  Ausgangspunkte  die  Elirchen- 
lelu*e  und  zum  Zielpunkte  die  Entwicklung  des  wissenschaftUchen  Geistes:  die 
intellectuelle  Kultur  des  Alterthums  wird  den  modernen  Völkern  in  ihrer  rehgiösen 
Endform  zugeführt  und  bildet  in  ihnen  allmählich  die  Reife  zu  eigner  wissenschaft- 
licher That  heran. 

Unter  solchen  Verhältnissen  ist  es  begreiflich,  dass  die  Geschichte  dieser 
Erziehung  weit  mehr  psychologisches  und  culturhistorisches  Interesse  erweckt, 
als  sie  neue  und  selbständige  Früchte  philosophischer  Einsicht  darbietet.  Wohl 


m.  Mittelalterliche  Philosophie.  209 

macht  sich  in  der  Aneignung  des  dargereichten  Stoffes  die  Eigenart  des  Schülers 
hie  und  da  geltend ;  wohl  finden  deshalb  die  Probleme  und  Begriffe  der  alten 
Philosophie  bei  dieser  Aufnahme  in  den  Geist  der  neuen  Völker  mancherlei 
feine  Umgestaltungen^  und  in  der  Ausschmiedung  der  neuen  (lateinischen)  Ter- 
minologie wetteifern  im  Mittelalter  oft  Scharfsinn  und  Tiefsinn  mit  Pedanterie 
und  Geschmacklosigkeit:  aber  in  den  philosophischen  Grundgedanken  bleibt  die 
mittelalterliche  Philosophie,  nicht  nur  was  die  Probleme,  sondern  auch  was  die 
Lösungen  anlangt,  in  dem  Begriffssystem  der  griechischen  und  der  hellenistisch- 
römischen Philosophie  eingeschlossen.  So  gross  der  Werth  ihrer  Arbeiten 
für  die  intellectuelle  Erziehung  der  europäischen  Völker  angeschlagen  werden 
muss ,  so  bleiben  doch  auch  ihre  höchsten  Erzeugnisse  in  letzter  Instanz  eben 
glänzende  Schülerleistungen,  in  denen  sich  nur  dem  Auge  feinster  Einzelforschung 
die  leise  keimenden  Anfange  eines  neuen  Denkens  entdecken,  die  aber  im  Ganzen 
und  Grossen  sich  als  Aneignung  der  Gedankenwelt  des  ausgehenden  Alterthums 
erweisen.  Die  mittelalterliche  Philosophie  ist  ihrem  ganzen  Geiste  nach  ledig- 
lich die  Fortsetzung  der  hellenistisch-römischen,  und  der  Unterschied  zwischen 
beiden  ist  wesentUch  der,  dass,  was  in  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeit- 
rechnung im  ringenden  Werden  war,  für  das  Mittelalter  als  ein  in  der  Hauptsache 
Fertiges  und  Abgeschlossenes  gegeben  ist  und  gilt. 

Ein  volles  Jahrtausend  hat  diese  Schulzeit  der  heutigen  Menschheit  gedauert, 
und  wie  in  planvoll  pädagogischer  Stufenfolge  schreitet  darin  die  Erziehung  zur 
Wissenschaft  durch  die  successive  Zufuhr  des  antiken  Bildungsstoffes 
vorwärts.  Aus  den  Gegensätzen,  die  in  diesem  zu  Tage  treten,  erwachsen  die 
philosophischen  Probleme,  und  aus  der  Ausspinnung  der  aufgenommenen  Begriffe 
gestalten  sich  die  wissenschaftlichen  Weltanschauungen  des  Mittelalters. 

Ein  ursprünglicher  Zwiespalt  besteht  in  dieser  Ueberlieferung  zwischen  der 
durch  Augustin  vertretenen  Kirchenlehre  und  dem  Neuplatonismus,  —  ein  Zwie- 
spalt, der  freilich  nicht  an  allen  Stellen  gleich  tief  ging,  da  Augustin  in  sehr 
wesentUchen  Punkten  unter  der  Herrschaft  des  Neuplatonismus  geblieben  war, 
aber  doch  ein  Gegensatz  in  Bezug  auf  die  fundamentale  Bestimmung  des  Ver- 
hältnisses der  Philosophie  zum  Glauben.  Der  Augustinismus  concentrirt  sich  um 
den  Begriff  der  Kirche;  für  ihn  ist  die  Aufgabe  der  Philosophie  in  der  Haupt- 
sache darauf  gerichtet,  die  Kirchenlehre  als  wissenschaftliches  System  darzustellen, 
zu  begründen  und  auszubilden:  insofern  als  sie  diese  Aufgabe  verfolgt,  ist  die 
mittelalterliche  Philosophie  die  kirchliche  Schulwissenschaft,  die  Scholastik. 
Die  neuplatonische  Tendenz  dagegen  läuft  darauf  hinaus,  das  Individuum  durch 
die  Erkenntniss  hindurch  zur  seligen  Lebenseinheit  mit  der  Gottheit  zu  führen: 
insofern  die  Wissenschaft  des  Mittelalters  sich  diesen  Zweck  selbst  setzt,  ist  sie 
Mystik. 

Scholastik  und  Mystik  ergänzen  sich  hiemach,  ohne  sich  gegenseitig  aus- 
zuschUessen:  so  gut  wie  das  mystische  Schauen  ein  Lehrstück  des  scholastischen 
Systems  werden  kann,  so  gut  vermag  auch  die  mystische  Verkündigung  das  Lehr- 
gebäude der  Scholastiker  als  ihren  Hintergrund  vorauszusetzen.  Darum  ist  zwar 
durch  das  ganze  Mittelalter  hindurch  die  Mystik  mehr  in  Gefahr,  heterodox  zu 
werden,  als  die  Scholastik;  aber  es  wäre  falsch,  wenn  man  hierin  ein  wesentliches 
Unterscheidungsmerkmal  zwischen  beiden  sehen  wollte.  Allerdings  ist  die  Scho- 
lastik in  der  Hauptsache  durchaus  rechtgläubig;  aber  nicht  nur  hinsichtlich  der 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  |4 


2 1 0  TIT.  Mittelalt^^rliche  Philosophie. 

Behandlung  noch  im  Werden  begriflfener  Dogmen  sind  die  Ansichten  der  Scho- 
lastiker weit  auseinander  gegangen^  sondern  auch  in  der  wissenschaftlichen  Unter- 
suchung der  gegebenen  Lehren  sind  viele  von  ihnen  zu  völlig  heterodoxen  An- 
sichten fortgeschritten,  deren  Aussprache  sie  in  mehr  oder  minder  schwere, 
äussere  und  innere  Confiicte  gebracht  hat.  Was  aber  die  Mystik  anlangt,  so  hat 
zwar  die  neuplatonische  Tradition  vielfach  den  theoretischen  Hintergrund  der 
geheimen  oder  offenen  Opposition  gegen  die  kirchliche  Monopolisirung  des  reli- 
giösen Lebens')  gebildet;  aber  wir  begegnen  andrerseits  begeisterten  Mystikern, 
welche  sich  berufen  fühlen,  den  rechten  Glauben  gegen  die  Ausschreitungen  der 
scholastischen  Wissenschaft  in  Schutz  zu  nehmen. 

Es  erscheint  somit  nicht  angemessen,  der  mittelalterlichen  Philosophie  den 
Gesammtnamen  der  „Scholastik"  zu  geben:  vielmehr  dürfte  sich  bei  genauer  Ab- 
wägung ergeben,  dass  an  der  Aufrechterhaltung  der  wissenschaftlichen  Tradition, 
wie  an  der  langsamen  Anpassung  und  Umbildung  der  für  die  Folgezeit  wirksamen 
philosophischen  Lehren  ein  mindestens  ebenso  grosser  Antheil  der  Mystik  ge- 
bührt wie  der  Scholastik,  und  dass  andrerseits  eine  scharfe  Sonderung  beider 
Strömungen  hinsichtlich  einer  grossen  Anzahl  gerade  hervorragender  philo- 
sophirender  Persönlichkeiten  d^s  Mittelalters  nicht  angängig  ist. 

Es  kommt  endlich  hinzu,  dass  auch  die  Zusammenstellung  von  Scholastik 
und  Mystik  die  Characteristik  der  mittelalterlichen  Philosophie  noch  keineswegs 
erschöpft.  Wenn  vielmehr  das  Wesen  dieser  beiden  Richtungen  durch  ihr  Ver- 
hältniss  zu  den  religiösen  Voraussetzungen  des  Denkens  —  hier  der  kirchlich 
fixirten  Lehre,  dort  der  persönlichen  Frömmigkeit  —  bestimmt  ist,  so  geht  neben 
denselben,  namentlich  in  den  späteren  tiahrhunderten  des  Mittelalters,  aber  doch 
auch  schon  früher  bemerkbar,  eine  sozusagen  weltliche  Nebenströmung  einher, 
welche  der  sich  neu  constituirenden  Wissenschaft  die  reichen  Ergebnisse  griechi- 
scher und  römischer  Welterfahrung  in  steigendem  Masse  zuftihrt.  Dabei  waltet 
anfangs  noch  das  Bestreben  ob,  auch  dies  weite  Kenntnissmaterial  und  die  das- 
selbe beherrschenden  BegriflFsformen  wenigstens  dem  scholastischen  Lehrgebäude 
organisch  einzufiigen:  aber  je  mehr  dieser  Theil  des  Gedankenkreises  zu  selb- 
ständiger Bedeutung  auswächst,  um  so  mehr  verschieben  sich  die  ganzen  Linien 
der  wissenschaftlichen  Weltbetrachtung,  und  während  die  gedankliche  Vermitt- 
lung des  rehgiösen  Gefühls  in  sich  vereinsamt,  beginnt  die  philosophische  Er- 
kenntniss  sich  von  Neuem  das  Gebiet  rein  theoretischer  Forschung  abzustecken. 

Aus  dieser  Mannigfaltigkeit  vielfach  in  einander  verflochtener  Fäden  der 
Tradition,  mit  der  sich  die  antike  Wissenschaft  in  das  Mittelalter  fortspinnt,  be- 
greift sich  die  farbenreiche  Lebendigkeit,  in  welcher  sich  die  Philosophie  dieses 
Jahrtausends  vor  der  historischen  Forschung  ausbreitet.  In  dem  bunten  Wechsel 
freundlicher  und  feindlicher  Berührung  schieben  sich  diese  Elemente  einer  von 
Jahrhundert  zu  Jahrhundert  an  Umfang  und  Inhalt  wachsenden  Ueberlieferung 
zu  immer  neuen  Bildern  durch  einander,  es  entwickelt  sich  eine  überrraschende 
Feinheit  der  Uebergänge  und  Abschattirungcn  in  der  Verschmelzung  dieser  Ele- 
mente und  damit  eine  reiche  Lcbensfülle  der  Gedankenarbeit,  die  sich  in  einer 
•  statthchen  Zahl  interessanter  Persönlichkeiten,  in  einem  erstaunlichen  Umfang 

1)  Vpfl.  H.  Keütrr,  Geschichte  der  relipriösen  Aufklärunpr  im  Mittelalter,  2  Bde.  Berlin 
1875 — 77.  Yfr].  auch  H.  v.  Eickkn,  Geschichte  der  mittelalterlichen  Weltanschauung.  Stutt- 
gart 1888. 


III.  Mittelalterliche  Philosophie.  211 

der  schriftstellerischen  Production,  in  einer  leidenschaftlichen  Bewegtheit  der 
wissenschaftlichen  Streitigkeiten  kundgiebt. 

Solcher  lebendigen  Vielgestaltigkeit  ist  die  litterar-historische  Forschung 
noch  keineswegs  überall  gerecht  geworden'):  aber  für  die  Geschichte  der  philo- 
sophischen Principien,  welche  trotz  alledem  in  diesem  Zeitraum  aus  den  an- 
geführten Gründen  nur  einen  mageren  Ertrag  findet,  liegen  doch  die  Grundlinien 
dieser  Entwicklung  schon  klar  und  deutlich  genug  zu  Tage.  Freilich  muss  man 
sich  dabei  hüten,  die  complicirte  Bewegtheit  dieses  Processes  auf  allzu  einfache 
Formeln  bringen  zu  wollen  und  die  Fülle  der  positiven  und  negativen  Beziehungen 
zu  übersehen,  welche  zwischen  den  im  Laufe  der  Jahrhunderte  stosswcise  in  das 
mittelalterliche  Denken  eintretenden  Elementen  der  antiken  Tradition  gewechselt 
haben. 

Im  Allgemeinen  ist  der  Gang  der  Wissenschaft  bei  den  europäischen 
Völkern  des  Mittelalters  in  folgenden  Zügen  verlaufen.    * 

Die  tiefsinnige  Lehre  des  Augustin  wirkte  zunächst  nicht  in  der  Richtung 
ihrer  philosophischen  Bedeutung,  sondern  als  autoritative  Darstellung  der  Kirchen- 
lehre. Neben  dieser  erhielt  sich  eine  neuplatonische  Mystik,  und  die  wissenschaft- 
liche Schulung  war  auf  unbedeutende  Compendien  und  auf  Bruchstücke  der 
aristotelischen  Logik  angewiesen.  Gleichwohl  entwickelte  sich  aus  der  Ver- 
arbeitung der  letzteren  ein  logisch-metaphysisches  Problem  von  grosser  Tragweite 
und  um  dasselbe  eine  sehr  lebhafte  Denkbewegung,  welche  jedoch  angesichts  des 
Mangels  an  inhaltlicher  Welterkenntniss  in  öden  Formahsmus  auszuarten  drohte. 
Im  Gegensatz  dazu  begann  allmählich  die  augustinische Psychologie  ihre  mächtige 
Kraft  geltend  zu  machen;  gleichzeitig  aberzeigten  sich  auch  die  ersten  Wirkungen 
der  Berührung  mit  der  arabischen  Wissenschaft,  der  das  Abendland  zunächst 
wenigstens  eine  gewisse  Anregung  zur  Beschäftigung  mit  den  Realien,  sodann 
aber  eine  totale  Ausweitung  und  Umgestaltung  seines  Gesichtskreises  verdanken 
sollte.  Der  Hauptsache  nach  knüpfte  sich  dies  an  die  auf  solchem  Umwege  ge- 
wonnene Bekanntschaft  mit  dem  ganzen  System  des  Aristoteles,  deren  nächste 
Folge  die  war,  dass  mit  Hilfe  seiner  metaphysischen  Grundbegriffe  das  Gebäude 
der  Kirchenlehre  in  grossartigstem  Styl  entworfen  und  in  alle  Theile  hinein  sorg- 
fältig ausgeführt  wurde.  Indessen  war  dabei  der  Aristotelismus  von  den  Arabern 
(und  den  Juden)  nicht  nur  in  ihrer  lateinischen  Uebersetzung,  sondern  auch  mit 
ihren Commentaren  und  in  ihrer  starl^  neuplatonisch  beeinflussten  Auffassung 
übernommen  worden,  und  während  dadurch  die  neuplatonischen  Bestandtheile 
der  bisherigen  Ueberlieferung  (auch  in  der  augustinischen  Form)  nach  ver- 

1)  Die  Gründe  dafür  liegen  allerdings  zum  Theil  in  den  erst  allmählich  schwindenden 
Vorurtheilen,  welche  einer  gerechten  Würdigung  des  Mittelalters  lange  im  Wege  standen ;  aber 
in  nicht  geringerem  Masse  doch  auch  in  dieser  Jjittcratnr  selbst.  Die  umständliche  und  zuletzt 
doch  meist  sterile  Weitschweifigkeit  der  Untersuchungen,  die  schematische  Einfüirmigkeit  der 
Methode,  die  stetige  Wiederholung  und  Neuwendung  der  Argumente,  die  Verschwendung  des 
Scharfsinns  an  künstliche  und  manchmal  geradezu  alberne  Fragen,  die  frostigen  Schulwitze, 
—  alles  das  sind  Züge,  welche  zwar  zu  dem  welthistorischen  Process  des  Lernens,  Aneignens 
und  Einübens,  den  die  mittelalterliche  Philosophie  nun  einmal  darstellt,  unumgänglich  ge- 
hören mochten,  welche  es  aber  auch  mit  sich  bringen,  dass  bei  dem  Studium  dieses  Theiles  der 
(ireschichte  der  Philosophie  die  Masse  des  Stoffs  und  die  Mühseligkeit  seiner  Durcharbeitung 
zu  dem  sachlichen  Gesammtertrage  in  ungünstigem  Verhältniss  stehen.  So  ist  es  gekommen, 
dass  gerade  solche  Forscher,  welche  sich  mit  Emsigkeit  und  Zähigkeit  in  die  mittelalterliche 
Philosophie  vertieften,  mit  dem  oft  derben  Ausdruck  des  Unmuths  über  ihren  Gegenstand 
nicht  zurückgehalten  haben. 

14* 


212  III.  Mittelalterliche  Philosophie. 

schiedenen  Eichtungeu  lebhafte  Verstärkung  fanden,  wurden  in  heftigem  Rück- 
schlag dagegen  die  specifischen  Momente  der  augustinischen  Metaphysik 
zu  schärferer  und  energischerer  Ausprägung  getrieben,  und  damit  bei  gleich- 
zeitiger Anlehnung  an  den  Aristotelismus  eine  Zwiespältigkeit  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  erzeugt,  welche  in  der  Trennung  von  Theologie  und  Philosophie 
ihren  Ausdruck  fand.  Diese  K3uft  erweiterte  sich  durch  eine  neue,  nicht  minder 
verwickelte  Verschiebung.  Hand  in  Hand  mit  dem  Aristotelismus  war  aus  dem 
Morgenlande  auch  die  empirische  Forschung  in  Medicin  und  Naturwissen- 
schaft eingedrungen,  sie  begann  sich  nun  auch  bei  den  europäischen  Völkern  zu 
regen,  sie  eroberte,  nicht  ohne  Beistand  der  augustinischen  Strömung,  auch  das 
Gebiet  der  Psychologie,  und  sie  begünstigte  die  Entwicklung  der  aristoteli- 
schen Logik  nach  einer  Richtung,  welche  von  der  kirchlich-aristotelischen  Meta- 
physik weit  ab  führte.  Und  während  so  die  verschlungenen  Fäden  der  Tradition 
nach  allen  Seiten  hin  aus  einander  liefen^  flochten  sich  in  diese  Auflösung  schon 
die  feinen  Gespinnste  neuer  Anfange  hinein. 

Mit  so  mannigfachen  Beziehungen  gegenseitiger  Unterstützung  oder  Hem- 
mung und  mit  so  zahlreichen  Frontveränderungen  ziehen  sich  die  Gedanken- 
massen der  alten  Philosophie  durch  das  Mittelalter  hin:  aber  die  wichtigste  und 
einschneidendste  Wendung  ist  zweifellos  die  Keception  des  Aristotelismus, 
welche  sich  um  das  Jahr  1200  herum  vollzog.  Sie  theilt  das  ganze  Gebiet  natur- 
gemäss  in  zwei  Abschnitte,  die  sich  ihrem  philosophischen  Gehalte  nach  so  zu 
einander  verhalten,  dass  sich  die  Interessen  und  Probleme,  die  Gegensätze  und 
Bewegungen  des  ersten  Zeitraums  während  des  zweiten  in  erweiterter  und  zu- 
gleich vertiefter  Form  wiederholen.  Das  Verhältniss  dieser  beiden  Abtheilungen 
kann  daher  in  diesem  Falle  nicht  allgemein  durch  sachliche  Verschiedenheiten 
bezeichnet  werden. 

1.  Kapitel  Erste  Periode 

(bis  etwa  1200). 

W.  Kaultch,  Geschichte  der  scholastischen  Philosophie  I.  Theil.  Prag  1863. 

Die  Gedankenrichtung  y  in  der  sich  die  mittelalterhche  Philosophie  im 
WesentUchen  bewegt  und  in  der  sie  dasjenige  erzeugt  hat,  wodurch  sie  die  Philo- 
sophie des  Alterthums  in  principieller  Hinsicht  fortführte,  war  ihr  durch  die  Lehre 
Augustinus  vorgeschrieben.  Dieser  hatte  das  Princip  der  Innerlichkeit, 
welches  sich  in  der  gesammten  Schlussentwicklung  der  antiken  Wissenschaft  vor- 
bereitete, zum  ersten  Mal  in  den  beherrschenden  Mittelpunkt  des  philosophischen 
Denkens  gerückt,  und  darum  gebührt  ihm  in  der  Gesammtgeschichte  der  Philo- 
sophie die  Stellung  des  Anfangsgliedes  einer  neuen  Entwicklungsreihe:  denn  die 
Zusammenschürzung  aller  Linien  der  patristischen  wie  der  hellenistischen  Philo- 
sophie seiner  Zeit,  die  er  abschliessend  vollzog,  war  doch  nur  möglich  durch  ihre 
bewusste  Vereinigung  in  jenem  neuen  Gedanken,  welcher  selbst  der  Keimpunkt 
der  Philosophie  der  Zukunft  werden  sollte.  Aber  erst  einer  ferneren  Zukunft: 
an  seinen  Zditgenossen  und  an  den  nächsten  Jahrhunderten  ging  seine  philo- 
sophische Originalität  wirkungslos  vorüber.  In  dem  Umkreise  der  alten  Cultur 
war  die  schöpferische  Kraft  des  Denkens  erloschen,  und  die  neuen  Völker  mussten 
erst  allmählich  in  die  wissenschaftliche  Arbeit  hineinwachsen. 


1.  Erste  Periode.  213 

In  den  Kloster-  und  Hofschulen^  welche  die  Stätten  dieser  neu  beginnen- 
den Cultur  bildeten,  musste  Schritt  für  Schritt  neben  den  für  die  Ausbildung  der 
Kleriker  nöthigsten  Künsten  die  Erlaubniss  zur  Lehre  der  Dialectik  erobert 
werden.  Für  diesen  elementar-logischen  Unterricht  besass  man  jedoch  in  den 
ersten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  nur  die  zwei  wenigst  bedeutenden  Schriften 
des  aristotelischen  Organen,  De  categoriis  und  De  interpretatione,  in  lateinischer 
üebersetzung  mit  der  Einleitung  des  Porphyrios  und  einer  Anzahl  von  Commen- 
taren  der  neuplatonischen  Zeit,  insbesondere  denjenigen  des  Boethius.  Für  die 
sachlichen  Kenntnisse  (des  Quadrivium)  dienten  die  Compendien  des  ausgehen- 
den Alterthums,  von  Marcianus  Capella,  Cassiodor  und  Isidor  von  Sevilla.  Von 
den  grossen  Originalwerken  der  alten  Philosophie  war  nur  der  platonische 
Timaeus  in  der  üebersetzung  des  Chalcidius  bekannt. 

Unter  diesen  Umständen  richtete  sich  der  wissenschaftUche  Schultrieb  in  der 
Hauptsache  auf  das  Erlernen  und  Einüben  des  formal-logischen  Schematismus, 
und  die  Behandlung  auch  ^der  sachUchen  Theile  der  Erkenntniss,  insbesondere 
des  religiösen  Dogmas,  welches  ja  als  ein  wesentlich  in  sich  Abgeschlossenes  und 
inhaltlich  Unantastbares  galt,  ging  darauf  hinaus,  das  Gegebene  und  Ueberlieferte 
in  den  Formen  und  nach  den  Regeln  der  aristotelisch-stoischen  Logik  durch- 
zuarbeiten und  darzustellen:  auf  die  formale  Ordnung,  auf  Bildung  und  Einthei- 
lung  der  Gattungsbegriffe,  auf  correcte  Schlussfolgen  musste  dabei  das  Haupt- 
gewicht fallen.  Wie  im  Orient  durch  Johannes  Damascenus  die  antike  Schullogik 
systematisch  in  den  Dienst  einer  streng  gegliederten  Entwicklung  der  Kirchen- 
lehre gestellt  wurde,  so  geschah  es  auch  in  den  Schulen  des  Abendlandes. 

Indessen  hatte  dieses  in  den  Verhältnissen  der  Ueberlieferung  begründete 
Treiben  nicht  nur  den  didaktischen  Werth  einer  Denkübung  in  der  Aneignung 
des  Stoffes,  sondern  auch  die  Folge,  dass  sich  die  Anfange  des  selbständigen  Nach- 
denkens auf  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  logischen  Beziehungen 
richten  mussten,  und  so  tauchen  denn  schon  früh  in  der  abendländischen  Litteratur 
Untersuchungen  über  das  Verhältniss  des  Begriffs  zum  Wort  einerseits  und  zur 
Sache  andrerseits  auf. 

Eine  Verstärkmig  erfuhr  diese  Problembildung^  durch  eine  eigenthümliche 
Complication.  Neben  der  kirchlichen  Lehre  bestand,  halb  noch  geduldet  und 
halb  verdammt,  eine  mystische  Ueberlieferung  des  Christenthums  in  neuplatoni- 
scher Form.  Sie  ging  auf  Schriften  zurück,  welche,  im  fünften  Jahrhundert 
entstanden,  dem  ersten  Bischof  von  Athen,  Dionysius  Areopagita,  zugeschrieben 
wurden,  und  sie  gewann  weitere  Verbreitung,  als  diese  Schriften  im  neunten  Jahr- 
hundert von  Johannes  Scotus  Erigena  übersetzt  und  zur  Grundlage  seiner 
eigenen  Lehre'^  gemacht  wurden.  In  dieser  aber  bildete  einen  Hauptpunkt  jene 
Identification  der  verschiedenen  Grade  der  Abstraction  mit  den  Stufen  der  meta- 
physischen Realität,  welche  schon  im  älteren  Piatonismus  und  Neuplatonismus 
aufgestellt  worden  war  (vgl.  §  20,  8). 

In  Folge  dieser  Anregungen  trat  während  der  nächsten  Jahrhunderte  die 
Fragenach  der  metaphysischen  Bedeutung  der  Gattungsbegriffe  in  den 
Mittelpunkt  des  philosophischen  Denkens.  Um  sie  gruppirten  sich  die  übrigen 
logisch-metaphysischen  Probleme,  und  nach  ihrer  Beantwortung  entschied  sich 
die  Parteistellung  der  einzelnen  Denker.  In  der  grossen  Mannigfaltigkeit  der 
Entscheidungen  dieses  Universalienstreites  treten  hauptsächlich  drei  Rieh- 


214  III.  Mittelalterliche  Philosophie. 

tungen  hervor:  der  Realismus,  welcher  die  selbständige  Existenz  der  Gattungen 
behauptet,  ist  die  Lehre  des  Anselm  von  Canterbuiy,  des  Wilhelm  von  Champeaux 
und  der  eigentlichen  Platoniker,  unter  denen  Bernhard  von  Chartres  hervorragt. 
Den  Nominalismus,  der  in  den  Universalien  nur  gemeinsame  Bezeichnungen 
sehen  will,  vertritt  in  dieser  Zeit  hauptsächlich  ßoscellinus.  Eine  vermittelnde 
Ansicht  endlich,  welche  Conceptualismus  bzw.  Sermonismus  genannt  wor- 
den ist,  knüpft  sich  vornehmlich  an  Abaelard. 

Diese  Streitigkeiten  kamen  hauptsächlich  in  den  endlosen  Disputationen 
an  der  Pariser  Universität  zum  Austrage,  welche  für  diese  Zeit  und  bis  in  den 
folgenden  Zeitraum  hinein  den  Mittelpunkt  des  wissenschaftlichen  Lebens  in 
Europa  gebildet  liat,  und  die  mit  allen  Künsten  dialectischer  Gewandtheit  ge- 
führten Kämpfe  übten  auf  dies  Zeitalter  eine  ähnlich  fascinirende  Gewalt  aus,  wie 
dereinst  die  Redekämpfo  der  Sophisten  und  der  sokratischen  Kreise  auf  die 
Griechen.  Hier  wie  dort  war  die  Unmittelbarkeit  des  Volksbewusstseins  ge- 
brochen, und  hier  wie  dort  bemächtigte  sich  weiter  Lebenskreise  ein  fieberhafter 
Durst  nach  Wissen  und  ein  leidenschaftliches  Begehren,  an  so  bisher  ungewohntem 
Geistesspiele  Theil  zu  nehmen.  Weit  über  die  engen  Kreise  der  Kleriker  hinaus, 
welche  bis  dahin  die  Träger  der  wissenschaftlichen  Ueberlieferung  gewesen  waren, 
kam  der  so  geweckte  Trieb  nach  Erkenntniss  zum  Durchbruch. 

Allein  diese  Ueberlebendigkeit  der  diabetischen  Entwicklung  fand  auch 
sogleich  mannigfache  Gegnerschaft.  In  der  That  barg  sie  in  sich  selbst  eine 
ernstliche  Gefahr.  Es  fehlte  dieser  glänzenden  Bethätigung  des  abstracten 
Denkens  an  allen  Grundlagen  realer  Kenntniss;  mit  ihren  Distinctionen  und 
Conclusionen  führte  sie  gewissermassen  in  der  freien  Luft  ein  gauklerisches  Spiel, 
das  zwar  die  formalen  Geisteskräfte  in  forderliche  Bewegung  setzte,  aber  trotz 
aller  Wendungen  und  Windungen  nicht  zu  inhaltlicher  Erkenntniss  führen  konnte. 
Daher  erging  von  verständigen  Männern  wie  Gerbert,  welche  von  den  empirischen 
Studien  der  Araber  Kenntniss  erhalten  hatten,  die  Mahnung,  von  jenem  Forma- 
hsmus  abzulassen  und  sich  der  sorgsamen  Erforschung  der  Natur  und  den  Auf- 
gaben der  praktischen  Cultur  zuzuwenden. 

AVährend  aber  ein  solcher  Ruf  noch  ziemlich  ungehört  verhallte,  stiess  die 
Dialectik  auf  einen  eindringhcheren  Widerstand  bei  der  Frömmigkeit  des  Glaubens 
und  bei  der  kirchlichen  Gewalt.  Es  konnte  nicht  ausbleiben,  dass  die  logische 
Verarbeitung  der  Glaubensmetaphysik  und  die  Consequenzen  der  in  dem  Uni- 
vei-salienstreit  zunächst  ganz  ohne  Rücksicht  auf  dieselbe  entwickelten  Ansichten 
mit  dem  Dogma  in  Widerspruch  geriethen,  und  je  mehr  sich  dies  wiederholte, 
um  so  mehr  erschien  die  Dialectik  nicht  nur  dem  einfach  frommen  Sinne  über- 
flüssig, sondern  auch  im  kirchUchen  Interesse  gefahrlich.  In  diesem  Sinne  ist  sie, 
zum  Theil  mit  äusserster  Heftigkeit  von  den  orthodoxen  Mystikern  bekämpft 
worden ;  der  streitbarste  unter  ihnen  war  Bernhard  von  Clairvaux,  während  die 
Victoriuer  sich  von  den  Auswüchsen  des  dialectischen  Uebermuthes  zum  Studium 
des  Augustin  zurückwandten  und  den  reichen  Schatz  der  inneren  Erfahrung, 
welchen  dessen  Schriften  enthalten,  zu  heben  suchten,  indem  sie  die  Grund- 
gedanken seiner  Psychologie  mehr  aus  dem  Metaphysischen  in  das  Empirische 
hinüberleiteten. 

Aurcli US  Augustinus  (354 — 430)  zu  Thagaste  in  Numidien  geboren  und  doi%  wie  in 
Madaura  und  Carthago  zum  Juristen  ausgebüdet,  machte  in  seiner  Jugend  fast  alle  Stand- 
punkte der  damaligen  wissenschaftlich- religiösen  Bewegung  durch,  suchte  zuerst  im  Manichäis- 


1.  Erste  Periode.  215 

mu8  für  seine  brennenden  Zweifel  religiöse  Kühlung,  fiel  dann  in  den  academischen  Skepticis- 
mus,  den  er  aus  Cicero  früh  eingesogen  hatte,  ^g  von  diesem  allmählich  zur  neuplatonischen 
Doctrin  über  und  wurde  endlich  durch  den  Mailänder  Bischof  Ambrosius  für  das  Christenthum 
gewonnen,  dessen  Philosoph  er  werden  sollte. 

Als  Priester  und  später  als  Bischof  zu  Hippo  Regius  ist  er  praktisch  und  litterarisch 
unermüdlich  für  die  Einheit  der  christlichen  Kirche  und  Lehre  thätig  gewesen ;  insbesondere 
hat  sich  seine  Dogmatik  in  dem  donatistischen  und  dem  pelagianischen  Streite  ausgebildet.  — 
Unter  seinen  Werken  (in  der  Migne'schen  Sammlung  16  Bde.  Paris  1835  ff.)  kommen  für  seine 
Philosophie  hauptsächlich  in  Betracht  die  Autobiographie  Confessiones,  femer  Contra  Aca- 
dcmicos.  De  beata  vita,  De  ordine,  De  quantitate  animae,  De  libero  arbitrio.  De  trinitate,  Soli- 
loquia,  Do  immortalitate  animae.  De  civitate  Dei.  —  Vgl.  C.  Bindbmann,  Der  hlg.  A.  (3  Bde. 
1844 — 1869).  —  Fr.  Böhbingeb,  Kirchengeschichte  in  Biographien,  XI.  Bd.  in  2  Thl.  (Stutt- 
gart 1877/78).  —  A.  DoBNBR,  A.  (Berlin  1873).  —  W.  Dilthey, Einleitung  in  die  Geisteswissen- 
schaften I  (Leipzig  1883)  S.  322  ff. 

Die  El;aYü>Y'r|  eU  toc?  xaiYjifoj/ta?  von  Porphyrios  (herausg.  von  Busse,  Berlin  1887)  hat 
in  ihrer  Uebersetzung  durch  Boethms  den  äusseren  Anlass  zu  dem  Univcrsalienstreit  gegeben. 
Boethius  (470—525)  hat  ausserdem  durch  seine  Uebersetzungen  und  Commentare  der  beiden 
aristotelischen  und  einer  Anzalil  ciceronianischer  Schriften  auf  das  früheste  Mittelalter  gewirkt. 
Zu  seinen  Büchern  traten  noch  andere,  welche  unter  dem  Namen  des  Augustin  umliefen.  Vgl. 
Prantl,  Gesch.  d.  Log.  im  Abendl.  II.  und  A.  Jourdain,  Recherches  critiques  sur  Tage  et 
Torigine  des  traductions  latines  d'Aristote.  Par.  2.  Aufl.  1843. 

Unter  den  Kealencyclopädien  des  ausgehenden  Alterthums  behandelt  Marcianus 
Capella  (aus  Carthago  in  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts)  in  seinem  Satyricon  (hrsg.  v. 
Eyssenhardt,  Leipzig  1866)  nach  der  wunderlichen  Einleitung  De  nuptiis  Mercorii  et  philo- 
logiae  die  sieben  Artes  liberales,  von  denen  bekanntlich  in  dem  weiteren  Schulbetrieb  Gram- 
matik Rhetorik  und  Dialectik  das  Trivium,  Geometrie  Arithmethik  Astronomie  und  Musik 
(auch  mit  Einschluss  der  Poetik)  das  Quadrivium  bildeten.  Einen  werthvoUeren  Commentar 
zum  Marc.  Capella  schrieb  später  Scotus  Erigena  (hrsg.  von  B.  Haur^au,  Paris  1861).  —  Des 
Cassiodorius  Senater  (480 — 570)  Institutiones  divinarum  et  saecularium  lectionum  und  De 
artibus  ac  disciplinis  litterarum  liberalium  (Werke  Paris  1588)  und  des  Isidorus  Hispalensis 
(gest.  636)  Originum  sive  Etymologiarum  libri  XX  (in  Migne's  Sammlung)  stehen  bereits  völlig 
auf  theologischem  Boden.  —  Für  die  Verwendung  der  antiken  Schullogik  im  Dienste  der  Syste- 
matisirung  der  Kirchenlehre  hat  Johannes  Damascenus  (um  700)  in  seiner  üyi^y]  Yva>a&u>^ 
(Werke  Venedig  1748)  das  klassische  Beispiel  gegeben. 

Während  die  Stürme  der  Völkerwanderung  auf  dem  Continente  hausten,  hatte  sich  das 
wissenschaftliche  Studium  auf  die  britischen  Inseln,  insbesondere  nach  Irland  geflüchtet  und 
fand  später  in  der  Schule  zu  York  durch  Beda  venerabilis  eine  gewisse  Blüthe.  Von  hier  wurdo 
die  gelehrte  Bildung  durch  Alcuin  auf  Veranlassung  von  Karl  dem  Grossen  dem  Festlando 
zurückgewonnen;  neben  den  Episcopal-  und  den  Klosterschulen  entstand  die  Palatinalschulc, 
deren  iSitz  von  Karl  dem  Kahlen  in  Paris  fixirt  wurde.  Die  wichtigsten  Klosterschulen  waren 
die  von  Fulda  und  Tours.  An  ersterer  wirkten  Rabanus  (Rhaban)  Maurus  (aus  Mainz  776 
bis  856;  De  universo  libri  XXII),  und  Eric  (Heirious)  von  Auxerre;  aus  ihr  gingen  (Ende 
des  neunten  Jahrhunderts)  Remigius  von  Auxerre  und  der  vermuthliche  Verfasser  des  Com- 
mentars  Super  Porphyrium  (abgedr.  in  Cousin's  Ouvrages  inedits  d* Abelard  Paris  1836)  hervor. 
In  Tours  folgte  auf  Alcuin  als  AbtFredegisus,  dessen  Brief  De  nihilo  ettenebris  (in  Migne^s  Samm- 
lung Bd.  105)  erhalten  ist.  Später  hat  das  Kloster  zu  St.  Gallen  (Notker  Labeo,  gest.  1022) 
einen  Hauptheerd  der  wissenschaftlichen  Tradition  gebildet. 

Vgl.  zu  den  litterarischen  Verhältnissen  auch  die  Histeire  litteraire  de  la  France. 

Die  dem  Areopagiten  (vgl.  Act.  Apost.  17,  v.  34)  zugeschriebenen  Schriften  (worunter 
hauptsächlich  itepl  jjloox'.x^  d-soXo^ia«  und  Tcepi  x-ffi  Upa^y^ia^  oöpavioo;  in  der  Migne^schun 
Sammlung;  deutsch  von  Enoelhardt,  Sulzbach  1823)  zeigen  dieselbe  Vermischung  christ- 
licher und  neuplatonischer  Philosophie,  wie  sie  im  Orient  (in  den  Nachwirkungen  des  Origeues) 
vielfach  und  besonders  charakteristisch  bei  dem  Bischof  Synesios  (um  400;  vgl.  R.  Volkhamn, 
S.  von  Cyrene,  Berlin  1869)  zu  Tage  trat.  Jene  Schriften  des  Pseudo-Dionysius,  die  vermuth- 
lich  dem  fünften  Jahrhundert  entstammen,  werden  zuerst  532  unter  Bestreitung  ihrer  Echtheit 
erwähnt;  doch  wurde  die  letztere  von  Maximus  Confessor  (580 — 662;  De  variis  difticilioribus 
locis  patrum  Dionysii  et  Gregorii,  hrsg.  von  Ojbhlbr,  Halle  1857)  vertheidigt. 

In  der  Anlehnung  an  diese  Mystik  entwickelt  sich  die  erste  bedeutende  wissenschaft- 
liche Persönlichkeit  des  Mittelalters  in  Johannes  Scotus  Erigena  (Jerugcna,  aus  Irland; 
etwa  810 — 880),  von  dessen  Leben  so  viel  sicher  bekannt  ist,  dass  er  von  Karl  dem  Kahlen  an 
die  Pariser  Hofschule  berufen  wurde  und  an  derselben  eine  Zeit  lang  thätig» war.  Er  über- 
setzte die  Schriften  des  Areopagiten,  schrieb  gegen  Gottschalk  die  Schrift  de  praedestinatione 


216  in.  Mittelalterliche  Philosophie.    1.  Erste  Periode. 

und  legte  seine  Ansichten  in  dem  Hauptwerk  De  divisione  naturae  (deutsch  von  Noack,  Leipzig 
1870—76)  nieder.  Die  Werke  bilden  in  Migne's  Sammlung  Bd.  122.  Vgl.  J.  Hüber,  J.  S.  B. 
München  1861. 

Anselm  von  Canterbury  (1033 — 1109)  stammte  aus  AostSi  wirkte  lange  Zeit  in 
dem  normannischen  Kloster  Bec  und  wurde  1093  zum  Erzbischof  von  Canterbury  berufen. 
Von  seinen  Werken  (bei  Migne  Bd.  155)  sind  in  philosophischem  Betracht  ausser  der  Schrift 
Cur  deus  homo?  besonders  wichtig  das  Monologium  und  das  Proslogium.  Diese  beiden  sind 
mit  der  Gegenschrift  eines  Mönchs  Gaunilo  (im^loster  Marmoutier  in  der  Nähe  von  Tours) 
Liber  pro  insipiente  und  der  Replik  Anselms  von  C.  Haas  (Tübingen  1863)  faerausge^ben. 
Vgl.  Ch.  E^musat,  A.  de  C,  tableau  de  la  vie  monastique  et  de  la  lutte  du  pouvoir  spirituel 
avec  le  pouvoir  tcmporel  au  11"**  siöcle  (2.  Aufl.  Paris  1868). 

Wi  lheImvonChampeaux(l  121  als  Bischof  von  Chalons  s/M.  gestorben)  w^ar  ein 
vielgehörter  Lehrer  an  der  Kathedralschule  zu  Paris  und  begründete  die  Studien  in  dem 
Augustinerkloster  zu  St.  Victor  daselbst.  Ueber  seine  philosophischen  Ansichten  sind  wir 
hauptsächlich  durch  seinen  Gegner  Abaelard  unterrichtet;  seine  logiache  Schrift  ist  verloren. 
Vgl.  E.  MiCHADD,  G.  de  Ch.  et  les  ecoles  de  Paris  au  21™*  sidole  (Paris  1868). 

Der  Piatonismus  des  fnüieren  Mittelalters  lehnte  sich  wesentlich  an  den  Timaeus 
und  gab,  zumal  unter  dem  Einflüsse  der  neuplatonischen  Umdeutung,  der  Idoenlehre  eine  dem 
ursprünglichen  Sinne  nicht  völlig  entsprechende  Form.  Die  bedeutendste  Erscheinung  in  dieser 
Kichtung  ist  Bernhard  von  Chartres  (in  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts):  sein 
Werk  De  mundi  universitate  sive  megacosmus  et  microcosmus  ist  von  C.  S.  Barach  (Innsbruck 
1876)  herausgegeben.  Als  seine  Schüler  gelten  Wilhelm  von  Conches  (Magna  de  naturis  philo- 
sophia;  Dragmaticon  philosophiae)  und  Walter  von  Mortagne;  in  demselben  Geiste  schrieb 
auch  Adelard  von  Bath  (De  eodcm  et  diverso ;  Quaestiones  naturales). 

Roscellinus  aus  Armorica  (Bretagne)  ist  als  Lehrer  an  verschiedenen  Orten,  besonders 
in  Locmenach,  wo  Abaelard  sein  Zuhörer  war,  hervorgetreten  und  hat  seine  Ansichten  auf 
dem  Concil  zu  Soissons  (1092)  widerrufen  müssen.  Von  ihm  selbst  ist  nur  ein  Brief  an  Abaelard 
(gedruckt  in  den  Abhandl.  der  bair.  Akad.  1851)  erhalten;  die  Quellen  für  seine  Lehre  sind 
Anselm,  Abaelard  und  Johannes  von  Salisbury. 

Abaelard  (Abeillard),  die  eindrucksvollste  und  energischste  Persönlichkeit  unter  den 
Denkern  dieser  Zeit,  war  1079  zu  Pallet  (Graf seh.  Nantes)  geboren,  ein  Schüler  von  Wilhelm 
V.  Champeaux  und  Roscellin.  Seine  eigene  Lehrthätigkeit  entfaltete  sich  in  Melun  und  Corbeil, 
am  erfolgreichsten  aber  in  Paris  an  der  Kathedralschule  und  an  der  logischen  Schule  St.  Genevidve. 
Das  Unglück,  in  welches  ihn  sein  bekanntes  Verhältniss  zu  Heloise  stürzte,  und  die  Conflicte, 
in  welche  ihn  seine  Lehre  mit  der  kirchlichen  Macht,  hauptsächlich  auf  Anstiften  des  unermüd- 
lichen Verfolgers  Bernhard  von  Clairvaux  brachte  (Synoden  zu  Soissons  1121  und  Sens  1141), 
Hessen  den  unruhigen  Mann  nicht  zur  vollen  Abklärung  seines  Geistes  gelangen  und  veranlassten 
ihn,  in  verschiedenen  Klöstern  Kuhestätten  zu  suchen;  er  starb  1142  in  St.  Marcel  bei  Chalons 
s/S.  Vgl.  seine  Historia  calamitatum  mearum  und  seinen  Briefwechsel  mit  Heloise  (M.CARRiiEBB, 
A.  u.  H.  2.  Aufl.  Giessen  1853).  Seine  Werke  hat  V.  Cousin  in  zwei  Bänden  (Paris  1849—69) 
herausgegeben.  Darunter  sind  hervorzuheben  seine  Dialectik,  Introductio  in  Theologiam, 
Theologia  Christiana,  Dialogus  inter  philosophum,  Christianum  et  Judaeum,  die  Schnfl  Sic  et 
non  und  die  ethische  Abhandlung  Scito  te  ipsum.  Vgl.  Ch.  d.  R^musat,  A.  (2  Bde.  Paris  1845). 

Dem  Abaelard  nahe  stehen  eine  Anzahl  (von  v .  Cousin  veröffentlichter)  anonymer  Ab- 
handlungen, so  ein  Commentar  zu  De  interpretatione,  De  intellectibus  und  De  gencribus  et 
speciebus  (die  letztere  stammt  möglicherweise  von  Joscellinus,  einem  1151  gestorbenen  Bischof 
von  Soissons):  verwandt  ist  auch  die  philosophisch-theologische  Stellung  von  Gilbert  de  la 
Porree  (Gilbcrtus  Porretanus,  gestorben  1154  als  Bischof  von  Poitiers),  der  in  Cliartres  und 
Paris  lehrte  und  von  Bernhard  von  Clairvaux  in  die  Verfolgung  Abaelard's  hineingezogen 
wurde.  Ausser  einem  Commentar  zu  Pseudo-Bocthius  De  trinitate  und  De  duabus  naturis  in 
Christo  schrieb  er  den  später  viel  commentirten  Abriss  De  sex  principiis. 

Die  im  kirchlichen  Sinne  bedenklichen  Consequenzen  der  „Dialectik'*  zeigen  sich  schon 
früh  besonders  bei  Berengar  von  Tours  (999 — 1088),  dessen  Abendmahlslem'e  von  Lanc- 
franc  (lOOo — 1089,  in  Bec  und  Canterbury  Vorgänger  Anselm's)  bekämpft  wurde.  Dieser  ist 
vermuthlich  der  Verfasser  des  früher  dem  Anselm  zugeschriebenen  (und  unter  dessen  Werken 
gedruckten)  Elucidarium  sive  dialogus  summam  totius  theologiae  complectens.  In  diesem 
Compendium  tritt  zuerst  das  Bestreben  hervor,  unter  Ablehnung  der  dialectischen  Neuerungen 
den  gfanzen  Umfang  des  kirchlich  Festgestellten  in  der  Form  eines  logisch  geordneten  Lehr- 
buches wiederzugeben.  Hieraus  sind  später  die  Arbeiten  der  Summisten  hervorgegangen, 
unter  denen  der  bedeutendste  PetrusLombardus  (gestorben  1164  als  Bischof  von  Paris) 
ist.  Seine  Libri  IV  sententiarum  bilden  bei  Migne  Bd.  192.  Unter  den  früheren  wäre  etwa 
Kobert  Pulleyn*(Itobertus  PuUus,  gestorben  1 150),  unter  den  späteren  Peter  von  Poitiers  (ge- 
storben 1205)  und  Alanus  Ryssel  (ab  insulis;  gestorben  1203)  zu  erwähnen. 


§  22.  Die  Metaphysik  der  inneren  Eifalirung.  (Augustin.)  217 

Gerbert  (als  Papst  Sylvester  II 1003  gestorben)  hat  das  Verdienst,  auf  die  Nothwendig- 
keit  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Studiums  energisch  hingewiesen  zu  haben. 
Er  hatte  in  Spanien  und  Italien  Kunde  von  der  Arbeit  der  Araber  erhalten  und  erwarb  sich 
eine  von  seinen  Zeitgenossen  angestaunte  und  beargwöhnte  Fülle  von  Kenntnissen.  Vgl. 
K.  Webner,  G.  von  Aurillac,  die  Kirche  und  Wissenschaft  seiner  Zeit  (2.  Aufl.  Wien  1881). — 
Gleich  ihm  hat  sein  Schüler  Fulbert  (gest.  1029  als  Bischof  von  Ghartres)  von  der  Dialectik  zur 
einfachen  Frömmigkeit  zurückgerufen,  und  in  demselben  Sinne  wirkte  Hildebert  von 
L  a  V  a  r  d  i  n  (1067 — 1133,  Bischof  von  Tours). 

Im  grossen  Stile  geschah  dasselbe  durch  die  orthodoxe  Mystik  des  zwölften  Jahr- 
hunderts. Als  ihr  eifrigster  Vertreter  begegnet  uns  Bernhard  von  Clairvaux  (1091 — 1153). 
Unter  seinen  Schriften  ragen  De  contemtu  mundi  und  De  gradibus  humilitatis  hervor  (Ausgabe 
von  Mabillon,  zuletzt  Paris  1839  f.).  Vgl.  Neander,  Der  heilige  B.  und  seine  Zeit  (8.  Aufl. 
1865);  MoRisoN,  Life  and  times  of  St.  B.  (London  1868). 

Von  wissenschaftlicher  Fruchtbarkeit  ist  die  Mystik  bei  den  Victorinern,  den 
Leitern  der  Klosterschule  St.  Victor  in  Paris.  Der  bedeutendste  ist  Hugo  von  St.  Victor 

Sals  Graf  von  Blankenburg  im  Harz  1096  geboren,  1141  gestorben).  Unter  den  Werken  (bei 
^ligne  Bd.  175 — 177)  ist  das  wichtigste  De  sacramentis  fidei  christianae ;  für  die  mystische 
Psychologie  kommen  hauptsächlich  das  Soliloquium  de  arrha  animae.  De  arca  Noe  und  De 
vanitate  mundi,  ausserdem  aber  das  encyclopadische  Werk  Eruditio  didascalica  in  Betracht.  — 
Vgl.  A.  Liebner,  H.  v.  St.  V.  und  die  theologischen  Richtungen  seiner  Zeit  (Leipzig  1836). 
Sein  Schüler  Richard  von  St.  Victor  (ein  Schotte,  1173  gestorben)  schrieb  De  statu 
und  De  eruditione  hominis  interioris,  De  praeparatione  animi  ad  contemplationem,  De  gratia 
contemplationis.  Die  Werke  bilden  bei  Migne  Bd.  194.  Vgl.  W.  A.  Kauligh,  Die  Lehren  dos 
H.  und  R.  von  St.  V.  (in  den  Abhandlungen  der  Böhm.  Ges.  der  Wiss.  1863f.).  —  Sein  Nach- 
folger Walter  von  St.  Victor  hat  sich  in  einer  wenig  wissenschaftlichen  Polemik  gegen  die 
ketzerische  Dialectik  (In  quatuor  labyrinthos  Franciae)  hervorgethan. 

Am  Schlüsse  dieses  Zeitraumes  treten  die  Anfange  einer  humanistischen  Reaction  gegen 
die  Einseitigkeit  des  Schulbetriebes  in  Johannes  von  Salisbury  (Johannes  Saresberiensis, 
gestorben  1180  als  Bischof  von  Ghartres)  hervor,  dessen  Schriften  rolicraticus  und  Metalogicus 
l  Migne  Bd.  199)  eine  werthvoUe  Quelle  für  das  wissenschaftliche  Leben  der  Zeit  büden.  vgl. 
G.  ScHAARSCHMiDT ,  J.  S.  nach  Leben  und  Studien,  Schriften  und  Philosophie  (Leipzig  1862). 

%  28.  Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahrong^. 

Die  Philosophie  des  grossen  Kirchenlehrers  August  in  ist  in  keinem  seiner 
Werke  als  ein  geschlossenes  System  dargestellt,  sie  entwickelt  sich  vielmehr  in 
der  ganzen  Breite  seiner  schriftstellerischen  Thätigkeit  mehr  gelegentlich  bei  der 
Behandlung  der  verschiedenen,  zumeist  theologischen  Gegenstände.  Dabei  aber 
ist  dies  der  eigenthümliche  Gesammteindruck,  dass  diese  reichen  Gedankenmassen 
nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  bewegt  erscheinen,  die  nur  durch  die  ge- 
waltige Persönlichkeit  des  Mannes  zusammengehalten  werden.  Als  Theologe 
behält  Augustin  durch  alle  seine  Untersuchungen  hindurch  den  Begriff  der 
Kirche  als  Bichtpunkt  im  Auge:  als  Philosoph  concentrirt  er  alle  seine  Ideen 
um  das  Princip  der  Selbstgewissheit  des  Bewusstseins.  Durch  die 
Doppelbeziehung  auf  diese  beiden  festen  Voraussetzungen  gerathen  bei  ihm  alle 
Fragen  in  lebendigen  Fluss.  Die  Gedankenwelt  Augustinus  gleicht  einem  ellipti- 
schen System,  das  sich  durch  die  Bewegung  um  zwei  Mittelpimkte  construirt, 
und  diese  seine  innere  Dualität  ist  häufig  diejenige  des  Widerspruchs  '). 

Für  die  Geschichte  der  Philosophie  erwächst  die  Aufgabe,  aus  dieser 
Verwicklung  diejenigen  Ideen  herauszulösen,  durch  welche  Augustin  weit  über 
seine  Zeit  und  ebenso  über  die  nächst  folgenden  Jahrhunderte  hinausgewachsen 

1)  Es  ist  unverkennbar,  dass  Angustin  selbst  im  Laufe  seiner  Entwicklung  das  Schwer- 
gewicht seiner  Persönlichkeit  mehr  und  mehr  aus  dem  philosophischen  in  den  kirchlichen 
Mittelpunkt  verlegt  hat:  besonders  deutlich  tritt  das  in  seinem  Rückblick  auf  die  eigne  Schrifb- 
stellerthätigkeit)  den  RetractationeSi  hervor. 


218  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

und  zu  einem  der  Urheber  des  modernen  Denkens  geworden  ist.  Alle 
diese  aber  haben  ihren  letzten  Grund  und  ihre  innere  Vereinigung  in  dem  Princip 
der  selbstgewissen  Innerlichkeit^  das  Augustin  zuerst  mit  voller  Klarheit 
ausgesprochen  und  als  Ausgangspunkt  der  Philosophie  formuUrt  und  behandelt 
hat.  Unter  dem  Einfluss  des  ethisch-religiösen  Interesses  hatte  sich  allmählich 
und  fast  unveimerkt  das  metaphysische  Interesse  aus  der  Sphäre  der  äusseren 
in  diejenige  des  inneren  Lebens  verschoben.  An  die  Stelle  der  physischen  Be- 
griffe waren  die  psychischen  als  Grundfactoren  der  Weltauffassung  getreten. 
Augustin  war  es  vorbehalten,  diese  Thatsache,  welche  sich  als  solche  schon  vor 
ihm  in  Origenes  und  Plotin  vollzogen  hatte,  zu  voller  und  bewusster  Geltung  zu 
bringen  *). 

Diese  Richtung  auf  die  innere  Erfahrung  macht  schon  seine  schrift- 
stellerische Eigenart  aus.  Augustin  ist  ein  Virtuos  der  Selbstbeobachtung  und 
Selbstzerlegung ;  er  besitzt  eine  Meisterschaft  in  der  Scliilderung  von  Seelen- 
zuständen,  die  ebenso  bewunderungswürdig  ist  wie  seine  Fähigkeit,  dieselben  in 
der  Reflexion  zu  zergliedern  und  die  tiefsten  Gefühls-  und  Triebelemente  bloss- 
zulegen.  Eben  deshalb  aber  fliessen  ihm  fast  ausschUessUch  aus  dieser  Quelle 
die  Anschauungen  zu,  mit  denen  seine  Metaphysik  das  Weltall  zu  umfassen  sucht. 
Damit  beginnt  der  griechischen  Philosophie  gegenüber  eine  neue  Entwicklungs- 
reihe ,  deren  Fortschritt  freilich  während  des  Mittelalters  nur  wenig  über  das 
von  Augustin  im  ersten  Wurf  Errungene  hinaus  gefördert  worden  und  deren 
volle  Entfaltung  erst  in  der  Neuzeit  zu  suchen  ist. 

1.  Deutlich  tritt  dies  schon  an  Augustinus  Lehre  vom  Ausgangspunkt 
der  philosophischen  Erkenntniss  hervor.  Seinem  persönUchen  Entwicklungs- 
gange gemäss  sucht  er  den  Weg  zur  Gewissheit  durch  den  Zweifel  hindurch,  und 
es  müssen  ihm  dabei  die  skeptischen  Theorien  selbst  die  Bahn  brechen.  Zunächst 
freilich  schlägt  er  den  Zweifel  mit  dem  ungebändigten  Glücksdurst  seiner  heiss- 
blütigen  Natur  durch  das  (sokratische)  Postulat  nieder,  dass  der  Besitz  der 
Wahrheit  (ohne  dessen  Voraussetzung  es  auch  keine  Wahrscheinhchkeit  gebe) 
für  die  Glückseligkeit  erforderlich  und  deshalb  als  erreichbar  anzusehen  sei:  aber 
mit  grösserem  Nachdruck  zeigt  er,  dass  auch  der  Skeptiker,  der  die  äussere 
Realität  des  Wahrnehmungsinhaltes  leugne  oder  wenigstens  dahingestellt  sein 
lasse,  doch  das  innerliche  Vorhandensein  der  Empfindung  als  solcher  nicht  in 
Zweifel  ziehen  könne.  Allein  statt  sich  mit  den  relativistischen  oder  positivisti- 
schen Ausdeutungen  dieser  Thatsache  zu  begnügen,  dringt  Augustin  gerade  von 
ihr  aus  zu  siegreicher  Gewissheit  vor.  Mit  der  Walirnehmung,  zeigt  er,  ist  nicht 
nur  ilir  in  der  einen  oder  der  anderen  Richtung  anzuzweifelnder  Inhalt,  sondern 
zugleich  auch  die  Realität  des  walirnehmenden  Subjects  gegeben,  und  diese 
Selbstgewissheit  des  Bewusstseins  folgt  in  erster  Linie  aus  dem  Acte  des  Zwei- 
feins selbst.  Indem  ich  zweifle,  sagt  er,  weiss  ich,  dass  ich,  der  Zweifelnde,  bin ; 
und  so  enthält  gerade  der  Zweifel  in  sich  die  werthvoUe  Wahrheit  von  der 
Realität  des  bewussten  Wesens:  selbst  wenn  ich  in  allem  anderen  irren 
sollte,  so  kann  ich  darin  nicht  irren;  denn  um  zu  irren,  muss  ich  sein^). 


1)  Aug. de ver. rel. 39, 72 :  Noli foras ire ; in  te ipsum redi rininteriorehomine habitat 
veritas.  —  2)  Augustin  hat  dieser  vou  ihm  mehrfach  (De  boaia  vita  7,  Solil.II,  Iff.  De  ver.  rel. 
72  f.  De  trin.  X,  14  etc.)  ausgeführten  Argumentation  grundlegende  Bedeutung  beigelegt.  Dass 
sie  aber  auch  der  griechischen  Litteratur  nicht  völlig  unbekannt  war,  beweist  in  der  unter  dem 


§  22.  Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahrung.   (Augustin.)  219 

Diese  fundamentale  Ge^vissheit  erstreckt  sich  gleichmäsaig  auf  alle  Zu- 
stände des  Bewusstseins  (cogitare);  und  Augustin  suchte  zu  zeigen,  dass  alle 
die  verschiedenen  Arten  derselben  bereits  in  dem  Acte  des  Zweifeins  eingeschlossen 
seien*.  Wer  zweifelt,  weiss  nicht  nur,  dass  er  lebt,  sondern  auch,  dass  er  sich 
erinnert,  dass  er  erkennt  und  dass  er  will:  denn  die  Gründe  seines  Zweifels  be- 
ruhen auf  seinen  früheren  Vorstellungen;  in  der  Abwägung  der  Zweifelsmomente 
entwickelt  sich  sein  Denken,  Wissen  und  Urtheilen  -,  und  das  Motiv  seines  Zweifeins 
ist  doch  nur  dies ,  dass  er  die  Wahrheit  anstrebt.  Ohne  besonders  darauf  zu 
reflectiren  oder  weitere  Schlüsse  daraus  zu  ziehen,  beweist  Augustin  in  diesem 
Beispiel  seinen  tiefen  Einblick  in  das  Seelenleben,  indem  ihm  die  verschiedenen 
Arten  psychischer  Bethätigung  nicht  als  gesonderte  Sphären,  sondern  als  die  un- 
trennbar mit  einander  vereinigten  Seiten  eines  und  desselben  Actes  gelten.  Die 
Seele  ist  für  ihn  —  und  damit  erhebt  er  sich  weit  über  Aristoteles  und  auch  über 
die  Neuplatoniker  —  das  einheitlich  lebendige  Ganze  der  Persönlichkeit, 
welche  durch  ihr  Selbstbewusstsein  der  eigenen  Realität  als  der  sichersten  Wahr- 
heit gewiss  ist« 

2«  Allein  von  dieser  ersten  Gewissbeit  fuhrt  die  Lehre  Augustinus  sogleich 
weiter,  und  es  ist  nicht  nur  seine  reUgiöse  Ueberzeugung,  sondern  auch  eine  tiefe 
erkenntnisstheoretische  Ueberlegung,  welche  ihm  in  die  Selbstgewissheit  des  indi- 
viduellen Bewusstseins  unmittelbar  die  Idee  Gottes  eingewachsen  erscheinen 
lässt.  Auch  hier  ist  die  Fundamentalthatsache  des  Zweifels  massgebend,  auch 
hierin  enthält  sie  implicite  schon  die  volle  Wahrheit,  AVie  würden  wir,  fragt 
Augustin,  dazu  kommen,  die  Wahrnehmungen  der  Aussenwelt,  die  sich  mit  so 
elementarer  Gewalt  uns  aufdrängen,  in  Frage  und  Zweifel  zu  ziehen,  wenn  wir 
nicht  neben  ihnen  und  aus  andrer  Quelle  Kichtbegriffe  und  Massstäbe  der  Wahr- 
heit besässcn,  um  sie  daran  zu  messen  und  zu  prüfen?  Wer  zweifelt,  muss  die 
Wahrheit  kennen :  denn  nur  um  ihretwillen  zweifelt  er  ^).  In  der  That,  fahrt  der 
Philosoph  fort,  besitzt  der  Mensch  neben  dem  Empfinden  (sensus)  die  höhere 
Fähigkeit  der  Vernunft  (intellectus,  ratio),  d.h.  der  unmittelbaren  Anschauung 
unkörperlicher  Wahrheiten*):  unter  diesen  versteht  Augustin  nicht  nur  die  logi- 
schen Gesetze,  sondern  auch  die  Normen  des  Guten  und  des  Schönen,  überhaupt 
alle  diejenigen  durch  die  Empfindung  nicht  zu  gewinnenden  Wahrheiten,  welche 
dazu  erforderlich  sind,  das  Gegebene  zu  verarbeiten  und  zu  beurtheilen,  —  die 
Principien  des  Urtheilens '). 

Solche  Normen  der  Vernunft  machen  sich  als  Massstäbe  der  Beurtheilung 
im  Zweifel  wie  in  allen  Thätigkeiten  des  Bewusstseins  geltend;  sie  reichen  aber 
über  das  individuelle  Bewusstsein,  in  welches  sie  im  Laufe  der  Zeit  eintreten,  als 
etwas  Höheres  hinaus:  sie  sind  für  alle  vernünftig  Denkenden  dieselben  und  er- 
leiden in  diesem  ihrem  Werthe  keine  Veränderung.   So  sieht  sich  das  Einzel- 


Namen  der  „Metaphysik  des  Herennios*'  laufenden  Compilation  diejenige  Stelle  (III,  6  f.),  deren 
(vermuthlich  spät-stoische)  Quelle  bisher  nicht  au%efunden  worden  ist.  Vgl.  darüber  E.  Hifiirz 
in  Sitz.-Ber.  der  Berl.  Ak.  d.  W.  1889  S.  1167fiF. 

1)  De  ver.  rel.  39,  72  f.  —  2)  Aspectus  animi,  quo  perseipsum  non  per  corpus  verum 
intuetur:  De  trin.  XII|  2,  2.  Vgl.  Contra  Acad.  UI,  13, 29.  —  8)  Die  Auffassung  dieser  intelli- 
giblen  Wahrheiten  durch  das  menschliche  Bewusstsein  bat  Augustin  anfänglich  ganz  platonisch 
als  d(yd{i.vir)Gi(  bezeichnet:  erst  die  orthodoxen  Bedenkon  gegen  die  Annahme  der  Fräexistenz 
führten  ihn  dazu,  die  Yenmnft  als  das  Anschauungsyermögen  für  die  unkörperliche  Welt  zu 
betrachten.  Vgl.  übrigens  J.  Stürz,  Die  Philosophie  des  hl.  Augustinus  (Freiburg  i.  B.  1882). 


220  m.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

bewusstsein  in  seiner  eigenen  Function  an  etwas  Allgemeingiltiges  und  lieber- 
greifendes  gebunden  *). 

Aber  zum  Wesen  der  Wahrheit  gehört,  dass  sie  ist.  Von  dieser  Grund- 
auffassung der  antiken^  wie  aller  naiven  Erkenntnisslehre  geht  auch  Augustin  aus. 
Das  ^Sein"  jener  allgemeinen  Wahrheiten  aber,  die  durchaus  unkörperlicher 
Natur  sind,  kann  demnach  nur  —  in  neuplatonischer  Weise  —  als  dasjenige  der 
Ideen  in  Gott  gedacht  werden;  sie  sind  die  wandellosen  Formen  und  Normen 
aller  Wirklichkeit  (principales  formae  vel  rationes  rerum  stabiles  atque  incommu- 
tabiles,  quae  in  divino  intellectu  continentur)  und  die  Inhaltsbestimmungen  des 
göttlichen  Geistes.  In  ihm  sind  sie  alle  in  höchster  Vereinigung  enthalten:  er 
ist  die  absolute  Einheit,  die  Alles  umfassende  Wahrheit;  er  ist  das  höchste 
Sein,  das  höchste  Gut,  die  vollkommene  Schönheit  (unum,  verum,  bonum).  Jede 
Vemunfterkenntniss  ist  im  Grunde  genommen  Gotteserkenntniss.  Freilich  ist 
auch  nach  Augustinus  Zugeständniss  der  menschlichen  Einsicht  im  Erdenleben 
die  volle  Erkenntniss  Gottes  versagt.  Völlig  sicher  ist  in  unserer  Vorstellung 
von  ihm  vielleicht  nur  das  Negative;  und  insbesondere  von  der  Art,  wie  die  ver- 
schiedenen Bestimmungen  der  göttlichen  Wahrheit,  welche  die  Vernunft  an- 
schaut, in  ihm  zu  höchster  realer  Einheit  verbunden  sind,  haben  wir  keine  adä- 
quate Vorstellung:  denn  sein  körperloses  und  wandelloses  Wesen  (essentia)  reicht 
weit  über  alle  Beziehungs-  und  Verknüpfungsformen  des  menschlichen  Denkens 
hinaus:  selbst  die  Kategorie  der  Substanz  trifft  auf  ihn  ebensowenig  zu  wie  die 
übrigen*). 

3«  So  sehr  diese  Ausfuhrungen  in  der  directen  Consequenz  des  Neuplatonis- 
mus  liegen*),  so  bleibt  ihnen  doch  in  der  Darstellung  Augustin's  der  christliche 
Character  dadurch  gewahrt,  dass  mit  dem  philosophischen  Begriffe  der  Gottheit 
als  Inbegriff  aller  Wahrheit  die  religiöse  Vorstellung  der  Gottheit  als  der  ab- 
soluten Persönlichkeit  untrennbar  verschmolzen  ist.  Gerade  deshalb  aber  baut 
sich  die  ganze  augustinische  Metaphysik  auf  der  Selbsterkenntniss  der  endlichen 
PersönUchkeit,  d.  h.  auf  dem  Thatbestande  der  inneren  Erfahrung  auf.  Denn 
so  weit  dem  Menschen  überhaupt  ein  Verständniss  des  göttlichen  Wesens  mög- 
lich ist,  kann  dasselbe  nur  nach  Analogie  der  menschlichen  Selbsterkenntniss  ge- 
wonnen werden.  Diese  aber  zeigt  folgende  fundamentale  Gliederung  des  inneren 
Lebens:  der  dauernde  Bestand  des  geistigen  Seins  ist  in  der  Gesammtheit  des 
Bewusstseinsinhaltes  oder  der  reproducirbaren  Vorstellungen  gegeben;  seine  Be- 
wegung und  Lebendigkeit  besteht  in  den  Processen  der  urtheilenden  Verbindung 
und  Trennung  dieser  Elemente;  und  die  treibende  Kraft  in  dieser  Bewegung  ist 
der  auf  den  Gewinn  der  höchsten  Seligkeit  gerichtete  Wille.  So  sind  die  drei  Seiten 
der  psychischen  Wirklichkeit  Vorstellung,  Urtheil  und  Wille:  memoria, 
intellectus,  voluntas^),  und  Augustin  wahrt  sich  ausdrücklich  dagegen,  diese 


1)  De  IIb.  arb.  U,  7ff.  —  2)  Das  Wesentliche  dabei  ist  die  Einsicht,  dass  die  aus, der 
Richtung  auf  die  Naturerkenntniss  gewonnenen  Kategorien  für  die  eigenthümliche  Art  der 
geistigen  Synthese  (nach  der  das  göttliche  Wesen  gedacht  werden  soll)  unzulänglich  sind :  die 
neuen  Kategorien  der  Innerlichkeit  aber  sind  bei  Augustin  erst  im  Werden ;  vgl.  das  Folgende.  — 
Sl)  In  der  That  sucht  Augustin  durchaus  den  voöc  Plotins  mit  dem  Xof  0(;  des  Origenes  zu  iden- 
tificiren :  indem  er  aber  die  emanatistische  Ableitung  und  Verselbständigung  des  voög  aus  der 
neuplatonischen  Lehre  &lleu  lässt,  hebt  er  das  physische  Schema  der  Weltpotenzen  zu  Gunsten 
des  p8}xhi8chen  auf.  —  4)  Dieselbe  Dreitheilung  der  Seelen thätigkeiten  findet  sich  schon  bei 
den  Stoikern:  vgl.  S.  147. 


§^2.  Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahrang.  (Augrastin.)  221 

Fnnctionsweisen  der  Fersönliehkeit  etwa  wie  die  Eigenschaften  der  Körper  auf- 
gefasst  zu  sehen.  Ebensowenig  bedeuten  sie  aber  etwa  verschiedene  Schichten 
oder  Sphären  ihres  Daseins,  sondern  sie  bilden  in  ihrer  unlöslichen  Einheit  die 
Substanz  der  Seele  selbst.  Nach  diesen  am  Menschen  erkannten  Verhältnissen 
des  geistigen  Lebens  sucht  daim  Augustin  nicht  nur  eine  analogische  Vorstellung 
Yon  dem  Geheimniss  der  Trinität  zu  gewinnen,  sondern  er  erkennt  auch  in  dem 
esse,  nosse  und  velle  die  Grundbestimmungen  aller  Wirklichkeit :  in  Sein,  Wissen 
und  Willen  ist  alle  Wirklichkeit  beschlossen,  und  in  Allmacht,  Allweisheit  und 
AUgüte  umspannt  die  Gottheit  das  Universum. 

Die  ansgesprochene  Ansicht  von  der  Unzulänglichkeit  der  physischen  (aristotelischen) 
Kategorien  erinnert  nur  scheinbar  an  den  Neuplatonismus ,  dessen  intelligible  Kategorien 
(vgl.  S.  193)  ebenso  wie  sein  ganzes  metaphysisches  Schema  durchaus  physischer  Art  sind. 
£r8t  Augustin  macht  Ernst  mit  dem  Versuche,  die  eigen thtimlichen  Beziehnngsformen  der 
Innerlichkeit  zu  metaphysischen  Principien  zu  erheben.  Im  Uebrigen  verläuft  seine  Kos- 
mologie ohne  nennenswerthe  Besonderheiten  in  den  durch  den  Neuplatonismub  gelegten  Ge- 
leisen. Die  Zweiweltenlehre  mit  ihren  anthropologischen  Oorrelaten  bildet  hier  die  Voraus- 
setzung. Die  Sinnenwelt  wird  durch  dieWahmehmun^n,  die  intelligible  Welt  wird  durch  die 
Vernunft  erkannt,  und  beide  gegebenen  Bestandtheile  des  Wissens  werden  durch  das  ver- 
standesmässige  Denken  (ratiocmatio)  mit  einander  in  Beziehung  gesetzt.  Für  die  Natur- 
aufFassung  ergiebt  sich  die  durch  die  Ideenlehre  bedingte  Teleologie :  auch  die  Körperwelt  ist 
durch  göttliche  Macht,  Weisheit  und  Güte  aus  Nichts  geschaffen,  und  trägt  in  ihrer  Schönheit 
und  Vollkommenheit  das  Zeichen  dieses  Ursprungs.  Das  Uebel  (mit  Einschluss  des  Bösen,  vgl. 
jedoch  unten)  ist  auch  hier  nichts  eigentlich  Wirkliches,  es  ist  nicht  Sache,  sondern  Handlung, 
es  hat  keine  causa  efficiens,  sondern  nur  eine  causa  defioiens,  sein  Ursprung  ist  nicht  bei  dem 
positiven  Sein  (Gott),  sondern  bei  dem  Seinsmangel  der  endlichen  Wesen  zu  suchen:  denn 
diesen  kommt  als  geschaffenen  nur  eine  abgeschwächte  und  darum  mangelhafte  Realität  zu. 
So  steht  die  Theodicee  Augustinus  wesentlich  auf  dem  Boden  deijenigen  von  Origenes  und  Biotin. 

4.  Eine  weitere  aber  und  wesentliche  Folge  der  bewusst  anthropologischen 
Begründung  der  Philosophie  ist  bei  Augustin  die  centrale  Stellung,  welche  er  in 
seiner  Weltanschauung  dem  Willen  zugewiesen  hat.  Das  leitende  Motiv  dabei 
ist  zweifellos  die  eigene  Erfahrung  des  Mannes,  der,  selbst  eine  triebheisse  und 
willensstarke  Natur,  bei  der  grübelnden  Durchforschung  der  eigenen  Persönlich- 
keit auf  den  Willen  als  auf  den  tiefsten  Kern  derselben  stiess.  Deshalb  gilt  ihm 
aber  in  Allen  der  Wille  als  das  Wesentliche:  omnes  nihil  aliud  quam  volun- 
tates  sunt. 

In  seiner  Psychologie  und  Erkenntnisslehre  zeigt  sich  dies  vor  Allem  darin, 
dass  er  die  beherrschende  Stellung  des  Willens  in  dem  gesammten  Yorstellungs- 
und  Erkenntnissprocess  allseitig  zur  Darstellung  zu  bringen  sucht  ^).  Hatten 
schon  die  Neuplatoniker  hinsichtlich  der  Wahrnehmung  zwischen  dem  körper- 
lichen Erregungszustande  und  dem  Bewusstwerden  desselben  unterschieden,  so 
weist  Augustin  durch  eine  genaue  Analyse  des  Sehens  nach,  dass  dies  Bewusst- 
werden wesentlich  ein  Act  des  Willens  (intentio  animi)  sei.  Und  wie  somit 
schon  die  physische  Aufinerksamkeit  eine  Sache  des  Willens  ist,  so  weist  auch 
die  Thäti^keit  des  inneren  Sinnes  (sensus  interior)  eine  ganz  analoge  Abhängig- 
keit von  Willen  auf.  Ob  wir  unsere  eigenen  Zustände  und  Handlungen  uns  als 
solche  zum  Bewusstsein  bringen  oder  nicht,  hängt  ebenso  von  der  willkürlichen 
Reflexion  ab,  wie  die  gewollte  Besinnung  auf  etwas  unserem  Gedächtniss  An- 
gehöriges und  die  auf  ein  bestimmtes  Ziel  gerichtete  Thätigkeit  der  combinativen 
Phantasie.   Ebenso  vollzieht  sich  endlich  das  verstandesmässige  Denken  (ratio- 

1)  Vgl.  hauptsächlich  das  eilfte  Buch  der  Schrift  De  trinitate,  dazu  besonders  W.  Kahl, 
Die  Lehre  vom  Primat  des  Willens  bei  Augustinus,  Duns  Scotus  und  Descartes.    (Strass- 

burg  lase.) 


222  in.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

ciDatio)  mit  seinen  Urtheilen  und  Schlüssen  durchgängig  unter  den  Absichten  des 
Willens :  denn  dieser  muss  die  Richtung  und  den  Zweck  bestimmen,  wonach  die 
Data  der  (äusseren  oder  inneren)  Erfahrung  den  allgemeinen  Wahrheiten  der 
Vernunfteinsicht  untergeordnet  werden  sollen. 

Etwas  verwickelter  gestaltet  sich  das  Verhältniss  bei  diesen  Vernunft- 
einsichten selbst:  denn  dieser  höheren  göttlichen  Wahrheit  gegenüber  kann  der 
Activität  des  menschlichen  Geistes  nicht  derselbe  Spielraum  gegeben  werden, 
wie  hinsichtlich  seiner  intellectuellen  Beziehungen  zur  Aussenwelt  und  zu  seiner 
eigenen  Innenwelt.  Schon  aus  philosophischen  Gründen  nicht:  denn  nach  dem 
metaphysischen  Grundschema  muss  dem  Allgemeineren  als  dem  höheren  und 
wirkenskräftigeren  Sein  in  der  Causalberührung  die  active  Rolle  zukommen.  Zu 
dieser  ihm  metaphysisch  überlegenen  Wahrheit  kann  sich  der  menschliche  Geist 
in  der  Hauptsache  nur  leidend  verhalten.  Die  Erkenntniss  der  intelKgiblen  Welt 
ist  auch  für  Augustin  wesentlich  —  Erleuchtung,  Offenbarung.  Hier,  wo  der 
Geist  seinem  Schöpfer  gegenübersteht,  fehlt  ihm  nicht  nur  die  schöpferische, 
sondern  sogar  die  receptive  Initiative.  Augustin  ist  weit  entfernt,  die  intuitive 
Erkenntniss  der  intelligiblen  Wahrheiten  etwa  als  ein  selbständiges  Erzeugniss 
des  Geistes  aus  seiner  eigenen  Natur  anzusehen ;  ja  er  kann  ihr  nicht  einmal  die- 
selbe Spontaneität  der  Aufmerksamkeit  oder  der  Richtung  des  Bewusstwerdens 
(intentio)  zuschreiben,  wie  den  empirischen  Einsichten  äusserer  und  innerer  Wahr- 
nehmung: sondern  er  muss  die  Erleuchtung  des  individuellen  Bewusstseins  durch 
die  göttliche  AVahrheit  wesentlich  als  einen  Act  der  Gnade  (vgl.  unten)  betrachten, 
bei  dem  das  erstere  sich  zuwartend  und  rein  aufnehmend  verhält.  Diese  meta- 
physischen Ucberlegungen,  welche  auch  auf  dem  Boden  des  Neuplatonismus  mög- 
lich gewesen  wären,  erfahren  nun  aber  bei  Augustin  eine  mächtige  Verstärkung 
durch  das  Schwergewicht,  welche  er  in  seiner  Theologie  auf  die  göttliche  Gnade 
legte.  Die  Erkenntniss  der  Vemunftwahrheiten  ist  ein  Moment  der  Seligkeit,  und 
diese  verdankt  der  Mensch  nicht  dem  eigenen  Willen,  sondern  demjenigen  Gottes. 

Dennoch  hat  auch  hier  Augustin  dem  Willen  des  Individuums  zunächst 
wenigstens  eine  gewisse  Cooperation  zu  retten  gesucht.  Er  betont  nicht  nur,  dass 
Gott  die  Offenbarung  seiher  Wahrheiten  nur  demjenigen  zuwende,  der  durch  gutes 
Streben  und  gute  Sitten,  d.  h.  durch  die  Qualitäten  seines  Willens  sich  dafür 
würdig  erweise;  sondern  er  lehrt  auch,  dass  die  Aneignung  der  göttlichen  Wahr- 
heit nicht  sowohl  durch  die  Einsicht,  als  vielmehr  durch  den  Glauben  erfolge. 
Der  Glaube  aber,  als  ein  Vorstellen  mit  Zustimmung  aber  ohne  Begreifen,  setzt 
zwar  die  Vorstellung  seines  Gegenstandes  voraus,  enthält  aber  in  der  durch  keinen 
intellectuellen  Zwang  bestimmten  Zustimmung  einen  ursprünglichen  Willens- 
act  des  bejahenden  Urtheils.  So  weit  geht  die  Bedeutung  dieser  Thatsache,  meint 
Augustin,  dass  nicht  nur  in  göttlichen  und  ewigen,  sondern  auch  in  irdisch-mensch- 
lichen und  zeithchen  Dingen  diese  unmittelbar  durch  den  Willen  hervorgebrachte 
Uoberzeugung  die  ursprünglichen  Elemente  des  Denkens  abgiebl,  aus  denen  erst 
durch  die  combinirende  Ueberlegung  des  Verstandes  die  begreifende  Einsicht 
erwächst.  So  muss  auch  in  den  wichtigsten  Dingen,  d.  h.  in  den  Hcilsfragen, 
der  von  dem  guten  Willen  dictirte  Glaube  an  die  göttliche  Offenbarung  und  an 
ihr  Erscheinen  in  der  kirchlichen  Tradition  der  verstandesmässig  aneignenden 
und  begreifenden  Erkenntniss  vorhergehen.  Der  Würde  nach  ist  freilich  die 
volle  Vernunfteinsicht,  aber  der  Zeit  nach  ist  der  Offenbarungsglaube  das  Ei-ste. 


§  22.   Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahrung^,   (Aupfustin.)  223 

5.  In  allen  diesen  Ueberlegungen  Augustinus  bildet  den  Mittelpunkt  der 
Begriff  der  Willensfreiheit  als  einer  von  Verstandesfunctionen  unabhängigen, 
durch  Motive  der  Einsicht  nicht  bedingten ;  sondern  diese  vielmehr  ohne  Be- 
wusstseinsgründe  bestimmenden  Entscheidung,  Wahl  oder  Zustimmung  des 
Willens,  und  Augustin  hat  sich  redlich  bemüht,  diesen  Begriff  den  verschiedenen 
Einwürfen  gegenüber  aufrechtzuerhalten.  Neben  dem  Bewusstsein  der  sittlich- 
religiösen Verantwortlichkeit  ist  es  hauptsächlich  die  Sache  der  göttlichen  Ge- 
rechtigkeit, welche  er  dabei  vertreten  will:  und  die  meisten  Schwierigkeiten  macht 
ihm  andrerseits  die  Vereinbarung  der  ursachlosen  Handlung,  deren  Gegentheil 
gleich  möglich  und  objectiv  denkbar  gewesen  sein  soll,  mit  der  göttlichen  Prä- 
scienz.  Er  hilft  sich  hier  mit  der  Berufung  auf  die  Unterscheidung  der  Ewigkeit 
(Zeitlosigkeit)  und  der  Zeit,  der  er  überhaupt  in  einer  überaus  feinsinnigen  Unter- 
suchung')  eine  reale  Bedeutung  nur  für  die  messende  Vergleichung  der  Functionen 
der  inneren  Erfahrung  und  ei*8t  danach  auch  für  die  äussere  zuschrieb.  Das  an 
sich  zeitlose,  sogenannte  Vorherwissen  der  Gottheit  habe  für  die  zukünftigen  Ereig- 
nisse gerade  so  wenig  causal  bestimmende  Gewalt,  wie  die  Erinnerung  für  die  ver- 
gangenen. In  diesen  Zusammenhängen  gilt  Augustin  mit  Recht  als  einer  der 
eifrigsten  und  kräftigsten  Vertreter  der  Willensfreiheit. 

Dieser  wesentlich  mit  den  Waffen  der  früheren  Philosophie  verfochtenen 
Ansicht  wälzt  sich  nun  aber  bei  Augustin,  von  Werk  zu  Werk  anschwellend, 
eine  andere  Gedankenmasse  entgegen,  welche  ihren  Keimpunkt  im  Begriffe  der 
Kirche  und  in  der  Lehre  von  ihrer  erlösenden  Gewalt  hat.  Hier  tritt  dem 
Princip  der  Selbstgewissheit  des  individuellen  Geistes  dasjenige  der  historischen 
Allgemeinheit  siegreich  entgegen.  Die  Idee  der  christlichen  Kirche,  deren 
gewaltigster  Kämpe  Augustin  gewesen  ist,  wurzelt  in  dem  Gedanken  der  Erlösungs- 
bedürftigkeit des  ganzen  menschlichen  Geschlechts :  diese  Idee  aber  schliesst  die 
völlig  unbestimmte  Willensfreiheit  des  einzelnen  Menschen  aus.  Denn  sie  ver- 
langt, dass  jeder  Einzelne  nothwendig  sündig  und  deshalb  der  Erlösung  bedürftig 
sei.  Unter  dem  überwältigenden  Druck  dieses  Gedankens  hat  Augustin  seiner  in 
den  philosophischen  Schriften  so  breit  ausgeftihrten  Theorie  der  Willensfreiheit 
eine  andere  an  die  Seite  gestellt,  welche  der  ersteren  durchweg  zuwiderläuft. 

Augustin  will  die  für  ihn  persönlich  so  schwer  wiegende  Frage  nach  dem 
Ursprung  des  Bösen  —  im  Gegensatze  zum  Manichäismus  —  durch  den  Begriff 
der  Willensfreiheit  lösen,  um  darin  die  menschliche  Verantwortlichkeit  und  die 
göttliche  Gerechtigkeit  aufrechtzuerhalten :  aber  in  seinem  theologischen  System 
scheint  es  ihm  ausreichend,  diese  Willensfreiheit  auf  Adam,  den  ersten  Menschen,  zu 
beschränken.  Die  Vorstellung  von  der  substantiellen  Einheitlichkeit  des  Menschen- 
geschlechts, welche  auch  bei  dem  Glauben  an  die  Erlösung  Aller  durch  den  Einen 
Heiland  mitwirkte,  erlaubte  ebenso  die  Lehre,  dass  in  dem  Einen  Adam  die  ganze 
Menschheit  gesündigt  habe.  Durch  den  Missbrauch  der  Willensfreiheit  von  Seiten 
des  ersten  Menschen  ist  die  gesammte  menschliche  Natur  derart  verdorben, 
dass  sie  nicht  mehr  .anders  kann  als  sündigen  (non  posse  non  peccare).  Dieser 
Verlust  der  Willensfreiheit  trifft  das  ganze  von  Adam  stammende  Geschlecht 
ohne  Ausnahme :  jeder  Mensch  bringt  diese  verderbte  Natur^  welche  nicht  mehr 
aus  eigener  Kraft  oder  Freiheit  zum  Guten  fähig  ist,  mit  auf  die  Welt,  und  diese 

1)  Im  eilften  Bucli  der  Confessionen.  Vgl.  C.  Fortlaoe,  A.  de  tempore  doctrina 
(Heidelberg  1836). 


224  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.  1.  Erste  Periode. 

Erbsünde  ist  die  Strafe  für  die  Ursiinde.  Eben  daraus  folgt  aber,  dass  alle 
Menschen  ausnahmslos  der  Erlösung  und  der  Gnadenmittel  der  Earche  be- 
dürftig sind.  Dass  ihnen  diese  Gnade  zu  Theil  werde,  haben  alle  gleich  wenig 
verdient :  deshalb,  meint  Augnstin,  dürfe  keine  Ungerechtigkeit  darin  gesehen 
werden,  dass  Gott  diese  Gnade,  auf  die  Keiner  Anspruch  hat,  nicht  allen,  sondern 
nur  einigen  —  und  man  weiss  nie  welchen  —  zuwendet.  Andrerseits  aber  ver- 
langt die  göttliche  Gerechtigkeit,  dass  wenigstens  bei  einigen  Menschen  die  Strafe 
für  Adam's  Fall  dauernd  aufrechterhalten  werde,  diese  also  von  der  Gnaden- 
wirkung und  der  Erlösung  ausgeschlossen  bleiben.  Da  endlich  ihrer  verderbten 
Natur  nach  alle  gleich  sündig  und  zu  eigener  Besserung  unfähig  sind ,  so  erfolgt 
die  Auswahl  der  Begnadeten  nicht  nach  ihrer  Würdigkeit  (denn  solche  giebt  es 
vor  der  Gnadenwirkung  nicht),  sondern  nach  einem  unerforschlichen  Rathschlusse 
Gottes.  Wen  er  erlösen  will,  dem  wendet  er  seine  Offenbarung  mit  ihrer  unwider- 
stehlichen Gewalt  zu :  wen  er  nicht  auserwählt,  der  kann  auf  keine  Weise  erlöst 
werden.  Nicht  einmal  den  Anfang  zum  Guten  kann  der  Mensch  aus  eigener 
Kraft  machen :  alles  Gute  rührt  von  Gott  her  und  nur  von  ihm. 

In  der  Prädestinationslehre  erstickt  somit  (und  das  ist  ihr  philosophi- 
sches Moment)  die  absolute  CausaUtät  Gottes  den  freien  Willen  des  Individuums: 
dem  letzteren  wird  mit  der  metaphysischen  Selbständigkeit  auch  alle  Spontaneität 
des  Thuns  abgesprochen :  entweder  bestimmt  ihn  seine  Natur  zur  Sünde  oder  die 
Gnade  zum  Guten.  So  stossen  bei  Augustin  zwei  kräftige  Gedankenströme  hart 
gegen  einander.  Es  wird  immerdar  eine  erstaunliche  Thatsache  bleiben,  dass  der- 
selbe Mann,  welcher  seine  Philosophie  auf  die  Selbstgewissheit  des  bewussten 
Einzelgeistes  gründete,  welcher  das  Senkblei  feinster  Prüfung  in  die  Tiefen  der 
inneren  Erfahrung  warf  und  im  Willen  den  Lebensgiiind  der  geistigen  Persönlich- 
keit entdeckte,  sich  durch  die  Interessen  eines  theologischen  Streites  zu  einer 
Ansicht  der  Heilslehre  gedrängt  sah,  welche  die  Handlungen  des  Einzelwillens 
als  unabänderlich  bestimmte  Folgen  entweder  einer  generellen  Yerderbniss  oder 
der  göttlichen  Gnade  betrachtet.  Individualismus  und  Universalismus 
in  der  Auffassung  der  seelischen  Wirklichkeit  stehen  sich  hier  schroff  gegenüber, 
und  ihr  klaffender  Widerspruch  ist  kaum  durch  die  Vieldeutigkeit  des  Wortes 
Freiheit  verdeckt,  welches  in  der  einen  Richtung  nach  seiner  psychologischen,  in 
der  anderen  nach  seiner  ethisch -religiösen  Bedeutung  verfochten  wird.  Der 
Gegensatz  aber  der  beiden  Denkmotive,  die  hier  so  unvereinbar  neben  einander 
liegen,  ist  auch  in  der  folgenden  Entwicklung  der  Pliilosophie  bis  weit  über  das 
Mittelalter  hinaus  wirksam  gewesen. 

6.  Im  Lichte  der  Prädestinationslehre  nimmt  das  grossartige  Bild  der  histo- 
rischen Entwicklung  der  Menschheit,  welches  Augustin  in  der  Art  und  im  Geiste 
der  gesammten  Patristik  entworfen  hat,  dunkle  Farben  und  eigenthümlich  starre 
Formen  an.  Denn  wenn  nicht  nur  der  Gesammtablauf  der  Heilsgeschichte,  sondern 
wie  bei  Augustin  auch  die  Stellung,  welche  jeder  Einzelne  darin  einnehmen  soll, 
durch  göttlichen  Rathschluss  vorherbestimmt  ist,  so  kann  man  sich  des  düstern 
Eindrucks  nicht  erwehren,  dass  all  das  heilsdurstige  Willensleben  der  Menschen 
in  der  Geschichte  zu  einem  schatten-  und  marionettenhaftem  Getreibe  herabsinkt, 
dessen  Resultat  von  vom  herein  unausbleiblich  feststeht. 

Die  geistige  Welt  zerfallt  für  Augustin  durch  die  ganze  Geschichte  hindurch 
in  zwei  Sphären:  das  Reich  Gottes  und  das  Reich  des  Teufels.   Zu  dem  ersteren 


§  22.  Die  Metaphysik  der  inneren  Erfahi-ung.  (Augusiin.)  225 

gehören  ausser  den  nicht  gefallenen  Engeln  die  Menschen,  welche  Gott  zur  Gnade 
erwählt  hat;  das  andere  umfasst  mit  den  bösen  Dämonen  alle  diejenigen  Menschen, 
welche  nicht  zur  Erlösung  prädestinirt,  sondern  von  Gott  in  dem  Zustande  der 
Sünde  und  der  Schuld  belassen  werden :  das  eine  ist  das  Reich  des  Himmels, 
das  andere  das  der  Welt.  Beide  verhalten  sich  im  Laufe  der  Geschichte  wie  zwei 
verschiedene  Geschlechter,  die  nur  im  äusseren  Thun  durch  einander  gemischt, 
innerlich  aber  streng  geschieden  sind.  Die  Gemeinschaft  der  Erwählten  hat  auf 
Erden  keine  Heimath ;  sie  lebt  in  der  höheren  Einheit  der  göttlichen  Gnade.  Die 
Gemeinschaft  der  Verdammten  aber  ist  in  sich  durch  Zwietracht  getheilt,  sie 
kämpft  in  den  irdischen  Reichen  um  die  Scheinwerthe  der  Macht  und  Herrschaft. 
So  wenig  vermag  auf  dieser  Entwicklungsstufe  noch  der  christliche  Gedanke  die 
WeltwirkUchkeit  zu  bemeistern,  dass  Augustin  in  den  historischen  Staatsgebilden 
nur  die  zum  Hader  mit  einander  verurtheilten  Provinzen  einer  gottfeindUchen 
Sändergemeinschafb  erblickt.  Ihm  ist  in  der  That  noch  das  Reich  Gottes  nicht 
von  dieser  Welt;  und  die  Kirche  ist  ihm  die  in  das  zeitliche  Leben  hereinragende 
Heilsanstalt  des  göttlichen  Reiches. 

Der  Verlauf  der  Welt  geschieh  te  aber  wird  unter  diesen  Voraussetzungen 
so  aufgefasst;  dass  in  demselben  eine  successiv  sich  verschärfende  Trennung 
zwischen  den  beiden  Reichen  eintreten  und  ihr  letztes  Ziel  die  vollkommene 
und  definitive  Scheidung  derselben  sein  soll.  In  sechs  Perioden,  welche  den 
Schöpfungstagen  der  mosaischen  Kosmogonie  entsprechen  sollen  und  sich  an 
Daten  der  israelitischen  Geschichte  anschliessen,  construirt  Augustin  die  Welt- 
geschichte: mit  geringem  Verständniss  für  das  Wesen  des  Griechenthums  ver- 
bindet er  dabei  eine  abschätzige  Beurtheilung  der  römischen  Welt.  Den  ent- 
scheidenden Punkt  in  dieser  Entwicklung  bildet  auch  für  ihn  das  Erscheinen  des 
Heilandes,  womit  nicht  nur  die  Erlösung  der  von  der  Gnade  Erwählten,  sondern 
auch  ihre  Absonderung  von  den  ^Kindern  der  Welt  zur  Vollendung  gefährt  wird. 
Damit  beginnt  die  letzte  Weltperiode,  deren  Ende  das  Gericht  bilden  wird : 
dann  soll  nach  der  Noth  des  Kampfes  der  Sabbath  eintreten,  der  Friede  des 
Herrn,  —  aber  der  Friede  nur  für  die  Erwählten;  denn  die  nicht  zur  Erlösung 
Prädestinirten  werden  dann,  völlig  von  den  Heiligen  getrennt,  ganz  der  Pein 
ihrer  Unseligkeit  anheimgegeben  sein. 

Mögen  dabei  Sehgkeit  und  Pein  noch  so  geistig  sublim  (obwohl  nie 
ohne  physische  Nebenbilder)  aufgefasst  und  namentlich  die  Unseligkeit  als  Ab- 
Schwächung  des  Seins  durch  den  Mangel  göttlicher  Causalität  gedacht  sein,  so 
ist  doch  unverkennbar  für  Augustin  der  Dualismus  des  Guten  und  des  Bösen 
das  Endergebniss  der  Weltgeschichte.  Der  von  so  vielen  gewaltigen  Denkmotiven 
bestürmte  Mann  hat  den  Manichäismus  seiner  Jugendüberzeugung  nicht  über- 
wunden, —  er  hat  ihn  in  die  Christenlehre  aufgenommen.  Bei  den  Manichäern 
gilt  der  Gegensatz  des  Guten  und  des  Bösen  als  ursprünglich  und  unvertilgbär: 
bei  Augustin  gilt  dieser  Gegensatz  zwar  als  geworden,  aber  doch  als  unausrottbar. 
Der  allmächtige,  allwissende,  allgütige  Gott  hat  eine  Welt  geschaffen,  welche  in 
sein  Reich  und  in  das  des  Satan  für  ewig  auseinanderfallt. 

7.  Unter  den  welthistorischen  Ideen-  und  ProblemverschUngungen,  welche 
der  Augustinismus  enthält,  ist  schliessUch  noch  eine  hervorzuziehen.  Sie  hegt 
in  dem  Begriffe  der  Seligkeit  selbst,  in  dem  sich  alle  Motive  seines  Denkens 
kreuzen.   So  sehr  nämlich  Augustin  im  Willen  die  innerste  Triebenergie  des 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  ]^5 


A 


226  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

menschlichen  Wesens  erkannte,  so  tief  er  das  Glückstreben  als  das  treibende 
Motiv  aller  seelischen  Functionen  durchschaute,  so  fest  blieb  er  doch  über- 
zeugt, dass  die  Erfüllung  alF  dieses  Drängens  und  Treibens  erst  in  der  An- 
schauung der  göttlichen  Wahrheit  zu  finden  sei.  Das  höchste  Gut  ist 
Gott;  aber  Gott  ist  die  Wahrheit,  und  die  Wahrheit  geniesst  man,  indem  man 
sie  anschaut  und  in  ihrer  Anschauung  ruht.  Alles  Treiben  des  Willens  ist 
nur  der  Weg  zu  diesem  Frieden,  in  dem  er  aufhört.  Die  letzte  Aufgabe  des 
Willens  ist,  in  der  Gnadenwirkung  der  göttlichen  Offenbarung  zu  schweigen, 

—  stille  zu  halten,  wenn  das  Schauen  der  Wahrheit,  von  oben  gewirkt,  über  ihn 
kommt. 

Hier  verbinden  sich  in  gemeinsamem  Gegensatze  gegen  den  Willens- 
individualismus die  christliche  Idee  der  absoluten  Causalität  Gottes  und  die 
contemplative  Mystik  der  Neuplatoniker.  Von  beiden  Seiten  her  wirkt  die  gleiche 
Tendenz,  die  Heiligung  des  Menschen  als  ein  Wirken  Gottes  in  ihm,  als  ein  Er- 
filUtwerden  und  Erleuchtetwerden  durch  die  höchste  Wahrheit,  als  ein  willen- 
loses Anschauen  des  Einen  unendlichen  Seins  aufzufassen.   Wohl  hat  Augustin 

—  und  gerade  darin  zeigt  sich  die  umspannende  Weite  seines  persönlichen 
Wesens  und  seines  geistigen  BHcks  —  die  praktischen  Consequenzen,  welche  die 
Gnadenwirkung  im  irdischen  Leben  haben  soll,  die  Reinigung  der  Gesinnung 
und  die  Strenge  der  Lebensführung,  kraftig  herausgebildet  und  die  lebensfrische 
Energie  seiner  eigenen  streitbaren  Natur  in  eine  ethische  Lehre  entwickelt, 
welche,  weitab  von  der  lebensmüden  Weltflüchtigkoit  des  Neuplatonisraus,  den 
Menschen  mitten  in  den  Weltkampf  des  Guten  und  Bösen  als  tapferen  Streiter 
für  das  himmlische  Reich  stellt.  Aber  der  höchste  Lohn,  der  diesem  Streiter 
Gottes  winkt,  ist  doch  auch  für  Augustin  nicht  die  rastlose  Bethätigung  des 
Willens,  sondern  die  Ruhe  des  Schauens.  Für  das  zeitliche  Leben  ver- 
langt Augustin  die  volle  und  nimmer  ruhende  Anspannung  der  ringenden  und 
handelnden  Seele:  für  die  Ewigkeit  stellt  er  ihr  den  Frieden  der  Ver- 
senkung in  die  göttliche  Wahrheit  in  Aussicht.  Wohl  bezeichnet  er  den  Zu- 
stand der  Sehgen  als  die  höchste  der  Tugenden,  als  die  Liebe  ^)  (charitas): 
allein  in  der  ewigen  Seligkeit,  wo  der  Widerstand  der  Welt  und  des  sündigen 
Willens  nicht  mehr  zu  überwinden  ist,  wo  die  Liebe  kein  Bedürfniss  mehr  zu 
stillen  hat,  da  ist  auch  diese  Liebe  nichts  anderes  mehr  als  ein  gotttrunkenes 
Schauen. 

Auch  in  dieser  Dualität  der  augustinischen  Ethik  liegen  Altes  und  Neues 
dicht  bei  einander.  Mit  der  straffen  Willensenergie,  welche  für  das  irdische 
Leben  verlangt  wird,  und  mit  der  Verlegung  der  ethischen  Beurtheilung  in  die 
Innerlichkeit  der  Gesinnung  kommt  der  moderne  Mensch  zum  Durchbruch:  aber 
in  der  Auffassung  des  höchsten  Lebensziels  behält  das  antike  Ideal  des  geistigen 
Schauens  den  Sieg. 

Hier  steckt  in  Augustinus  Lehre  selbst  ein  Widerspruch  mit  dem  Willens- 
individualismus, hier  behauptet  sich  an  entscheidender  Stelle  ein  aristoteHscbes, 
neuplatonisches  Element,  und  dieser  innere  Gegensatz  entfaltet  sich  in  den 
Problembildungen  des  Mittelalters. 


1)  Im  System  erscheinen  über  den  praktischen  und  den  dianoÖtischen  Tugenden  der 
griechischen  Ethik  die  drei  christlichen  Tugenden  Glaube,  Hofinung  und  Liebe. 


I 


§  23.  Der  Universalienetreit.  227 

%  23.  Der  üniverBalienstreit. 

Johannes  Saresberiensis,  Metalogicus,  II  cap.  171. 

J.  H.  Löwe,  Der  Kampf  zwischen  Norainalismas  und  Realismus  im  Mittelalter,  sein. 
Ursprung  und  sein  Verlauf.  Prag  1876. 

Die  formal- logische  Schulung,  welche  die  mit  dem  Anfang  des  Mittel- 
alters in  die  wissenschaftliche  Bewegung  eintretenden  Völker  durchmachen 
mussten,  hat  sich  an  der  Frage  nach  der  logisch-metaphysischen  Bedeutung 
der  Gattungsbegriffe  (universalia)  entwickelt.  Aber  man  würde  sehr  irren, 
wollte  man  meinen,  dass  diese  Frage  nur  den  didaktischen  Werth  eines  Haupt- 
gegenstandes der  Denkübung  gehabt  habe,  an  dem  sich  Jahrhunderte  lang 
die  Regeln  des  begrifflichen  Denkens,  Eintheilens,  Urtheilens  und  Schliessens 
immer  neuen  und  wachsenden  Schaai*en  von  Schülern  einprägten.  Vielmehr  ist 
die  Zähigkeit,  mit  welcher  die  Wissenschaft  des  Mittelalters  —  und  zwar  be- 
zeichnender Weise  unabhängig  von  einander  sowohl  diejenige  des  Orients  als 
auch  diejenige  des  Occidents  —  an  der  Bearbeitung  dieses  Problems  in  endlosen 
Discussionen  festgehalten  hat,  denn  doch  an  sich  schon  ein  Beweis  dafür,  dass 
in  dieser  Frage  ein  sehr  reales  und  sehr  schwieriges  Problem  vorliegt. 

In  der  That,  als  die  Scholastik  schon  in  ihren  schüchternen  Anfangen  die 
Stelle  in  der  Einleitung  des  Porphyrios  *)  zu  den  Kategorien  des  Aristoteles,  welche 
dies  Problem  formulirt,  zum  Ausgangspunkt  der  ersten  eigenen  Denkversuche 
machte,  da  stiess  sie  mit  instinctivem  Scharfsinne  auf  genau  dasselbe  Problem, 
welches  schon  während  der  grossen  Zeit  der  griechischen  Philosophie  im  Mittel- 
punkte des  Interesses  gestanden  hatte.  Nachdem  Sokrates  der  Wissenschaft  die 
Aufgabe  gewiesen  hatte,  die  Welt  in  Begriffen  zu  denken,  wurde  die  Frage,  wie 
sich  die  Gattungsbegriffe  zur  Realität  verhalten ,  zum  ersten  Mal  ein  Haupt- 
motiv der  Philosophie:  sie  erzeugte  die  platonische  Ideenlehre  und  die  ari- 
stotelische Logik;  und  wenn  die  letztere  (vgl.  §  12)  zu  ihrem  wesentlichen  Inhalt 
die  Lehre  von  den  Formen  der  Abhängigkeit  hatte,  in  der  sich  das  Besondere 
vom  Allgemeinen  befindet,  so  ist  es  begreiflich,  dass  selbst  aus  so  spärUchen  Resten 
und  Bruchstücken  dieser  Lehre,  wie  sie  dem  frühsten  Mittelalter  zur  Verfugung 
standen,  dasselbe  Problem  mit  seiner  ganzen  Gewalt  auch  dem  neuen  Geschlecht 
entgegenspringen  musste.  Und  es  ist  ebenso  begreiflich,  dass  die  alte  Räthsel- 
frage  auf  die  naiven,  denkungeübten  Geister  des  Mittelalters  ähnlich  wirkte,  wie 
auf  die  Griechen.  In  der  That  hat  die  logische  Disputirlust,  wie  sie  sich  seit  dem 
eilften  Jahrhundert  an  den  Pariser  Hochschulen  entwickelte,  als  sociale  Massen- 
erscheinung ihr  Gegenstück  nur  in  den  Philosophendebatten  Athens,  und  auch 
in  diesen  spielte,  wie  zahlreiche  Anekdoten  beweisen,  die  um  die  Ideenlehre 
gruppirte  Frage  nach  der  Realität  der  üniversalien  eine  Hauptrolle. 

Dabei  geschah  jedoch  die  Erneuerung  des  Problems  unter  wesentlich  un- 
günstigeren Verhältnissen.  Die  Griechen  besassen,  als  ihnen  diese  Frage  auf- 
tauchte, eine  reiche  Fülle  eigener  wissenschaftlicher  Erfahrung  und  einen  Schatz 
sachlicher  Kenntnisse  und  Einsichten,  der  sie,  wenn  auch  nicht  immer,  so  doch 
meistens  und  im  Ganzen  davor  bewahrte,  die  Discussion  lediglich  auf  die  formal- 


1)  Die  Pormulirung  des  Problems  lautet  in  der  Uebersetzung  des  Boethius:  „.  . .  de 
generibus  et  speciebus  —  sive  subsistaut  sive  in  solis  nudis  intellectibus  posita  sint,  sive  sub- 
sistentia  corporalia  an  iucorporalia,  et  utrum  scparata  a  sensibilibus  an  in  sensibilibus  posita 
et  circa  haec  consistentia"  . .  . 


15 


"  A 
(\^ 


228  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.  1.  Erste  Periode. 

logische  Abstraction  hiniiberzuspielen.  Gerade  dies  Gegengewicht  aber  fehlte 
der  mittelalterlichen  Wissenschaft,  zumal  in  ihren  Anfangen,  und  deshalb  hat  sie 
sich  mit  dem  Versuche,  aus  bloss  logischen  üeberlegungen  ihre  Metaphysik  zu 
constituiren,  so  lange  im  Kreise  herum  drehen  müssen. 

Dass  nun  aber  wiederum  das  Mittelalter  sich  so  hartnäckig  in  diese  Contro- 
verse  verbiss,  die  vordem  hauptsächlich  zwischen  Piaton  und  den  Kynikern,  und 
nachher  zwischen  der  Akademie,  dem  Lyceum  und  der  Stoa  verfochten  worden  war, 
das  kam  doch  nicht  nur  daher,  dass  man  bei  der  Mangelhaftigkeit  der  Tradition 
von  jenen  früheren  Debatten  so  gut  wie  nichts  wusste,  sondern  es  hatte  noch 
einen  tieferen  Grund.  Das  Gefühl  von  dem  Eigen werthe  der  Persönlichkeit,  das 
im  Christenthum  und  insbesondere  auch  in  der  augustinischen  Lehre  einen  so 
gewaltigen  Ausdruck  gewonnen  hatte,  fand  gerade  bei  den  Stämmen,  welche  zu 
den  neuen  Trägern  der  Cultur  berufen  waren,  den  lebhaftesten  Widerhall  und 
die  stärkste  Mitempfindung,  und  im  Herzen  derselben  Völker  tobte  auch  die 
jugeudfrische  Lust  an  der  farbigen  Wirklichkeit,  an  der  lebendigen  Einzel- 
erscheinung. Mit  der  Kirchenlehre  aber  überkamen  sie  eine  Philosophie,  welche 
mit  der  massvollen  Ruhe  des  griechischen  Denkens  das  Wesen  der  Dinge  in  all- 
gemeinen Zusammenhängen  auffasste,  eine  Metaphysik,  welche  die  Stufen  der 
logischen  Universalität  mit  verschiedenwerthigen  Intensitäten  des  Seins  iden- 
tificirte.  Darin  lag  eine  Tncongruenz,  welche  sich  verdeckt  schon  im  Augustinis- 
mus geltend  machte  und  ein  bleibender  Stachel  für  die  philosophische  lieber- 
legung  wurde. 

1.  Die  Frage  nach  dem  Seinsgrunde  des  Individuums,  welche  das  mittel- 
alterliche Denken  nicht  wieder  losgeworden  ist,  lag  demselben  gerade  in  seinen 
Anfangen  um  so  näher,  je  kräftiger  sich  darin  unter  der  Hülle  einer  christlichen 
Mystik  die  neuplatonische  Metaphysik  aufrechterhielt.  Nichts  konnte  geeigneter 
sein,  den  Widerspruch  eines  urwüclisigen  Individualismus  hervorzurufen,  als  die 
hochgradige  Consequenz,  mit  welcher  Scotus  Erigena  den  Grundgedanken  des 
neuplatonischen  Realismus  zur  Durchführung  brachte.  Kein  Philosoph 
vielleicht  hat  deutlicher  und  unumwundener  als  er  die  letzten  Folgerungen  der 
Metaphysik  ausgesprochen,  welche  von  dem  sokratisch-platonischen  Princip  aus, 
dass  die  Wahrheit  und  deshalb  auch  das  Sein  im  Allgemeinen  zu  suchen  sei,  die 
Stufen  der  Allgemeinheit  mit  denjenigen  der  Intensität  und  der  Priorität  des 
Seins  identificirt.  Das  Allgemeine  (der  Gattungsbegriff)  erscheint  hier  als  das 
wesenhafter  und  ursprünglicher  Wirkliche,  welches  das  Besondere  (die  Art  und 
schliesslich  das  Individuum)  aus  sich  erzeugt  und  in  sich  enthält.  Die 
Uni  Versalien  sind  also  nicht  nur  Substanzen  (res;  daher  der  Name  Realismus), 
sondern  sie  sind  den  körperlichen  Einzeldingen  gegenüber  die  ursprünglicheren, 
die  erzeugenden  und  bestimmenden,  sie  sind  die  realeren  Substanzen;  und  zwar 
sind  sie  um  so  realer,  je  allgemeiner  sie  sind.  In  dieser  Auffassung  werden 
daher  die  logischen  Verhältnisse  der  Begriffe  unmittelbar  zu  metaphysischen  Be- 
ziehungen ;  die  formale  Ordnung  erhält  reale  Bedeutung.  Die  logische  Unter- 
ordnung verwandelt  sich  in  ein  Erzeugtsein  und  Beschlossensein  des  Einzelnen 
durch  das  Allgemeine;  die  logische  Partition  und  Determination  setzt  sich  in 
einen  Causalprocess  um,  vermöge  dessen  das  Allgemeine  sich  in  das  Besondere 
gestaltet  und  entfaltet. 

Die  so  zu  metaphysischer  Bedeutung  erhobene  Begriffspyramide  gipfelt  in 


§  23.  Der  Universalienetreit.  (Scotus  En'gena.)  229 

dem  Begriffe  der  Gottheit  als  des  Allgemeinsten.  Aber  das  letzte  Product  der 
Abstraction,  das  absolut  Allgemeine  ist  das  Bestimmungslose  (vgl.  8.  197). 
Daher  identificirt  sich  diese  Lehre  mit  der  alten  ^negativen  Theologie^,  nach 
welcher  von  Gott  nur  ausgesagt  werden  kann,  was  er  nicht  ist^);  und  doch  wird 
echt  plotinisch  auch  hier  dies  höchste  Sein  als  die  ^  ungeschaffene;  aber  selbst 
schaffende  Natur^  bezeichnet.  Denn  dies  Allgemeinste  erzeugt,  aus  sich  die  Ge- 
sammtheit  der  Dinge^  die  deshalb  nichts  anderes  enthält  als  seine  Erscheinung 
und  die  sich  zu  ihm  verhält  wie  die  besonderen  Exemplare  zur  Gattung :  sie  sind 
in  ihm  und  bestehen  nur  als  seine  Erscheinungsweisen.  So  ergiebt  sich  aus  diesen 
Voraussetzungen  ein  logischer  Pantheismus:  alle  Dinge  der  Welt  sind 
„Theophanien^,  die  Welt  ist  der  in  das  Besondere  entwickelte;  aus  sich  heraus 
gestaltete  Gott  (deus  explicitus).  Gott  und  Welt  sind  Eins.  Dieselbe  „Natur** 
(<p&a(^)  ist  als  schaffende  Einheit  Gott  und  als  geschaffene  Vielheit  Welt. 

Der  Process  der  Entfaltung  (egressus)  aber  schreitet  in  der  Abstufung  der 
logischen  Allgemeinheit  vor.  Aus  Gott  folgt  zunächst  die  intelligible  Welt  als 
;,die  Natur,  welche  geschaffen  ist  und  selbst  schafft";  das  Reich  der  Universalien, 
der  IdeeU;  die  (als  voi  im  plotinischen  Sinne)  die  wirkenden  Kräfte  in  der  sinn- 
lichen Erscheinungswelt  bilden.  Den  verschiedenen  Graden  der  Allgemeinheit 
und  deshalb  auch  der  Seinsintensität  nach  bauen  sie  sich  als  eine  himmlische 
Hierarchie  auf,  und  in  diesem  Sinne  construirt  die  christliche  Mystik  eine  c 
Engellehre  nach  neuplatonischem  Muster.  Ueberali  aber  ist  dabei  unter  der 
mythischen  Hülle  der  bedeutsame  Gedanke  wirksam,  dass  die  reale  Abhängig- 
keit in  der  logischen  bestehe:  dem  Üausalverhältniss  wird  das  logische  Folgen 
des  Besonderen  aus  dem  Allgemeinen  untergeschoben. 

Daher  ist  denn  auch  in  der  Siunenwelt  das  eigentlich  Wirkende  nur  das 
Allgemeine:  die  Gesammtheit  der  Körper  bildet  die  „Natur^  welche  geschaffen 
ist  und  nicht  selbst  schafft"  ^.  Darin  aber  ist  das  einzelne  Ding  nicht  als  solches, 
sondern  vielmehr  nach  Massgabe  der  allgemeinen  Bestimmungen;  die  an  ihm  zur 
Erscheinung  gelangen,  thätig.  Dem  sinnlichen  Einzelding  kommt  sonach  die 
geringste  Kraft  des  Seins,  die  abgeschwächteste  und  durchweg  abhängige  Art 
der  Realität  zu :  der  neuplatonische  Idealismus  wird  von  Scotus  Erigena  in 
vollem  Umfange  aufrecht  erhalten. 

Den  Stufen  der  Entfaltung  entspricht  umgekehrt  die  Rückkehr  aller  Dinge 
in  Gott  (regressus),  die  Auflösung  der  einzelgestalteten  Welt  in  das  ewige  Ur- 
weseU;  die  Vergottung  der  Welt.  So  gedacht,  als  das  letzte  Ziel  allen  Ge- 
schehens; als  die  Auslöschung  aller  Besonderung;  wird  Gott  als  „die  Natur,  die 
weder  geschaffen  ist  noch  schafft",  bezeichnet:  es  ist  das  Ideal  der  bewegungs- 
losen Einheit,  der  absoluten  Ruhe  am  Ende  des  Weltprocesses.  Alle  Theophanien 
sind  dazu  bestimmt;  in  die  unterschiedslose  Einheit  des  göttlichen  Allwesens 
zurückzukehren.  So  soll  auch  im  Geschick  der  Dinge  sich  die  übermächtige, 
alles  Besondere  verschlingende  Realität  des  Allgemeinen  bewähren. 


1)  In  der  Ausführung  dieses  philonischen  Gedankens  (vgl.  S.  186)  haben  übrigens  schon 
die  Kirchenväter  einen  Gedankengang  angewendet,  welcher  durch  fortschreitende  Abstraction 
zum  Begriffe  Gottes  als  des  Bcstinunungslosen  fortschreitet:  vgl.  z.  B.  Clemens  Alex.  Strom. 
V,  11  (689).  —  2)  Es  braucht  nur  kurz  erwähnt  zu  werden,  dass  diese  „Eintheilung  der  Natur" 
offenbar  an  die  aristotelische  Unterscheidung  des  unbewegt  Bewegenden,  des  bew^egt  Be- 
wegenden und  des  nicht  bewegend  Bewegten  (vgl.  S.  113)  eriunert. 


230  m^-  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

2.  Wie  im  Alterthum  (vgl.  S.  95),  so  erscheint  also  auch  hier  im  Gefolge 
des  Bestrebens,  den  üniversalien  Wahrheit  und  Realität  zu  sichern,  der  eigen- 
thümliche  Gedanke  einer  Gradabstufung  des  Seins.  Einiges  (das  Allgemeine), 
lehrt  man,  ist  mehr  als  Anderes  (das  Besondere):  das  „Sein"  wird,  wie  sonstige 
Eigenschaften,  als  comparirbar,  als  steigerungs-  bezw.  abschwächungsfahig  an- 
gesehen; es  kommt  den  einen  Dingen  mehr  zu,  als  den  anderen.  So  gewöhnt 
man  sich  daran ,  den  Begriff  des  Seins  (esse-  existere)  zu  demjenigen ,  was 
ist  (essentia) ,  in  ähnlicher  Beziehung  und  in  ähnlich  intensiv  abgestufter  Be- 
ziehung zu  denken,  wie  andere  Merkmale  und  Eigenschaften.  Wie  ein  Ding  mehr 
oder  minder  Ausdehnung,  Kraft,  Haltbarkeit  besitzt,  so  hat  es  auch  mehr  oder 
minder  „Sein*^ ;  und  wie  es  andere  Eigenschaften  empfangen  oder  verlieren  kann, 
so  auch  diejenige  des  Seins.  Diese  Gedankenrichtung  des  Realismus  muss  man 
im  Auge  haben,  um  eine  grosse  Anzahl  der  metaphysischen  Theorien  des  Mittel- 
alters zu  verstehen;  sie  erklärt  auch  zunächst  die  bedeutendste  Lehre,  welche  der 
Realismus  erzeugt  hat:  den  ontologischen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes, 
welchen  Anselm  von  Canterbury  aufgestellt  hat. 

Je  mehr  Allgemeinheit,  desto  mehr  Realität.  Daraus  folgt,  wenn  Gott  das 
allgemeinste  Wesen  ist,  dass  er  auch  das  realste,  wenn  er  das  absolut  allgemeine 
Wesen  ist,  dass  er  auch  das  absolut  reale  Wesen  ist:  ens  realissimum.  Er 
hat  deshalb  seinem  Begriffe  nach  nicht  nur  die  vergleichsweise  grösste  Realität, 
sondern  auch  die  absolute  Realität,  d.  h.  eine  Realität,  wie  sie  grösser  und  höher 
nicht  gedacht  werden  kann. 

Dabei  ist  nun  aber  durch  die  ganze  Entwicklung,  welche  diese  Gedanken- 
reihe schon  im  Alterthum  genommen  hat,  in  den  Begrfff  des  Seins  untrennbar 
auch  das  Werthprädicat  der  Vollkommenheit  eingeschmolzen.  Die  Grade  des 
Seins  sind  diejenigen  der  Vollkommenheit:  je  mehr  etwas  ist,  um  so  vollkommener 
ist  es,  und  umgekehrt,  je  vollkommener  etwas  ist,  um  so  mehr  ist  es  *).  Der  Be- 
griff des  höchsten  Seins  ist  also  auch  derjenige  einer  absoluten  Vollkommenheit, 
d.  h.  einer  Vollkommenheit,  wie  sie  höher  und  grösser  nicht  gedacht  werden 
kann:  ens  perfectissimum. 

Nach  diesen  Voraussetzungen  schliesst  Anselm  völlig  richtig,  aus  dem  blossen 
Begriffe  Gottes  als  des  allervoUkommensten  und  allerrealsten  Wesens  müsse  seine 
Existenz  gefolgert  werden  können.  Um  aber  dies  zu  thun,  hat  er  verschiedene 
Beweiswege  einzuschlagen  versucht.  In  seinem  Monologium  folgt  er  dem  alten 
kosmologischen  Argument,  dass,  weil  es  überhaupt  Sein  giebt,  ein  höchstes  und 
absolutes  Sein  angenommen  werden  müsse,  von  dem  alles  andere  Seiende  sein  Sein 
habe  und  das  selbst  nur  von  sich  aus,  seiner  eigenen  Wesenhaftigkeit  nach,  sei 
(Aseitas).  Während  alles  einzelne  Seiende  auch  als  nicht-seiend  gedacht  werden 
kann  und  deshalb  die  Realität  seines  Wesens  nicht  sich  selbst,  sondern  einem 
Anderen  (eben  dem  Absoluten)  verdankt,  kann  das  Vollkommenste  nur  als  seiend 
gedacht  werden  und  existirt  somit  kraft  der  Nothwendigkeit  seiner  eigenen 
Natur.  Gottes  (und  nur  Gottes)  Essenz  involvirt  seine  Existenz.  Den  Nerv 
dieses  Beweises  bildet  somit  in  letzter  Instanz  der  eleatische  Grundgedanke: 
Sottv  elvat,  das  Sein  ist  und  kann  nicht  anders  als  seiend  gedacht  werden. 

1)  Ein  Princip,  welches  der  Theodicee  bei  Augustiu,  wie  bei  den  Ncuplatonikeru  zu 
Grunde  liegt,  insofern  als  bei  beiden  das  Seiende  eo  ipso  als  gut,  das  Böse  dagegen  als  nicht 
wahrhaft  seiend  galt. 


§23.  Der  Univer8aliea«treit.  (Anselm.)  231 

In  eine  eigenthümliche  Verwicklung  aber  verstrickte  Anselm  denselben  Ge- 
danken, indem  er  ihn  zu  vereinfachen  und  in  sich  zu  verselbständigen  meinte^ 
Im  Proslogium  trat  er  den  (im  eigentlichen  Sinne  so  genannten  ontologischen)  Be- 
weis an,  dasSy  ohne  jede  Rücksicht  auf  das  Sein  anderer  Dinge,  schon  der  blosse 
Begriff  des  vollkommensten  Wesens  dessen  Kealität  involvire.  Indem  dieser  Be- 
griff gedacht  wird,  besitzt  er  psychische  Realität :  das  allervollkommenste  Wesen 
ist  als  Bewusstseinsinhalt  (esse  in  intellectu).  Wenn  es  nun  aber  nur  als  Be- 
wusstseinsinhalt  und  nicht  auch  in  metaphysischer  Wirklichkeit  existirte  (esse 
etiam  in  re),  so  könnte  offenbar  noch  ein  vollkommeneres  Wesen  gedacht  werden, 
welches  nicht  nur  psychische,  sondern  auch  metaphysische  Realität  besässe,  und 
damit  wäre  jenes  nicht  das  allervollkommenste.  Somit  gehört  es  zum  Begriffe  des 
vollkommensten  Wesens  (quo  malus  cogitari  non  potest),  dass  es  nicht  nur  vor- 
gestellte, sondern  auch  absolute  Reahtät  besitzt. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  Anselm  mit  dieser  Formulirung  keinen  glück- 
lichen Griff  that,  und  dass,  was  ihm  vorschwebte,  darin  nur  zu  sehr  ungelenkem 
Ausdruck  kam.  Denn  wenig  Scharfsinn  gehört  dazu,  um  einzusehen,  dass  Anselm 
nur  bewiesen  hatte,  Gott  müsse,  wenn  er  (als  vollkommenstes  Wesen)  gedacht 
wird,  auch  nothwendig  als  seiend,  könne  nicht  als  nicht-seiend  gedacht  werden. 
Aber  der  ontologische  Beweis  des  Proslogium  zeigte  auch  nicht  im  Entferntesten, 
dass  Gott,  d.  h.  dass  ein  voUkouunenstes  Wesen  gedacht  werden  müsse.  Die 
Nöthigung  dazu  stand  für  Anselm  persönlich  nicht  nur  durch  seine  gläubige 
Ueberzeugung,  sondern  auch  durch  den  kosmologischen  Beweisgang  des  Mono- 
logium  fest :  indem  er  diese  Voraussetzung  entbehren  und  mit  dem  blossen  Be- 
griffe Gottes  zum  Beweise  seiner  Existenz  auskommen  zu  können  glaubte,  be- 
thätigte  er  in  typischer  Weise  die  Grundvorstellung  des  Realismus,  welche  den 
Begriffen,  ohne  jede  Rücksicht  auf  ihre  Genesis  und  Begründung  im  menschlichen 
Geiste,  den  Charakter  der  Wahrheit,  d.  h.  der  Realität  zuschrieb.  Deshalb  allein 
konnte  er  aus  der  psychischen  auf  die  metaphysische  Wirklichkeit  des  Gottes- 
begriffs zu  schliessen  versuchen. 

Darum  traf  in  der  That  die  Polemik  des  Gaunilo  in  gewisser  Hinsicht 
den  wunden  Punkt.  Dieser  führte  nämlich  aus,  dass  man  nach  der  Methode 
Anselm's  für  jede  beliebige  Vorstellung,  z.  B.  diejenige,  einer  Insel,  wenn  man 
nur  das  Merkmal  der  Vollkommenheit  darin  aufnähme,  in  ganz  derselben  Weise 
die  Realität  würde  beweisen  können.  Denn  die  vollkommenste  Insel  würde, 
wenn  sie  nicht  wirkhch  wäre,  offenbar  von  der  wirklichen,  welche  dieselben 
übrigen  Merkmale  besässe,  an  Vollkommenheit  übertroffen  worden;  sie  würde 
um  das  Sein  hinter  dieser  zurückstehen.  Statt  aber,  wie  man  erwarten  könnte, 
in  seiner  Replik  zu  zeigen,  dass  der  Begriff  einer  vollkommenen  Insel  eine  durch- 
aus unbenöthigte  willkürliche  Fiction  sei  oder  dass  derselbe  einen  inneren  Wider- 
spruch enthalte,  während  der  Begriff  des  aUerrealsten  Wesens  nothwendig  und 
widerspruchslos  sei,  ergeht  sich  Anselm  in  der  Wiederholung  des  Arguments, 
dass,  wenn  das  vollkommenste  Wesen  im  Intellect  sei,  es  auch  in  re  sein  müsse. 

So  gering  nun  auch  hiernach  die  zwingende  Kraft  dieses  Beweisversuches 
für  denjenigen  bleibt,  der  nicht,  wie  Anselm  ohne  es  sich  einzugestehen  thut, 
den  Begriff  eines  absoluten  Seins  als  denknothwendig  ansieht,  so  werthvoll  ist 
das  ontologische  Argument  für  die  Charakteristik  des  mittelalterlichen  Realismus, 
dessen  consequentesten  Ausdruck  es  bildet.  Denn  der  Gedanke,  dass  das  höchste 


232  m«  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

Wesen  seine  Realität  nur  der  eigenen  Wesenhaftigkeit  verdanke  und  dass  des- 
halb diese  Realität  aus  seinem  Begriffe  allein  müsse  bewiesen  werden  können,  ist 
der  natürliche  Abschluss  einer  Lehre,  welche  das  Sein  der  Wahmehmungsdinge 
auf  ein  Theilhaben  an  Begriffen  zurückfuhrt  und  innerhalb  der  Begriffe  selbst 
wieder  eine  Bangordnung  der  Realität  nach  dem  Massstabe  der  Allgemeinheit 
ansetzt. 

3.  Als  es  sich  nun  aber  darum  handelte,  die  Art  der  Wirklichkeit,  welche 
den  Universalien  zukomme,  und  ihr  Verhältniss  zu  den  sinnUchen  Einzeldingen 
zu  bestimmen,  sah  sich  der  mittelalterliche  Realismus  in  ganz  ähnliche  Schwierig- 
keiten wie  einst  der  platonische  verwickelt.  Den  Gedanken  einer  zweiten, 
höheren,  immateriellen  Welt  freilich,  der  damals  erst  hatte  geboren  werden 
müssen,  übernahm  man  jetzt  als  eine  fertige  und  fast  selbstverständliche  Lehre; 
und  die  neuplatonische  Auffassung  der  Ideen  als  Inhaltsbestimmungen  des  gött- 
lichen (Teistes  konnte  dem  reUgiös  gestimmten  Denken  nur  sympathisch  sein. 
Nach  dem  Vorbilde  des  platonischen  Timaeus,  dessen  mythische  Darstellung 
diese  Auffassung  begünstigte,  entwarf  Bernhard  von  Chartres  eine  kosmo- 
gonische  Dichtung  von  grotesker  Phantastik,  und  bei  seinem  Bruder  Theodorich 
finden  sich,  aus  den  gleichen  Anregungen  stammend,  Versuche  einer  Zahlen- 
symbolik, welche  nicht  nur  (wie  das  auch  sonst  geschah)  das  Dogma  von  der 
Trinität,  sondern  auch  weitere  metaphysische  Grundbegriffe  aus  den  Elementen 
der  Einheit,  Gleichheit  und  Ungleichheit  zu  entwickeln  unternahm  ^). 

Neben  dieser  vorbildlichen  Realität  der  Ideen  im  Geiste  Gottes  handelt 
es  sich  aber  auch  darum,  welche  Bedeutung  ihnen  im  Zusammenhange  der  ge- 
schaffenen Welt  zuerkannt  werden  soll.  Auch  hierin  hat  der  extreme  Reahs- 
mus,  wie  ihn  anfanglich  Wilhelm  von  Champeaux  behauptete,  die  volle  Sub- 
stantialität  des  Gattungsbegriffs  gelehrt:  das  Universale  wohne  allen  seinen 
Individuen  ab  die  überall  mit  sich  identische,  ungetheilte  Wesenhaftigkeit  bei. 
Danach  erscheint  die  Gattung  als  die  einheitliche  Substanz,  und  die  specifischen 
Merkmale  der  ihr  zugehörigen  Individuen  als  die  Accidenzen  dieser  Substanz. 
Erst  Abaelard's  Einwurf,  dass  danach  derselben  Substanz  einander  vrider- 
sprechende  Accidenzen  zugeschrieben  werden  müssten,  zwang  den  Vertreter  des 
Realismus,  diese  äusserste  Position  aufzugeben  und  sich  auf  die  Vertheidigung 
des  Satzes  zu  beschränken,  die  Gattung  bestehe  in  den  Individuen  individualiter  ^) ; 
d.  h.  ihre  allgemeine,  identische  Wesenhaftigkeit  gestalte  sich  in  jedem  einzelnen 
Exemplar  in  besonderer  substantieller  Form.  Diese  Ansicht  berührte  sich  mit 
der  durch  Boethius  und  Augustin  aufrecht  erhaltenen  und  auch  in  der  Litteratur 
der  Zwischenzeit  gelegentlich  erwähnten  Auffassung  der  Neuplatoniker,  und  ihre 
Darstellung  bewegt  sich  gern  in  der  aristotelischen  Terminologie,  wonach  denn 
das  Allgemeine  als  die  unbestimmtere  Möglichkeit  erscheint,  welche  sich  in  den 
Individuen  vermittels  der  eigenthümlichen  Formen  derselben  verwirklicht.  Der 
Begriff  ist  dann  nicht  mehr  im  eigentlichen  Sinne  Substanz,  sondern  das  gemein- 
same Substrat,  welches  in  den  einzelnen  Exemplaren  verschieden  gestaltet  ist. 

Auf  einem  anderen  Wege  suchte  Walter  von  Mortagne  die  Schwierigkeit 
zu  heben,  indem  er  die  Individualisirung  der  Gattungen  zu  Arten  und  der  Arten 


1)  Vgl.  die  Auszüge  bei  HAURtAü,  Hist.  d.  1.  ph.  sc.  I,  396  ff.  —  2)  lieber  die  schwerlich 
aufrechtzuerhaltende  Variante  „indifferenter"  vgl.  LöwB,  a.  a.  0.  p.  49  ff. 


§  23.  Der  Univerealienstreit.  (Realisten  und  Nominalisten.)  233 

ZU  Einzeldingen  als  das  Eingehen  des  Substrats  in  verschiedene  Zustände  (status) 
bezeichnete^  diese  Zustände  aber  als  realiter  specialisirende  Determinationen  des 
Allgemeinen  betrachtete. 

In  beiden  Richtungen  aber  war  der  Realismus  nur  schwer  von  einer  letzten 
Consequenz  zurückzuhalten,  die  zunächst  durchaus  uicht  in  der  Absicht  seiner 
rechtgläubigen  Vertreter  lag.  Mochte  man  das  Verhältniss  des  Allgemeinen 
zum  Besonderen  als  die  Selbstrealisirung  des  Substrats  zu  individuellen  Formen 
oder  als  Specialisirung  desselben  in  die  einzelnen  Zustände  betrachten;  — 
immer  kam  man  schliesslich  in  der  au&teigenden  Linie  der  Abstractionsbegriffe 
zu  der  Vorstellung  des  ens  generalissimum,  dessen  Selbstverwirklichungen  oder 
dessen  modificirte  Zustände  in  absteigender  Linie  die  Gattungen,  Arten  und 
Individuen  bildeten,  d.  h.  zu  der  Lehre,  dass  in  allen  Erscheinungen  der  Welt 
nur  die  Eine  göttliche  Substanz  zu  sehen  sei.  Der  Pantheismus  steckte  dem 
Reahsmus  vermöge  seiner  neuplatonischen  Abstammung  im  Blute  und  kam  hie 
und  da  immer  wieder  zu  Tage ;  und  Gegner,  wie  Abaelard,  verfehlten  nicht,  ihm 
diese  Consequenz  vorzuwerfen. 

Indessen  kam  es  in  diesem  Zeitraum  zu  einer  ausdrücklichen  Behauptung 
des  reaUstischen  Pantheismus  noch  nicht:  vielmehr  fand  der  Realismus  in  seiner 
Universalientheorie  gerade  eine  Handhabe  für  die  Begründung  einiger  funda- 
mentaler Dogmen  und  erfreute  sich  deshalb  der  kirchlichen  Zustimmung.  Die 
Annahme  einer  substantiellen  Realität  der  Gattungen  schien  nicht  nur  eine 
rationale  Darstellung  der  Trinitätslehre  zu  ermöglichen,  sondern  erwies  sich 
auch,  wie  Anselm  und  Odo  (Odardus)  von  Cambrey  zeigten,  als  geeignete  philo- 
sophische Grundlage  für  die  Lehre  von  der  Erbsünde  und  diejenige  von  der  stell- 
vertretenden Genugthuung. 

4.  Umgekehrt  entschied  sich  aus  denselben  Gründen  zunächst  das  Geschick 
des  Nominalismus,  welcher  während  dieser  Zeit  mehr  zurückgedrängt  und  er- 
stickt worden  ist.  Dabei  waren  seine  Anfange  ^)  harmlos  genug.  Er  erwuchs  aus 
den  Bruchstücken  der  aristotelischen  Logik,  insbesondere  aus  der  Schrifb  De 
categoriis.  In  dieser  waren  die  Einzeldinge  der  Erfahrung  als  die  wahren,  „ersten" 
Substanzen  bezeichnet,  und  hier  war  die  logisch-grammatische  Regel  aufgestellt, 
dass  die  „Substanz"  nicht  Prädicat  im  Urtheil  sein  könne:  res  non  praedicatur. 
Da  nun  die  logische  Bedeutung  der  Universalien  wesentlich  die  ist,  die  Prädicate 
im  Urtheil  (und  im  Schluss)  abzugeben,  so  schien  dai*aus  zu  folgen  —  das  lehrte 
schon  der  Commentar  Super  Porphyrium  — ,  dass  die  Universalien  keine  Sub- 
stanzen sein  können. 

"Was  sind  sie  dann?  Bei  Marcianus  Capella  war  zu  lesen,  ein  Universale  sei 
die  Zusammenfassung  vieler  Besonderheiten  durch  Einen  Namen  (nomen),  durch 
dasselbe  Wort  (vox);  das  Wort  aber,  hatte  Boethius  deiinirt,  ist  eine  durch  die 
Zunge  erzeugte  Luftbewegung.  Damit  sind  alle  Elemente  für  die  These  des 
extremen  Nominalismus  gegeben:  die  Uni  versahen  seien  nichts  als  Sammelnamen, 
gemeinsame  Bezeichnungen  für  verschiedene  Dinge,  Laute  (flatus  vocis),  welche 
als  Zeichen  für  eine  Mannigfaltigkeit  von  Substanzen  oder  deren  Accidenzen 
gelten. 

In  welchem  Masse  der  so  formulirte  Nominahsmus,  der  in  dieser  zugespitzten 


1)  Vgl.  C.  S.  Bakach,  Zur  Geschichte  des  Nominalismus  vor  Koscellin  (Wien  18(>6). 


234  III.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

Gestalt  selbst  die  realen  Veranlassungen  für  solche  CoUectivnamen  ignorirt  haben 
müsste,  während  jener  Zeit  thatsächlich  aufgestellt  und  verfochten  worden  ist*), 
lässt  sich  nicht  mehr  bestimmen  ^) :  aber  die  solcher  Erkenntnisslehre  entsprechende 
Metaphysik  des  Individualismus  tritt  uns  mit  der  Behauptung,  dass  nur 
die  individuellen  Einzeldiuge  als  Substanzen,  als  wahrhaft  wirklich  anzusehen 
seien,  klar  und  sicher  entgegen.  Am  schärfsten  hat  sie  zweifellos  Roscellin 
ausgesprochen,  hidem  er  sie  gleichzeitig  nach  zwei  Seiten  ausführte:  wie  die  Zu- 
sammenfassung vieler  Individuen  unter  demselben  Namen  nur  eine  menschliche 
Bezeichnung  ist,  so  ist  auch  die  Unterscheidung  von  Theilen  in  den  Einzel- 
substanzen nur  eine  Zerlegung  für  das  menschliche  Denken  und  Mittheilen*); 
das  wahrhaft  Wirkliche  ist  allein  das  individuelle  Einzelding. 

Das  Individuum  aber  ist  das  in  der  sinnlichen  Wirklichkeit  Gegebene: 
daher  besteht  für  diese  Metaphysik  die  Erkenntniss  auch  nur  in  der  Erfahrung 
der  Sinne.  Dass  dieser  Sensualismus  im  Gefolge  des  Nominalismus  aufgetreten 
sei,  dass  es  Menschen  gebe,  die  ihr  Denken  ganz  in  körperliche  Bilder  einspinnen 
lassen,  versichert  nicht  nur  Anselm,  sondern  auch  Abaelard:  aber  wer  diese 
Menschen  waren  und  wie  sie  ihre  Lehre  ausführten,  erfahren  wir  nicht. 

Verhängnissvoll  wurde  diese  Lehre  durch  ihre  Anwendung  auf  theologische 
Fragen  bei  Berengar  von  Tours  und  Roscellin.  Der  eine  bestritt  in  der  Abend- 
mahlslehre die  Möglichkeit  einer  Umwandlung  der  Substanz  unter  Beibehaltung 
der  früheren  Accidenzen;  der  andere  gelangte  zu  der  Folgerung,  dass  die  drei 
Personen  der  göttlichen  Dreieinigkeit  als  drei  verschiedene ,  nur  in  gewissen 
Eigenschaften  und  Wirkungen  zusammenkommende  Substanzen  anzusehen  seien 
(Tritheismus). 

5.  Wenn  in  der  litterarischen  Entwicklung  dieser  Gegensätze  der  Realis- 
mus als  platonisch,  der  Nominalismus  als  aristotelisch  galt,  so  war  das  Letztere 
offenbar  sehr  viel  schiefer  als  das  Erstere :  aber  bei  der  Mangelhaftigkeit  der 
Tradition  ist  es  hiernach  zu  begreifen,  dass  die  Vermittlungstendenzen, 
welche  sich»  zwischen  Reahsmus  und  Nominaüsmus  einschoben,  sich  mit  dem  Be- 
streben einführten,  die  beiden  grossen  Denker  des  Alterthums  mit  einander  zu 
versöhnen.  Solcher  Versuche  sind  hauptsächlich  zwei  zu  erwähnen:  vom  Realis- 
mus her  der  sog.  Indiflferentismus,  vom  Nominalismus  her  die  Lehre  Abaelard's. 

Sobald  der  Reahsmus  auf  die  gesonderte  Existenz  der  Begriffe  (den  platoni- 
schen 7(0(>i(3(iö?)  verzichtete  und  nur  das  „universaha  in  re"  aufrechterhielt,  machte 
sich  die  Neigung  geltend,  die  verschiedenen  Stufen  der  UniversaUtät  als  die 
realen  Zustände  eines  und  desselben  Substrats  aufzufassen.  Eine  und  dieselbe 
absolute  Wirklichkeit  ist  in  ihren  verschiedenen  „status"  Lebewesen,  Mensch, 
Grieche,  Sokrates.  Als  Substrat  dieser  Zustände  galt  den  gemässigten  Reahsten 
das  Universale  (und  in  letzter  Instanz  das  ens  realissimum) :  deshalb  war  es  ein 
bedeutsames  Zugeständniss  an  den  Nominalismus,  wenn  Andere  zum  Träger 


1)  Sicher  ist  das  noch  uicht  in  den  Anfangen  des  Nominalismus  (bei  Eric  von  Auxerre, 
bei  dem  Verfasser  des  Coinmentars  Super  Porphyriura,  etc.)  geschehen :  denn  bei  diesen  findet 
»ich  gleichzeitig  auch  der  Ausdruck  des  Boethius,  das  genus  sei  substantialis  similitudo  ex 
diversis  speciebus  in  cogitatione  collecta.  —  2)  Johannes  von  Salisbury  sagt  (Polier.  VIT,  12  cf. 
Metal.  II,  17),  diese  Ansicht  sei  sogleich  mit  ihrem  Urheber  Roscellin  wieder  verschwunden.  — 
8)  Das  Beispiel  von  dem  Hause  und  der  Wand,  welches  er  dabei  nach  Abaelard  (Ouvr.ined.  471) 
angewendet  hat,  war  allerdings  das  denkbar  unglücklichste.  Wie  tief  stehen  solche  üeber- 
Icgungen  imter  den  Anfängen  des  griechischen  Denkens! 


§  23.  Der  Universalienstreit.    (Abaelard.)  235 

dieser  Zustände  das  Individuum  machten.  Das  wahrhaft  Seiende,  gaben  diese 
ZU;  sei  das  Einzelding;  aber  dasselbe  trage  in  sich  als  wesenhafte  Bestimmungen 
seiner  eigenen  Natur  gewisse  Eigenschaften  und  Eigenschaftsgruppen,  welche  es 
mit  anderen  gemein  habe.  Diese  reale  Aehnlichkeit  (consimilitudo)  sei  das  In- 
differente (Nichtverschiedene)  in  allen  diesen  Individuen,  und  so  wohne  die 
Gattung  ihrer  Art,  die  Art  ihren  Exemplaren  indifferenter  bei.  ■  Als  Haupt- 
vertreter dieser Kichtung  erscheint  Adölard  von  Bath ;  doch  muss  sie,  vielleicht 
mit  noch  etwas  stärker  nominalistischem  Accent,  weiter  verbreitet  gewesen  sein  *). 

6.  Der  lebendige,  allseitig  wirksame  Mittelpunkt  des  üniversaUenstreites 
aber  ist  Abaelard^)  gewesen.  Der  Schüler  und  zugleich  der  Gegner  sowohl 
Roscellin's  als  auch  Wilhelm's  von  Champeaux,  hat  er  den  Nominalismus  und  den 
Realismus  durch  einander  bekämpft,  und  da  er  die  Waffen  seiner  Polemik  bald 
von  der  einen  bald  von  der  anderen  Seite  nimmt,  so  hat  es  nicht  ausbleiben  können, 
dass  seine  Stellung  gegensätzlichen  Auffassungen  und  Beurtheilungen  unterlag"). 
Und  doch  liegen  die  Grundzüge  derselben  klar  und  deuthch  vor  Augen.  In 
seiner  Polemik  gegen  alle  Arten  des  Realismus  kehrt  der  Gedanke,  die  Con- 
sequenz  desselben  sei  der  Pantheismus*,  so  häufig  und  energisch  wieder,  dass 
man  darin  nicht  lediglich  ein  unter  kirchlichen  Verhältnissen  opportunes  Kampf- 
mittel, sondern  vielmehr  den  Ausdruck  einer  individualistischen  Ueberzeugung 
zu  sehen  hat,  wie  sie  bei  einer  so  energischen,  selbstbewussten,  stolz  auf  sich 
selbst  gestellten  Persönlichkeit  wohl  begreiflich  ist.  Aber  diese  Individualität  hatte 
zugleich  ihr  innerstes  Wesen  in  klarer,  scharfer  Verstandesthätigkeit,  in  echt 
französischer  Rationalität.  Daher  ihr  nicht  minder  kräftiger  Gegensatz  gegen  die 
sensualistischen  Neigungen  des  Nominalismus. 

Die  Universalien,  lehrt  Abaelard,  können  nicht  Sachen,  aber  sie  können 
ebensowenig  bloss  Wörter  sein.  Das  Wort  (vox)  als  Lautcomplex  ist  ja  selbst 
etwas  Singulares:  es  kann  nur  mittelbar  allgemeine  Bedeutung  erlangen,  indem 
es  zur  Aussage  (sermo)  wird.  Eine  solche  Verwendung  des  Wortes  zur  Aus- 
sage aber  ist  nur  möglich  durch  das  begreifende  Denken  (conceptus),  welches 
aus  der  Vergleichung  der  Wahmehmungsinhalte  dasjenige  gewinnt,  was  sich 
seinem  Wesen  nach  zur  Aussage  eignet  (quod  de  pluribus  natum  est  praedicari*). 
Das  Allgemeine  also  ist  die  begriffliche  Aussage  (Sermon  ismus)  oder  der  Begriff 
selbst  (Conceptualismus)'^).  Wenn  aber  so  das  Allgemeine  als  solches  erst  im 
Denken  und  Urtheilen  und  in  dem  dadurch  allein  möglichen  Aussagen  besteht, 
so  ist  es  doch  darum  durchaus  nicht  ohne  Beziehungen  zur  absoluten  Wirkhch- 
keit.  Die  Universalien  könnten  nicht  die  unentbehrlichen  Formen  alles  Er- 
kennens  sein,  wie  sie  es  thatsächlich  sind,  wenn  es  nicht  in  der  Natur  der  Dinge 
selbst  Etwas  gäbe,  was  wir  in  ihnen  begreifen  und  aussagen.  Das  aber  ist  die 
Gleichheit  oder  Aehnlichkeit  (conformitas)  der  Wesensbestimmtheiten  der  in- 
dividuellen Substanzen®).    Nicht  als  numerische  oder  substantielle  Identität, 


1)  Nach  den  Angaben  in  der  Schrift  De  generibus  et  speciebus  und  den  Mittheilungen 
Abaelard's  in  der  Glosse  zur  Isagoge.  Auch  scheint  es,  dass  Wilhelm  von  Champeaux  zuletzt 
dem  Indifferentismus  sich  zugeneigt  hat.  —  2)  Vgl.  S.  M.  Deutsch,  Peter  Abaelard,  ein  kriti- 
scher Theolog  des  zwölften  Jahrhunderts  (Leipzig  1883).  —  8)  So  macht  ihn  Rittbr  zum  Rea- 
listen, Haüräaü  zum  Nominalisten.  —  4)  Vgl.  Arist.  de  interpr.  7,  17  a  39.  —  5)  Es  scheint, 
dass  Abaelard  zu  verschiedenen  Zeiten  mehr  die  eine  oder  die  andere  Variante  betont  hat,  und 
vielleicht  hat  sich  auch  seine  Schule  nach  diesen  beiden  Richtungen  verschieden  entwickelt. — 
6)  Andere,  welche  in  der  Hauptsache  ebenso  dachten,  z.  B.  Gilbert  de  la  Porree,  halfen  sich 


236  in.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

sondern  als  gleichbestimmte  Mannigfaltigkeit  besteht  das  Universale  in  der 
Natur,  um  erst  in  der  Auffassung  des  menschlichen  Denkens  zum  einheitlichen 
Begriff,  der  die  Aussage  ermöglicht,  zu  werden.  Jene  gleichbestimmte  Mannig* 
faltigkeit  der  Individuen  erklärt  sich  aber  auch  Abaelard  daraus,  dass  Gott  die 
Welt  nach  den  Urbildern  geschaffen  habe,  welche  er  in  seinem  Geiste  (Noys) 
trug.  So  bestehen  nach  ihm  die  Universalien  erstens  in  Gott  als  conceptus 
mentis  vor  den  Dingen,  zweitens  in  den  Dingen  als  Gleichheit  der  wesent- 
lichen Merkmale  von  Individuen,  diittens  nach  den  Dingen  im  menschlichen 
Verstände  als  dessen  durch  vergleichendes  Denken  gewonnene  Begriffe  und 
Aussagen. 

So  vereinigen  sich  in  Abaelard  die  verschiedenen  Denkrichtungen  der  Zeit. 
Aber  er  hatte  die  einzelnen  Elemente  dieser  Ansicht  gelegentlich,  zum  Theil  in 
der  Polemik,  und  wohl  auch  zu  wechselnder  Zeit  mit  wechselnder  Betonung  des 
einen  oder  des  anderen  entwickelt  und  niemals  eine  systematische  Gesammtlösung 
des  Problems  gegeben.  Sachlich  war  er  so  weit  vorgedrungen,  dass  es  im 
Wesentlichen  seine  Ansicht  war,  welche  in  der  von  den  arabischen  Philosophen 
(Avicenna)  übernommenen  Formel  „universalia  ante  multiplicitatem,  in  multi- 
pUcitate  et  post  multiplicitatem^  äu  der  herrschenden  Lehre  wurde,  den  Uni- 
vei*salien  gebühre  gleichmässig  eine  Bedeutung  ante  rem  hinsichtlich  des  göttlichen 
Geistes,  in  re  hinsichtlich  der  Natur  und  post  rem  hinsichtlich  der  menschlichen 
Erkenntniss.  Und  da  Thomas  und  Duns  Scotus  der  Hauptsache  nach  hierin 
übereinstimmten,  so  kam  das  UniversaUenproblem,  das  damit  freilich  noch  nicht 
gelöst  ist^),  zu  einer  vorläufigen  Buhe,  um  erst  in  der  Erneuerung  des  Nominalis- 
mus (vgl.  §  27)  wieder  in  den  Vordergrund  zu  treten. 

7.  Bedeutsamer  aber  noch  als  durch  diese  centrale  Stellung  im  Universalien- 
streit ist  Abaelard  dadurch,  dass  er  in  seiner  ganzen  persönlichen  Erscheinung 
die  Stellung  zum  typischen  Ausdruck  brachte,  welche  die  bei  jenem  Streit  ent- 
faltete Dialectik  in  dem  geistigen  Gesammtleben  ihrer  Zeit  einnahm.  Er  ist, 
soweit  es  in  dem  Vorstellungskreise  seiner  Zeit  möglich  war,  der  Wortführer  der 
freien  Wissenschaft,  der  Prophet  des  neu  erwachten  Triebes  nach  eigener  und 
selbständiger  Erkenntniss  gewesen.  Abaelard  (und  mit  ihm  Gilbert)  ist  in  erster 
Linie  Bationalist:  das  Denken  ist  ihm  die  Norm  der  Wahrheit.  Die  Dialectik 
hat  die  Aufgabe,  zwischen  Wahrem  und  Falschem  zu  unterscheiden.  Wohl 
unterwirft  auch  er  sich  der  in  der  Tradition  bewahrten  Offenbarung:  aber  doch 


mit  der  (aristo telischen)  Unterscheidung  erster  und  zweiter  Substanzen  oder  zwischen  Substanz 
undSubsistenz;  doch  braucht  Gilbert  die  letzterenTerminiAbaelard  gegenüber  in  vertauschter 
Bedeutung. 

1)  Selbst  wenn  man  das  Universalienproblem  auf  die  Realität  der  Gattungsbegriffe  in 
der  Weise  der  Scholastik  beschränkt,  hat  dasselbe  in  der  weiteren  Entwicklung  noch  wesentlich 
neue  Phasen  durchlaufen  und  kann  gerade  auf  dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  nicht 
als  endg^iltig  gelöst  angesehen  werden.  Dahinter  aber  erhebt  sich  die  allgemeinere  und  schwie- 
rigere Frage,  welch'  eine  metaphysische  Bedeutung  jenen  allgemeinen  Bestimmungen  zu- 
kommt, auf  deren  Erkenntuiss  alle  erklärende  Wissenschaft  hinausläuft:  vgl.  H.  Lotze,  Logik 
(Leipzig  1874)  §  313— 32L  Deshalb  ist  den  Forschern  von  heute,  welche  den  Universalien- 
streit als  abgcthan  zum  Gerumpel  werfen  oder  gar  wie  eine  längst  überwundene  Kinderkrank- 
heit behandeln  möchten,  solange  sie  nicht  mit  voller  Sicherheit  und  Klarheit  anzugeben  wissen, 
worin  die  metajjhysische  Wirklichkeit  und  Wirksamkeit  dessen  besteht,  was  wir  ein  Natur- 
gesetz nennen,  noch  immer  zuzurufen:  mutato  nomine  de  to  fabula  narratur.  Vgl.  auch 
0.  Liebmann,  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit  (2.  Aufl.  Strassburg  1880)  313  ff.,  471  ff.,  und  Ge- 
danken und  Thatsachcn  (l.  Heft  Strassburg  1882)  89ff. 


§  23.  Der  üniversalienstreit.  (Abaelard.)  237 

nnr  darum,  sagt  er,  glauben  wir  der  göttlichen  0£fenbarung,  weil  sie  Temünftig 
ist.  Die  Dialectik  hat  daher  bei  ihm  nicht  mehr  nur  die  Aufgabe,  welche  ihr 
Anselm  (nach  Augustin)  vorschrieb^  den  Glaubensinhalt  für  den  Verstand  be- 
greiflich zu  machen,  sondern  er  verlangt  für  sie  auch  das  kritische  Kecht,  in 
zweifelhaften  Fällen  nach  ihren  Eegeln  zu  entscheiden.  So  stellte  er  in  der  Schrift 
^Sic  et  non^  die  Ansichten  der  Kirchenväter  zu  gegenseitiger  dialectischer  Zer- 
setzung einander  gegenüber,  um  schliesslich  nur  in  dem  Beweisbaren  auch  das 
Glaubwürdige  zu  finden.  So  erscheint  auch  in  seinem  Dialogus  die  erkennende 
Vernunft  als  Eichterin  über  den  verschiedenen  Religionen,  und  wenn  Abaelard 
das  Christenthum  als  den  idealen  Abschluss  der  Keligionsgeschichte  betrachtet, 
so  giebt  es  Aussprüche  bei  ihm  ^),  worin  er  den  Inhalt  des  Christenthums  auf  das 
ursprüngliche  Sittengesetz  reducirt,  das  von  Jesus  in  seiner  Reinheit  wieder- 
hergestellt worden  sei.  Von  diesem  Standpunkt  gewann  auch  Abaelard  zuerst 
wieder  einen  freien  Blick  für  die  Auffassung  des  Alterthums :  er  war,  sowenig  er 
von  ihnen  wusste,  ein  Bewunderer  der  Hellenen;  er  sieht  in  ihren  Philosophen 
Christen  vor  dem  Christenthum,  und  wenn  er  Männer  wie  Sokrates  und  Piaton 
als  inspirirt  betrachtet,  so  fragt  er  (den  Gedanken  der  Kirchenväter  —  vgl. 
S.  175  Anm.  5  —  umkehrend),  ob  nicht  vielleicht  aus  diesen  Philosophen  die 
religiöse  Ueberlieferung  theilweise  geschöpft  haben  könnte.  Das  Christenthum 
gilt  ihm  als  die  demokratisirte  Philosophie  der  Griechen. 

Wollte  man  an  dieser  mehr  rehgions-  und  culturgeschichtlichen  als  philo- 
sophisch neuen  Bedeutung  des  Mannes  dadurch  irre  werden,  dass  Abaelard,  wie 
zuletzt  fast  alle  „Aufklärer"  des  Mittelalters*),  doch  ein  gehorsamer  Sohn  der 
Kirche  war,  so  genügte  es,  die  Angriffe  in  Betracht  zu  ziehen,  die  er  erfuhr.  In 
der  That  ist  sein  Streit  mit  Bernhard  von  Clairvaux  der  Kampf  des  Erkennens 
mit  dem  Glauben,  der  Vernunft  mit  der  Autorität,  der  Wissenschaft  mit  der 
Kirche.  Und  wenn  Abaelard  schliesslich  die  Wucht  und  der  innerste  Halt  der 
Persönlichkeit  fehlte,  um  in  solchem  Bingen  obzusiegen^),  so  will  andrerseits 
bedacht  sein,  dass  eine  Wissenschaft,  wie  sie  das  zwölfte  Jahrhundert  bieten 
konnte  —  auch  abgesehen  von  der  äusseren  Machtftille,  zu  der  damals  die  Kirche 
erstarkte  —  der  gewaltigen  Innerlichkeit  des  Glaubens  hätte  unterliegen  müssen, 
auch  wenn  sie  von  einer  noch  so  grossen  und  hohen  Persönlichkeit  getragen  ge- 
wesen wäre.  Denn  jenes  kühne  und  zukunftsvolle  Postulat,  dass  nur  voraus- 
setzungslose wissenschaftliche  Einsicht  den  Glauben  bestimmen  sollte,  —  was 
besass  es  damals  an  Mitteln  zu  seiner  Erfüllung?  Es  waren  die  hohlen  Regeln 
der  Dialectik,  und  was  diese  Wissenschaft  an  Inhalt  aufzuweisen  hatte,  verdankte 
sie  eben  der  Tradition,  gegen  welche  sie  sich  mit  der  Kritik  des  Verstandes 
empörte.  Dieser  Wissenschaft  fehlte  die  sachliche  Kraft,  um  die  Rolle  durch- 
zuführen, zu  der  sie  sich  berufen  fühlte:  aber  sie  stellte  sich  eine  Aufgabe,  die, 
wenn  sie  selbst  sie  zu  lösen  ausser  Stande  war,  aus  dem  Gedächtniss  der  euro- 
päischen Völker  nicht  wieder  verschwunden  ist. 

Wohl  hören  wir  deshalb  von  dem  lärmenden  Treiben  derjenigen,  die  Alles 
nur  „wissenschaftlich^  behandelt  haben  wollten*),  wohl  mehren  sich  seit  Anselm 
die  Klagen  über  den  wachsenden  Rationalismus  des  Zeitgeistes,  über  die  bösen 

1)  Vgl.  die  Belege  zum  Folgenden  bei  Reuter,  Qesch.  der  Aufklärung  im  M.-A.1, 183  ff. 
—  2)  A.  Harnack,  Dogmengeschichte  lU,  322.  —  8)  Yk\.  Th.  Zieoler,  Abaelard's  Ethica,  in 
Strassbuig.  Abh.  z.  Phüoa.  (Freibarg  1884)  p.  221.  —  4)  „Puri  philosophi.'' 


238  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

Menschen,  die  nur  glauben  wollen,  was  sie  begreifen  und  beweisen  können,  über 
die  Sophisten,  die  mit  kecker  Gewandtheit  pro  et  contra  zu  disputiren  wissen, 
über  die  „Verneiner",  welche  aus  Rationalisten  zu  Materialisten  und  Nihilisten 
geworden  sein  sollen :  —  aber  nicht  einmal  die  Namen  solcher  Männer,  ge- 
schweige denn  ihre  Lehren  sind  erhalten.  Und  eben  dieser  Mangel  an  eigenem 
Sachgehalt  war  der  Grund,  weshalb  die  dialectische  Bewegung,  als  deren  Fürst 
Abaelard  erscheint,  trotz  allen  Eifers  und  allen  Scharfsinns  ohne  directen  und 
unmittelbaren  Erfolg  verlief. 

%  24.  Der  Dnalismas  von  Leib  und  Seele. 

Aus  diesen  Gründen  ist  es  erklärlich,  dass  wir  im  zwölften  (und  theil weise 
schon  im  eilften)  Jahrhundert  das  Gefühl  von  der  Unfruchtbarkeit  der  Dialectik 
ebenso  verbreitet  finden  wie  den  fieberhaften  Trieb,  durch  sie  zur  wahren  Er- 
kenntniss  zu  gelangen.  Es  geht  durch  diese  Zeit  neben  dem  heissen  Wissens- 
drange ein  Zug  der  Enttäuschung:  unbefriedigt  von  den  Spitzfindigkeiten  der 
Dialectik,  welche  sich  —  selbst  in  Männern  wie  Anselm  —  anheischig  gemacht 
hatte,  die  letzten  Geheimnisse  des  Glaubens  rational  zu  ergründen,  stürzten  sich 
die  Einen  aus  der  unfruchtbaren  Theorie  in  das  praktische  Leben,  „in  das 
Rauschen  der  Zeit,  in's  Rollen  der  Begebenheit",  Andere  in  mystisch-über- 
vemünftiges  Schwelgen,  Andere  endlich  in  emsige  Arbeit  empirischer  Forschung. 
Alle  Gegensätze,  in  welche  vorwiegend  logische  Verstandesthätigkeit  treten  kann, 
entwickeln  sich  neben  der  Dialectik  und  stehen  gegen  sie  in  mehr  oder  minder 
fest  geschlossenem  Bündniss:  Praxis,  Mystik  und  Empirie. 

Hieraus  ergab  sich  zunächst  ein  eigenthümlich  verschieftes  Verhältniss  zu 
der  wissenschaftlichen  Tradition.  Aristoteles,  den  man  nur  als  den  Vater  der 
formalen  Logik  und  als  den  Meister  der  Dialectik  kannte,  verdankte  es  dieser 
Unkenntniss,  dass  er  als  der  Heros  rein  verstandesmässiger  Weltbetrachtung 
galt  und  als  solcher  dem  Glauben  und  der  Kirche  verdächtig  war:  Piaton  da- 
gegen kannte  man  theils  als  den  Schöpfer  der  (unwissentlich  nach  neuplatoni- 
schem  Vorgange  verfälschten)  Ideenlehre,  theils  vermöge  der  Erhaltung  des 
Timaeus  als  den  Begründer  einer  Naturphilosophie,  deren  teleologischer  Grund- 
charakter bei  dem  rehgiösen  Denken  die  lebhafteste  Zustimmung  fand.  Wenn 
daher  Gerb  er t  als  Gegengewicht  gegen  den  Uebermuth  der  Dialectik,  in  der  er 
sich  selbst  Anfangs  wenig  glücklich  versucht  hatte,  das  Studium  der  Natur 
empfahl,  für  das  er  durch  das  Beispiel  der  Araber  die  Anregung  empfangen 
hatte  und  das  seinem  eigenen,  auf  lebenskräftige  Weltbethätigung  gerichteten 
Wesen  entsprach,  so  konnte  er  auf  Beifall  fiir  dieses  Bestreben  nur  bei  den 
Männern  rechnen,  welche  gleich  ihm  auf  eine  Verbreiterung  der  sachlichen  Kennt- 
nisse und  zu  diesem  Behufe  auf  eine  Aneignung  der  antiken  Forschungen  aus- 
gingen. So  erscheint  hier  zuerst  im  Gegensatze  zur  (aristoteUschen)  Dialectik  der 
Rückgriff  auf  das  Alterthum  als  Quelle  sachlicher  Einsichten,  —  eine  erste, 
schwache  Renaissance,  welche,  halb  humanistisch  halb  naturalistisch,  einen 
lebendigen  Inhalt  der  Erkenntniss  gewinnen  wilP).    Gerbert's  Schüler  Fulbert 

1)  Einen  Hauptheerd  dieser  Bewegung  bildete  in  Italien  das  Kloster  Monte  Cassino : 
hier  wirkte  (um  1050)  der  Mönch  Constantinus  Africanus,  der  (wie  es  auch  von  dem  Platoniker 
Adelard  von  Bath  bekannt  ist)  seine  Gelehrsamkeit  auf  Reisen  im  Orient  gesammelt  hatte 
und  namentlich  für  die  Uebersctzung  medicinischer  Schriften  (Hippokrates,  Galen)  thätig  war. 


§  24.   Der  Dualismus  von  Leib  und  Seele.   (Schule  von  Ohartres.)  239 

(gestorben  1029)  eröffnete  die  Schule  von  Chartres,  welche  in  der  Folgezeit  der 
Sitz  des  mit  dem  Naturstudium  verschwisterten  Piatonismus  wurde :  hier  wirkten 
die  Brüder  Theodorich  und  Bernhard  von  Ohartres,  von  hier  empfing  Wilhelm  von 
Conches  seine  Bichtung.  In  ihren  Schriften  mischt  sich  überall  die  kräftige 
Anr^ung  des  classischen  Alterthums  mit  dem  Interesse  lebendiger  Naturerkennt- 
oiss.  So  erfahren  ¥rir  eine  der  eigenthümlichsten  Verschiebungen  der  Litteratur- 
geschichte.  Piaton  und  Aristoteles  haben  ihre  Rollen  vertauscht:  dieser  erscheint 
als  das  Ideal  einer  abstracten  Begriffswissenschaft,  jener  als  der  Ausgangspunkt 
sacUicher  Naturerkenntniss.  Was  uns  in  diesem  Zeitraum  der  mittelalterlichen 
Wissenschaft  als  Erkenntniss  der  äusseren  Wirklichkeit  entgegentritt,  knüpft  sich 
an  den  Namen  Platon's:  sofern  es  in  diesem  Zeitalter  eine  Naturwissenschaft 
giebt,  ist  sie  diejenige  der  Platoniker,  eines  Bernhard  von  Ohartres,  eines  Wilhelm 
von  Conches  und  ihrer  Genossen  ^). 

Aber  dieser  Sinn  für  die  Wirklichkeit,  welcher  die  Platoniker  des  Mittel- 
alters vor  der  hochfliegenden  Metaphysik  der  Dialectiker  auszeichnet,  hat  noch 
eine  andere  und  viel  werthvollere  Form  angenommen.  Unfähig  noch,  der  äusseren 
Erfahrung  bessere  Ergebnisse  als  sie  in  der  Ueberlieferung  der  griechischen 
Wissenschaft  vorlagen,  abzugewinnen,  richtete  sich  der  empirische  Trieb  des 
Mittelalters  auf  die  Erforschung  des  geistigen  Lebens  und  entfaltete  die  volle 
Energie  eigener  Beobachtung  und  scharfsinniger  Analyse  auf  dem  Gebiete  der 
inneren  Erfahrung  —  in  der  Psychologie.  Das  ist  derjenige  Gegenstand  wissen- 
schaftlicher Arbeit,  für  welchen  das  Mittelalter  die  werthvoUsten  Resultate  er- 
reicht hat*).  Hierin  stellte  sich,  mit  substantiellem  Gehalt  erfüllt,  die  Erfahrung 
des  praktischen  Lebens  wie  diejenige  sublimster  Frömmigkeit  dem  dialectischen 
Begriffsspiel  entgegen. 

1.  Der  natürliche  Führer  aber  auf  diesem  Gebiete  war  Augustin,  dessen 
psychologische  Anschauungen  eine  um  so  stärkere  Herrschaft  ausübten,  je  mehr 
sie  einerseits  mit  der  religiösen  üeberzeugung  verflochten  waren  und  je  weniger 
andrerseits  die  aristotehsche  Psychologie  bekannt  war.  Augustin  aber  hatte  in 
seinem  Systeme  den  vollen  Dualismus  aufrechterhalten,  welcher  die  Seele  als 
eine  immaterielle  Substanz  und  den  Menschen  als  eine  Verbindung  zweier  Sub- 
stanzen, des  Leibes  und  der  Seele,  betrachtete.  Eben  deshalb  konnte  er  eine 
Erkenntniss  der  Seele  nicht  aus  ihren  Beziehungen  zum  Leibe  erwarten  und  be- 
trat mit  vollem  Bewusstsein  den  Standpunkt  der  inneren  Erfahrung. 

Das  so  aus  metaphysischen  Voraussetzungen  entsprungene  neue  metho- 
dische Princip  konnte  sich  ungestört  entfalten,  solange  die  monistisch-meta- 
physische Psychologie  des  Peripateticismus  noch  unbekannt  blieb.  Und  diese 
Entfaltung  wurde  auf  das  Nachdrücklichste  durch  diejenigen  Bedürfiiisse  ge- 
fördert, welche  das  Mittelalter  zur  Psychologie  führten.   Der  Glaube  suchte  die 

Die  Wirkungen  zeigen  sich  nicht  nur  in  der  Litteratur,  sondern  auch  in  der  Gründung  der  be- 
rühmten Schule  von  Salemo  (Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts). 

1)  Dabei  ist  diese  humanistische  Naturwissenschaft  des  früheren  Mittelalters  durchaus 
nicht  wählerisch  in  der  Aufnahme  der  antiken  Tradition  gewesen ;  so  hat  z.  B.  Wilhelm  von 
Conches,  wenn  man  dem  Bericht  des  "Walter  von  St.  Victor  (in  den  Auszügen  des  Bulaeus, 
bei  Migne,  Bd.  199,  8.  1170)  trauen  darf,  mit  seinem  Piatonismus  eine  atomistische  Natur- 
aafla88uii}2f  für  vereinbar  gehalten.  —  2)  Vgl.  hierzu  und  zum  Folgenden  (wie  auch  später  zu 
§  27)  die  Abhandlungen  von  H.  Sikbkck  im  I. — IIT.  Bande  des  Archivs  für  Geschichte  der 
Philosophie,  sowie  im  93.  u.  94.  Bande  der  Zeitschrift  für  Philos.  u.  philos.  Krit.  (1888  -90). 


240  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

Selbsterkenntniss  der  Seele  zum  Zwecke  ihres  Heils,  und  dies  Heil  wurde 
gerade  in  jenen  transscendenten  Thätigkeiten  gefunden,  durch  welche  die  Seele, 
dem  Leibe  entfremdet,  einer  höheren  Welt  zustrebt.  Deshalb  wai^en  es  haupt- 
sächlich  die  Mystiker,  welche  die  Geheimnisse  des  inneren  Lebens  belauschen 
wollten  und  damit  zu  Psychologen  wurden. 

Wichtiger  und  philosophisch  bedeutsamer  als  die  einzelnen,  oft  sehr  phan- 
tastischen und  oft  sehr  verschwommenen  Lehren,  die  in  dieser  Richtung  auf- 
gestellt wurden,  ist  die  Thatsache,  dass  vermöge  dieser  Zusammenhänge  der 
Dualismus  der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  in  voller 
Schärfe  aufrechterhalten  wurde  und  so  ein  starkes  Gegengewicht  gegen  den  neu- 
platonischen Monismus  bildete.  Aber  diese  metaphysische  Wirkung  auszuüben 
war  er  erst  später  berufen :  zunächst  wurde  er  in  der  begrenzteren  Form  des 
anthropologischen  Dualismus  von  Leib  und  Seele  zum  Ausgangspunkte  der 
Psychologie  als  der  Wissenschaft  der  inneren  Erfahrung*). 

Sehr  merkwürdig  ist  deshalb  die  Erscheinung,  dass  die  Vertreter  dieser 
Psychologie  als  ^Natui^wissenschaft  des  inneren  Sinnes^,  wie  sie  später  genannt 
worden  ist,  gerade  dieselben  Männer  sind,  welche  sich  redlich  abmühen,  aus  allem 
Material,  dessen  sie  habhaft  werden  können,  ein  Wissen  von  der  äusseren  Welt 
zu  gewinnen.  Von  der  Dialectik  abgewendet,  suchen  sie  eine  Erkenntniss  des 
empirisch  Wirklichen ,  eine  Naturphilosophie;  aber  sie  theilen  dieselbe  in  zwei 
völlig  getrennte  Gebiete:  Physica  corporis  und  Physica  animae.  Dabei  überwiegt 
bei  den  Platonikem  die  Vorliebe  für  das  Studium  der  äusseren,  bei  den  Mystikern 
diejenige  für  die  innere  Natur*). 

2.  Als  das  charakteristische ,  wesentlich  neue  und  förderliche  Merkmal 
dieser  empirischen  Psychologie  muss  nun  aber  das  Bestreben  angesehen  werden, 
die  seelischen  Thätigkeiten  und  Zustände  nicht  nur  zu  classificireu,  sondern  den 
lebendigen  Fluss  derselben  aufzufassen  und  ihre  Entwicklung  zu  begreifen. 
Diese  Männer  waren  sich  in  ihren  frommen  Gefühlen,  in  ihrem  Ringen  nach  dem 
Genuss  der  göttlichen  Gnade  eines  inneren  Erlebnisses,  einer  Geschichte  ihrer 
Seele  bewusst,  und  es  trieb  sie,  diese  Geschichte  zu  schreiben ;  und  wenn  sie  da- 
bei platonische,  augustinische  und  neuplatonische  Begrifife  in  bunter  Mischung 
zur  Bezeichnung  der  einzelnen  Thatsachen  benutzten,  so  ist  das  Wesentliche 
und  Entscheidende  immer,  dass  sie  den  Entwicklungsgang  des  inneren  Lebens 
aufzuzeigen  unternahmen. 

Nicht  viel  Mühe  hat  diesen  Mystikern,  die  eine  Metaphysik  nicht  suchten, 
sondern  im  Glauben  besassen,  die  später  so  schwerwiegend  gewordene  Frage  be- 
reitet, wie  diese  Dualität  von  Leib  und  Seele  zu  verstehen  sei.  Zwar  ist  sich 
Hugo  von  St.  Victor  bewusst,  dass,  wenn  auch  die  Seele  das  Niederste  in 
der  immateriellen  und  der  Menschenleib  das  Höchste  in  der  materiellen  Welt 
ist,  beide  doch  noch  von  so  gegensätzlicher  Beschaffenheit  sind,  dass  ihre  Ver- 


1)  Vgl.  auch  K.  Werner.  Kosmologie  und  Naturlehre  des  scholastischen  Mittelalters, 
mit  specieller  Beziehung  auf  Wilhelm  von  Couches;  und  Der  Entwicklungsgang  der  mittel- 
alterlichen Psychologie  von  Alcuin  bis  Albertus  Magnus  (beides  Separat  abdrücke  aus  den 
Sitzungsberichten  (Bd.  75)  bezw.  Denkschriften  (Bd.  25)  der  Wiener  Akademie,  1876).  — 
2)  Doch  muss  erwähnt  werdeo,  dass  Hugo  von  St.  Victor  nicht  nur  in  der  Eruditio  didascalica 
ein  encyclopädisches  Wissen  an  den  Tag  legt,  sondern  auch  sich  mit  den  Lehren  der  antiken 
Medicin,  insbesondere  mit  den  Theorien  der  physiologischen  Psychologie  (Erklärung  der  Wahr- 
nehmungen,  Temperamente  etc.)  bis  in's  Genaueste  vertraut  zeigt.. 


§  24.  Der  Dualismus  von  Leib  und  Seele.  (Victoriner.)  241 

bindung  (unio)  ein  unbegreifliches  Bäthsel  bleibt;  aber  er  meint,  gerade  damit 
habe  Gott  gezeigt  und  zeigen  wollen ,  dass  ihm  Nichts  unmöglich  sei.  Statt 
darüber  dialectisch  zu  grübeln^  nehmen  vielmehr  die  Mystiker  diesen  Dualismus 
zur  Voraussetzung,  um  fiir  ihre  wissenschaftliche  Betrachtung  die  Seele  in  sich 
zu  isoliren  und  ihr  inneres  Leben  zu  beobachten. 

Dies  Leben  aber  ist  für  die  Mystik  die  Entwicklung  der  Seele  zu  Gott, 
und  so  ist  diese  erste  Form  der  Psychologie  des  inneren  Sinnes  die 
Hcilsgeschichte  des  Individuums.  Die  Mystiker  betrachten  die  Seele 
wesentlich  als  Gemüth,  sie  zeigen  die  Entfaltung  ihres  Lebensprocesses  aus  den 
Gefühlen,  und  sie  beweisen  ihre  schriftstellerische  Virtuosität  gerade  in  der 
Ausmalung  von  Gefühlszuständen  und  Gefiihlsbewegungen.  Und  auch  darin  sind 
sie  die  echten  Nachfolger  Augustinus,  dass  sie  in  der  Zergliederung  dieses  Pro- 
cesses  überall  die  treibenden  Willenskräfte  erforschen,  dass  sie  die  Stim- 
mungen des  Willens  untersuchen,  vermöge  deren  der  Glaube  den  Verlauf  der 
Erkenntniss  bedingt,  und  dass  ihnen  doch  am  Ende  als  die  höchste  Entwicklungs- 
stufe der  Seele  das  mystische  Schauen  Gottes  gilt,  welches  freilich  auch  hier  mit 
der  Liebe  Eins  gesetzt  wird.  So  thun  es  wenigstens  die  beiden  durchweg  vom 
Geist  der  Wissenschaft  getragenen  Victoriner  Hugo  und  Richard,  während  bei 
Beruhard  von  Clairvaux  das  praktische  Moment  des  Willens  viel  stärker  betont 
wird.  Dieser  wird  nicht  müde,  den  in  seiner  Zeit  erwachten,  mit  allen  Tugenden 
und  Untugenden  sich  gebahrenden  reinen  Trieb  des  Wissens  um  des  Wissens 
willen  als  heidnisch  zu  denunciren,  und  doch  ist  auch  ihm  die  letzte  der  zwölf 
Stufen  der  Demuth  jene  Ekstase  der  Vergottung,  mit  welcher  das  Individuum 
in  dem  ewigen  Wesen  aufgeht,  „wie  der  Wassertropfen  in  einem  Passe  Wein". 

Auch  die  Psychologie  der  Erkenntniss  baut  sich  bei  den  Victorinern  auf 
augustinischem  Grundrisse  auf.  Drei  Augen  sind  dem  Menschen  gegeben :  das 
fleischliche  um  die  Körperwelt,  das  vernünftige  um  sich  selbst  in  seiner  Innerlich- 
keit, das  contemplative  um  die  geistige  Welt  und  die  Gottheit  zu  erkennen. 
Wenn  deshalb  nach  Hugo  cogitatio,  meditatio  und  contemplatio  die  drei  Stufen 
der  intellectuellen  Thätigkeit  sind,  so  ist  es  interessant  und  für  die  PersönUchkeit 
selbst  charakteristisch,  in  welchem  Masse  er  die  Mitwirkung  der  Einbildungskraft 
(imaginatio)  in  allen  Arten  der  Erkenntniss  betont.  Auch  die  Contemplation  ist 
eine  visio  intellectualis,  ein  geistiges  Schauen,  welches  allein  die  höchste 
Wahrheit  unverzerrt  erfasst,  während  das  Denken  nicht  dazu  im  Stande  ist. 

So  ist  Altes  und  Neues  in  den  Schriflien  der  Victoriner  vielfach  gemischt: 
zwischen  feinsinnigste  Beobachtungen  und  feinfühligste  Schilderungen  der  psychi- 
schen Functionen  drängen  sich  die  Phantasien  mystischer  Verzückung.  Zweifel- 
los fallt  auch  hier  die  Methode  der  Selbstbeobachtung  in  die  Gefalir,  zur 
Schwärmerei  zu  fuhren  -) :  aber  sie  gewinnt  andrerseits  schon  manche  eigene 
Frucht,  sie  lockert  den  Boden  für  die  Poi'schung  der  Zukunft,  und  vor  Allem, 
sie  steckt  das  Feld  ab,  auf  welchem  die  moderne  Psychologie  erwachsen  sollte. 

3.  Von  ganz  anderer  Seite  hat  diese  neue  Wissenschaft  der  inneren  Er- 
fahrung sogleich  Unterstützung  und  Bereicherung  erfahren:  ein  Nebenertrag  des 
üniversalienstreites  —  und  nicht  der  schlechteste  —  kam  ihr  zu  gute.  Wenn 
der  Nominalismus  und   der  Conceptualismus  das  An-sich-bestehen    der  Uni- 


1)  Vgl.  Kant,  Anthropologie  §  4. 
Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  1^ 


242  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   1.  Erste  Periode. 

Versalien  bestritten  und  die  Arten  und  Gattungen  für  subjective  Gebilde  im  er- 
kennenden Geiste  erklärten,  so  fiel  ihnen  die  Beweispflicht  zu,  das  Entstehen 
dieser  allgemeinen  Vorstellungen  in  der  Seele  des  Menschen  verständlich  zu 
machen.  So  sahen  sie  sich  direct  auf  das  empirische  Studium  der  En  twicklung 
der  Vorstellungen  hingewiiesen  und  brachten  für  die  subUme  Poesie  der 
Mystiker  eine  zwar  nüchterne,  aber  um  so  wünschensworthere  Ergänzung.  Denn 
gerade  weil  es  sich  um  den  Nachweis  des  Ursprungs  rein  subjectiver  Denkinhalte 
handeln  sollte,  die  als  Producte  der  zeitlichen  Entwicklung  des  Menschen  zu  er- 
klären wären,  so  konnte  diese  Untersuchung  nur  ein  Beitrag  zur  Psychologie  der 
inneren  Erfahrung  werden. 

Schon  die  These  des  extremen  Nominalismus  gab  ihren  Gegnern  Anlass, 
das  Verhältniss  des  Worts  zum  Gedanken  zu  behandeln,  und  führte  bei  Abaelard 
zu  eingehender  Betrachtung  der  Mitwirkung,  welche  der  Sprache  bei  der  Ent- 
wicklung der  Gedanken  zukommt.  Die  IVage  nach  der  Bedeutung  der  Zeichen 
und  Bezeichnungen  in  der  Vorstellungsbewegung  wurde  dadurch  neu  in  Fluss 
gebracht.  Noch  mehr  in  das  Herz  der  theoretischen  Psychologie  führt  die  Unter- 
suchung, welche  in  der  Abhandlung  De  intellectibus  über  den  nothwendigen  Zu- 
sammenhang zwischen  Tntellect  und  Wahrnehmung  geführt  wird.  Es  w^ird  hier 
gezeigt,  wie  die  Empfindung  als  verworrene  Vorstellung  (confiisa  conceptio) 
noch  in  die  sie  mit  anderen  zusammenfassende  Anschauung  (imaginatio)  eingeht  und 
in  dieser  reproducirbar  erhalten  bleibt,  wie  sodann  der  Verstand  dies  mannig- 
fache Material  in  successivem  Durchlaufen  (discursiv)  zu  Begiiflfen  und  Urtheilen 
verarbeitet,  und  wie  erst  nach  Erfüllung  aller  dieser  Bedingungen  Meinung, 
Glauben  und  Wissen  zu  Stande  kommen,  wo  dann  schliesslich  der  Intellect  den 
Gegenstand  in  einmahger  Gesammtanschauung  (intuitiv)  erkennt. 

In  ähnlicher  Weise  hat  Johannes  von  Salisbury  den  psychischen  Ent- 
wicklungsprocess  dargestellt:  aber  bei  ihm  macht  sich  am  stärksten  die  der  augu- 
stinischen  Auffassung  der  Seele  eigene  Tendenz  geltend,  die  verschiedenen 
Thätigkeitsformen  nicht  als  über  einander  oder  neben  einander  liegende  Schichten, 
sondern  als  in  einander  befindliche  Functionsrichtungen  derselben  lebendigen 
Einheit  zu  betrachten.  Er  sieht  schon  in  der  Empfindung  und  in  höherem 
Masse  in  der  Anschauung  zugleich  einen  Act  des  Urtheils,  und  als  Verbindung 
der  neu  eintretenden  Empfindungen  mit  den  reproducirten  enthält  die  An- 
schauung zugleich  die  Gcfuhlszustände  (passiones)  der  Furcht  und  der  Hoffnung. 
So  entwickelt  sich  aus  der  Imagination  als  dem  psychischen  Grundzustande  die 
doppelte  Reihe  des  Bewusstseins:  in  der  theoretischen  zunächst  die  Meinung  und 
durch  Vergleichung  der  Meinungen  das  Wissen,  sowie  die  vernünftige  Ueber- 
zeugung  (ratio),  beide  unter  der  Willenswirkung  der  Klugheit  (prudentia),  end- 
lich aber  vermöge  des  Strcbens  nach  ruhender  Weisheit  (sapientia)  die  contem- 
plative  Erkenntniss  des  Intellects,  —  in  der  praktischen  Reihe  die  Gefühle  der 
Lust  und  der  Unlust  mit  allen  ihren  Auszwcigungen  in  die  wechselnden  Zustände 
des  Lebens. 

So  ist  bei  Johannes  andeutungsweise  das  ganze  Programm  der  späteren 
Associationspsychologie  vorgezeichnet,  deren  Führer  gerade  seine  Landsleute 
werden  sollten.  Und  nicht  nur  in  den  Problemen,  sondern  auch  in  der  Art  ihrer 
Behandlung  darf  er  als  ihr  Vorbild  gelten.  Von  den  weltfremden  Speculationen 
der  Dialectik  hält  er  sich  fern;  er  hat  die  praktischen  Zwecke  des  Wissens  im 


§  24.  Der  Dualismus  von  Leib  und  Seele.  (Abaelard.)  243 

Auge,  er  will  sich  damit  in  der  Welt,  worin  der  Mensch  leben  soll,  und  vor  allem 
in  dem  wirklichen  Innenleben  des  Menschen  selbst  zurechtfinden,  und  er  bringt 
eine  weltmännische  Feinheit  und  Freiheit  des  G-eistes  in  die  Philosophie  mit, 
wie  sie  in  jenen  Zeiten  sonst  fehlt.  Er  verdankt  dies  nicht  zum  wenigsten  der 
Erziehung  des  Geschmacks  und  des  gesunden  Weltverstandes,  den  die  classischen 
Studien  gewähren:  und  auch  hierin  sind  ihm  seine  Landsleute  nicht  zu  ihrem 
Schaden  gefolgt.  Er  ist  der  Vorläufer  der  englischen  Aufklärung,  wie  Abaelard 
derjenige  der  französischen^). 

4.  Eine  eigenartige  Nebenerscheinung  dieser  Versteifung  des  Gegensatzes 
von  Aeusserem  und  Innerem  und  dieser  Verlegung  des  wissenschaftlichen  Princips 
in  die  InnerUchkeit  ist  endlich  auch  Abaelard's  Ethik ^).  Schon  in  ihrem  Titel 
Scito  te  ipsum  kündet  sie  sich  als  eine  auf  innere  Erfahrung  sich  gründende 
Lehre  an,  und  ihre  Bedeutung  besteht  gerade  darin,  dass  sie  zum  ersten  Male 
wieder  die  Ethik  als  eigene  philosophische  Disciplin  behandelt  und  die  dogmatisch- 
metaphysischen Bestrebungen  von  ihr  abstreift®).  Das  gilt  von  dieser  Ethik,  ob- 
wohl auch  sie  von  dem  christlichen  Sündenbewusstsein  als  von  der  Fundamental- 
thatsache  ausgeht.  Aber  gleich  hier  strebt  sie  sofort  in  das  Innerste.  Gutes 
und  Böses,  sagt  sie,  besteht  nicht  in  der  äusseren  Handlung,  sondern  in  deren 
innerlicher  Ursache.  Es  besteht  aber  auch  nicht  in  den  Gedanken  (suggestio), 
Gefühlen  und  Begierden  (delectatio),  welche  der  Willensentscheidung  vorher- 
gehen, sondern  lediglich  in  diesem  Entschluss  zur  That  (consensus)  selbst.  Denn 
die  in  dem  natürlichen  Zusammenhange  und  zum  Theil  in  der  leibhchen  Con- 
stitution begründete  Neigung  (voluntas),  welche  zum  Guten  oder  zum  Bösen 
führen  kann,  ist  nicht  selbst  im  eigentlichen  Sinne  gut  oder  böse.  Der  Fehler 
(vitium)  —  hierauf  reducirt  Abaelard  die  Erbsünde  —  wird  erst  durch  den  con- 
sensus zur  Sünde  (peccatum).  Ist  aber  dieser  vorhanden,  so  ist  mit  ihm  auch  die 
Sünde  voU  und  ganz  da,  und  die  leibhch  ausgeführte  Handlung  mit  ihren  äusseren 
Folgen  fugt  ethisch  nichts  mehr  zu  ihr  hinzu. 

So  wird  das  Wesen  des  Moralischen  von  Abaelard  lediglich  in  den  Willens- 
entschluss  (animi  intentio)  verlegt.  Welches  ist  nun  aber  die  Norm,  nach  der 
dieser  Willensentschluss  als  gut  oder  böse  charakterisirt  werden  soll?  Auch  hier 
verschmäht  Abaelard  jede  äussere  und  objective  Bestimmung  durch  ein  Gesetz : 
er  findet  die  Norm  der  Beurtheilung  lediglich  im  Innern  des  sich  entschliessen- 
den  Individuums,  und  sie  besteht  in  der  Uebereinstimmung  oder  Nicht-Üeber- 
einstimmung  mit  dem  Gewissen  (conscientia).  Gut  ist  die  Handlung,  welche 
mit  der  eigenen  Ueberzeugung  des  sich  Entschliessenden  im  Einklang  ist:  bös  ist 
nur  diejenige,  die  ihr  widerspricht. 

Und  was  ist  das  Gewissen?  Wo  Abaelard  als  Philosoph,  als  der  rationa- 
listische Dialectiker  lehrt,  der  er  war,  da  ist  es  ihm  (nach  antikem  Vorgange  — 
Cicero)  das  natürliche  Sittengesetz,  das,  wenn  auch  in  verschiedenem  Masse  er- 


1)  Reuter,  a.  a.  0.  II,  80  stellt  so  Roger  Bacon  und  Abaelard  einander  gegenüber;  doch 
findet  sich  gerade  der  entscheidende  Zug  der  empirischen  Psychologie  kräftiger  bei  Johannes. 
—  2)  Vgl.  darüber  Th.  Zikqlkr  in  den  Strassburger  Abhandlungen  zur  Philosophie  (Frei- 
burg 1884).  —  8)  Es  wirft  ein  überraschendes  Licht  auf  die  Klarheit  von  Abaelard's  Denken, 
wenn  er  gelegentlich  den  metaphysischen  Begriflf  des  Guten  (Vollkommenheit  =  Realität) 
genau  von  dem  moralischen  Begriff  des  Guten  geschieden  haben  will,  über  den  allein  die  Ethik 
handle:  er  zeigt  damit,  dass  er  eine  der  stärksten  Problemverschlingungen  der  Geschichte 
durchschaut  hatte. 

16* 


244  in.  Mittelalterliche  Philosophie. 

kannt,  allen  Menschen  gemein  ist  und  das,  wie  Abaelard  überzeugt  war,  nach 
seiner  Verdunklung  durch  menschliche  Sünde  und  Schwäche  in  der  christlichen 
ReUgion  zu  neuer  Klarheit  erweckt  worden  ist  (vgl.  oben  §  23,  7).  Diese  lex 
naturalis  aber  ist  für  den  Theologen  identisch  mit  dem  Willen  Gottes  ^).  Dem 
Gewissen  folgen  heisst  daher  Gott  gehorchen,  gegen  das  Gewissen  handeln  ist 
Verachtung  Gottes.  Wo  aber  irgendwie  der  Inhalt  des  natürlichen  Sittengesetzes 
zweifelhaft  ist,  da  bleibt  dem  Individuum  nur  übrig,  nach  seinem  Gewissen,  d.  h. 
nach  seiner  Erkenntniss  des  göttUchen  Gebots  sich  zu  entscheiden. 

Diese  Ethik  der  Gesinnung*),  welche  das  Haupt  der  Dialectiker  und 
Peripatetiker  vortrug,  erweist  sich  als  eine  Steigerung  der  augustinischen  Prin- 
cipien  der  Verinnerlichung  und  des  Willensindividualismus,  die  aus  dem  System 
des  grossen  Kirchenlehrers  und  über  die  Grenzen  desselben  hinaus  zu  frucht- 
barer Wirkung  in  die  Zukunft  hervordringt. 

n.  Kapitel  Zweite  Periode 

(seit  etwa  1200). 

Karl  Werner,  Der  hl.  Thomas  von  Aquiuo,  3  Bde.   Regensburg  1858 ff. 

—  Die  Scholastik  des  späteren  Mittelalters.  3  Bde.   Wien  1881  ff. 

Das  Bedürfniss  nach  inhaltlicher  Erkenntniss,  welches,  nachdem  der  erste 
Rausch  der  Dialectik  verflogen  war,  sich  der  abendländischen  Wissenschaft  be- 
mächtigte, sollte  sehr  bald  eine  Erfüllung  von  ungeahnter  Ausdehnung  finden.  Die 
Berührung  mit  der  orientalischen  Cultur,  welche  sich  gegen  den  Ansturm 
der  Kreuz  Züge  zunächst  siegreich  behauptete,  eröffnete  den  Völkern  Europas 
neue  Welten  des  geistigen  Lebens.  Die  arabische  und  in  ihrem  Gefolge  die 
jüdische  Wissenschaft^)  hielten  ihren  Einzug  in  Paris.   Sie  hatten  die  Tradition 


1)  In  der  theologischen  Metaphysik  scheint  Abaelard  (Commentar  zum  Rönierbriefe  II, 
241)  gelegentlich  so  weit  gegangen  zn  sein,  dass  er  den  Inhalt  des  Sittengosetzes  auf  die  Will- 
kür des  göttlichen  Willens  zurückführte.  —  2)  Deren  nach  verschiedenen  Richtungen  bedeut- 
samer Gegensatz  gegen  die  kirchliche  Theorie  und  Praxis  hier  nicht  auszuführen  ist.  — 
3)  Auf  eine  eigene  Darstellung  der  arabischen  und  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters 
glaubt  der  Verfasser  verzichten  zu  sollen  und  zu  dürfen  —  zu  sollen  insofern,  als  ihm  hier  die 
Einsicht  in  die  Originalquclleu  zum  grossen  Thcil  verschlossen  ist  und  er  sich  auf  die  Repro- 
duction  secundärer  Darstellungen  angewiesen  sähe,  —  zu  dürfen  aber  deshalb,  weil  dasjenige, 
was  aus  dieser  weitschichtigen  Litteratur  befruchtend  in  die  europäische  Wissenschaft  über- 
gegangen ist  —  und  darum  allein  könnte  es  sich  in  dieser  Darstellung  der  Gesammtentwicklung 
der  Philosophie  handeln  — ,  mit  verschwindenden  Ausnalnnen  sich  durchgängig  als  geisüges 
Eigenthum  des  Alterthums,  der  griechischen  oder  der  hellenistischen  Philosophie,  ergiebt. 
Deshalb  folgt  hier  nur  eine  gedrängte 

Uebersicht  fiber  die  arabische  und  jfidische  Philosophie  im  Mittelalter. 

Aus  der  Litteratur  über  diese  allerdings  mehr  litterarhistorisch  als  philosophisch  inter- 
essante, aber  durch  die  Forschung  noch  nicht  zu  voller  Klarheit  duivhgearbeitete  Traditions- 
periode, welche  eine  competente  Gesammtdarstellung  noch  nicht  gefunden  hat,  sind  hervor- 
zuheben : 

Mohammed  al  Schalirestani,  Geschichte  der  religiösen  und  philosophischen  Secten  bei 
den  Ar.  (deutsch  von  Haarbrückrr,  Halle  1850  f.).  —  A.  Schmöldrrs,  Documenta  philosophiae 
Arabum  (Bonn  1836)  und  fissai  sur  les  ecoles  philosophiques  chez  les  Ar.  (Paris  1842).  — 
Fr.  DiETKRici,  Die  Philosophie  der  Ar.  im  zehnten  Jahrhundert  (8  Hefte.  Leipzig  1865—76). — 
Vgl.  auch  V.  Hammrr-Pürqstall,  Geschichte  der  arabischen  Litteratur. 

S.  MuNK,  Melange»  de  philosophie  juive  et  arabe  (Paris  1859)  und  desselben  Artikel 
über  die  einzelnen  Philosophen  im  Dictionnaire  des  sciences  philosophiques. 


2.  Zweite  Periode.  245 

des  griechischen  Denkens  und  Wissens  unmittelbarer  und  vollständiger  bewahrt 
als  die  Klöster  des  Abendlandes,  lieber  Bagdad  und  Cordova  ergoss  sich  ein 
stärkerer  und  inhaltsreicherer  Strom  wissenschaftlicher  UeberUeferung  als  über 
Rom  und  York.  Aber  auch  jener  führte  an  Neuem  nicht  viel  mehr  mit  sich  als 
dieser.  Vielmehr  ist  hinsichtlich  eigener  principieller  Gedanken  die  orientalische 
Philosophie  des  Mittelalters  noch  ärmer  als  die  europäische.  Nur  an  Breite  und 
Massigkeit  der  Tradition,  an  Umfang  des  gelehrten  Materials  und  an  Ausbreitung 
realer  Kenntnisse  war  das  Morgenland  weit  überlegen^  und  diese  Schätze  gingen 
nun  auch  in  den  Besitz  der  christlichen  Völker  über. 

[n  philosophischem  Betracht  aber  war  dabei  vor  Allem  wichtig,  dass  die 
Pariser  Wissenschaft  nicht  nur  mit  der  ganzen  Logik  des  Aristoteles,  sondern 
auch  mit  allen  sachlichen  Theilen  seiner  Philosophie  bekannt  wurde.  Durch 
diese  „neue  Logik^  wurde  der  schon  in  sich  absterbenden  Dialectik  frisches  Blut 
zugeführt,  und  wenn  nun  die  Aufgabe  der  rationalen  Auseinanderlegung  der 
gläubigen  Weltanschauung  im  neuen  Ansturm  und  mit  gereifter  Technik  des 
Denkens  ergriffen  wurde,  so  bot  sich  gleichzeitig  ein  schier  unübersehbarer 
Stoff  des  Wissens  für  die  Einordnung  in  jenen  metaphysisch-religiösen  Zusammen- 
hang dar. 

M.  EisLBR,  Yorlesunf^en  über  die  jüdischen  Philosophen  des  Mittelalters  (3  Bde.  Wien 
1870 — 84).  —  M.  JoEL,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  (Breslau  1876).  —  J.  Spieoler, 
Geschichte  der  Philosophie  des  Judenthums  (Leipzig  1890).  —  Vgl.  auch  Fürst^s  Bibliotheca 
Judaica  und  die  Geschichten  des  Judenthums  von  Graktz  und  Geiqer. 

So  eng  die  Beziehungen  sein  mögen,  in  denen  auch  die  Philosophie  der  beiden 
semitischen  Culturvölkcr  zu  den  religiösen  Interessen  stand,  so  hat  doch  namentlich  die  arabi- 
sche Wissenschaft  ihren  eigenthümlichen  Charakter  dem  Umstände  verdankt,  dass  die  Ur- 
heber und  Träger  derselben  zum  weitaus  grössten  Theil  nicht  Kleriker,  wie  im  Abendlande, 
sondern  A  erz  te  waren.  (Vgl.  F.  Wüstenfeld,  Geschichte  der  arab.  Aerzte  und  Naturforscher. 
Göttingen  1840.)  So  ging  hier  von  An&ng  an  das  Studium  der  antiken  Medicin  und  Natur- 
wissenschaft mit  demjenigen  der  Philosophie  Hand  in  Hand.  Hippokrates  und  Galen  wurden 
ebenso  (zum  Theil  auf  dem  Umwege  über  das  Syrische)  übersetzt  und  gelesen,  wie  Piaton, 
Aristoteles  und  die  Neuplatonikcr.  Daher  hält  in  der  arabischen  Metaphysik  stets  der  Dialectik 
die  Naturphilosophie  das  Gegengewicht.  So  sehr  nun  aber  dies  geeignet  war,  dem  wissen- 
schaftlichen Denken  eine  breitere  Basis  der  thatsächlichen  Kenntnisse  zu  gewähren,  so  wird 
man  doch  andrerseits  die  selbständigen  Leistungen  der  Araber  in  Naturforschung  und  Medicin 
nicht  überschätzen  dürfen.  Auch  hier  ist  die  mittelalterliche  Wissenschaft  wesentlich  gelehrte 
Tradition.  Die  Kenntnisse,  welche  die  Araber  später  dem  Abendlande  überliefern  konnten, 
stammten  in  der  Hauptsache  aus  den  Büchern  der  Griechen.  Eine  wesentliche  Verbreiterung 
hat  auch  das  Erfahrungswissen  durch  eigene  Arbeiten  der  Araber  nicht  erfahren;  nur  auf 
einigen  Gebieten,  wie  z.B.  der  Chemie  und  der  Mineralogie  und  in  einigen  Theilen  der  Medicin, 
z.  B.  Physiologie,  erscheinen  sie  selbständiger.  In  der  Methode  aber  und  in  den  principiellen 
Auflassungsweisen,  in  dem  ganzen  philosophischen  Begriffssystem  stehen  sie,  soweit  unsere 
Kenntniss  darüber  reicht,  durchweg  unter  dem  combinirtcn  Einflüsse  des  Aristotelismus  und 
des  Neuplatonismus.  (Und  dasselbe  gilt  von  den  Juden.)  Auch  lässt  sich  nicht  behaupten,  dass 
sich  in  der  Aneignung  dieses  Stoffes  etwa  nationale  Eigenthümlichkeit  entfalte.  Diese  ganze 
wissenschaftliche  Bildung  ist  vielmehr  dem  Araberthum  künstlich  aufgepfropft,  sie  kann  in 
ihm  keine  rechten  Wurzeln  schlagen,  und  nach  kurzer  Blüthe  welkt  sie  kraftlos  in  sich  zusammen. 
In  der  Gesammtgeschichte  der  Wissenschaft  ist  ihre  Mission  nur  die,  der  Entwicklung  des 
abendländischen  Grcistes  zum  Theil  die  Continuität  zurückzugeben,  die  er  selbst  zeitweilig  ver- 
loren hatt-e. 

Der  Natur  der  Sache  gemäss  hat  sich  auch  hier  die  Aneignung  der  antiken  Wissenschaft 
in  rückläufiger  Bahn  vollzogen.  Von  dem  in  syrischer  Tradition  noch  zeitgenössischen  und 
vermöge  seiner  religiösen  Färbung  sympathischen  Neuplatonismus  fing  man  an,  um  zu  den 
besseren  Quellen  aun:usteigen :  aber  die  Folge  blieb  die,  dass  man  auch  Aristoteles  und  Piaton 
durch  die  Brille  Plotin's  und  Proklos'  sah.  Während  der  Herrschaft  der  Abassiden,  nament- 
lich auf  Veranlassung  des  Chalifen  Almamun  (im  Anfang  des  neunten  Jahrhunderts)  herrschte 
in  Bagdad  ein  reges  wissenschaftliches  Leben :  die  Neuplatonikcr,  die  besseren  Oommentatoren, 


246  m.  Mittelalterliche  Philosophie. 

Der  so  gesteigerten  Aufgabe  hat  sich  das  mittelalterliche  DeDken  vollauf  ge- 
wachsen gezeigt,  und  es  löste  sie  unter  der  Nachwirkung  des  Eindrucks  von  jener 
glänzendsten  Periode  in  der  Entwicklungdes  Papstthums,  welche  durch  Innocenz  III. 
heraufgefiihrt  worden  war.  Der  neuplatonisch-arabische  AristoteUsmus,  der  mit 
seinen  naturalistischen  Consequenzen  anfangs  nur  den  rationaUstischen  Muth  der 
Dialectik  zu  siegreichem  Uebermuth  zu  kräftigen  schien^  ist  mit  bewunderungs- 
würdig schneller  Bewältigung  in  den  Dienst  des  kirchlichen  Systems  gebeugt 
worden.  Freilich  war  das  nur  so  mögUch,  dass  in  dieser  nun  vollkommen  syste- 
matischen Ausbildung  einer  der  Grlaubenslehre  conformen  Philosophie  die  intel- 
lectualistischen  und  dem  Neuplatonismus  verwandten  Elemente  des  augustinischen 
Denkens  ein  entschiedenes  üebergewicht  gewannen.  Auf  diese  Weise  vollzog 
sich,  ohne  dass  eigentUch  ein  anderes  neues  philosophisches  Princip  als  der  Trieb 
nach  Systembildung  dabei  schöpferisch  gewirkt  hätte^  die  grossartigste  Aus- 
gleichung weltbewegender  Gedankenmassen,  welche  die  Geschichte  gesehen  hat. 
Ihr  geistiger  Urheber  ist  Albert  von  Bollstädt^  ihre  allseitig  organische 
Durchführung,  ihre  litterarische  Codification  und  danach  auch  ihre  historische 
Bezeichnung  verdankt  sie  Thomas  von  Aquino,  und  ihre  dichterische  Dar- 
stellungfand sie  in  Dante's  „göttlicher  Komödie". 

fast  die  ganzen  Lehrschriften  des'Aristoteles,  Republik,  Gesetze  und  Timaeus  Platon^s  waren 
in  Uebersetzungen  bekannt. 

Die  ersten  deutlicher  hervortretenden  Persönlichkeiten,  Alkendi  (gestorben  um  870) 
und  Alfarabi  (gestorben  950)  unterscheiden  sich  in  ihren  Lehren  kaum  von  den  neuplatonischen 
Erklärern  des  Aristoteles:  eine  grössere  Eigeubedeutung  wohnt  Aviccnna  bei  (Ibn  Sina, 
980 — 1037),  dessen  „Kanon"  das  Grundbuch  der  mittelalterlichen  Medicin  im  Occident  wie  im 
Orient  geworden  ist,  der  aber  auch  durch  seine  überaus  zahlreichen  philosophischen  Schriften 
(insbesondere  die  Metaphysik  und  die  Logik)  einen  mächtigen  Einfluss  ausgeübt  hat.  Seine 
Lehre  kommt  dem  reinen  Aristo telismus  wieder  näher  und  unter  allen  Arabern  wohl  am 
nächsten. 

Die  Ausbreitung  dieser  philosophischen  Ansichten  wurde  aber  von  der  mohammedani- 
schen Orthodoxie  mit  scheelen  Augen  angesehen,  und  wie  Avicenna  selbst,  so  erfuhr  die  wissen- 
schaftliche Bewegung  schon  im  zehnten  Jahrhundert  so  heftige  Verfolgungen,  daas  sie  sich  in 
den  Geheimbund  der  „lauteren  Brüder**  flüchtete.  Diese  haben  den  äusserst  stattlichen  Umfang 
des  damaligen  Wissens  in  einem  Schriftencomplex  (darüber  Dibtbrici,  s.  oben)  niedergelegt, 
der  jedoch  Avicenna  gegenüber  noch  eine  stärkere  Neigung  zum  Neuplatonismus  zu  zeigen 
scheint. 

Von  wissenschaftlichen  Leistungen  der  Gegner  ist  einerseits  die  wunderliche  Meta- 
physik der  orthodoxen  Motekallemin  bekannt,  welche  sich  am  Gegensatze  gegen  die  aristote- 
Jisch-neuplatonische  Anschauung  des  lebendigen  N|iturzusammenhanges  zu  einer  äussersten 
Ueberspannung  der  alleinigen  Uausalität  Gottes  entwickelte  und  in  höchster  metaphysischer 
Verlegenheit  zu  einem  verzerrten  Atomismus  griff;  andrerseits  erscheint  hier  in  den  Schriften 
des  Algazel  (1059 — 1111;  Destructio  philosophorum)  eine  skeptisch-mystische  Zersetzung  der 
Philosophie. 

Diese  Tendenzen  trugen  im  Oriente  den  Sieg  um  so  mehr  davon,  je  schneller  die  geistige 
Erhebung  des  Mohammedanismus  dort  wieder  in  sich  zusammenbrach.  Die  Fortsetzung  der 
arabischen  Wissenschaft  ist  in  Andalusien  zu  suchen,  wo  die  mohammedanische  Cultur  ihre 
kurze  Nachblüthe  fand.  Hier  entwickelte  sich  in  freieren  Verhältnissen  die  Philosophie  zu 
einem  kräftigen  Naturalismus,  der  wieder  stark  ueuplatonisches  Gepräge  trug. 

Eine  charakteristische  Darstellung  der  Erkenntnisslehre  dieser  Philosophie  findet  sich 
in  der  „Leitung  des  Einsamen"  von  Avempace  (gestorben  1138),  und  ähnliche  Gedanken 
spitzen  sich  bei  Abubacer  (Ibn  Tophail;  gestorben  1185)  zu  einer  interessanten  Auseinander- 
setzung der  natürlichen  mit  der  positiven  Religion  zu.  Des  letzteren  philosophischer  Roman 
(„Der  Lebende,  des  Wachenden  Sohn"),  der  die  intellectuelle  Entwicklung  eines  von  allem 
liistorisch-gesellschafblichen  Znsammenhange  auf  einsamer  Insel  abgeschlossenen  Menschen 
darstellt,  ist  in  lateinischer  Uebersetzung  von  Pocock  als  „Philosophus  autodidactus"  (Oxford 
1671  und  1700  —  noch  nicht  zwanzig  Jahre  vor  dem  Erscheinen  von  Defoe's  Robinson  Crusoe !) 
und  in  deutscher  Uebersetzung  als  „Der  Naturmensch"  von  Eichhorn  (Berlin  1788)  heraus- 
gegeben worden. 


2.  Zweitß  Periode.  247 

Während  aber  im  Tbomismus  hellenistische  Wissenschaft  und  christlicher 
Glaube  zu  voller  Harmonie  gebracht  schienen,  brach  sogleich  ihr  Gregensatz  um 
so  heftiger  heiTor.  Unter  dem  Einfluss  arabischer  Doctrinen  gelangte  der  in  der 
logischen  Consequenz  des  Realismus  angelegte  Pantheismus  zu  breiter  Ver- 
wirklichung, und  unmittelbar  nach  Thomas  selbst  entfaltete  sein  Ordensgenosse, 
Meister  Eckhart,  den  scholastischen  Intellectualismus  zu  der  Heterodoxie 
einer  idealistischen  Mystik. 

Begreiflich  daher^  dass  auch  der  Thomismus  auf  den  Widerstand  einer 
platonisch-augustinischen  Richtung  stiess^  welche  zwar  den  Zuwachs  des  Natur- 
wissens (wie  früher)  und  die  VervoUkommnung  des  logischen  Apparats  gerne  auf- 
nahm, aber  die  intellectualistische  Metaphysik  von  sich  wies  und  die  entgegen- 
gesetzten Momente  des  Augustinismus  um  so  energischer  ausbildete. 


Die  bedeutendste  Erscheinung  aber  und  jedenfalls  der  selbständigste  unter  den  arabischen 
Denkern  ist  Averroes  (1126  in  Cordova  geboren,  eine  Zeit  lang  Richter  und  dann  Leibarzt 
(lt»8  Chalifen,  später  durch  eine  religiöse  Verfolgung  nach  Marocco  verdrängt,  1198  gestorben). 
Er  hat  fast  alle  Lehrschriften  des  von  ihm  als  höchsten  Lehrer  der  Wahrheit  verehrten  Ari- 
st4>teles  in  Paraphrasen  und  kurzen  oder  längeren  Commentarcn  behandelt  (gedruckt  bei  den 
älteren  Ausgaben  des  Aristoteles).  Von  seinen  eigenen  Werken  (Venedig  1553 ;  einige  existiren 
nur  noch  in  hebräischer  Ucbertragung)  ist  die  Widerlegung  Algazel's,  Destructio  destructionis, 
her\'orzuheben.  Zwei  seiner  Abhandlungen  über  das  Verhältniss  von  Philosophie  und  Theologie 
sind  in  deutscher  Uebersetzung  von  M.  J.  Müllkr  (München  1875)  herausgegeben  worden.  Vgl. 
E.  Rknan,  Averroes  et  Taverroisme,  3  AuH.  Paris  1869. 

Mit  der  Verdrängung  der  Araber  aus  Spanien  verlieren  sich  auch  die  Spuren  ihrer 
philosophischen  Thätigkeit. 

Die  jüdische  Wissenschaft  des  Mittelalters  ist  in  der  Hauptsache  eine  Begleit- 
erscheinung der  arabischen  und  von  dieser  abhängig.  Ausgenommen  ist  davon  nur  die  Kabbala, 
jene  phantastische  Geheimlehre,  deren  (später  freilich  viel  überarbeitete)  Grundzüge  dieselbe 
eigenthümliche  Verquickung  orientalischer  Mythologie  mit  Ideen  der  hellenistischen  Wissen- 
schaft zeigen  und  in  dieselbe  Zeit  und  dieselben  aufgeregten  Vorstellungskrcise  der  Religions- 
mischung  zurückgehen,  wie  der  christliche  Gnosticismus.  Vgl.  A.  Franck,  Systeme  de  la  Kab- 
bale (Paris  1842,  deutsch  von  Jrllinek,  Leipzig  1844).  U.  Joel,  Die  Religionsphilosophie 
des  Sohar  (Leipzig  1849).  Dagegen  sind  bezeichnender  Weise  die  Hauptwerke  der  jüdischen 
Philosophie  ursprünglich  arabisch  geschrieben  und  ei*st  verhältnissmassig  spät  in's  Hebräische 
übersetzt  worden. 

Dem  frühesten  arabischen  Aristotelismus  und  noch  mehr  den  freisinnigeren  moham- 
medanischen Theologen,  den  sogenannten  Mutuziliten,  verwandt  ist  das  Buch  von  Saadjah 
Fiijjumi  (gestorben  942)  „über  Religionen  und  Philosophien'*,  welches  eine  Apologie  des  jüdi- 
schen Dogmas  geben  will.  Li  der  nouplatonischen  Richtuug  begegnet  uns  Avicebron  (Ibn 
(lebirol,  ein  spanischer  Jude  des  eilften  Jahrhunderts),  von  dessen  Föns  vitae  hebräische  und 
lateinische  Bearbeitungen  erhalten  sind.  Als  der  bedeutendste  jüdische  Philosoph  des  Mittel- 
alters gilt  Moses  Maimoni  des  (1135—1204),  der  nach  sei uer  Bildung  und  Lehre  der  um 
Averroes  gruppirten  Phase  der  arabischen  Wissenschaft  angehört.  Seine  Hauptschrift,  „Lehrer 
der  Schwankenden",  (Doctor  pcrplexorum)  ist  arabisch  uud  französisch  mit  Commentar  von 
MüNK  (3  Bde.  Paris  1856 — 66)  herausgegeben  worden.  Noch  enger  ist  der  Anschluss  au 
Averroes  bei  Gersonides  (Levi  ben  Gerson,  1288 — 1344). 

Die  Juden  haben  vermöge  ihrer  weitverzweigten  mercantilen  Beziehungen  durch  Ver- 
trieb und  Uebersetzung  am  meisten  zur  Verbreitung  der  orientalischen  Philosophie  im  Abend- 
lande beigetragen :  namentlich  im  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahrhundert  haben  ihre  Schulen 
in  Sudfrankreich  diese  weittragende  Vermittlung  orgauisirt. 

Zu  der  arabisch-jüdischen  Litteratur,  welche  die  christliche  Wissenschaft  um  1200  auf- 
nahm, gehört  endlich  auch  eine  Anzahl  pseudonymer  und  anonymer  Schriften,  welche 
den  letzten  Zeiten  des  Neupiaton ismus  entstammen,  zumTheil  auch  vielleicht  noch  jünger  sind, 
~  darunter  hauptsächlich  die  „Theologie  des  Aristoteles"  (arabisch  mid  deutsch  vouDietkrici, 
Leipzig  1882  und  83)  und  der  Li b er  de  causis  (De  essentia  purae  bonitatis),  ein  Auszug  aus 
der  dem  Proklos  zugeschriebenen  oxoixs^üioi^  ^ioXofix-fi,  arabisch,  lateinisch  und  deutsch 
herausgegeben  von  O.  Bardeioiewer  (Freiburg  i.  Br.  1882). 


248  m.  Mittelalterliche  Philosophie. 

Zur  vollen  Kraft  gelangte  diese  Richtung  in  dem  scharfsinnigsten  und 
tiefsten  Denker  des  christhchen  Mittelalters^  Duns  Scotus,  der  die  Keime  der 
Willensphilosophie  im  augustinischen  System  zur  ersten  bedeutenden  Entfaltung 
brachte  und  damit  von  der  metaphysischen  Seite  her  den  Anstoss  zu  einer  völligen 
Veränderung  der  Richtung  des  philosophischen  Denkens  gab.  Mit  ihm  beginnt 
die  durch  die  hellenistische  Philosophie  eingeleitete  Verschmelzung  des  religiösen 
und  des  wissenschaftlichen  Interesses  wieder  aus  einander  zu  gehen. 

Zu  dem  gleichen  Erfolge  führte  mit  noch  nachhaltigerer  Kraft  auch  die 
Erneuerung  des  Nominalismus,  zu  der  sich  die  geistige  Bewegung  der 
letzten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  in  einer  überaus  interessanten  Combination 
zuspitzte.  Die  neu  zur  Herrschaft  gelangte  und  in  buntem  Disputationstreiben 
sich  ergehende  Dialectik  bildete  in  ihren  Lehrbüchern  der  Logik  den  aristotelisch- 
stoischen Schematismus  namentlich  auch  nach  der  grammatischen  Seite  und  auf 
dieser  zu  einer  Theorie  aus,  welche  die  Lehre  vom  Urtheil  und  vom  Schluss  an 
die  Auffassung  der  Begriffe  (Termini)  als  subjectiver  Zeichen  für  die  realiter 
bestehenden  Einzeldinge  anknüpfte.  Dieser  Terminismus  verband  sich  in 
Wilhelm  von  Occam  mit  den  naturalistischen  Tendenzen  der  arabisch-aristo- 
telischen Erkenutnisstheorie  zur  Bestreitung  des  Realismus,  der  im  Thomismus 
und  Scotismus  gleichmässig  aufrechterhalten  worden  war.  Aber  er  verband 
sich  auch  mit  der  augustinischen  Willenslehre  zu  kräftigem  Individualismus,  mit 
den  entwicklungsgeschichtlichen  Anfangen  der  empirischen  Psychologie  zu  einer 
Art  von  Idealismus  der  inneren  Erfahrung,  und  mit  der  immer  breiteren  Raum 
erobernden  Naturforschung  zu  einem  zukunftsreichen  Empirismus:  so  spriessen 
unter  scholastischer  Hülle  die  Keime  des  neuen  Denkens. 

Vergebens  tauchten  in  dieser  äusserst  vielspältigen  Bewegimg  hie  und  da 
noch  Männer  auf,  welche  sich  zutrauten,  ein  rationales  System  religiöser  Meta- 
physik zu  schaffen.  Vergebens  suchte  endlich  ein  Mann  von  der  Bedeutung  des 
Nicolaus  Cnsanus  alle  diese  Elemente  einerneuen,  weltlichen  Wissenschaft 
unter  die  Gewalt  eines  halb  scholastischen  und  halb  mystischen  Intellectualismus 
zurückzuzwingen:  gerade  von  seinem  System  aus  haben  jene  Elemente  eine  um 
so  stärkere  Wirkung  auf  die  Zukunft  ausgeübt. 

Die  Rcception  des  Aristoteles  (worüber  hauptsächlich  das  S.  215  citirte  Werk 
von  A.  Jourdain)  füllt  in  das  Jahrhundert  von  1150  bis  1250.  Sie  begann  mit  dem  bisher 
unbekannten,  werthvolleren  Theile  des  Organon  (vetus  —  nova  logica)  und  schritt  zu  den 
metaphysischen,  physischen  und  ethischen  Büchern  fort,  stets  von  der  Einführung  der  arabi- 
schen Erklärungsschriften  begleitet.  Die  Kirche  Hess  die  neue  Logik  zögernd  herein,  obwohl 
dadurcli  der  Dialectik  frische  Schwingen  wuchsen;  denn  bald  musste  sie  sich  überzeugen,  dass 
die  neue  Methode,  die  mit  Hilfe  der  Syllogistik  eingeführt  wurde,  der  Darstellung  ihrer  eigenen 
Lehre  zu  gute  kam. 

Diese  im  eigentlichen  Sinne  scholastische  Methode  besteht  darin,  dass  ein  zu 
Grunde  gelegter  Text  durch  Eintheilung  und  Erklärung  in  eine  Anzahl  von  Sätzen  aufgelöst 
wird,  dass  daran  Fragen  geknüpft  und  die  darauf  möglichen  Antworten  zusammengestellt 
werden,  dass  endlich  die  zur  Begründung  oder  Widerlegung  dieser  Antworten  aufzuführenden 
Argumente  in  der  Form  von  Schlussketten  vorgetragen  werden,  um  schliesslich  eine  Ent- 
scheidung über  den  Gegenstand  herbeizuführen. 

Dies  Schema  hat  zuerst  Alexander  von  Haies  (gestorben  1245)  in  seiner  Smnma 
universac  theologiae  mit  einer  Virtuosität  angewendet,  welche  der  Behandlungswcisc  der 
früheren  Summisten  an  Reichthum  des  Inhalts,  Klarheit  der  Entwicklung  und  Bestimmtheit 
der  Resultate  weit  überlegen  und  auch  später  kaum  übertroffen  worden  ist.  Eine  analoge 
methodische  Umgestaltung  vollzogen  Vincenz  von  Beauvais  ( Vincentius  Bellovacensis ; 
gestorben  um  1265)  durch  sein  Speculum  quadrupicx  an  dem  realencyclopädischen  Kenntniss- 
material und  Johannes  Fidanza,  genannt  Bonaventura  (1221 — 1274)  an  den  Lehren  der 
Mystik,  besonders  derVictoriner.  Charakteristisch  ist  unter  denWerken  des  letzteren  uamentlioL 


2.  Zweite  Periode.  249 

die  Redactio  artium  ad  theologiam.   Vgl.  K.  Werner,  Die  Psychologie  und  Erkeuntnisslehre 
des  B.  (Wien  1876). 

Sehr  viel  zurückhaltender  verfuhr  die  Kirche  der  Metaphysik  und  Physik  des 
Aristoteles  gegenüber,  und  zwar  deshalb,  weil  dieselbe  anfangs  in  engster  Verschwisterung 
mit  dem  Averroismus  auftrat  und  weil  dieser  sogleich  die  seit  Scotus  Erigena  nie  ^anz 
vergessene  neuplatonische  Mystik  zu  offenem  Pantheismus  gestaltete.  Als  Vertreter  eines 
solchen  erscheinen  um  1200  Am al rieh  von  Bena  (bei  Chartres)  und  David  von  Dinant, 
über  deren  Lehren  wir  nur  durch  die  Späteren,  besonders  durch  Albert  und  Thomas  unter- 
richtet sind.  Mit  der  weitverbreiteten,  nach  dem  Lateranconcil  von  1215  mit  Feuer  und 
Schwert  verfolgten  Secte  der  Amalricauer  stand  auch  das  „Ewige  Evangelium**  von  Joachim 
von  Floris  in  Verbindung.   Vgl.  darüber  J.  N.  Schneider  (Dillingen  1873). 

Das  Verdammungsurtheil  über  den  averroistischen  Pampsychismus  (vgl.  §  27)  traf  zu- 
nächst auch  den  Aristoteles.  Diese  Verbindung  aufgelöst  und  die  kirchliche  Macht  zur  An- 
erkennung des  Peripateticismus  umgestimmt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  der  beiden  Bettel- 
orden,  der  Dominikaner  und  der  Franziskaner.  Sic  haben  in  zähem,  oft  hin  und  her 
schwankenden  Kampfe  die  Errichtung  zweier  Lehrstühle  der  aristotelischen  Philosophie  an 
der  Pariser  Universität  und  schliesslich  die  Aufnalime  derselben  in  die  Facultät  erstritten  (vgl. 
Kaufmann,  Gesch.  d.Uuiv.  1, 275  ff.).  Nach  diesem  Siege  (1254)  stieg  das  Ansehen  des  Aristoteles 
schnell  zu  demjenigen  der  höchsten  philosophischen  Autorität;  er  ward  als  Vorläufer  Christi 
in  Sachen  der  Natur,  wie  Johannes  der  Täufer  in  Sachen  der  Gnade  gepriesen,  und  er  galt  von 
nun  an  der  christlichen  Wissenschaft  (gerade  wie  dem  Averroes)  derart  als  Incarnation  der 
wissenschaftlichen  Wahrheit,  dass  er  in  der  folgenden  Litteratur  vielfach  nur  als  „Philosophus** 
citirt  wird. 

Die  Lehre  der  Dominikaner,  bis  auf  heute  die  officielle  Philosophie  der  katholischen 
Kirche,  ist  durch  Albert  und  Thomas  geschaffen  worden. 

AlbertvouBollstedt  (Albertus  Magnus)  war  1 193  zu  Lauingen  (Schwaben)  geboren, 
studirte  in  Padua  und  Bologna,  docirte  in  Cölu  und  Paris,  wurde  Bischof  von  Regensburg  und 
starb  1280  in  Cöln.  Seine  Schriften  bestehen  zum  grösston  Theil  in  Paraphrasen  und  Cora- 
mentaren  zu  Aristoteles;  von  selbständigem  Werthe  ist  ausser  der  Summa  besonders  seine 
Botanik  (De  vegetabilibus  libri  VII;  herausg.  von  Mbyer  und  Jessen,  Berlin  1867).  Vgl. 
J.  SiGHART,  A.  M.,  sein  Leben  und  seine  Wissenschaft  (Regeusburg  1857).  v.  Hertling,  A.  M. 
und  die  Wissenschaft  seiner  Zeit  (in  Hist.-pol.  Blätter  1874).  J.  Bach,  A.  M.  (Wien  1881). 

Thomas  von  Aquino,  1225  oder  27  in  Roccasicca  (Unteritalien)  geboren,  ist  zuerst 
in  dem  durch  seine  naturwissenschaftlichen  Studien  altberühmten  Kloster  Monte  Cassino,  dann 
in  Neapel,  Cöln  und  Paris  gebildet  worden,  darauf  abwechselnd  an  diesen  Universitäten,  sowie 
in  Rom  und  Bologna  als  Lehrer  thätig  gewesen  uud  1274  in  einem  Kloster  bei  Terracina 
gestorben.  Seine  Werke  enthalten  neben  kleineren  Abhandlungen  die  Commentare  zu 
Aristoteles,  dem  Liber  de  causis  und  den  Selitenzen  des  Petrus  Lombardus,  ferner  haupt- 
sächlich die  Summa  theologiae  und  die  Schrift  De  veiitate  fidei  catholicae  contra  gentiles 
(Summa  contra  gentiles).  Die  Abhandlung  De  regimine  principum  gehört  ihm  nur  zum  Theil. 
Aus  der  sehr  umfangreichen  Litteratur  über  ihn  seien  genannt:  Cm.  Jourdain,  La  philosophie 
de  St.  Th.  (Paris  18^8).  Z.  Gonzalez,  Studien  über  die  Philos.  des  hl.  Th.  v.  A.,  aus  dem 
Spanischen  übersetzt  von  Noltb  (Regensburg  1885).  R.  Eogken,  Die  Philos.  d.  Th.  v.  A. 
und  die  Cultur  der  Neuzeit  (Halle  1886).  A.  Frohschamäier,  Die  Philosophie  des  Th.  v.  A. 
(Leipzig  1889). 

Der  philosophischen  Bedeutung  von  Dante  Alighieri  ist  unter  den  Herausgebern  am 
besten  Philalethes  in  dem  Commentar  zu  seiner  Uebersetzung  der  Divina  comedia  (3  Bde.,  in 
2.  Aufl.,  Leipzig  1871)  gerecht  geworden.  Neben  dem  grossen  Weltgedicht  ist  aber  in  philo- 
sophischem Betracht  auch  die  Abhandlung  De  monarchia  nicht  zu  vergessen.  Vgl.  A.  F.  Ozanam, 
D.  et  la  Philosophie  catholique  au  13"*®  siede  (Paris  1845).  —  G.  Baur,  Boethius  und  Dante, 
(Leipzig  1873,  Rede). 

An  sonstigen  Thomisten,  deren  Zahl  gross  ist,  besteht  nur  litterarhistorisches  Interesse. 

Dem  Dominikanerorden  gehörte  auch  der  Vater  der  deutschen  Mystik  an,  Meister 
Eckhart,  ein  jüngerer  Zeitgenosse  des  Thomas.  In  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  geboren, 
vermuthlich  in  Sachsen,  war  er  um  1300  Professor  der  Philosophie  in  Paris,  wurde  dann  Pro- 
vinzial  seines  Ordens  für  Sachsen,  lebto.  zeitweilig  in  CÖln  und  Strassburg  und  starb  während 
der  peinlichen  Verhandlungen  über  die  Rechtgläubigkeit  seiner  Lehre  1329.  Die  erhaltenen 
Schriften  (Sammlung  von  F.  Pfeö'ker,  IL  Leipzig  1857),  sind  hau])tsächlich  Predigten, 
Tractate  und  Sprüche.  Vgl.  C.  Ullmann,  Reformatoren  vor  der  Reformation,  Bd.  II  (Ham- 
burg 1842).  W.  Prbger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  im  Mittelalter  (Leipzig  1875  u.81); 
dazu  die  verschiedenen  Ausgaben  und  Abhandlungen  von  S.  Denifle.  Ueber  E.  insbesondere : 


250  in.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

J.  Bach,  M.  E.  der  Vater  der  deutschen  Speculation  (Wien  1864).  A.  Lasson,  M.E.  der  Mystiker 
(BerUn  1868). 

In  der  weiteren  Entwicklung  verzweigte  sich  die  deutsche  Mystik  in  die  Häresien  der 
Bcghardcn  und  der  Basler  Gottesfreunde;  bei  der  ersteren  führte  sie  zu  radicalster  Ver- 
knüpfung mit  dem  aveiToistischcn  Pantlieismus.  Zu  populärer  Predigt  wurde  sie  bei  Joh. 
Tau  1er  von  Strassburg  (1300 — 1361),  zu  dichterischem  Sang  bei  Heinrich  Suso  von  Constanz 
(1300 — 1365).  Ihre  theoretischen  Lehren  erhielten  sich  mit  Abschwächung  des  Hctcrodoxcn 
in  der  „Deutschen  Theologie"  (zuerst  von  Luther  1516  herausgegeben). 

Die  augustinisch-p] atonische  Opposition  gegen  den  des  Arabismus  verdächtigen  Ari- 
stotelismus  hat  zu  ihren  Hauptvertretern: 

Wilhelm  von  Auvergne  aus  Aurillac,  Lehrer  und  Bischof  in  Paris,  wo  er  1249 
starb,  Verfasser  eines  Werkes  De  universo.  lieber  ihn  handelt  K.  Wkbneb,  Die  Philosophie 
des  W.  V.  A.  (Wien  1873). 

Heinrich  von  Gent  (Henricus  Gandavensis,  Heinrich  Goethals  aus  Mudabei  Gent, 
1217 — 1293)  der  streitbare  Verfechter  des  Willensprimats  gegen  den  Thomismus.  Er  schrieb 
ausser  einem  theologischen  Compendium  Summa  quaestionum  ordinarium  und  hauptsächlich 
Quodlibeta  theologica.  Vgl.  K.  AVerner,  H.  v.  G.  als  Repräsentant  des  christlichen  Platonis- 
mus  im  13.  Jahrhundert  (Wien  1878). 

Auch  Kichard  von  Middletown  (R.  de  mediavia,  gestorben  1300)  und  Wilhelm  de  la 
Marre,  der  Verfasser  eines  heftigen  Correctorium  fratris  Thomae,  können  hier  genannt  werden. 
In  den  folgenden  Jahrhunderten  hielt  sich  neben  Thomismus  und  Scotismus  eine  eigene 
augustinische  Theologie,  als  deren  Führer  Acgydius  von  Colonna  (Aeg.  Komanus; 
1247—1316)  gilt.   Vgl.  darüber  K.  Werner,  Schob  d.  spät.  M.-A.  Bd.  IIL 

Die  schärfste  Gegnerschaft  erwuchs  dem  Thomismus  aus  dem  Fi'anziskaner-Orden.  Der 
nach  allen  Seiten  fruclitbar  anregende,  aber  nach  keiner  zu  fest  bestimmter  Gestalt  heraus- 
tretende Geist  war  hier  RogerBacon,  geboren  1214  bei  llchester,  in  Oxford  imd  Paris  gebildet, 
wegen  seiner  stark  auf  die  Naturforsch uug  gerichteten  Beschäftigungen  und  Ansichten  mehr- 
fach verfolgt,  nur  zeitweilig  vom  Papst  Clemens  IV.  geschützt,  bald  nach  1292  gestorben. 
Seine  Lehren  sind  im  Opus  maius  (herausg.  von  Jerb,  London  1773)  und  auszugsweise  im 
Opus  minus  (herausg.  von  Brewkr,  London  1859)  niedergelegt.  Vgl.  E,  Charles,  R.  B.,  sa 
vie,  ses  ouvrages,  ses  doctrines  (Paris  1861)  und  K.  Werner,  in  zwei  Abhandlungen  über  seine 
Psychologie,  Erkenntnisslehre  und  Physik  (Wien  1879). 

Der  bedeutendste  Denker  des  christlichen  Mittelalters  ist  Johannes  Duns  Scotus. 
Seine  Heimath  (Irland  oder  Northumberland)  und  sein  Geburtsjahr  (um  1270)  sind  nicht  sicher 
bekannt.  Schüler  und  Lehrer  in  Oxford,  erwarb  er  in  Paris,  wo  er  seit  1304  thätig  war,  hohen 
Kuhm  und  siedelte  1308  nach  Cöln  über,  wo  er  bald  nach  seiner  Ankunft  —  allzufrüh  —  starb. 
In  der  von  seinem  Orden  veranstalteten  Ausgabe  seiner  Werke  (12  Bde.,  Lyon  1639)  ist  neben 
eigenen  Schriften  viel  Unechtes  oder  Ueberarbeitetes,  besonders  auch  Nachschriften  seiner 
Disputationen  und  Vorträge  enthalten.  Zu  den  letzteren  gehört  das  sog.  Opus  Parisiense,  das 
einen  Commentar  zu  den  Sentenzen  des  Lombarden  biUlet.  Aehnlichen  Ursprung  haben  die 
Quaestiones  quodlibetales.  Eine  eigene  Niederschrift  ist  das  Opus  Oxoniense,  der  ursprüngüche 
Commentar  zum  Lombarden.  Dazu  kommen  die  Commentaro  zu  aristotelischen  Schriften  und 
einige  kleinere  Tractate.  Seine  Lehre  ist  bei  Werner  und  Stöckl  dargestellt.  Eine  er- 
schöpfende, seiner  Bedeutung  entsiirechende  Monographie  fehlt. 

Unter  seinen  zahlreichen  Anhängern  ist  Franz  von  Mayro  (1325  gestorben)  der  bekann- 
teste. Der  Streit  zwischen  Thomisten  und  Scotisten  war  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  ein 
sehr  lebhafter  und  brachte  viele  Zwischenbildungen  zu  wege :  bald  jedoch  hatten  sich  beide 
Parteien  gemeinsam  gegen  den  Terminisnms  zu  weluren. 

Unter  den  logischen  Schulbüchern  der  späteren  Scholastik  ist  das  einflussreichste  das 
von  Petrus  Hispanus( als  Papst  Johann  XXI.  1277  gestorben)  gewesen.  Seine  Summulae 
logicales  waren  eine  Uebci*setzung  eines  byzantinisch-griechischen  Lehrbuchs,  der  lövo«}''.«  eU 
TYjv  'ApiotoisXoüs  XoYtxTjv  eT[taxYi;j.Yjv  von  Michael  Psellos  (im  eilften  JahrhundeH).  Nach 
dessen  Vorgange  (Ypa|J-p.ata  rfpot'^c  '^pa^ihi  Tsyyiv.oq)  wurden  in  der  lateinischen  Bearbeitung 
die  bekannten  barbarischen  Memorialbezeichnungen  der  Modi  des  Syllogismus  eingefülirt. 
Der  aus  dieser  rhetorisch-grammatischen  Logik  in  der  nominalistischen  Kichtung  entwickelte 
Terminismus  stellte  sich  als  Logica  modema  der  antiqua  der  Realisten  (worunter  Scotisten 
und  Thomisten  zusammeugefasst  wurden)  gegenüber. 

In  der  Erneuerung  des  Nominalismus  begegnen  sich  auf  diesem  Grunde  Wilhelm 
Durand  de  St.  Poury^in  (als  Bischof  von  Meaux  1832  gestorben)  und  Petrus  Aureolus  (1321 
zu  Paris  gestorben),  der  eine  vom  Thomismus,  der  andere  vom  Scotismus  herkommend,  mit 
dem  viel  bedeutenderen  Wilhelm  von  Occam,  dem  Abaelard  der  zweiten  Periode.    Mit 


§  25.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Grnade.  251 

weitem  und  scharfem  Blick  für  die  Wirklichkeit,  mit  kühner,  unruhiger  Neuerungslust  vereinigt 
er  in  sich  alle  Momente,  mit  denen  sich  die  neue  Wissenschaft  aus  der  Scholastik  herausdrängte. 
In  einem  Dorf  der  Grafschaft  Surrey  geboren,  unter  Duns  Scotus  gebildet,  war  er  Professor 
in  Paris,  griff  dann  in  die  kirchenpolitischen  Kämpfe  seiner  Zeit  energisch  ein,  indem  er  mit 
Philipp  dem  Schönen  und  Ludwig  dem  Baier  gegen  das  Papstthum  stritt  (Disputatio  inter 
clericam  et  militem  super  potestateecclcsiastica  praclatis  atque  principibus  terrarum  commissa, 
and  das  Defensorium  gegen  Papst  Johann  XXII.),  und  starb  1347  in  München.  Von  den 
Werken  (keine  Gesammtansgabe)  sind  die  wichtigsten :  Summa  totius  logices,  Expositio  aurea 
super  artem  veterem,  Quodlibeta  Septem,  Centilogium  theologicum,  dazu  ein  Gommentar  über 
Petrus  Lombardus.  Vgl.  W.  A.  Schbeibeb,  Die  politischen  und  religiösen  Doctrinen  unter 
Lfodwig  dem  Baier  (Landshut  1858).  G.  Pbantl,  Der  Universalienstreit  im  dreizehnten  und 
vierze^ten  Jahrhundert  (Sitz.-Ber.  der  Münchener  Akad.  1874).  —  Auch  Occam  harrt  noch 
seines  philosophisch  competenten  Biographen. 

Von  Vertretern  des  terministischen  Nominalismus  im  vierzehnten  Jahrhundert  pflegen 
Johannes  Buridan,  Rector  der  Pariser  uud  Mitbegründer  der  Wiener  Universität,  und  Mar- 
siliua  von  Inghen,  einer  der  ersten  Lehrer  in  Heidelberg,  genannt  zu  werden.  Eine  Verbin- 
dung mystischer  Lehren  mit  der  nominalistischen  Ablehnung  der  Metaphysik  findet  sich  bei 
Pierre  d*Ailly  (Petrus  de  Alliaco,  1350 — 1425)  und  bei  Johannes  Gerson  (Charlier,  1363 
bis  1429). 

Den  Versuch  einer  rein  rationalen  Darstellung  der  Kirchenlchre  machte  im  apologeti- 
schen und  propagatorischen  Interesse  Raymundus  LuUus  (aus  Catalonien,  1235 — 1315), 
banptsächlich  bekannt  durch  die  wunderliche  Erfindung  der  „Grossen  Kunst",  d.  h.  einer 
mechanischen  Vorrichtung,  welche  durch  Combination  der  Grundbegriffe  das  System  aller 
möglichen  Erkenntnisse  hervorbringen  sollte.  Auszug  daraus  bei  J.  E.  Ebuhann,  Grundriss  I, 
§  206.  Seine  Bestrebungen  wiederholen  sich  im  fün&ehnten  Jahrhundert  bei  Raymund 
von  Sabunde,  einem  spanischen  Ai-zt,  der  in  Toulouse  lehrte  und  durch  seine  Theologia 
naturalis  (sive  liber  creaturarum)  Aufsehen  erregte.  Ueber  ihn  vgl.  D.  Matzke  (Breslau  1846). 
M.  HuTTLKE  (Augsbui^  1851). 

Eine  interessante  Zusammenfassung  des  geistigen  Zustandes,  in  dem  sich  das  ausgehende 
Mittelalter  befand,  voll  von  Ahnungen  der  Zukunft,  die  durch  die  Gedanken  der  Zeit  über- 
wuchert sind,  bietet  die  Philosophie  des  Nicolaus  Cusanus  (Nicolaus  Chrypffs,  in  Kues  bei 
Trier  1401  geboren  und  als  Cardinal  und  Bischof  von  Brixen  1464  gestorben).  Die  Hanpt- 
schrift  fuhrt  den  Titel  De  docta  ignorantia  (mit  den  wichtigsten  anderen  deutsch  von  F.  A. 
ScHARPfF,  Freiburg  i.  Br.  1862  herausg.).  Vgl.  R.  Falckenbero,  Gruudzüge  der  Philos.  des  N. 
v.  C.  (Breslau  1880). 

%  85.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Gnade. 

Bei  allen  Philosophen  des  späteren  Mittelalters  findet  sich  mit  grösserer 
oder  geringerer  Klarheit  doch  ein  stets  lebhaftes  Gefühl  von  der  zwiefachen 
UeberUeferung,  welche  die  Voraussetzung  ihres  Denkens  bildet.  Wie  von  selbst 
hatte  sich  früher  alles  Wissen  und  Denken  der  reUgiösen  Metaphysik  eingeordnet; 
und  nun  erschien  neben  dieser  eine  gewaltige^  feingliedrig  in  sich  zusammen- 
hangende Gedankemnasse^  die  man  noch  dazu^  in  öder  Dialectik  nach  Inhalt 
dürstend,  begierig  aufzunehmen  bereit  war.  Die  mannigfaltigen  Beziehungen 
dieser  beiden  einander  erfassenden  und  durchdringenden  Systeme  haben  die 
letzten  Jahrhunderte  des  Mittelalters  wissenschaftlich  bestimmt,  und  der  Ent- 
wicklungsgang ist  dabei  im  Allgemeinen  der,  dass  diese  antagonistischen  Systeme 
von  ihrem  anfangUch  schroff  hervortretenden  Gegensatze  zur  Versöhnung  und 
Ausgleichung  streben,  um,  nachdem  sie  dies  Ziel  erreicht  zu  haben  scheinen, 
um  so  heftiger  wieder  aus  einander  zu  gehen.  Dieser  Lauf  der  Dinge  hat  sich 
in  der  Auffassung  von  dem  Verhältniss  der  verschiedenen  Wissenschaften  zu 
einander  ebenso  nothwendig  eingestellt,  wie  in  der  Ansicht  von  den  letzten  Zu- 
sammenhängen der  Dinge.  In  beiden  Richtungen  ist  auf  den  Versuch  der  Syn- 
these eine  desto  tiefer  gehende  Trennung  gefolgt. 

Dem  religiösen  Denken  des  Abendlandes,  dessen  höchstes  Problem  das 
Verständmss  der  götthchen  Gnadenwirkuug  gewesen  war,  trat  die  orientalische 


252  I^n.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

Philosophie  gegenüber,  in  welcher  zuletzt  die  altgriechische  Richtung  der  Wissen- 
schaft auf  Naturerkenntniss  zur  metaphysischen  Herrschaft  gelangt  war:  und 
wiederum  begann  auch  hier  der  Process  der  Aneignung  mit  den  letzten  Folge- 
rungen, um  erst  allmählich  zu  den  Prämissen  derselben  zurtickzusteigen. 

1.  Daher  war  die  Form,  in  der  die  arabische  Wissenschaft  zunächst  auf- 
genommen wurde,  der  Averroismus.  In  diesem  aber  hatte  sich  die  Wissen- 
schaft gegen  die  positive  ReHgion  auf  das  Bestimmteste  abgegrenzt.  Das  war 
nicht  nur  im  Rückschlag  gegen  die  Angriffe  geschehen,  denen  die  philoso- 
phische Bewegung  im  Orient  unterlegen  war,  sondern  mehr  noch  im  Gefolge 
der  grossen  geistigen  Umwälzungen,  welche  das  Zeitalter  der  Kreuzzüge  durch 
den  innigen  Contact  der  di'ei  monotheistischen  ReUgionen  erfuhr.  Je  heisser 
dieselben  sich  in  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  bekämpften,  um  so  mehr 
schliffen  sich  ihre  Gegensätze  für  die  Theorie  ab.  Diejenigen,  welche  diesen 
Streit  der  Religionen  als  denkende  Beobachter  erlebten,  konnten  dem  Triebe 
nicht  widerstehen,  hinter  den  Vcrscliiedenheiten  die  Gemeinsamkeit  zu  suchen 
und  über  den  Schlachtfeldern  die  Idee  einer  allgemeinen  Religion  zu  errichten. ') 
Um  zu  dieser  zu  gelangen,  musste  man  jede  Form  der  besonderen  historischen 
Offenbarung  abstreifen  und  den  Weg  allgemeingiltiger  wissenschaftlicher  Er- 
kenn tniss  einschlagen.  So  war  man  mit  neuplatonischen  Reminiscenzen  zu  dem 
Gedanken  einer  allgemeinen  auf  die  Wissenschaft  gegründeten  Religion  zurück- 
gekehrt, und  den  letzten  Inhalt  dieser  gemeinsamen  Ueberzeugung  bildete  das 
Sittengesetz.  Wie  schon  Abaelard  in  seiner  Weise  dazu  gelangt  war,  so  be- 
zeichnete später  unter  arabischen  Einflüssen  Roger  Bacon  die  Moralität  als  den 
Inhalt  der  Universalreligion. 

Dieser  wissenschaftlichen  Naturreligion  aber  hatten  die  Araber  mehr  und 
mehr  den  exclusiven  Charakter  einer  esoterischen  Lehre  aufgeprägt.  Die  von 
Philon  stammende  und  der  gesanimtcnPatristik  geläufige  Unterscheidung  zwischen 
einem  wörtlich-historischen  und  einem  geistig  zeitlosen  Sinn  *)  der  reUgiösen  Ur- 
kimden  (vgl.  S.  173f.)  wurde  hier  zu  der  Lehre,  dass  die  positive  Religion  für 
die  Masse  des  Volks  ein  unentbehrliches  Bedürfniss  sei,  während  der  Mann  der 
Wissenschaft  erst  dahinter  die  volle  Wahrheit  suche,  —  eine  Lehre,  in  der 
Averroes  und  Maimonides  einig  waren,  und  die  den  socialen  Verhältnissen  der 
arabischen  Wissenschaft  durchaus  entsprach.  Denn  diese  hatte  sich  stets  in  eng- 
geschlossenen Kreisen  bewegt  und  als  ein  fremdes  Gewächs  niemals  rechte 
Fühlung  mit  der  Masse  des  Volks  gewonnen :  verehrt  doch  Averroes  ausdrücklich 
in  Aristoteles  den  Stifter  dieser  höchsten,  aUgcracinsten  Religion  des  Menschen- 
geschlechts. 

So  Hess  denn  Abubacer  seinen  „Naturmenschen",  der  in  der  Einsamkeit 
zur  philosophisclien  Gotteserkenntniss  gelangt  ist,  schliesslich  wieder  mit  der 
geschichthchen  Menschheit  in  Berührung  kommen  und  dabei  die  Entdeckung 
machen,  dass,  was  er  klar  und  begrifflich  erkannt  hat,  hier  in  bildlicher  Hjille 

1)  Als  ein  Hauptsitz  dieser  Vorstellungswcise  und  überhaupt  des  Gedankouaustausches 
zwischen  IVtorgenlaud  und  Abendland  erscheint  der  Hof  des  hochjjebildeten  Hohenstaufen 
Friedricli  II.  in  Sicilien.  —  2)  In  dieser  INIeinuug  wurde  unter  den  averroistischen  Amabicauern 
das  „ewige  Kvangelium"  des  Joaehim  von  Floris  verbreitet,  welches  diese  Umsetzung  alles 
Aeussereu  in  Inneres,  alles  Histonscheu  in  Zeitlos-jjjiltigea  an  dem  ganzen  Umfange  des  christ- 
lichen Dogmas  vollzog:  das  „pneumatische  Evangelium**  des  Origcncs  (vgl.  S.  174)  wollte  hier 
Wirklichkeit  gewonnen)  die  Periode  des  „Geistes''  begonnen  haben. 


§  25.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Qnade.  (Albert.)  253 

geglaubt  wird  und  dass,  was  ihm  als  selbstTerstÄndliche  Forderung  der  Vernunft 
gilt,  hier  durch  Strafe  und  Lohn  der  Menge  abgezwungen  wird. 

Ist  nun  auch  damit  zugegeben,  dass  natürliche  und  geoffenbarte 
Religion  in  letzter  Instanz  denselben  Inhalt  haben,  so  folgt  doch  daraus,  dass 
sie  wenigstens  im  Ausdruck  der  gemeinsamen  Wahrheit  nothwendig  von  einander 
abweichen,  dass  die  Begriffe  der  philosophischen  Religion  von  den  Gläubigen 
nicht  verstanden  und  die  bildlichen  Vorstellungen  der  Gläubigen  von  den  Philo- 
sophen nicht  für  volle  Wahrheit  erachtet  werden.  Versteht  man  dann  unter  Theo- 
logie (und  so  hatte  sich  im  Abendlande  wie  im  Morgenlande  das  Verhältniss 
gestaltet)  die  nach  den  formalen  Gesetzen  der  Wissenschaft  —  aristotelische 
Logik  —  geordnete  und  vertheidigte  Darstellung  der  positiven  Religionslehre, 
so  ergiebt  sich,  dass  etwas  theologisch  wahr  sein  kann,  was  philosophisch  nicht 
wahr  ist,  und  umgekehrt.  So  erklärt  sich  jene  Lehre  von  der  zweifachen 
Wahrheit^),  der  theologischen  und  der  philosophischen,  welche  durch  das  ganze 
spätere  Mittelalter  gegangen  ist,  ohne  dass  die  Urheberschaft  dieser  Formel  ge- 
nau festgestellt  werden  kann  ^).  Sie  ist  der  adäquate  Ausdruck  des  geistigen  Zu- 
standes,  der  durch  den  Gegensatz  der  beiden  Autoritäten,  unter  welchen  das 
Mittelalter  stand,  der  hellenistischen  Wissenschaft  und  der  reUgiösen  Tradition, 
nothwendig  herbeigeführt  wurde,  und  wenn  sie  später  oft  dazu  gedient  hat, 
wissenschaftliche  Ansichten  vor  kirchUcher  Verfolgung  zu  schützen,  so  war  sie 
auch  in  diesen  Fällen  meistens  der  ehrliche  Ausdruck  des  inneren  Zwiespalts, 
in  dem  sich  gerade  die  bedeutenden  Geister  befanden. 

2.  Diesen  Gegensatz  übernahm  die  Wissenschaft  der  christlichen  Völker, 
und  wenn  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  von  kecken  Dialectikern  wie 
Simon  von  Tournay  oder  Johann  von  Brescia  ausdrücklich  proklamirt,  dafür 
aber  von  der  kircUichen  Macht  um  so  strenger  verdammt  wurde,  so  konnten 
sich  doch  auch  die  leitenden  Geister  der  Thatsache  nicht  entziehen,  dass  die 
Philosophie,  wie  man  sie  unter  dem  Einflüsse  des  Aristoteles  und  der  Araber 
ausbildete,  gerade  den  specifischen  und  unterscheidenden  Lehren  der  christlichen 
Religion  innerlich  fremd  war  und  bleiben  musste.  Mit  vollem  Bewusstsein  dieses 
Gegensatzes  ging  Albert  an  seine  grosse  Aufgabe.  Er  begriff,  dass  der  Unter- 
schied zwischen  der  natürlichen  und  der  geoffenbarten  Religion,  den 
er  vorfand,  nicht  mehr  aus  der  Welt  zu  schaffen,  dass  Pliilosophie  und  Theologie 
nicht  mehr  zu  identificiren  waren;  aber  er  hoffte  und  arbeitete  mit  aller  Kralt 
daran,  diesen  Unterschied  nicht  zu  einem  Widerspruch  werden  zu  lassen.  Er 
gab  die  Rationalisirbarkeit  der  „Mysterien"  der  Theologie,  der  Trinitäts-  und 
Incamationslehre  preis,  und  er  corrigirte  andrerseits  die  Lehre  des  „Philosophen" 
an  so  wichtigen  Punkten,  wie  an  der  Frage  nach  der  Ewigkeit  oder  Zeitlichkeit 
der  Welt  zu  Gunsten  der  kirchlichen  Lehre.  Er  suchte  zu  zeigen,  dass  Alles, 
was  durch  das  „natürliche  Licht"  (lumine  naturali)  in  der  Philosophie  er- 
kannt wird,  auch  in  der  Theologie  gilt,  dass  aber  die  menschliche  Seele  nur  das 
voll  erkennen  kann,  dessen  Principien  sie  selbst  in  sich  trägt,  und  dass  darum  in 

1)  Vgl.M.  Maywald,  Die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit.  Berlin  1871.  —  2)  Ebenso- 
wenig läset  sich  feststellen,  woher  jene  weitverbreitete  Formel  stammt,  welche  die  Stifter  der 
drei  grossen  positiven  Heligionen  als  die  drei  „Betrüger"  der  Menschheit  bezeichnete.  Un- 
historisch, wie  alle  Aufklärung,  vermochte  schon  damals  die  philosophische  Opposition  das 
Mythische,  das  vor  ihrer  vergleichenden  Kritik  nicht  Stand  hielt,  sich  nur  durch  empirische 
Interessen  zu  erklären. 


254  ^'  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

solchen  Fragen,  wo  die  philosophische  Erkenntniss  zu  keiner  endgiltigen  Ent- 
scheidung kommt  und  vor  der  Antinomie  verschiedener  Möglichkeiten  stehen 
bleiben  muss  —  hierin  folgt  Albert  hauptsächlich  den  Ausführungen  des  Mai- 
monides  — ,  die  Offenbarung  den  Aussclüag  giebt.  Eben  deshalb  sei  der  Glaube 
verdienstlich,  weil  er  durch  keine  natürliche  Einsicht  begründet  werden  kann. 
Die  Offenbarung  ist  übervernünftig,  aber  nicht  widervemünftig. 

Dieser  Standpunkt  der  Harmonisirung  natürUcher  und  geoffenbarter  Theo- 
logie ist  im  Wesentlichen  auch  derjenige  von  Thomas,  obwohl  der  letztere  die 
Ausdehnung  des  der  philosophischen  Einsicht  zu  Entziehenden  und  dem  Grlauben 
Anheimzugebenden  möglichst  noch  mehr  zu  beschränken  sucht.  Er  fasst  aber 
ausserdem,  seinem  systematischen  Grundgedanken  nach,  dies  Yerhältniss  als  ein 
solches  verschiedener  Entwicklungsstufen  auf,  und  er  sieht  dementsprechend  in 
der  philosophischen  Erkenntniss  eine  in  der  natürlichen  Anlage  des  Menschen 
gegebene  Möglichkeit,  welche  erst  durch  die  in  der  Offenbarung  thätige  Gnade 
zu  voller  und  ganzer  Verwirklichung  gebracht  wird. 

Es  ist  deshalb  wohl  zu  beachten,  dass  die  Scholastik  gerade  in  diesem 
ihrem  Höhepunkte  weit  entfernt  gewesen  ist,  Philosophie  und  Theologie  zu 
identificiren  oder  der  ersteren,  wie  es  vielfach  dargestellt  worden  ist,  ein  rest- 
loses Begreifen  des  Dogmas  zur  Aufgabe  zu  machen.  Diese  Auffassung  ge- 
hört den  Anfangszeiten  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  (Anselm)  an,  und  sie 
findet  sich  sporadisch  in  den  Zeiten  ihrer  Auflösung.  So  hat  z.  B.  Raymundus 
Lullus  seine  „grosse  Kunst"  *)  wesenthch  in  der  Meinung  entworfen,  dieselbe 
werde,  indem  sie  eine  systematische  Darstellung  aller  Wahrheiten  ermögliche, 
dazu  geeignet  sein,  auch  alle  „Ungläubigen"  von  der  Wahrheit  der  christlichen 
ReUgion  zu  tiberzeugen.  Ebenso  hat  später  Raymund  von  Sabunde  mit  Hilfe  der 
lullischen  Kunst  beweisen  wollen,  dass,  wenn  Gott  sich  doppelt,  in  der  Bibel 
(liber  scriptus)  und  in  der  Natur  (über  vivus),  offenbart  habe,  der  Inhalt  dieser 
beiden  Offenbarungen,  von  denen  die  eine  der  Theologie,  die  andere  der  Philo- 
sophie zu  Grunde  liege,  offenbar  derselbe  sein  müsse.  Aber  in  der  classischen 
Zeit  der  Scholastik  ist  man  sich  des  Unterschiedes  von  natürhcher  und  geoffen- 
barter  Theologie  stets  bewusst  gewesen  und  hat  ihn  um  so  schärfer  ausgeprägt, 
je  mehr  die  Kirche  Anlass  hatte,  der  Verwechslung  ihrer  Lehre  mit  der  „natür- 
lichen Theologie"  vorzubeugen. 

3.  Es  sind  daher  sehr  treue  Söhne  der  Kirche  gewesen,  welche  die  Kluft 
zwischen  Philosophie  und  Theologie  wieder  verbreitert  und  schliesslich  unüber- 
brückbar gemacht  haben.  An  ihrer  Spitze  steht  Duns  Scotus,  der  die  Theo- 
logie nur  als  eine  praktische  Disciphn,  die  Philosophie  dagegen  als  reine  Theorie 
aufisufassen  und  zu  behandeln  lehrte.  Daher  ist  für  ihn  und  für  die  Fortsetzer 
seiner  Lehre  das  Yerhältniss  zwischen  beiden  nicht  mehr  das  der  Ergänzung, 


1)  Diese  querköpfige  und  dabei  doch  in  manchem  Betracht  interessante,  deshalb  auch 
häufig  wieder  hervorgesuchte  Erfindung  bestand  in  einem  System  concentrischer  Ringe,  von 
denen  jeder  eine  Begriffsgruppe  kreisförmig  in  Fächer  vertiieilt  trug  und  durch  deren  Ver- 
schiebung alle  möglichen  Combinationen  zwischen  den  Begriffen  herbeigeführt,  die  Probleme 
gegeben  und  ihre  Lösungen  nahe  gelegt  werden  sollten.  So  gab  es  eine  Figura  A  (Dei),  welche 
die  ganze  Theologie,  eine  Figura  animae,  welche  die  Psychologie  enthielt,  etc.  Mnemo- 
technische Versuche  und  solche,  welche  auf  die  Erfindung  einer  Weltsprache  oder  einer  philo- 
sophischen Zeichenschrifl  ausgingen,  haben  öfters  an  diese  Ars  combinatoria  angeknüpft:  auch 
die  Einfuhrung  der  Buchstabenrechnung  hängt  mit  diesen  Bestrebungen  zusammen. 


§  25.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Gnade.  (Thomas,  Duns  Scotus,  Occam.)     255 

sondern  das  der  Trennung.  Die  natürliche  Theologie  schrumpft  zwischen  den 
Gegensätzen  der  Offenbarung  und  der  Vernunfterkenntniss  zu  äusserster  Armuth 
zusammen.  Der  Kreis  der  für  die  natürliche  Erkenntniss  unzugänglichen 
Mysterien  der  Theologie  wächst  immer  mehr;  bei  Duns  Scotus  gehört  schon  der 
zeitliche  Anfang  der  geschaffenen  Welt  und  die  UnsterbUchkeit  der  Menschen- 
seele dazu ;  und  Occam  leugnet  sogar  die  Beweiskraft  der  übUchen  Argumente, 
mit  denen  die  rationale  Theologie  das  Dasein  Gottes  zu  beweisen  pflegte. 

Dabei  wurzelte  diese  Kritik  wesenthch  und  mit  voller  Ehrlichkeit  in  der 
Absicht;  dem  Glauben  sein  Recht  sicher  zu  stellen.  Im  Zusammenhange  mit  dem 
wieder  verschärfCfen  metaphysischen  Dualismus  (s.  unten  No.  5)  erschien  das  an 
die  sinnliche  Wahrnehmung  gebundene  Erkennen  des  Verstandes  unfähig,  die 
Geheimnisse  der  überirdischen  Welt  zu  ergründen.  So  konnten  Männer  wie 
Gerson  gerade  auf  den  Nominalismus  ihre  mystische  Lehre  stützen.  Die  Differenz 
zwischen  der  Philosophie  und  der  Theologie  ist  nothwendig,  der  Widerspruch 
zwischen  Wissen  und  Glauben  ist  unvermeidlich.  Die  Offenbarung  stammt  aus 
der  Gnade  und  hat  das  göttUche  Reich  der  Gnade  zu  ihrem  Inhalt :  die  Vernunft- 
erkenntniss ist  ein  Naturprocess  der  Wechselwirkung  zwischen  dem  erkennen- 
den Geiste  und  den  Gegenständen  der  Wahrnehmung.  Deshalb  musste  der 
Nominalismus,  wenn  er  auch  aus  der  scholastischen  Methode  heraus  nur  schwer 
und  spät  dahin  gelangte,  dabei  enden,  die  Natur  als  das  einzige  Object  der 
Wissenschaft  zu  betrachten.  Jedenfalls  stellte  sich  schon  jetzt  die  Philosophie 
als  weltliche  Wissenschaft  der  Theologie  als  der  göttlichen  gegenüber. 

So  redeten  Duns  Scotus  und  Occam  äusserlich  ganz  im  Sinne  der  „zwei- 
fachen Wahrheit".  Jene  Grenzbestimmung  sollte  besagen,  dass  in  Glaubens- 
sachen die  Dialectik  nicht  mitzureden  habe.  Allein  es  konnte  nicht  ausbleiben, 
dass  diese  Trennung  bei  Anderen  zu  der  entgegengesetzten  Consequenz  und  zu 
dem  ursprünglichen  Sinne  der  Behauptung  einer  doppelten  Wahrheit  zurück- 
führte. Sie  wurde  zu  einem  Freibrief  für  die  weltUche  Philosophie.  Man  konnte 
die  dialectische  Untersuchung  bis  zu  den  kühnsten  Sätzen  verfolgen  und  doch 
jeden  Anstoss  vermeiden,  wenn  man  nur  hinzufügte,  das  sei  so  secundum  rationem, 
aber  secundum  fidcm  gelte  natürlich  das  Gcgentheil.  Das  geschah  so  häufig,  dass 
Thomisten  und  Lullisten  dagegen  eiferten.  Bei  vielen  freilich,  die  sich  dieser 
Wendung  bedienen,  ist  nicht  zu  zweifeln,  dass  sie  es  ehrhch  so  meinten:  ebenso 
sicher  aber  ist,  dass  Andere  mit  vollem  Bewusstsein  darin  nur  eine  bequeme 
Handhabe  fanden,  um  unter  dem  Schutze  dieser  Restriction  die  Lehren  einer 
innerlich  mit  dem  Glauben  zerfallenen  Philosophie  vorzutragen.  Jedenfalls  trifft 
das  auf  die  gegen  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  in  Padua  blühende  Schule 
der  Averroisten  zu. 

4.  Dieser  wechselvollen  Umgestaltung  des  Verhältnisses  von  Theologie  und 
Philosophie  geht  im  engsten  Zusammenhange  parallel  eine  analoge  Entwicklung 
der  metaphysischen  Psychologie,  und  beide  beziehen  sich  gleichmässig  auf 
das  Grundverhältniss  der  übersinnlichen  und  der  sinnlichen  Welt.  Auch  hier  ist 
der  Dualismus  der  Ausgangspunkt  und  nachher  wieder  das  Ende.  Er  war  ja 
am  Schluss  der  ersten  Periode  zu  besonderer  Schärfe  von  den  Victorinern  aus- 
gebildet worden :  in  dieser  Mystik  war  das  Tafeltuch  zwischen  Leib  und  Seele 
zerschnitten.  Geistige  und  materielle  Welt  fielen  als  getrennte  Sphären  der  Welt- 
wirkUchkeit  aus  einander. 


256  I^'  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

Nun  aber  erfüllte  der  Aristotelismus  seine  historische  Mission,  den  Dualis- 
mus der  Zweiweltentheorie  zu  überwinden,  wie  einst  an  Piaton,  so  auch  an 
Augustin,  und  in  der  thomistischen  Psychologie  sollte  der  Begriff  der 
Entwicklung  und  des  Stufenaufbaus  der  Erscheinungen  jene  Trennung  be- 
siegen. Hatte  Hugo  von  St.  Victor  die  Schneidelinie  der  creatürlichen  Welt 
mitten  durch  das  Wesen  des  Menschen  geführt,  indem  er  die  völlige  Unvergleich- 
lichkeit  der  darin  zusammengefügten  beiden  Substanzen  betonte,  so  sollte  nun 
gerade  die  menschliche  Seele  als  das  Mittelglied  verstanden  werden,  durch 
welches  in  der  einheitlichen  Entwicklungsreihe  aller  Dinge  die  beiden  Welten 
organisch  in  einander  greifen. 

Dies  Resultat  gewinnt  Thomas  durch  eine  ausserordentlich  feinsinnige  Um- 
gestaltung der  aristoteUschen  Lehre  von  den  Formen  und  ihrem  Verhältniss  zum 
StoflF.  Materielle  und  immaterielle  Welt  charakterisiren  sich  dadurch,  dass  in 
dieser  die  reinen  Formen  (formae  separatae;  auch  subsistcnte  Formen  genannt) 
als  thätige  Intelligenzen  ohne  jede  Grebundenheit  au  die  Materie  wirklich  sind, 
während  in  jener  die  Formen  nur  in  der  Verbindung  mit  der  Materie  sich  ver- 
wirklichen (inhärente  Formen).  Die  menschliche  Seele  aber  ist  als  niederste  der 
reinen  Intelligenzen  eine  forma  separata  (worauf  ihre  Unsterblichkeit  beruht)  und 
zugleich  als  Entelechie  des  Leibes  die  oberste  derjenigen  Formen,  welche  sich 
an  der  Materie  verwirklichen.  Diese  beiden  Seiten  ihres  Wesens  aber  sind  in 
ihr  zu  absoluter  substantieller  Einheit  verbunden,  und  sie  ist  die  einzige  Form, 
die  zugleich  subsistent  und  inhärent  ist*).  Auf  solche  Weise  führt  die  Reihe  der 
Einzelwesen  von  den  niedersten  Formen  des  materiellen  Daseins  an  über  pflanz- 
liches und  thierisches  Leben  hinaus  durch  die  menschliche  Seele  mit  un- 
unterbrochener Continuität  in  die  Welt  der  reinen  Intelligenzen,  der  Engel,  hin- 
über^) und  endlich  bis  zu  der  absoluten  Form,  der  Gottheit.  Durch  diese 
centrale  Stellung  der  metaphysischen  Psychologie  wird  im  Thomismus  die  Kluft 
zwischen  den  beiden  Welten  geschlossen. 

5.  Allein  der  Folgezeit  schien  es,  dass  der  Riss  nur  verklebt  sei  und  dass 
die  Verknüpfung  so  heterogener  Bestimmungen  wie  der  Entelechie  des  Leibes 
und  der  Subsistenz  einer  reinen  Intelligenz  mehr  sei  als  der  Begriflf  der  Einzel- 
substauz  zu  tragen  vermöge.  Daher  schob  Duns  Scotus,  dessen  Metaphysik 
sich  natürlich  gleichfalls  in  der  aristoteHschen  Terminologie  bewegt,  zwischen  der 
intelligenten  Seele,  die  er  dann  doch  auch  als  „wesentliche  Form"  des  Leibes 
bezeichnet,  und  dem  Leibe  selbst  noch  eine  (inhärente)  forma  corporeitatis  ein, 
und  so  war  trotzdem  wieder  die  augustinisch-victorinische  Trennung  des  be- 
wussten  Wesens  von  der  physiologischen  Lebenskraft  hergestellt. 

Occam  macht  nicht  nur  diese  Unterscheidung  zu  der  seinigen,  sondern  er 
zerlegt  auch,  zu  weiterer  Einschiebung  genöthigt,  die  bewusste  Seele  in  einen 
intellectiven  und  einen  sensitiven  Theil,  und  er  schreibt  dieser  Trennung  reale  Be- 
deutung zu.  Mit  dem  zur  Anschauung  der  immateriellen  Welt  berufenen  Ver- 
nunftwesen scheint  ihm  die  sinnliche  Vorstellungsthätigkeit  ebensowenig  verein- 
bar wie  die  Gestaltung  und  Bewegung  des  Leibes.    So  zersplittert  ihm  die 


1)  Hierin  concentrirt  sich  begrifflich  die  anthropocentrische  Richtung  der  Welt- 
anschauung, welche  auch  der  Thomismus  nicht  überwunden  hat.  —  2)  Die  Stufenreihe  der 
Formen  construirt  Thomas  in  der  materiellen  Welt  nach  Aristoteles,  in  der  geistigen  nach 
Diogenes  Areopagita. 


§  26.  Das  Reich  der  Natur  und  das  Keich  der  Gnade.  (Occam.)  257 

Seele  in  eine  Anzahl  einzelner  Kräfte,  deren  Verhältniss  (namentlich  auch  hin- 
sichtlich ihres  räumlichen  Ineinanderseins)  zu  bestimmen  grosse  Schwierigkeiten 
bereitet. 

6.  Das  Wesentliche  dabei  aber  ist,  dass  hiermit  die  Welt  des  Bewusst- 
seins  und  diejoiige  der  Körper  wieder  völlig  aus  einander  fallen,  und  das  zeigt 
sich  besonders  in  Occam's  Erkenntnisslehre,  welche  von  diesen  Voraussetzungen 
her  zu  einer  überaus  bedeutsamen  Neuerung  fortgeschritten  ist. 

Der  altgriechischen  Vorstellung,  dass  im  Erkenntnissprocesse  durch  das 
Zusammenwirken  der  Seele  und  des  äusseren  Gegenstandes  ein  Abbild  des 
letzteren  entstehe,  welches  dann  von  der  Seele  aufgefasst  und  angeschaut  werde, 
hatten  beide  „Bealisten",  Thomas  und  Duns  Scotus,  gleichmässig,  wenn  auch 
mit  einigen  Variationen  in  der  Lehre  von  den  „species  intelligibiles"  Folge  ge- 
geben. Occam  streicht  diese  species  intelligibiles  als  eine  unnütze  Verdopplung*) 
der  äusseren  Wirklichkeit,  die  dadurch,  sofern  sie  Gegenstand  der  Erkenntniss 
ist,  noch  einmal  (in  psychischer  Wirklichkeit)  gesetzt  wurde.  Damit  aber  ver- 
liert ihm  die  sinnliche  Erkenntniss  den  Charakter  der  Abbildlich- 
keit  ihrem  Gegenstande  gegenüber.  Eine  VorsteUung  (conceptus,  intellectio 
rei)  ist  als  solche  ein  Zustand  oder  ein  Act  der  Seele  (passio  —  intentio  animae) 
und  bildet  in  dieser  ein  Zeichen  (signum)  für  das  ihr  entsprechende  äussere 
Ding.  Aber  dies  innerliche  Gebilde  ist  etwas  andersartiges  als  die  äussere  Wirk- 
lichkeit, deren  Zeichen  es  ist,  und  deshalb  kein  Abbild  davon.  Nur  insofern 
kann  von  einer  ^AehnUchkeit^  die  Bede  sein,  als  dabei  das  innerlich  Wirkliche 
(esse  objective=Bewu8stseinsinlialt)  und  das  äusserlich  Wirkliche  (esse  formaliter 
oder  subjective  =  BeaUtät)  *)  nothwendig  auf  einander  bezogen  sind  und  sozu- 
sagen correspondirende  Punkte  in  den  beiden  heterogenen  Sphären  bilden. 

So  entwickelt  sich  bei  den  Terministen  aus  der  alten  Dualität  von  Geist 
und  Körper  der  Anfang  eines  psychologisch-erkenntnisstheoretischen  Idealis- 
mus: die  Welt  des  Bewusstseins  ist  eine  andere  als  die  Welt  der  Dinge.  Was 
in  jener  sich  findet,  ist  kein  Abbild,  sondern  nur  ein  Zeichen  für  ein  ihm  aussen 
Entsprechendes.  Die  Dinge  sind  anders  als  unsere  Vorstellungen  (ideae)  von 
ihnen. 

7.  Mit  voller  Schroffheit  war  endlich  der  Dualismus  Augustinus  in  seiner 
Auffassung  von  der  Geschichte  hervorgetreten.  Das  Beich  Gottes  und  das 
des  Teufels,  die  Kirche  und  der  weltliche  Staat  standen  sich  hier  in  starrer  Anti- 
these gegenüber.  Die  historische  Wirklichkeit,  deren  Befiex  diese  Lehre  war, 
hatte  sich  seitdem  völlig  geändert.  Aber  bisher  hatten  dem  Mittelalter  nicht  nur 
die  historischen  Anschauungen  gefehlt,  welche  diese  Lehre  zu  corrigiren  geeignet 
gewesen  wären,  sondern  es  war  auch  das  wissenschaftliche  Denken  so  einseitig 
theologisch  und  dialectisch  beschäftigt  gewesen,  dass  ethische  und  sociale 
Probleme  dem  Gesichtskreise  der  Philosophen  noch  ferner  geblieben  waren 
als  physische.  Und  doch  sah  gleichzeitig  die  geschichtliche  Wirklichkeit  Be- 
wegungen von  so  grossartigen  Dimensionen,  dass  auch  die  Wissenschaft  noth- 
wendig zu  ihr  Stellung  nehmen  musste.  Wenn  sie  dies  in  der  zweiten  Periode 
in  einer  der  Grösse  des  Gegenstandes  vollkommen  würdigen  Weise  zu  thun 

1)  Nach  seinem  methodischen  Grundsatz:  entia  praeter  necessitatem  non  esse  mul- 
tiplicanda.  —  2)  Die  Termini  „objecti^"  und  „subjectiv"  haben  somit  im  Mittelalter  eine  dem 
heutigen  Sprachgebrauch  gegenüber  geradezu  umgekehrte  Bedeutung. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  ]^7 


258  in.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

vermocht  hat, .  so  verdankte  sie  die  Kraft  dazu  wiederum  dem  aristotelischen 
System,  welches  ihr  die  Mittel  an  die  Hand  gab^  auch  die  grossen  Zusammen- 
hänge des  staatlichen  und  geschichtlichen  Lebens  im  Gedanken  zu  bewältigen, 
auch  diese  Formen  der  Entwickluugsreihe  ihrer  Metaphysik  einzuordnen  und  so 
den  mächtigen  Inhalt  dessen^  was  sie  erlebte,  in  Begriffe  umzusetzen.  Ja,  in 
dieser  Richtung,  in  der  auch  die  arabischen  Commentatoren  nicht  vorangegangen 
waren,  liegt  die  glänzendste  Leistung  der  mittelalterlichen  Philosophie^):  und  an 
ihr  fallt,  da  Albert's  Interesse  mehr  auf  der  Seite  der  Physik  lag,  der  Haupt- 
antheil  des  Verdienstes  auf  Thomas. 

Dieser  betrachtet  den  weltlichen  Staat  nicht  wie  Augustin  als  eine  Folge 
des  Sündenfalls,  sondern  als  ein  nothwendiges  Glied  im  Weltleben.  Auch  da« 
Recht  ist  ihm  deshalb  ein  Ausfluss  des  göttlichen  Wesens  und  muss  als  solcher 
begriffen  werden:  über  allen  menschlichen  Satzungen  steht  die  lex  naturalis,  auf 
der  die  Sittlichkeit  und  das  gesellschaftUche  Leben  ruhen.  Im  Besonderen  aber 
ist  der  Mensch  seiner  Natur  nach,  wie  die  Sprache,  die  Hilfsbedürftigkeit  des 
Einzelnen  und  der  GeseUigkeitstrieb  beweisen,  zum  Leben  im  Staate  bestimmt. 
Der  Zweck  des  Staates  aber  ist  —  so  lehrte  Aristoteles  —  die  Tugend  zu  ver- 
wirklichen, und  aus  diesem  Zweck  sind  (im  philosophischen  Recht  —  Natur- 
recht) alle  Bestimmungen  desselben  zu  entwickeln.  Allein  (und  hier  beginnt 
der  neue  Gedanke)  jene  bürgerhche  Tugend,  zu  der  der  Staat  erziehen  soll,  er- 
schöpft die  Bestimmung  des  Menschen  nicht.  Mit  ihr  erfüllt  er  seinen  Zweck 
nur  als  irdisches  Wesen ;  seine  höhere  Bestimmung  ist  das  Heil,  welches  ihm  in 
der  kirchlichen  Gemeinschaft  die  Gnade  bietet.  Aber  wie  überall  das  Höhere 
sich  durch  das  Niedere  verwirklicht  und  dieses  um  jenes  willen  da  ist,  so  soll 
auch  die  staatliche  Gemeinschaft  die  Vorbereitung  für  jene  höhere  Gemeinschaft 
des  Gottesstaates  sein.  So  ordnet  sich  der  Staat  der  Kirche  als  das  Mittel  dem 
Zweck,  als  das  Vorbereitende  dem  Vollendenden  unter.  Die  Gemeinschaft  des 
irdischen  Lebens  ist  die  Schule  für  diejenige  des  himmlischen  —  praeambula 
gratiae. 

Neben  die  Teleologie  der  Natur,  welche  die  griechische  Philosophie 
ausgearbeitet,  hatte  die  Patristik  die  Teleologie  der  Geschichte  gestellt 
(vgl.  S.  205) :  aber  beide  waren  unvermittelt  aus  einander  geblieben.  Die  Staats- 
lehre des  Thomas  ordnet  die  eine  der  andern  in  begriiAichen  Zusammenhängen 
unter  und  vollzieht  damit  die  tiefst  und  weitest  greifende  Verknüpfung  von  an- 
tiker und  christlicher  Weltauffassung,  welche  je  versucht  worden  ist. 

Damit  aber  fügt  sich  dem  metaphysischen  Gebäude  des  Thomismus  der 
Schlussstein  ein.  Durch  diesen  Uebergang  aus  der  natürlichen  Gemeinschaft  in 
diejenige  der  Gnade  erfüllt  der  Mensch  die  Aufgabe,  welche  ihm  seine  Stellung 
im  Universum  anweist:  aber  er  erfüllt  sie  nicht  als  Individuum,  sondern  nur  in 
der  Gattung.  Der  antike  Staatsgedanke  ist  im  Christenthum  wieder  lebendig 
geworden;  aber  er  ist  nicht  mehr  Selbstzweck,  er  ist  das  vornehmste  Mittel  für 
die  Ausführung  des  göttlichen  Weltplans.  Gratia  naturam  non  tolht  sed  perficit. 

8.  Allein  auch  diese  höchste  Synthese  hatte  nicht  langen  Bestand.  Wie  in 
der  poUtischen  Wirküchkeit,  so  gestaltete  sich  auch  in  der  Theorie  das  Verhält- 
niss  von  Kirche  und  Staat  sehr  viel  weniger  versöhnlich.   Schon  bei  Dante  wird 


1)  Vgl.  W.  DiLTHEY,  Einleitung  in  die  GeisteswissenBchaften  I,  41 8  ff. 


§  26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes.  (Thomas,  Dante,  Occam.)      259 

die  Unterordnung  mit  einer  Nebenordnung  vertauscht.  Dabei  theüt  der  Dichter 
mit  dem  Metaphysiker  die  Vorstellung,  dass,  weil  die  menschliche  Bestimmung 
nur  in  der  Gattung  zu  erreichen  ist,  sie  auch  eine  vollkommene  EinheitUchkeit 
der  poütischen  Organisation  erforderlich  mache:  beide  verlangen  den  Welt- 
staat, die  „Monarchie^,  und  sie  sehen  im  Kaiserthum  die  Erfüllung  dieses 
Postulats.  Allein  der  grosse  GhibelUne  kann  nicht  theokratisch  denken,  wie  der 
Dominikanermönch:  und  wo  dieser  dem  Imperium  die  Unterordnung  unter  das 
Sacerdotium  zuweist,  da  stellt  jener  beide  als  gleichberechtigte  Mächte  einander 
gegenüber.  Gott  hat  den  Menschen  gleichmässig  zu  irdischer  wie  zu  himmli- 
scher GlückseUgkeit  bestimmt:  zu  jener  fuhrt  ihn  der  Staat  durch  die  natürliche 
Erkenntniss  der  Philosophie,  zu  dieser  die  Kirche  durch  die  Oflfenbarung.  Es 
bricht  in  dieser  Coordination  die  Weltfreude  der  Renaissance  ebenso  siegreich 
durch  wie  das  Kraftgefühl  des  weltlichen  Staates. 

Und  nach  dieser  Richtung  ist  die  Entwicklung  fortgeschritten.  Wenn  die 
von  Thomas  construirte  Stufenfolge  der  ReaUtät  wieder  mitten  im  menschlichen 
Wesen  zerschnitten  wurde,  so  fielen,  wie  die  geistige  und  die  körperliche  Welt, 
so  auch  die  geistliche  und  die  staatliche  Macht  aus  einander,  und  die  Theorie  bot 
die  Handhaben,  um  das  Sacerdotium  in  die  überweltUche  Innerhchkeit  zu  ver- 
weisen und  dafür  das  Imperium  zur  alleinigen  Herrschaft  in  der  Sinnenwelt 
einzusetzen.  Genau  das  ist  der  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  Occam  in  seiner 
Disputatio  zu  dem  Streite  zwischen  Papstthum  und  weltUcher  Macht  auf  der 
Seite  der  letzteren  Stellung  nahm.  Bei  seinen  Voraussetzungen  ist  es  aber  auch 
nicht  mehr  mögUch,  die  Theorie  des  Staates  auf  den  (reaUstischen)  Gedanken 
eines  einheitlichen  Zweckzusammenhanges  des  menschlichen  Geschlechts  zu  grün- 
den. Der  Nominalist  sieht  in  dem  gesellschaftlichen  und  geschichtlichen  Leben 
als  substantiellen  Hintergrund  nur  die  wollenden  Individuen,  und  er  betrachtet 
Staat  und  Gesellschaft  als  Producte  der  Interessen  (bonum  commune).  In  der 
Theorie  wie  im  Leben  behält  der  Individualismus  das  Wort*). 

g  26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes. 

W.  Kahl,  Die  Lehre  vom  Primat  des  Willens  bei  Augustinus,  Duns  Scotus  und  Descartes. 
Strassburg  1886. 

Im  engsten  Zusammenhange  mit  allen  diesen  allgemeinen  Fragen  steht  ein 
psychologisches  Specialproblem,  dessen  lebhafte  Discussion  sich  durch  diese 
ganze  Zeit  hindurchzieht  und  an  dem  sich  die  Parteigegensätze  derselben  in  ver- 
kleinertem Massstabe,  aber  in  desto  schärferer  Beleuchtung  erkennen  lassen.  Es 
ist  die  Frage,  ob  unter  den  Vermögen  der  Seele  dem  Willen  oder  dem  Verstände 
die  höhere  Würde  zukomme  (utra  potentia  nobilior).  Sie  nimmt  in  der  Litteratur 
dieses  Zeitraums  einen  so  breiten  Raum  ein,  dass  man  versucht  sein  könnte,  den 
psychologischen  Gegensatz,  der  sich  an  ihr  entfaltet,  für  das  Leitmotiv  der  ganzen 
Periode  anzusehen.  Allein  der  Verlauf  der  Entwicklung  zeigt  doch  zu  deutUch, 
dass  die  eigentUch  treibenden  Kräfte  in  der  religiösen  Metaphysik  lagen,  und  die 
Straffheit  der  systematischen  Conception,  welche  die  philosophischen  Lehren 

1)  Bis  zu  der  äussersten  Folgerung  staatlicher  Omnipotenz  steigert  sich  diese  weltliche 
Rechtslehre  Occam's  bei  seinem  Freunde  Marsilius  von  Fadua,  dessen  Schrift  Defensor 
pacis  (1346)  auch  die  utilistisch-nominalis tische  Begründung  der  Theorie  des  Staates  in  kräf> 
tigen  tilgen  durchführt. 

17* 


260  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

dieser  Zeit  auszeichnet,  erklärt  zur  Genüge,  dass  die  Stellung  zu  einem  Einzel- 
problem für  die  verschiedenen  Denker  als  typisch  erscheinen  kann.  Immerhin 
bleibt  charakteristisch,  dass  dies  Problem  eine  Frage  aus  dem  Gebiete  der  Innen- 
welt ist. 

Auch  hierin  waren  die  beiden  Hauptmassen  der  Ueberlieferung,  Augustinis- 
mus und  Aristotelismus^  nicht  einig ;  aber  ihr  Yerhältniss  war  hier  keineswegs 
dasjenige  eines  ausgesprochenen  Gegensatzes.  Für  den  Augustinismus  war  die 
Frage  überhaupt  schief  gestellt.  In  ihm  war  das  einheitliche  Wesen  der  Persön- 
lichkeit so  stark  betont  und  das  Ineinander  der  verschiedenen  Seiten  ihrer  Thätig- 
keit  so  vielfach  hervorgehoben,  dass  von  einem  Rangverhältniss  derselben  im 
eigentlichen  Sinne  nicht  recht  hätte  die  Rede  sein  können.  Aber  andrerseits 
hatte  doch  Augustin,  namentlich  in  seiner  Erkenntnisslehre,  dem  Willen  als  der 
treibenden  Kraft  auch  im  Vorstellungsprocesse  eine  so  centrale  Stellung  an- 
gewiesen, dass  dieselbe  in  ihrer  Bedeutung  für  die  empirischen  Zusammenhänge 
nicht  erschüttert  wurde,  wenn  auch  als  letztes  Ziel  der  Entwicklung  das  neu- 
platonische Schauen  der  Gottheit  aufrechterhalten  werden  sollte.  Völlig  zweifellos 
war  dagegen  der  Intellectualismus  des  aristotelischen  Systems,  und  wenn  derselbe 
noch  eine  Steigerung  zuliess,  so  hatte  er  sie  durch  die  arabische  Philosophie,  ins- 
besondere durch  den  Averroismus  erfahren.  So  boten  sich  in  der  That  Gegen- 
sätze dar,  welche  schnell  genug  zu  oflfenem  Streit  hervorbrechen  sollten. 

Der  Thomismus  folgt  auch  hierin  unbedingt  dem  Aristoteles,  findet  aber 
dabei  an  seiner  Seite  die  nahverwandte  deutsche  Mystik  und  als  Gegner  die 
Augustinisten,  Scotisten  und  Occamisten^  sodass  bei  dieser  Gruppirung  der 
Gegensatz  der  Dominikaner  und  der  Franziskaner  sich  durchgängig  ausprägt. 

1.  Die  Frage  nach  dem  Vorrange  des  Willens  oder  des  Verstandes  ent- 
wickelt sich  zunächst  als  rein  psychologische  Controverse  und  verlangt  eine  Ent- 
scheidung darüber,  ob  im  Verlauf  des  seelischen  Lebens  die  Abhängigkeit  der 
Willensentscheidungen  von  Vorstellungen  oder  diejenige  der  Vorstellungsbewe- 
gungen vom  Willen  grösser  sei.  Sie  war  also  geeignet,  die  Anlange  einer  ent- 
wicklungsgeschichtlichen Behandlung  der  Psychologie  (vgl.  §  24)  zu  fordern,  und 
hätte  dies  in  höherem  Masse  als  es  geschah  zu  thun  vermocht,  wenn  sie  nicht 
immer  gleich  entweder  auf  den  Boden  der  Dialectik  oder  auf  das  metaphysische 
Gebiet  hinübergespielt  worden  wäre.  Und  zwar  geschah  das  letztere  hauptsäch- 
lich dadurch,  dass  als  Streitpunkt  der  stets  auch  in  ethische  und  religiöse  Fragen 
übergreifende  Begriff  der  Freiheit  angesehen  wurde.  Zwar  wollten  dabei 
beide  Parteien,  schon  im  Interesse  der  Verantwortlichkeit,  die  „Freiheit"  des 
Menschen  aufrechterhalten,  bezw.  vertheidigen:  aber  das  war  doch  nur  so  mög- 
lich, dass  sie  gar  Verschiedenes  darunter  verstanden. 

Im  Einzelnen  giebt  nun  zwar  Thomas  einen  Einfluss  des  Willens  auf  die 
Bewegung  nicht  nur,  sondern  auch  auf  Bejahung  oder  Verneinung  der  Vor- 
stellungen zu.  Insbesondere  erkennt  er  einen  solchen  im  Glauben  durchaus  an. 
Aber  im  Allgemeinen  betrachtet  er  doch  ganz  nach  antikem  Muster  den  Willen 
als  durch  die  Erkenntniss  des  Guten  bestimmt.  Der  Verstand  ist  es  nicht  nur, 
welcher  die  Idee  des  Guten  überhaupt  erfasst,  sondern  welcher  auch  iin  Einzelnen 
erkennt,  was  gut  ist,  und  dadurch  den  Willen  bestimmt.  Nach  dem  für  gut  Er- 
kannten strebt  der  Wille  mit  Nothwendigkeit;  er  ist  also  vom  Verstände  ab- 
hängig. Dieser  ist  der  supremus  motor  des  Seelenlebens;  die  „Vernünftigkeit"  ist, 


§  26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes.  (Thomismus  und  Scotismus.)    261 

SO  sagte  anch Eckhart;  das  Haupt  der  Seele,  und  nur  an  der  Erkenntniss  haftet 
auch  die  „Minne".  Freiheit  (als  ethisches  Ideal)  ist  daher  nach  Thomas  diejenige 
Nothwendigkeit,  welche  auf  dem  Grunde  des  Wissens  besteht,  und  andrerseits 
ist  —  nach  ihm  wie  nach  Albert  —  die  (psychologische)  Wahlfreiheit  (facultas 
electiva)  doch  nur  dadurch  möghch,  dass  der  Verstand  verschiedene  Möglich- 
keiten als  Mittel  zum  Zweck  dem  Willen  darbietet^  der  sich  dann  für  das  als  best 
erkannte  entscheidet.  Dieser  intellectualistische  Determinismus^  bei 
welchem  Thomas  selbst  immer  betonte,  dass  der  Willensentscheid  nur  von  den 
rein  innerlichen  Erkenntnissthätigkeiten  abhänge,  wurde  von  seinem  Zeit- 
genossen Gottfried  von  Fontaines  sogar  dahin  überspannt,  dass  er  auch 
die  sinnliche  Vorstellung  (phantasma)  zur  causa  efficiens  der  Willensthätigkeit 
machte. 

Aber  gerade  bei  diesem  Begriff  der  nothwendigen  Bestimmung  setzten  die 
Gegner  an.  Das  Entstehen  der  Vorstellungen,  so  lehrte  schon  Heinrich  von 
Gent  und  nach  ihm  Duns  Scotus  wie  später  Occam,  ist  ein  Naturprocess,  und 
in  diesen  wird  der  Wille  unabwendbar  verstrickt,  wenn  er  durchgängig  von  den 
Vorstellungen  abhängig  sein  soll.  Damit  aber,  sagte  Duns,  sei  die  Contingenz 
(d.  h.  das  Auchandersseinkönnen)  der  Willensfiinctionen  unvereinbar:  denn  der 
Naturprocess  sei  überall  eindeutig  bestimmt;  wo  er  waltet,  gebe  es  keine  Wahl. 
Mit  der  Contingenz  aber  fallt  die  VerantwortUchkeit.  Diese  ist  also  nur  auf- 
rechtzuerhalten, wenn  anerkannt  wird,  dass  der  Verstand  keine  zwingende  Ge- 
walt über  den  Willen  ausübt.  Freilich  ist  die  Mitwirkung  des  Vorstellungs- 
vermögens bei  jeder  Willensthätigkeit  unerlässlich :  sie  bietet  dem  Willen  die 
Gegenstände  und  die  MögUchkeiten  seiner  Wahl  dar.  Aber  sie  thut  es  nur  wie 
der  Diener,  und  die  Entscheidung  bleibt  bei  dem  Herrn.  Die  Vorstellung  ist 
nie  mehr  als  die  Gelegenheitsursache  (causa  per  accidens)  des  einzelnen  Wollens; 
die  Lehre  des  Thomas  verwechselt  die  praktische  Ueberlegung  mit  dem  reinen 
Intellect.  Giebt  der  letztere  auch  den  Gegenstand,  so  ist  doch  die  Entscheidung 
lediglich  Sache  des  Willens:  dieser  ist  das  movens  per  se,  ihm  kommt  die  ab- 
solute Selbstbestinmiung  zu. 

Der  Indeterminismus,  wie  ihn  Duns  und  Occam  lehren,  sieht  also  im 
Willen  die  Grundkraft  der  Seele,  und  er  behauptet  nun  umgekehrt,  dass  that- 
sächlich  der  Wille  seinerseits  die  Entwicklung  der  Verstandesthätigkeiten  be- 
stimme. Dies  hat  nach  dem  Vorgang  des  Heinrich  von  Gent  *) ,  dem  zufolge 
die  theoretischen  Functionen  um  so  aktiver  werden,  je  immaterieller  sie  sind, 
namentlich  Duns  in  einer  höchst  interessanten  Weise  zu  constatiren  gesucht. 
Der  Naturprocess,  sagt  er,  treibt  als  ersten  Bewusstseinsinhalt  (cogitatio  prima) 
eine  Menge  von  Vorstellungen  herbei,  welche  mehr  oder  minder  verworren  (con- 
fiisae-indistinctae)  und  unvollkommen  sind,  und  von  denen  nur  diejenige  deutlich 
(distincta)  und  vollkommen  wird,  auf  welche  der  Wille,  der  dabei  durch  Nichts 
weiter  bestimmt  ist,  seine  Aufmerksamkeit  richtet.  Auch  lehrt  Duns  zugleich, 
dass  der  Wille  diese  Vorstellungen,  welche  er  aus  dem  verworrenen  in  den  deut- 
lichen Zustand  erhebt,  in  ihrer  Intensität  verstärkt,  und  dass  die  Vorstellungen, 
denen  er  sich  nicht  zuwendet,  wegen  ihrer  Schwäche  schliesshch  wieder  aufhören 
zu  existiren. 


1)  Dem  sich  in  dieser  Hinsicht  auch  Richard  von  Middletown  durchgängig  anschloss. 


262  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.   2.  Zweite  Periode. 

Zu  diesen  psychologischen  Gründen  tritt  in  der  Controverse  die  Berufung 
auf  die  Autoritäten  von  Anselm  und  Aristoteles  einerseits,  von  Augustin  andrer- 
seits und  dann  noch  eine  Reihe  von  anderen  Argumenten.  Zum  Theü  sind  diese 
rein  dialectischer  Natur.  So  ist  es,  wenn  Thomas  behauptet,  das  verum,  worauf 
der  Intellect  sich  richte,  stehe  im  Range  höher  als  das  bonum,  wonach  der  Wille 
strebe,  und  wenn  Duns  die  Berechtigung  dieser  Rangordnung  anzweifelt;  so, 
wenn  Thomas  meint,  der  Verstand  erfasse  den  reinen,  einheitlichen  Begriff  des 
Guten,  während  der  Wille  nur  auf  dessen  empirische  Sondergestaltungen  gehe, 
und  wenn  Heinrich  von  Gent  und  Duns,  dies  geradezu  umkehrend,  entwickeln, 
der  Wille  sei  vielmehr  stets  nur  auf  das  Gute  als  solches  gerichtet  und  der  Ver- 
stand habe  zu  zeigen,  worin  das  Gute  im  einzelnen  Falle  bestände.  Mit  solchen 
Variationen  ist  die  Sache  später  viel  hin  und  her  geworfen  worden,  und  so  steht 
z.  B.Johannes  Buridan  unentschieden  zwischen  Determinismus  und  Indeter- 
minismus. Denn  für  diesen  spreche  die  Verantwortlichkeit,  für  jenen  der  Satz, 
dass  alles  Geschehen  durch  seine  Bedingungen  nothwendig  bestimmt  sei. 

Andere  Argumente,  die  sich  in  den  Streit  flechten,  greifen  auf  allgemeinere 
Gebiete  der  Welt-  und  Lebensauffassung  über. 

2«  Dahin  gehört  zunächst  die  Uebertragung  des  Rangverhältnisses  von 
Willen  und  Verstand  auf  Gott.  Der  extreme  Intellectualismus  der  Araber 
hatte  in  Averroes  nach  dem  aristotelischen  Motiv,  dass  alles  Wollen  ein  Bedürfen, 
ein  Unfertig-  und  Abhängigsein  bedeute,  von  dem  höchsten  Wesen  den  Willen 
ausgeschlossen;  umgekehrt  hatte  Avicebron,  der  stark  auf  Duns  Scotus  wirkte, 
das  religiöse  Princip  der  Weltschöpfung  durch  den  göttlichen  Willen  vertheidigt, 
und  in  gleicher  Richtung  war  bei  Wilhelm  vonAuvergnedie  Urspininglichkeit 
des  WiUens  neben  dem  Intellect  im  Wesen  Gottes  und  in  seiner  schöpferischen 
Thätigkeit  behauptet  worden.  Diese  Gegensätze  spielen  sich  nun  zwischen 
Thomismus  und  Scotismus  fort. 

Selbstverständlich  erkennt  zwar  Thomas  die  ReaUtät  des  götthchen  Willens 
an;  aber  er  betrachtet  ihn  als  die  nothweudige  Folge  des  göttlichen  Intellects  und 
als  durch  diesen  inhaltlich  bestimmt.  Gott  schafft  nur,  was  er  in  seiner  Weis- 
heit als  gut  erkennt;  er  will  nothwendig  sich  selbst,  d.  h.  den  ideellen  Inhalt 
seines  Intellects,  und  darin  besteht  die  nur  durch  sich  selbst  bestimmte  Freiheit, 
mit  der  er  die  einzelnen  Dinge  will.  So  ist  der  göttliche  Wille  an  die  ihm  über- 
legene Weisheit  Gottes  gebunden. 

Darin  aber  gerade  sehen  die  Gegner  eine  Beschränkung  der  Allmacht, 
welche  sich  mit  dem  Begriffe  des  ens  realissimum  nicht  vertrage.  Ein  Wille 
scheint  ihnen  nur  dadurch  souverän,  dass  es  für  ihn  keinerlei  Bestimmung  noch 
Beschränkung  giebt.  Gott  hat  die  Welt,  so  lehrt  Duns,  lediglich  aus  absoluter 
Willkür  geschaffen;  er  hätte  sie,  wenn  er  gewollt  hätte,  auch  in  anderen  Formen, 
Beziehungen  und  Verhältnissen  schaffen  können ,  und  über  diesen  seinen  völUg 
indetermfnirten  Willen  hinaus,  giebt  es  keine  Ursachen.  Der  Wille  Gottes  mit 
seinen  durch  Nichts  bestimmten  schöpferischen  Entschlüssen  ist  die  Urthatsache 
aller  Wirklichkeit,  nach  deren  Gründen  nicht  mehr  gefragt  werden  darf,  — 
ebenso,  wie  die  Entscheidung,  welche  der  vor  die  gegebenen  Möglichkeiten 
gestellte  Wille  des  endlichen  Wesens  mit  seinem  liberum  arbitrium  in- 
differentiae  trifft,  jedes  Mal  eine  neue,  nicht  als  nothwendig  zu  begreifende 
Thatsache  schafft. 


§26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes.  (Thomismus  und  Scotismus.)     263 

3.  Am  schärfsten  kommt  dieser  Gegensatz  in  den  metaphysischen  Grund- 
besLimmtmgen  der  Ethik  zu  Tage.  Auf  beiden  Seiten  gilt  natürlich  das  Sitten- 
gesetz als  Gottes  Gebot.  Aber  Thomas  lehrt,  Gott  gebiete  das  Gute,  weil  es  gut 
ist  und  von  seiner  Weisheit  als  gut  erkannt  wird;  Duns  behauptet,  es  sei  nur 
deshalb  gut,  weil  Gott  es  gewollt  und  geboten  hat,  und  Occam  fügt  hinzu,  Gott 
hätte  auch  Anderes,  hätte  auch  das  Gegentheil  zum  Inhalt  des  Sittengesetzes  be- 
stimmen können.  Für  Thomas  gilt  daher  die  Güte  als  nothwendige  Folge  und 
Erscheinung  der  göttlichen  Weisheit,  und  auch  Eckhart  sagt,  dass  ^unter  dem 
Kleide  der  Güte"  sich  das  Wesen  Gottes  verhülle;  der  Intellectualismus  lehrt 
die  Perseitas  boni,  die  Rationalität  des  Guten.  Für  ihn  ist  die  Moral  eine 
philosophische  Disciplin,  deren  Principien  durch  das  „natürliche  Licht"  zu  er- 
kennen sind.  Das  „Gewissen"  (synteresis  ^))  ist  die  Erkenntniss  Gottes  sub 
ratione  boni.  Bei  Duns  und  Occam  dagegen  kann  das  Gute  kein  Gegenstand  der 
natürlichen  Erkenntniss  sein:  denn  es  hätte  auch  anders  sein  können,  es  ist  nicht 
durch  die  Vernunft,  sondern  durch  den  grundlosen  Willen  bestimmt.  Nichts, 
so  lehrt  mit  äusserster  Consequenz  Pierre  d'Ailly,  ist  an  sich  (per  se)  Sünde;  erst 
das  göttliche  Gebot  und  Verbot  macht  etwas  dazu,  —  eine  Lehre,  deren  Trag- 
weite man  begreift,  wenn  man  bedenkt,  dass  nach  der  Anschauung  dieser 
Männer  der  Befehl  Gottes  dem  Menschen  nur  durch  den  Mund  der  Kirche  be- 
kannt wird. 

Hiermit  hängt  es  denn  auch  genau  zusammen,  dass  die  Theologie,  welche 
für  Thomas  doch  immerhin  eine  „speculative"  Wissenschaft  blieb,  bei  seinen 
Gegnern,  wie  bereits  oben  (§  25,  3)  berührt,  zu  einer  „praktischen"  Disciplin 
wurde.  Schon  Albert  hatte  derartige  Andeutungen  gemacht,  Richard  vonMiddle- 
town  und  Bonaventura  hatten  den  „affectiven"  Charakter  der  Theologie  betont, 
Roger  Bacon  hatte  gelehrt,  dass,  wenn  alle  anderen  Wissenschaften  auf  Ver- 
nunft oder  Erfajirung  begründet  seien,  die  Theologie  allein  die  Autorität  des 
göttlichen  Willens  zum  Fundament  habe:  Duns  Scotus  vollendete  und  befestigte 
die  Trennung  zwischen  Theologie  und  Philosophie,  indem  er  sie  zu  einer  noth- 
wendigen  Folgerung  seiner  Willensmetaphysik  machte. 

4.  Mit  gleicher  Schärfe  aber  entfaltet  sich  derselbe  Gegensatz  in  den  Lehren 
von  der  letzten  Bestimmung  des  Menschen,  von  seinem  Zustande  in  der  ewigen 
Seligkeit.  Hatte  schon  bei  Augustin  die  antike  d-scopta,  das  willen-  und  bedürf- 
nisslose Schauen  der  göttlichen  Herrlichkeit,  den  idealen  Zustand  des  begnadeten 
und  verklärten  Menschen  gebildet  und  war  dies  Ideal  auch  durch  die  Lehren  der 
früheren  Mystiker  nur  wenig  ins  Schwanken  gerathen,  so  fand  es  jetzt  neue  Nah- 
rung an  dem  aristotehschen  Intellectualismus,  mit  dem  Albert  fand,  dass  der 
Mensch,  sofern  er  wahrhaft  Mensch  ist,  Intellect  sei.  Das  Theilhaben  an  dem 
göttlichen  Wesen,  das  der  Mensch  durch  die  Erkenntniss  gewinnt,  ist  die  höchste 
Lebensstufe,  die  er  erreichen  kann.  Deshalb  stellt  auch  Thomas  die  dianoeti- 
schen  Tugenden  über  die  praktischen,  deshalb  ist  ihm  die  visio  divinae  essentiae, 

1)  Dies  Wort  (auch  sinderesis,  scinderesis  geschriebeii)  hat  seit  Albert  von  BoUstädt 
viel  etymologisches  Kop&erbrechen  verursacht.  Da  jedoch  bei  den  späteren  Aerzten  des 
Alterthums  (Sext.  £mp.)  xr^pr^o:(i  als  terminus  technicus  für  „Beobachtung''  vorkommt ,  so 
dürfte  oovTYjpTjoig  (das  im  vierten  Jahrhundert  bezeugt  ist)  analog  dem  neuplatonischen 
Sprachgebrauch  in  oovaiod-rjai;  oder  ouvcidY^ai;  (vf(l.  S.  184)  ursprünglich  „ Selbstbeobachtung'' 
bedeutet  und  so  den  ethisch-religiösen  Sinn  des  „Gewissens"  (conscientia)  angenommen  haben. 


264  in.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

die  intuitive^  über  alles  Zeitliche  hinausgerückte  ewige  Anschauung  Gottes  das 
Ziel  alles  menschlichen  Strebens.  Aus  dieser  Anschauung  folgt  eo  ipso  die  Liebe 
Gottes,  wie  überall  die  Bestimmtheit  des  Willens  sich  nothwendig  an  diejenige 
des  Intellects  anschliesst.  Gerade  diese  Tendenz  des  Thomismus  hat  sein  Dichter, 
Dante,  zum  schönsten  Ausdruck  gebracht.  Dies  Ideal  ist  für  alle  Zeiten  in 
Beatrice  poetisch  verkörpert. 

Indessen  machte  sich  auch  hier  eine  Gegenströmung  geltend.  Schon  Hugo 
von  St.  Victor  hatte  den  höchsten  Engelchor  durch  die  Liebe  und  erst  den 
zweiten  durch  die  Weisheit  bestimmt,  und  wenn  Bonaventura  als  höchste  Stufe 
der  Nachahmung  Christi  die  Contemplation  ansah,  so  betonte  er  ausdrücklich, 
dass  diese  mit  der  „Liebe"  identisch  sei.  Duns  Scotus  aber  lehrte  mit  ent- 
schieden polemischer  Tendenz,  dass  die  Seligkeit  ein  Zustand  des  Willens  und 
zwar  des  allein  auf  Gott  gerichteten  Willens  sei:  er  sieht  nicht  im  Schauen, 
sondern  erst  in  der  Liebe,  die  jenes  überragt,  die  letzte  Verklärung  des  Menschen, 
und  er  beruft  sich  auf  das  Wort  des  Apostels:  „die  Liebe  ist  die  grosseste  unter 
ihnen". 

Wenn  daher  bei  Thomas  der  Intellect,  bei  Duns  der  Wille  als  das  ent- 
scheidende Wesen  des  Menschen  angesehen  wurde,  so  konnte  Thomas  an  der 
Lehre  Augustinus  von  der  gratia  irresistibüis  festhalten,  wonach  die  Offenbarung 
den  Intellect  und  mit  ihm  den  Willen  des  Menschen  unweigerlich  bestimmt; 
während  Duns  Scotus  sich  zu  der  „synergistischen"  Ansicht  gedrängt  hat,  dass 
die  Annahme  der  Gnadenwirkung  in  gewisser  Ausdehnung  durch  den  freien 
Willen  des  Lidividuums  bedingt  sei.  So  entschied  sich  der  grosse  Nachfolger 
Augustin's  mit  starker  Folgerichtigkeit  gegen  die  augustinische  Prädestinations- 
lehre. 

5.  Dagegen  hat  nun  derintellectualismus  des  Thomas  seine  äussersten  Con- 
sequenzen  in  der  deutschen  Mystik  entwickelt,  deren  Schöpfer  Eckhart  in 
den  begrifflichen  Grundzügen  seiner  Lehre  durchaus  von  dem  Lehrer  seines 
Ordens  abhängig  ist  ^).  Nur  darin  geht  Eckhart  weit  über  ihn  hinaus,  dass  er 
als  eine  viel  ursprünglichere  Persönlichkeit  das  tiefe  und  gewaltige  Gefühl  seiner 
Frömmigkeit  restlos  in  Erkenntniss  umzusetzen  bemüht  ist  und  in  diesem  Drange 
seiner  Innerlichkeit  die  statutarischen  Schranken  durchbricht,  vor  denen  jener 
Halt  gemacht  hatte,  üeberzeugt,  dass  die  im  religiösen  Bewusstsein  gegebene 
Weltanschauung  auch  zum  Inhalt  des  höchsten  Wissens  müsse  gemacht  werden 
können,  sublimirt  er  sein  frommes  Glauben  zu  einer  speculativen  Erkenntniss^ 
deren  reiner  Geistigkeit  gegenüber  das  kirchliche  Dogma  nur  als  äusseres^  zeit- 
liches Symbol  erscheinen  soll.  Aber  wenn  er  diese  Tendenz  mit  vielen  Vorgängen 
theilt,  so  ist  seine  Eigenthümlichkeit  gerade  die,  dass  er  die  innerste  und  wahrate 
Wahrheit  nicht  als  den  Vorzug  eines  exclusiven  Kreises  bewahrt  wissen,  sondern 
vielmehr  allem  Volke  mittheilen  will.  Für  diesen  tiefsten  Kern  der  religiösen 
Lehre  glaubt  er  gerade  bei  der  einfachen  Frömmigkeit  das  rechte  Verständniss 
zu  finden  ^,  und  so  wirft  er  die  feinsten  Begriffsbildungen  der  Wissenschaft  von 

1)  Vgl.  S.  Dendtle  im  Archiv  für  Litterat.-  u.  Kult.-Gesch.  d.  M.-A.  11, 417  ff.  —  Sofern 
daher  wirklich  Eckhart  der  „Vater  der  deutschen  Speculation"  sein  sollte,  so  stammte  dieselbe 
von  Thomas  von  Aquin,  bzw.  von  seinem  Lehrer  Albert.  —  2)  So  hängt  auch  die  deutsche 
Mystik  mit  der  allgemeineren  Erscheinung  zusammen,  dass  die  schnell  steigende  Veräusser- 
lichun^,  welche  das^irchenleben  im  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahrhundert  ergriff,  übendl 
die  Frömmigkeit  in  ausserkirchliche  Bahnen  trieb. 


§  26.  Der  Primat  des  Willens  oder  des  Verstandes.  (Eckhart.)  265 

der  Kanzel  unter  das  Volk.  Mit  genialer  Sprachgewaltigkeit  prägt  er  die  Scho- 
lastik in  ergreifende  Predigt  um,  und  schafft  seiner  Nation  die  für  die  Zukunft 
bestimmenden  Anfange  ihrer  philosophischen  Ausdrucksweise. 

In  seiner  Lehre  aber  verstärken  sich  die  mystisch-intellectuaUstischen  Ele- 
mente des  Thomismus  durch  den  neuplatonischen  Idealismus^  der  ihm  vermuth- 
lich  durch  Scotus  Erigena  zugeführt  wurde,  bis  zu  der  letzten  Folgerung:  Sein 
und  Erkenntniss  ist  Eins,  und  alles  Geschehen  in  der  Welt  ist  seinem  tief- 
sten Wesen  nach  Erkennen.  Ein  Process  der  Erkenntniss^  der  Selbstoffenbarung 
ist  das  Hervorgehen  der  Welt  aus  Gott  —  ein  Process  der  Erkenntniss,  der 
immer  höheren  Anschauung  ist  der  Rückgang  der  Dinge  in  Gott.  Die  ideelle 
Existenz  alles  Wirklichen  —  so  sagte  später  Nicolaus  Cusanus,  der  sich  diese 
Lehre  Eckhart's  zu  eigen  machte  —  ist  wahrer  als  die  in  Baum  und  Zeit  er- 
scheinende körperliche  Existenz. 

Deshalb  aber  muss  der  Urgrund  aller  Dinge,  die  Gottheit,  über  Sein  und 
Erkenntniss  hinausliegen  ^);  sie  ist  üebervernunft,  üebersein,  ihr  fehlt  jede  Be- 
stimmung, sie  ist  „Nichts''.  Aber  diese  „Gottheit^  (der  negativen  Theologie) 
offenbart  sich  in  dem  dreieinigen  Gotte^),  und  der  seiende  und  erkennende  Gott 
schafft  aus  dem  Nichts  die  Creaturen,  deren  Ideen  er  in  sich  erkennt;  denn  dies 
Erkennen  ist  sein  Schaffen.  Dabei  gehört  dieser  Process  der  Selbstoffenbarung 
zu  dem  Wesen  der  Gottheit;  er  ist  daher  eine  zeitlose  Nothwendigkeit,  und  Gott 
bedarf,  um  die  Welt  zu  erzeugen,  keines  eigenen  WiUensactes.  Die  Gottheit  als 
erzeugendes  Wesen,  als  „ungenaturte  Natur"  ist  nur  dadurch  wirklich,  dass  sie 
sich  in  Gott  und  Welt  als  erzeugte  Wirklichkeit,  als  „genaturte  Natur"  *)  er- 
kennt und  entfaltet.  Gott  schafft  Alles  —  sagte  Nicolaus  Cusanus  —  das  heisst: 
er  ist  Alles.  Und  andrerseits  haben  alle  Dinge  nach  Eckhart  nur  insofern  Wesen^ 
als  sie  selbst  Gott  sind :  was  in  ihnen  sonst  erscheint,  ihre  räunüiche  und  zeitliche 
Bestimmung,  ihr  „Hie"  und  „Nu"  (hie  et  nunc  bei  Thomas)  ist  Nichts*). 

Deshalb  aber  ist  auch  die  menschliche  Seele  in  ihrer  innersten  Natur  gött- 
lichen Wesens,  und  nur  ihrer  zeitlichen  Erscheinung  nach  besitzt  sie  die  Mannig- 
faltigkeit der  „Elräfte",  mit  denen  sie  als  Glied  der  natura  naturata  wirkt. 
Jenes  Innerste  in  ihr  nennt  Eckhart  den  „Funken"  *),  und  darin  erkennt  er  den 
lebendigen  Umkehrpunkt  des  Weltprocesses. 

Denn  dem  „Werden"  entspricht  das  „Entwerden",  das  Vergehen,  und  auch 
dies  ist  die  Erkenntniss,  mit  der  die  aus  der  Gottheit  entäusserten  Dinge  in  den 
Urgrund  zurückgenommen  werden.  Indem  sie  vom  Menschen  erkannt  wird,  findet 
die  Sinnenwelt  ihr  wahres,  geistiges  Wesen  wieder.  Daher  besteht  das  mensch- 
liche Erkennen  mit  seinem  Aufsteigen  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  zur  ver- 
nünftigen Einsicht«)  in  dem  „Abscheiden"  der  Vielheit  und  der  MateriaUtät:  das 


1)  Offenbar  dasselbe  Yerhältniss,  wie  es  bei  Plotin  zwischen  dem  ev  und  dem  voug  statt- 
fand, in  welchem  auch  Denken  und  Sein  coincidiren  solHen.  —  2)  Die  Unterscheidung  zwischen 
Gottheit  und  Gott  (divinitas  und  deus)  war  dialectisch  im  Zusammenhange  mit  dem  Umversalien- 
streite  und  seinen  Beziehungen  zur  Trinitätslehre  von  Gilbert  de  la  rorr^e  gemacht  worden. 
—  8)  Ueber  die  vermuthlich  durch  den  Averro'ismus  (vgl.  §  27,  1)  verbreiteten  Termini 
natura  naturans  und  natura  naturata  vgl.  H.  Siebeck,  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  HI,  370  ff.  — 
4)  Ohne  auf  die  dialectischen  Formeln  einzugehen,  behandelt  somit  Eckhart  die  thomistische 
Ideenlehre  ganz  in  dem  Sinne  des  strengen  Kealismus  von  Scotus  Erigena :  er  spricht  von  den 
Nominalisten  seiner  Zeit  abschätzig  als  von  den  „kleinen  Meistern".  —  5)  Auch  das  „Ge- 
müthe"  oder  Synteresis.  —  6)  Die  emzelnen  Stufen  dieses  Processes  werden  von  Eckhart  nach 
thomistisch-augustinischem  Schema  entwickelt. 


266  nr.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

geistige  Wesen  wird  aus  seiner  Hülle  herausgeschält.  Und  dies  ist  im  zeitlichen 
Leben  die  höchste  Aufgabe  des  Menschen,  von  dessen  Kräften  eben  das  Er- 
kennen die  werthvollste  ist.  Wohl  soll  er  auch  in  dieser  Welt  thätig  sein  und 
sein  vernünftiges  Wesen  darin  zur  Geltung  und  zur  Herrschaft  bringen :  aber 
über  allem  äusseren  Thun,  über  der  sinnlichen  Werkgerechtigkeit  steht  zunächst 
das  „innere  Werk",  die  Reinheit  der  Gesinnung,  die  Lauterkeit  des  Herzens, 
und  darüber  wieder  steht  die  „Abgeschiedenheit"  und  „Armuth"  der  Seele,  ihr 
volles  Zurückgehen  aus  der  Aussen  weit  in  ihr  innerstes  Wesen,  in  die  Gottheit. 
Im  Erkennen  erreicht  sie  jene  Zwecklosigkeit  des  Thuns,  jene  Freiheit  in  sich 
selbst,  worin  ihre  Schönheit  besteht. 

Aber  auch  dies  ist  nicht  vollkommen,  so  lange  das  Erkennen  nicht  seine 
höchste  Weihe  findet.  Das  Ziel  alles  Lebens  ist  die  Erkenntniss  Gottes.  Aber 
Erkennen  ist  Sein,  ist  Lebens-  und  Seinsgemeinschaft  mit  dem  Erkannten.  Will 
die  Seele  Gott  erkennen,  so  muss  sie  Gott  sein,  so  muss  sie  aufhören,  sie  selbst 
zu  sein.  Nicht  nur  der  Sünde  und  der  Welt,  auch  sich  selbst  muss  sie  entsagen. 
Alles  Wissen,  alles  Erkennen  der  Erscheinung  muss  sie  von  sich  abstreifen;  wie 
die  Gottheit  „Nichts"  ist,  so  wird  sie  auch  nur  in  diesem  Wissen  des  Nicht- 
wissens —  docta  ignorantia  nannte  es  später  Nicolaus  —  erfasst,  und  wie  jenes 
„Nichts"  der  Urgrund  aller  Wirklichkeit,  so  ist  auch  dies  Nichtwissen  das  höchste, 
seligste  Schauen.  Das  ist  nicht  mehr  ein  Thun  des  Individuums,  das  ist  das 
Thun  Gottes  im  Menschen ;  er  gebiert  sich  in  die  Seele  hinein,  und  in  seinem 
reinen,  ewigen  Wesen  hat  der  „Funke"  alle  seine  Kräfte  zeitlicher  Wirksamkeit 
abgestreift  und  ihren  Unterschied  ausgelöscht.  Das  ist  der  Zustand  des  über- 
vemünftigen  Erkennens,  des  Auslebens  des  Menschen  in  Gott,  —  der  Zustand, 
von  dem  Nicolaus  von  Cusa  sagte :  es  sei  die  evrige  Liebe  (charitas),  welche  durch 
Liebe  (amore)  erkannt  und  durch  Erkenntniss  gebebt  wird. 

%  27.  Das  Problem  der  Individualität 

Entsprungen  aus  tiefster  persönlicher  Frömmigkeit,  aus  echt  individuellem 
Bedürfniss  rein  innerlich  religiösen  Lebens  läuft  so  die  Lehre  der  deutschen 
Mystik  in  ein  Ideal  der  Aufhebung,  der  Selbstentäusserung,  der  Weltvemichtung 
aus,  dem  gegenüber  wie  in  altorientalischer  Anschauung  alle  Besonderung,  alle 
Einzelwirklichkeit  als  Sünde  oder  als  UnvoUkommenheit  erscheint  Damit  ist 
der  Widerspruch,  der  in  den  Tiefen  des  augustinischen  Systems  steckte  (vgl. 
S.  226),  zu  voller  und  unmittelbar  greifbarer  Entwicklung  gelangt,  und  es  kommt 
damit  klar  zu  Tage,  dass  der  neuplatonische  Intellectualismus,  in  welcher  Ge- 
stalt auch  immer  er  von  Augustin  bis  zu  Meister  Eckhart  auftrat,  für  sich 
allein  stets  geneigt  sein  musste,  dem  Individuum  die  metaphysische  Selb- 
ständigkeit zu  bestreiten,  welche  von  der  anderen  Seite  her  als  ein  Postulat  der 
Willenslehre  behauptet  wurde.  Steigerte  sich  sonach  mit  dem  Intellectualismus 
auch  die  universalistische  Tendenz,  so  musste  ebenfalls  die  Gegenströmung 
um  so  kräftiger  hervorgerufen  werden,  und  derselbe  Gegensatz  der  Denkmotive, 
welcher  zu  der  Dialectik  des  Universalienstreites  geführt  hatte  (vgl.  S.  228), 
nahm  nun  in  der  Frage  nach  dem  Seinsgrunde  des  Einzelwesens  (principium 
individuationis)  eine  mehr  sachlich-metaphysische  Gestalt  an. 

1.  Den  dringenden  Anlass  dazu  boten  die  weitgehenden  Folgerungen,  zu 
denen  Universalismus  und  IntellectuaUsmus  bei  den  Arabern  geführt  hatten. 


§  27.  Das  Problem  der  Individualität.  (Averroee.)  267 

Diese  nämlich  waren  bei  der  Auffassung  der  aristotelischen  Lehre  in  der  Rich- 
tung fortgeschritten,  welche  im  Alterthum  durch  Straten  eingeleitet  (vgl.  S.  140 f.) 
und  unter  den  späteren  Commentatoren  hauptsächlich  von  Alexander  von  Aphro- 
disias  eingehalten  worden  war^  in  der  Richtung  des  Naturalismus,  der  aus  dem 
System  des  Stagiriten  auch  die  letzten  Reste  einer  metaphysischen  Trennung 
des  Idealen  vom  Sinnlichen  entfernen  wollte.  Auf  zwei  Punkte  hatte  sich  dies 
Bestreben  concentrirt:  auf  das  Verhältniss  Gottes  zur  Welt  und  auf  dasjenige 
der  Vernunft  zu  den  anderen  Seelenkräften.  Nach  diesen  beiden  Seiten  hin 
entwickelt  sich  auch  die  Eigenthümlichkeit  des  arabischen  Peripateticismus,  und 
zwar  geschieht  dies  durch  vielverschlungene  Umbildungen  des  aristotelischen  Be- 
griffsschematismus von  Form  und  Materie. 

Im  Allgemeinen  zeigt  sich  dabei  in  der  andalusischen  Philosophie  eine 
metaphysische  Verselbständigung  der  Materie.  Sie  wird  nicht  als  das  nur  abstract 
Mögliche,  sondern  als  dasjenige  aufgefasst^  was  die  ihm  eigenthümlichen  Formen 
als  Lebenskeime  in  sich  trägt  und  in  seiner  Bewegung  zur  Verwirklichimg  bringt. 
Dabei  hielt  nun  zwar  auch  Averroes  hinsichtlich  des  einzelnen  Geschehens  an  dem 
aristotelischen  Princip  fest,  dass  jede  Bewegung  der  Materie,  durch  welche  sie 
eine  niedere  Form  aus  sich  heraus  verwirklicht,  durch  eine  höhere  Form  hervor- 
gerufen werden  muss,  und  die  Stufenreihe  der  Formen  findet  auch  hier  ihren 
oberen  Abschluss  in  Gott  als  dem  höchsten  und  ersten  Beweger.  Damit  bheb, 
wie  die  Lehre  Avicebron's  zeigt,  die  Transscendenz  Gottes  nur  noch  verein- 
bar, wenn  man  die  Materie  selbst  als  durch  den  göttlichen  Willen  geschaffen 
ansah.  Aber  andrerseits  betonte  derselbe  jüdische  Philosoph  von  denselben 
Voraussetzungen  her,  dass  ausser  der  Gottheit  kein  Wesen  anders  als  mit  Materie 
behaftet  gedacht  werden  könne,  dass  somit  auch  die  geistigen  Formen  zu  ihrer 
Wirklicheit  einer  Materie  bedürfen,  der  sie  inhäriren,  und  dass  schliesslich  die 
Lebensgemeinschaft  des  Universums  für  das  ganze  Reich  der  Formen  eine  ein- 
heitliche Materie  als  Grundlage  verlange.  Je  mehr  aber  bei  Averroes  die 
Materie  als  ewig  in  sich  bewegt  und  einheitlich  lebendig  angesehen  wurde,  um 
so  weniger  konnte  schüesslich  die  bewegende  Form  realiter  von  ihr  getrennt  sein, 
und  so  erschien  denn  dasselbe  göttUche  Allwesen  einerseits  als  Form  und  be- 
wegende E[raft  (natura  naturans)  und  andrerseits  als  Materie,  als  bewegte  Welt 
(natura  naturata). 

Zu  dieser  Lehre  von  der  Einheitlichkeit,  innerlichen  Geformtheit 
und  ewigen  Selbstbewegung  der  Materie,  die  sich  mit  dem  Averroismus 
als  eine  extrem  naturalistische  Deutung  der  Philosophie  des  Aristoteles  ver- 
breitete, kamen  nun  aber  jene  Consequenzen  des  dialectischen  ReaUsmus  hinzu, 
welche  dazu  drängten,  in  Gott  als  dem  Ens  generalissimum  die  einzige  Substanz 
zu  sehen,  von  der  die  Einzeldinge  nur  mehr  oder  minder  vorübergehende  Form- 
verwirklichungen seien  (vgl.  §23).  So  lehren  denn  die  Amalricaner,  dass  Gott 
das  einheitliche  Wesen  (essentia)  aller  Dinge,  dass  die  Schöpfung  nur  eine  Selbst- 
gestaltung dieses  götthchen  Wesens,  eine  in  ewiger  Bewegung  sich  vollziehende 
Realisirung  aller  in  dieser  einheitlichen  Materie  enthaltenen  Möglichkeiten  sei. 
Denselben  Pantheismus  begründet  David  von  Dinant^)  mit  den  Begriffen 

1)  Im  Anschlufls  an  den  Liber  de  causis  und  an  die  pseudo-boethianische  Schrift  De 
uno  et  unitate:  vgl.  B.  Haub^ü  in  den  Memoires  de  Tacad.  des  inscript.  XX  TX  (1877)  und 
ausserdem  A.  Jumdt,  Histoire  du  pantheisme  populaire  au  M.-A.  (Paris  1875). 


268  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

Avicebron's,  indem  er  lehrt:  wie  die  Hyle  (d.  h.  die  körperliche  Materie)  die 
Substanz  aller  Körper,  so  ist  der  Geist  (ratio  —  mens)  die  Substanz  aller  Seelen; 
da  aber  Gott  als  das  allgemeinste  aller  Wesen  die  Substanz  aller  Dinge  überhaupt 
ist,  so  sind  in  letzter  Instanz  Gott,  Materie  und  Geist  identisch  und  die  Welt 
nur  ihre  Selbstverwirklichung  in  einzelnen  Formen. 

2.  Insbesondere  aber  wurde  die  metaphysische  Selbständigkeit  der  geistigen 
Individualität  noch  durch  eine  andere  Gedankenreihe  in  Frage  gestellt.  Ari- 
stoteles hatte  den  voöc  als  die  überall  identische  Vernunftthätigkeit  der  animalen 
Seele  „von  aussen"  hinzutreten  lassen,  und  er  war  über  die  Schwierigkeiten  dieser 
Lehre  deshalb  hinweggegangen,  weil  das  Problem  der  Persönlichkeit,  das 
erst  mit  dem  stoischen  ßegriflfe  des  "f^/siJiovtxöv  auftauchte,  noch  nicht  im  Umkreise 
seines  Denkens  lag.  Die  Commentatoren  aber,  die  griechischen  und  die  arabischen, 
welche  sein  System  ausbauten,  sind  vor  den  Folgerungen  nicht  zurückgeschreckt, 
welche  sich  daraus  für  die  metaphysische  Werthung  der  geistigen  Individualität 
ergaben. 

Bei  Alexander  von  Aphrodisias  begegnet  uns  unter  dem  Namen  des 
„passiven  Intellects"  (vgl.  S.  1 1 7)  noch  die  Fähigkeit  der  individuellen  Psyche,  ihren 
ganzen  animalen  und  empirischen  Dispositionen  nach  die  Einwirkung  der  thätigen 
Vernunft  in  sich  aufzunehmen,  und  dieser  Intellectus  agens  wird  hier  (der  natura- 
listischen Auffassung  des  ganzen  Systems  gemäss)  mit  dem  göttlichen  Geiste 
identificirt,  der  nur  so  noch  als  „getrennte  Form"  gedacht  wird  (intellectus 
separatus).  Schon  bei  Simplicius  aber  wird  nach  neuplatonischer  Metaphysik 
dieser  intellectus  agens,  welcher  sich  in  der  Vernunfterkenntniss  des  Menschen 
realisirt,  zu  der  niedersten  der  Intelligenzen,  welche  die  sublunarische  Welt  beherr- 
schen*). Eine  origineUe  Ausbildung  aber  findet  diese  Lehre  bei  Averroes*). 
Nach  ihm  ist  der  Intellectus  passivus  in  der  Erkenntnissfähigkeit  des  Indi- 
viduums zu  suchen,  welche,  wie  dieses  selbst,  entsteht  und  vergeht  als  Form  des 
einzelnen  Leibes  *,  sie  hat  daher  nur  individuelle  und  das  Einzelne  betreffende 
Geltung:  der  Intellectus  agens  dagegen  ist  als  eine  ausserhalb  und  unabhängig 
von  den  empirischen  Individuen  bestehende  Form  die  ewige  Gattungsvernunft 
des  menschlichen  Geschlechtes,  welche  nicht  entsteht  und  nicht  vergeht  und 
welche  in  einer  für  Alle  gültigen  Weise  die  allgemeinen  Wahrheiten  enthält.  Sie 
ist  die  Substanz  des  wahrhaft  geistigen  Lebens,  von  der  die  Erkenntnissthätig- 
keit  des  Individuums  nur  eine  Sondererscheinung  bildet.  Diese  (actuelle)  Er- 
kenntnißsthätigkeit  ist  (als  Intellectus  acquisitus)  zwar  ihrem  Inhalt,  ihrem  Wesen 
nach  ewig,  sofern  sie  eben  die  thätige  Vernunft  selbst  ist;  sie  ist  dagegen  als  em- 
pirische Function  individuellen  Erkennens  vergängKch  wie  die  Einzelseele  selbst. 
Die  vollständigste  Incarnation  der  thätigen  Vernunft  ist  nach  Averroes  in  Ari- 
stoteles gegeben*).  Das  vernünftige  Erkennen  des  Menschen  ist  also  eine  un- 
persönliche oder  überpersönliche  Function :  es  ist  das  zeitliche  Theilhaben  des 
Individuums  an  der  ewigen  Gattungsvemunft.  Diese  ist  das  einheitUche  Wesen, 
welches  sich  in  den  werthvoUsten  Thätigkeiten  der  Persönlichkeit  realisirt. 

Dieser  Pampsychismus  tritt  andeutungsweise  im  Gefolge  neuplatonischer 

1)  Die  sog.  „Theologie  des  Aristoteles"  identificirt  diesen  voö;  mit  dem  Xoyo?.  Das 
Nähere  bei  E.  Renan,  Av.  et  TAv.  II,  §  6  ff.  —  2)  Vgl.  hauptsächlich  dessen  Schrift  De  animae 
beatitudine.  —  8)  Und  damit  wird  bei  ihm  die  unbedingte  Anerkennung  der  Autorität  des 
Stagiriten  theoretisch  gerechtfertigt. 


§  27.  Das  Problem  der  Individualität.  (Thomismus  und  Scotismos.)  269 

Mystik  gelegentUch  schon  frülier  in  der  abendländischen  Litteratnr  auf:  als 
ausgesprochene  und  verbreitete  Lehre  erscheint  er  neben  dem  Averroismus 
um  1200;  er  wird  überall  mit  zuerst  genannt,  wo  die  Irrlehren  des  arabischen 
Peripateticismus  verdammt  werden,  und  es  ist  ein  Hauptbestreben  der  Domini- 
kaner^ Aristoteles  selbst  gegen  die  Verwechslung  mit  dieser  Lehre  zu  schützen : 
Albert  und  Thomas  schrieben  beide  De  unitate  intellectus  contra  Averroistas. 

3.  Dem  Pampsychismus  tritt  bei  den  christlichen  Denkern  als  entscheidendes 
Motiv  das  durch  Augustin  genährte  Grefuhl  von  dem  metaphysischen  Eigen- 
werthe  der  Persönlichkeit  entgegen.  Das  ist  der  Standpunkt,  aus  dem  Männer 
wie  Wilhelm  von  Auvergne  und  Heinrich  von  Gent  den  Averroes  bestreiten. 
Und  das  ist  auch  der  eigentliche  Grund,  weshalb  die  Hauptsysteme  der  Scho- 
lastik —  im  diametralen  Gegensatze  zu  Eckhart's  Mystik  —  den  Realismus, 
welcher  in  den  intellectualistischen  Grundlagen  ihrer  Metaphysik  steckte,  nicht 
zur  vollen  Entfaltung  haben  kommen  lassen.  In  schwieriger  Lage  war  hier  der 
Thomismus,  der  nach  der  Formel  Avicenna's  (vgl.  S.  236)  zwar  behauptete,  dass 
die  Universalien  (also  auch  die  Gattung  „Seele**)  nur  „individuirt",  d.  h.  in  den 
einzelnen  empirischen  Exemplaren  als  deren  allgemeine  Wesenheit  (quidditas) 
existiren,  ihnen  aber  doch  die  metaphysische  Priorität  im  götthchen  Geiste  zu- 
schrieb. Er  musste  daher  erklären,  wie  es  komme,  dass  sich  dies  einheitliche 
Wesen  (als  allgemeine  Materie)  in  so  mannigfaltigen  Formen  darstelle,  d.  h. 
er  fragte  nach  dem  principium  individuationis,  und  er  fand  dasselbe  darin, 
dass  die  Materie  in  Raum  und  Zeit  quantitativ  bestimmt  sei  (materia  signata). 
In  der  Fähigkeit  der  Materie,  quantitative  Differenzen  anzunehmen,  besteht  die 
Möglichkeit  der  Individuation,  d.  h.  die  Möglichkeit,  dass  dieselbe  Form  (z.  B. 
die  Menschheit)  in  verschiedenen  Exemplaren  als  Einzelsubstanzen  wirklich  ist. 
Daher  sind  nach  Thomas  die  reinen  Formen  (separatae  sive  subsistentes)  nur 
durch  sich  selbst  individuirt,  d.  h.  es  entspricht  ihnen  nur  Ein  Exemplar.  Jeder 
Engel  ist  Gattung  und  Individuum  zugleich.  Die  inhärenten  Formen  dagegen, 
zu  denen  ja  auch  trotz  ihrer  Subsistenz  die  menschliche  Seele  gehört  (vgl.  S.  256), 
sind  je  nach  den  quantitativen  Differenzen  von  Raum  und  Zeit,  die  ihre  Materie 
darbietet,  in  vielen  Exemplaren  wirklich. 

Dem  gegenüber  gilt  nun  denFranziskanern  zunächst  in  ihrer  an  Augustin 
grossgezogenen  religiös-metaphysischen  Psychologie  die  Einzelseele,  sodann  aber 
mit  consequenter  Erweiterung  in  der  allgemeinen  Metaphysik  das  Einzelwesen 
überhaupt  als  in  sich  selbständige  Realität.  Sie  verwerfen  den  Unterschied 
separirter  und  inhärenter  Formen.  Schon  Bonaventura  (und  ebenso  übrigens 
auch  Heinrich  von  Gent),  energischer  aber  noch  Duns  Scotus  behauptet  nach 
Ayicebron,  dass  auch  die  geistigen  Formen  ihre  eigene  Materie  haben,  und  der 
letztere  lehrt,  dass  die  „Seele"  nicht  erst  (wie  nach  Thomas)  durch  ihr  Verhält- 
niss  au  einem  bestimmten  Leibe,  sondern  schon  in  sich  selbst  individualisirt  und 
substantialisirt  sei.  Der  Scotismus  zeigt  in  dieser  Hinsicht  eine  in  dem  Geiste 
seines  Urhebers  offenbar  noch  nicht  ausgetragene  Zwiespältigkeit.  Er  betont 
einerseits  auf  das  Stärkste  die  Realität  des  Universale,  indem  er  die  Einheit  der 
Materie  (materia  primo-prima)  ganz  im  arabischen  Sinne  aufrechterhält,  und  er 
lehrt  andrerseits,  dass  dies  Allgemeine  nur  wklich  sei,  indem  es  durch  die  Reihe 
der  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  absteigenden  Formen  schliesslich  vermöge 
der  bestimmten  Einzelform  (haecceitas)  realisirt  sei.  Diese  gilt  deshalb  bei  Duns 


270  ^I-  Mittelalterliche  Philosophie.  2,  Zweite  Periode. 

Scotus  als  ein  ursprünglich  ThatsächlicheS;  nach  dessen  Grunde  nicht  weiter  ge- 
fragt werden  darf.  Er  bezeichnet  die  Individualität  (sowohl  im  Sinne  der  einzelnen 
Substanz^  als  auch  des  einzelnen  Geschehens)  als  das  Zufällige  (contingens), 
d.  h.  als  dasjenige,  was  nicht  aus  einem  allgemeinen  Grunde  abzuleiten,  son- 
dern nur  als  thatsächlich  zu  constatiren  ist.  Für  ihn  hat  daher,  wie  schon  für 
seinen  Vorgänger  Roger  Bacon^  die  Frage  nach  dem  Princip  der  Individuation 
keinen  Sinn:  das  Individuum  ist  die  „letzte"  Form  aller  Wirklichkeit,  durch 
welche  allein  die  allgemeine  Materie  existirt,  und  es  fragt  sich  vielmehr  um- 
gekehrt, wie  bei  dieser  alleinigen  ReaUtät  der  formbestimmten  Einzelwesen  von 
einer  Realität  der  allgemeinen  „Naturen"  geredet  werden  kann^). 

Aus  dieser  merkwürdigen  Verschränkung  der  scotistischen  Lehre  erklärt 
es  sich,  dass,  während  einige  ihrer  Anhänger,  wie  Franz  von  Mayron,  von  ihr  aus 
zum  extremen  Realismus  fortschritten,  sie  bei  Occam  in  die  Erneuerung  der 
nominalistischen  These  umschlug,  dass  das  Wirkliche  nur  das  Einzelwesen 
und  dass  das  Allgemeine  nur  ein  Froduct  des  vergleichenden  Denkens  sei. 

4.  Die  siegreiche  Entfaltung,  welehe  der  Nominalismus  in  dem  zweiten 
Zeitraum  der  mittelalterlichen  Philosophie  gefunden  bat,  beruht  auf  einer  höchst 
eigenthüQilichen  Combination  sehr  verschiedenartiger  Denkmotive.  In  der  Tiefe 
waltet  das  augustinische  Gefiihlsmomeut,  welches  der  individuellen  Persönlich- 
keit ihre  metaphysische  Würde  gewahrt  sehen  will;  in  der  philosophischen  Haupt- 
strömung macht  sich  die  antiplatonische  Tendenz  der  jetzt  erst  bekannt  werden- 
den aristotelischen  Erkenntnisstheorie  geltend,  welche  nur  dem  empirischen 
Einzelwesen  den  Werth  der  „ersten  Substanz"  zuerkennen  will;  und  an  der  Ober- 
fläche spielt  ein  logisch-granmiatischer  Schematismus,  der  aus  der  ersten  Wirkung 
der  byzantinischen  Tradition  des  Alterthums  herstammt  ^).  Alle  diese  Einflüsse 
concentriren  sich  in  der  leidenschaftlich  bewegten,  eindrucksvollen  Persönlichkeit 
Wilhelm's  von  Occam. 

Die  Lehrbücher  der  „modernen"  Logik,  als  deren  Typus  dasjenige  von 
Petrus  Hispanus  gelten  kann,  legten  in  einer  Weise,  welche  auch  im  Alterthiun 
nicht  ohne  Vorgang  ist*),  bei  der  Darstellung  der  BegrifiFslehre  und  ihrer  An- 
wendung auf  Urtheil  und  Schluss  ein  Hauptgewicht  auf  die  Theorie  der  Suppo- 
sition,  wonach  ein  Gattungsbegriff  (Terminus)  für  die  Summe  seiner  Arten,  ein 
Artbegriff  für  diejenige  aller  seiner  Exemplare  (homo  =  omnes  homines)  sprach- 
lich und,  wie  man  meinte,  auch  logisch  eintreten  kann,  sodass  er  in  den  Opera- 
tionen des  Denkens  als  Zeichen  für  dasjenige,  was  er  bedeutet,  angewendet 
wird.  In  den  Formen  dieses  Terminismus*)  entwickelt  Occam  den  Nominalis- 
mus (vgl.  S.  257).  Die  Einzeldinge,  denen  er  nach  Duns  Scotus  die  Realität 
ursprünglicher  Formen  zuerkennt,  werden  von  uns  intuitiv  (ohne  Vermittlung 
von  species  intelligibles)  vorgestellt;  allein  diese  Vorstellungen  sind  nur  die 
„natürUchen"  Zeichen  für  jene  Dinge  und  haben  zu  ihnen  nur  eine  nothwendige 


1)  Diese  |dem  Duns  Scotus  eigenthümlichc  Art  der  Lösung  des  üniversalienproblems 
pflegt  als  Formalismus  bezeichnet  zu  werden.  —  2)  In  der  That  darf  man  in  der  Wirkung 
des  Lehrbuchs  von  Michael  Psellos  den  ersten  Verstoss  derjenigen  Zufuhr  antiken  Bildungs- 
stofles  sehen,  welche  das  Abendland  über  Byzanz  erfuhr  und  welche  später  in  der  Renaissance 
den  beiden  anderen  Traditionen  über  Rom — York  und  über  Bagdad — Cordova  abschliessend 
an  die  Seite  trat.  —  8)  Es  sei  nur  an  die  Untersuchungen  des  rhilodemos  über  Zeichen  und 
Bezeichnungen  (S.  127,  vgl.  auch  S.  161)  erinnert.  —  4)  Vgl.  K.  Prantl,  in  den  Sitz.-Ber.  der 
Münch.  Aead.  1864, 11,  a,  58  ff. 


§27.  Das  Problem  der  Individualität.  (Terminismus.)  271 

Beziehung,  dagegen  eine  sachliche  Aehnlichkeit  mit  ihnen  so  wenig,  wie  dies 
sonst  für  ein  Zeichen  in  Hinsicht  des  bezeichneten  Gegenstandes  nöthig  ist.  Dies 
Verhältniss  ist  dasjenige  der  „ersten  Intention".  Wie  nun  aber  die  Individual- 
vorstellungen  für  die  Individualdinge,  so  können  im  Denken,  Sprechen  und 
Schreiben  auch  die  „unbestimmten"  Allgemein  Vorstellungen  der  abstractiven 
Erkenntniss,  bzw.  die  wieder  sie  ausdrückenden  gesprochenen  oder  geschriebenen 
Wörter  für  die  IndividualYorstellung  „supponiren".  Diese  „zweite  Intention", 
worin  die  Allgemeinvorstellung  mit  Hilfe  des  Worts  sich  nicht  mehr  direct  auf 
die  Sache,  sondern  zunächst  auf  deren  Vorstellung  bezieht,  ist  nicht  mehr  natür- 
lich, sondern  behebig  (ad  placitum  instituta  *).  Auf  diese  Unterscheidung  stützt 
Occam  auch  diejenige  realer  und  rationaler  Wissenschaft:  die  erste  bezieht 
sich  unmittelbar  (intuitiv)  auf  die  Sachen,  die  andere  bezieht  sich  (abstractiv) 
auf  die  immanenten  Verhältnisse  der  Vorstellungen  unter  einander. 

Klar  ist  danach,  dass  auch  die  rationale  Wissenschaft  die  „reale"  voraus- 
setzt und  an  das  von  dieser  geUeferte  empirische  Vorstellungsmaterial  gebunden 
ist,  klar  aber  auch,  dass  selbst  das  „reale"  Wissen  nur  eine  innere  Welt  der 
Vorstellungen  erfasst,  die  zwar  als  „Zeichen"  der  Dinge  gelten  dürfen,  aber  von 
diesen  selbst  verschieden  sind.  Der  Geist,  so  hatte  gelegentlich  auch  Albert  ge- 
sagt und  Nicolaus  Cusanus  führte  es  später  aus,  erkennt  nur,  was  er  in  sich  hat; 
seine  Welterkenntniss,  folgert  der  terministischeNominaUsmus,  ist  auf  die  inneren 
Zustände  angewiesen,  in  die  ihn  der  Lebenszusammenhang  mit  dem  Wirkhchen 
versetzt.  Dem  wahren  Wesen  der  Dinge  gegenüber,  lehrt  Nicolaus  Cusanus, 
der  sich  durchaus  zu  diesem  idealistischen  Nominalismus  bekannte,  besitzt 
das  menschliche  Denken  nur  Conjecturen,  d.  h.  nur  die  seinem  eigenen  Wesen 
entspringenden  Vorstellungsweisen,  und  die  Erkenntniss  dieser  Relativität  aller 
positiven  Aussagen,  das  Wissen  des  Nichtwissens,  die  docta  ignorantia,  ist 
der  einzige  Weg,  um  auch  über  die  rationale  Wissenschaft  hinaus  zu  der  unaus- 
sagbaren,  zeichenlosen,  unmittelbaren  Erkenntnissgemeinschaft  mit  dem  wahren 
Sein,  der  Gottheit,  zu  gelangen. 

5.  Trotz  dieser  weittragenden  erkenntnisstheoretischen  Bestriction  ist  die 
eigenthche  Lebenskraft  des  Nominalismus  auf  die  Entwicklung  der  realen  Wissen- 
schaft gerichtet,  und  wenn  deren  Erfolge  während  des  vierzehnten  und  fünfzehnten 
Jahrhunderts  nur  sehr  beschränkt  geblieben  sind,  so  lag  das  wesentUch  daran, 
dass  die  zu  voller  Ausbildung  gelangte  scholastische  Methode  mit  ihrer  buch- 
gelehrten Discussion  der  Autoritäten  den  Betrieb  der  Wissenschaft  nach  wie  vor 
allmächtig  beherrschte,  und  dass  die  neuen  Ideen,  in  diese  Form  gezwängt,  sich 
nicht  frei  entfalten  konnten,  —  eine  Erscheinung  übrigens,  welche  sich  noch  bis 
tief  in  die  Philosophie  der  Renaissance  hineinzieht.  Gleichwohl  haben  Duns 
Scotus  und  Occam  den  hauptsächlichsten  Anstoss  dazu  gegeben,  dass  sich  all- 
mähUch  neben  der  bisher  wesentUch  religiös  interessirten  Metaphysik  die  Philo- 
sophie wieder  als  eine  weltliche  Wissenschaft  des  Thatsächlich-Wirk- 
lichen  constituirte  und  dass  diese  sich  mit  immer  stärker  ausgeprägtem 
Bewusstsein  auf  den  Boden  des  Empirismus  stellte.  Wenn  Duns  Scotus  die 
Haecceitas,  die  ursprüngliche  Individualform  als  das  Contingente  bezeichnete,  so 
hiess  das,  sie  sei  nicht  durch  logische  Deduction,  sondern  nur  durch  thatsäch- 

1)  Die  Anklänge  an  den  auch  in  der  antiken  Sprachphilosophie  (Piaton,  Kratylqs) 
geltend  gemachten  Gegensatz  von  ^si^  und  cpuai^  liegen  auf  der  Hand. 


272  m.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

liehe  Constatirung  zu  erkennen^  und  wenn  Occam  die  Einzelwesen  für  das  allein 
wahrhaft  Reale  erklärte,  so  wies  er  damit  der  „realen  Wissenschaft"  den  Weg 
in  die  unmittelbare  Auffassung  des  Wirklichen.  Beide  Franziskaner  aber  stehen 
damit  unter  der  Einwirkung  Eoger  Bacon^s,  der  mit  aller  Energie  die  Wissen- 
schaft seiner  Zeit  von  den  Autoritäten  zu  den  Sachen,  von  den  Meinungen  zu 
den  Quellen,  von  der  Dialectik  zur  Erfahrung,  von  den  Büchern  zur  Natur  ge- 
rufen hatte.  Ihm  war  Albert  an  die  Seite  getreten,  der  unter  den  Dominikanern 
die  gleiche  Richtung  vertrat,  den  Werth  der  autoptischen  Beobachtung  und 
des  Experiments  zu  würdigen  wusste  und  in  seinen  botanischen  Studien  die  Selb- 
ständigkeit eigener  Forschung  glänzend  bethätigte.  Aber  für  die  Naturforschung 
war  die  Zeit  noch  nicht  reif,  so  sehr  auch  Roger  Bacon  nach  arabischem  Muster 
auf  quantitative  Bestimmungen  der  Beobachtung  und  auf  mathematische  Schu- 
lung drang.  Versuche,  wie  diejenigen  von  Alexander  Nekkam  (um  1200)  oder 
später  (um  1350)  von  Nicolaus  d'Autricuria  verhallten  wirkungslos. 

Fruchtbar  entfaltete  sich  der  Empirismus  während  dieser  Zeit  nur  in  der 
Psychologie.  Unter  dem  Einfluss  der  Araber,  insbesondere  Avicenna's  imd 
der  physiologischen  Optik  von  Alhacen,  nahmen  die  Untersuchungen  über  das 
Seelenleben  schon  bei  Alexander  von  Haies,  bei  seinem  Schüler  Johann  von 
Rochelle,  bei  Vincenz  von  Beauvais  und  namentlich  bei  Albert  eine  mehr  auf 
Feststellung  und  Ordnung  des  Thatsächlichen  gerichtete  Tendenz  an,  und  schon 
bei  Alfred  dem  Engländer  (Alfred  de  Sereshel,  in  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts)  finden  wir  eine  rein  physiologische  Psychologie  mit  allen  radicalen 
Consequenzen.  Diese  Regungen  eines  psychologischen  Empirismus  wären  aber 
durch  die  metaphysische  Psychologie  des  Thomismus  erstickt  worden,  wenn  sie 
nicht  ihren  Halt  an  der  augustinischen  Strömung  geftinden  hätten,  welche  die 
Selbsterfahrung  der  Persönlichkeit  als  höchstes  Princip  festhielt.  In 
diesem  Sinne  trat  dem  Thomismus  namentlich  Heinrich  von  Gent  gegenüber, 
der  den  Standpunkt  der  inneren  Erfahrung  scharf  formulirte  und  ihn  besonders 
in  der  Untersuchung  über  die  Gemüthszustände  zu  entscheidender  Geltung 
brachte.  Gerade  in  dieser  Hinsicht,  in  der  empirischen  Auffassung  des  Ge- 
ftihlslebens,  dessen  Theorie  damit  zugleich  von  derjenigen  des  Willens  und  des 
Intellects  emancipirt  wurde,  kam  ihm  Roger  Bacon  entgegen,  der  mit  klarem 
Blick  ohne  Beimischung  metaphysischer  Gesichtspunkte  auch  die  pnncipielle 
Verschiedenheit  äusserer  und  innerer  Erfahrung  deutlich  erfasste. 

So  kam  es  zu  dem  merkwürdigen  Erfolge,  dass  sich  die  rein  theoretische 
Wissenschaft  im  Gegensatz  gegen  den  intellectualistischen  Thomismus  an  der 
Hand  der  augustinischen  Lehre  von  der  Selbstgewissheit  der  Persönlichkeit  ent- 
wickelte. Diese  Selbsterkenntniss  galt,  wie  es  auch  bei  den  nominalistischen 
Mystikern  z.  B.  bei  Pierre  d'Ailly  zu  Tage  tritt,  als  das  Gewisseste  der  „realen 
Wissenschaft^.  Daher  hat  die  letztere  im  ausgehenden  Mittelalter  sich  mehr 
dem  bewegten  Menschenleben  als  der  Natur  zugewandt,  und  die  Anfänge  einer 
weltlichen  Wissenschaft  von  den  Zusammenhängen  der  menschlichen  Gesellschaft 
finden  sich  nicht  nur  in  den  Theorien  von  Occam  und  Marsilius  von  Padua  (vgl. 
S.  269),  nicht  nur  in  dem  Anwachsen  einer  reicheren,  lebensvolleren  und  inner- 
licheren Geschichtsschreibung,  sondern  auch  in  empirischer.  Betrachtung  der 
socialen  Verhältnisse,  wie  sie  ein  Nicolas  d'Oresme  (gest.  1382)  anbahnte^). 

1)  Vgl.  über  ihn  W.  Koscher,  Zeitschr.  f.  Staatawissensch.  1863,  805  fif. 


§  27.  Problem  der  iDdividualität.  (Nicolaus  Casanus.)  273 

6«  Die  getheilte  Stimmung,  in  welcher  sich  das  ausgehende  Mittelalter 
zwischen  den  ursprünglichen  Voraussetzungen  seines  Denkens  und  diesen  An- 
fangen eines  neuen ^  erfahrungskräftigen  Forschens  befand,  kommt  nirgends 
lebendiger  zum  Ausdruck,  als  in  der  vieldeutigen  Philosophie  des  Nicolaus 
Cusanus,  der,  von  dem  frischen  Zuge  der  Zeit  in  allen  Fasern  ergriffen,  doch 
nicht  darauf  verzichten  möchte,  die  neuen  Gedanken  dem  Zusammenhange  der 
alten  Weltauffassung  einzuordnen. 

Dieser  Versuch  gewinnt  erhöhtes  Interesse  durch  die  begrifflichen  Formen, 
in  denen  er  unternommen  wurde.  Das  Leitmotiv  ist  dabei,  zu  zeigen,  dass  das 
Individuum  auch  in  seiner  metaphysischen  Besonderung  mit  dem  allgemeinsten, 
dem  göttlichen  Wesen  identisch  sei.  Zu  diesem  Zwecke  verwendet  Nicolaus  zum 
ersten  Male  mit  systematischer  Durchfuhrung  das  Begriffspaar  des  Unendlichen 
und  des  Endlichen.  Dem  gesammten  Alterthum  hatte  das  Vollkommene  als 
das  in  sich  Begrenzte^  und  als  unendlich  nur  die  unbestimmte  Möglichkeit  ge- 
golten. In  der  alexandrinischen  Philosophie  dagegen  war  das  höchste  Wesen 
aller  endlichen  Bestimmungen  entkleidet,  bei  Plotin  das  ^Eine^  als  die  Alles  ge- 
staltende Kraft  wegen  der  Unendlichkeit  der  Materie,  an  der  sie  sich  entfaltet, 
mit  unbegrenzter  Seinsintensität  ausgestattet  und  auch  im  christlichen  Denken 
die  Macht,  wie  der  Wille  und  das  Wissen  Gottes  mehr  und  mehr  als  schranken- 
los gedacht  worden.  Hier  kam  vor  Allem  das  Motiv  hinzu,  dass  der  Wille  schon 
im  Individuum  als  ein  rastloses,  nimmer  ruhendes  Streben  gefühlt  und  dass  diese 
Unendlichkeit  der  inneren  Erfahrung  zum  metaphysischen  Princip  er- 
hoben wurde.  Aber  erst  Nicolaus  hat  die  Methode  der  negativen  Theologie  auf 
den  positiven  Ausdruck  gebracht,  dass  er  die  Unendlichkeit  als  das  wesent- 
liche Merkmal  Gottes  im  Gegensatze  zur  Welt  behandelte.  Die  Identität 
von  Gott  und  Welt,  welche  die  mystische  Weltanschauung  ebenso  verlangte 
wie  die  naturalistische,  wurde  daher  so  formulirt,  dass  in  Gott  dasselbe  absolute 
Sein  unendlich  enthalten  sei,  welches  in  der  Welt  sich  in  endlicher  Gestaltung 
darstellt. 

Damit  war  der  weitere  Gegensatz  der  Einheit  und  der  Vielheit  ge- 
geben. Das  Unendliche  ist  die  lebendige  und  ewige  Einheit  dessen,  was  im  End- 
lichen als  ausgebreitete  Vielheit  erscheint.  Aber  diese  Vielheit  ist  —  und  darauf 
legt  der  Cusaner  besonderes  Gewicht  —  auch  diejenige  der  Gegensätze.  Was 
im  Endlichen  auf  Verschiedenes  vertheilt  und  nur  dadurch  neben  einander  möglich 
erscheint,  das  muss  in  der  Unendlichkeit  des  göttlichen  Wesens  sich  ausgleichen. 
Gott  ist  die  Einheit  aller  Gegensätze,  die  coincidentia  oppositorum^).  Er 
ist  daher  die  absolute  Wirklichkeit,  in  der  alle  Möglichkeiten  eo  ipso  als  solche 
realisirt  sind  (Possest),  während  jedes  der  vielen  Endlichen  an  sich  nur  möghch 
und  erst  durch  ihn  wirklich  ist*). 


1)  Auch  seine  eigene  Lehre,  welche  allen  Motiven  der  früheren  Philosophie  gerecht  werden 
will,  bezeichnet  Nicolaus,  den  gegensätzlichen  Systemen  gegenüber,  als  eine  coincidentia  opposi- 
torum :  vgl.  die  Stellen  bei  Falckenrerg  a.  a.  0.  p.  60  £f.  —  §)  Denselben  Gedanken  hatte  Thomas  so 
ausgesprochen,  dass  Gott  das  einzige  nothwendige  Wesen,  d.  h.  dasjenige  sei,  welches  kraft  seiner 
eigenen  Natur  existirt  (ein  GedaiJce,  welcher  als  Niederschlag  von  Anselm^s  ontologischem 
Beweise  —  vgl.  S.  230  —  anzusehen  ist) ,  während  bei  aUen  Creaturen  die  Essenz  (oder 
Quidditas  —  Washeit)  von  der  Existenz  real  derartig  getrennt  ist,  dass  die  erstere  an  sich  nur 
möglich  ist  und  dass  die  letztere  zu  ihr  als  Verwirklichung  hinzutritt :  die  Beziehung  dieser 
Lehre  zu  den  aristotelischen  Grundbegriffen,  actus  und  potentia,  liegt  auf  der  Hand. 

Windelband,  Geschichte  der  PhUosophie.  jg 


274  ni.  Mittelalterliche  Philosophie.  2.  Zweite  Periode. 

Unter  den  Gegensätzen,  die  in  Gott  vereinigt  sind,  erscheinen  eben  deshalb 
die  zwischen  ihm  selbst  und  der  Welt,  d.  h.  diejenigen  des  Unendlichen  und  End- 
lichen und  der  Einheit  und  Vielheit,  als  die  wichtigsten.  Demzufolge  ist  der 
ünendHche  zugleich  endlich;  in  jeder  seiner  Erscheinungen  ist  der  einheitUche 
Dens  implicitus  zugleich  der  in  die  Vielheit  ergossene  Deus  exphcitus  (ygl.  S.  229). 
Gott  ist  das  Grösste  und  dabei  auch  das  Kleinste.  Demzufolge  ist  aber  auch 
andrerseits  dies  Kleinste  und  Endüche  in  seiner  Weise  der  Unendlichkeit  theil- 
haftig,  und  stellt  in  sich  selbst,  wie  das.  Ganze,  eine  harmonische  Einheit  des 
Vielen  dar. 

Danach  ist  zunächst  auch  das  Universum  zwar  nicht  in  demselben  Sinne 
wie  Gott,  aber  in  seiner  Weise  unendUch,  d.  h.  es  ist  in  Raum  und  Zeit  un- 
begrenzt (interminatum  oder  privativ  unendUch).  Ebenso  aber  kommt  auch 
jedem  Einzeldinge  eine  gewisse  Unendlichkeit  in  dem  Sinne  zu,  dass  es  in  seinen 
Wesensbestimmungen  auch  diejenige  aller  anderen  Individuen  in  sich  trägt.  Alles 
ist  in  Allem:  omnia  ubique.  Auf  diese  Weise  enthält  jedes  Individuum  in  sich 
das  Weltall,  aber  in  beschränkter,  ihm  allein  eigener  und  von  allen  anderen  ver- 
schiedener Form.  In  omnibus  partibus  relucet  totum.  Jedes  Einzelding  ist  — 
so  hatte  schon  der  arabische  Philosoph  Alkendi  gelegentlich  gesprochen  — ,  wenn 
recht  und  voll  erkannt,  ein  Spiegel  des  Universums. 

Insbesondere  gilt  dies  natürlich  vom  Menschen,  und  in  der  Auffassung  des- 
selben als  Mikrokosmos  knüpft  Nicolaus  sinnig  an  die  terministische  Lehre  an. 
Die  besondere  Art,  in  welcher  die  übrigen  Dinge  im  Menschen  enthalten  sind, 
ist  durch  die  Vorstellungen  charakterisirt,  welche  in  ihm  die  Zeichen  für  die 
Aussenwelt  bilden.  Der  Mensch  spiegelt  das  Universum  durch  seine  ^  Conj ecturen  ", 
durch  die  ihm  eigene  Vorstellungsweise  (vgl.  oben  S.  271). 

So  ist  mit  und  in  dem  Unendlichen  auch  das  Endliche,  mit  und  in  dem  All- 
gemeinen auch  das  Individuum  gegeben.  Dabei  ist  das  Unendliche  in  sich  noth- 
wendig,  das  Endliche  aber  (nach  Duns  Scotus)  absolut  contingent,  d.  h.  blosse 
Thatsacbe.  Es  giebt  keine  Proportion  zwischen  dem  Unendlichen  und  dem  End-- 
liehen;  auch  die  endlose  Reihe  des  Endlichen  bleibt  mit  dem  wahrhaft  Unend- 
lichen inconmiensurabel.  Die  Ableitung  der  Welt  aus  Gott  ist  unbegreiflich,  und 
aus  der  Kenntniss  des  Endlichen  führt  kein  Weg  in  das  Unendliche.  Das  Indi- 
viduell-WirkUche  will  empirisch  erkannt,  seine  Verhältnisse  und  die  darin  walten- 
den Gegensätze  wollen  durch  den  Verstand  aufgefasst  und  unterschieden  sein: 
aber  die  Anschauung  der  unendUchen  Einheit,  die,  über  alle  diese  Gegensätze 
erhaben,  sie  alle  in  sich  schliesst,  ist  nur  durch  die  Abstreifung  all  solchen  end- 
lichen Wissens,  durch  die  mystische  Erhebung  der  docta  ignorantia  möglich. 
So  fallen  die  Elemente,  welche  der  Cusaner  vereinigen  wollte,  in  eben  dieser 
Verknüpfung  wieder  auseinander.  Der  Versuch,  die  mittelalterliche  Philosophie 
allseitig  abzuschUessen,  fuhrt  zu  ihrer  inneren  Zersetzung. 


275 


IV.  TlieiL 
Die  PMlosopMe  der  Benaissance. 

J.  £.  E&DHANN,  Versuch  einer  wifisenschafllichen  Darstellung  der  Geschichte  der  neueren 
Philosophie,  3  Thle.  in  6  Bänden,  Riga  und  Leipzig  1834 — 53. 

H.  Ulrici,  Geschichte  und  Kritik  der  rrincipien  der  neueren  Philosophie,  3  Bde. 
Leipzig!  845. 

£[uNO  Fischer,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  dritte  Aufl.  München  1880  fT. 

Ed.  Zellbb,  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  seit  Leibniz.  2.  Aufl.    Berlin  1875. 

"W.  WiNDELBA-ND,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.  2  Bde.   Leipzig  1878—80. 

R.  Falckenbero,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.  Leipzig  1886. 

J.  Schaller,  Geschichte  der  Naturphilosophie  seit  Bacon.  2  Bde.  Leipzig  1841 — 44. 

J.  Baumann,  Die  Lehren  von  Raum,  Zeit  und  Mathematik  in  der  neueren  Philosophie. 
2  Bde.  Berlin  1868  f. 

F.  VoBLlNDEB,  Geschichte  der  philosophischen  Moral-,  Rechts-  und  Staatslehre  der 
Engländer  und  Franzosen.    Marbui^  1855. 

F.  JoDL,  Geschichte  der  Ethik  in  der  neueren  Philosophie.  2  Bde.  Stuttgart  1882—89. 

B.  PüNJER,  Geschichte  der  christlichen  Religionsphilosophie  seit  der  Reformation.  2  Bde. 
Braunschweig  1880—83. 

Die  Gegensätze;  welche  im  Ausgang  der  mittelalterlichen  Philosophie  zu 
Tage  treten,  haben  eine  allgemeinere  Bedeutung:  sie  zeigen  in  der  theoretischen 
Form  das  selbstbewusste  Erstarken  der  weltlichen  Cultur  neben  der  geistlichen. 
Die  ünterströmung,  welche  ein  Jahrtausend  lang,  hie  und  da  zu  kräftigerer  Ge- 
walt anschwellend,  die  religiöse  Hauptbewegung  des  intellectuellen  Lebens  bei 
den  abendländischen  Völkern  begleitet  hatte,  kam  nun  zu  entscheidendem 
Durchbruch,  und  ihr  langsam  aufringender  Sieg  macht  in  den  Jahrhunderten 
des  Uebergangs  das  wesentliche  Merkmal  für  den  Beginn  der  Neuzeit  aus. 

In  allmählicher  Entwicklung,  in  stetigem  Fortschritt  hat  sich  so  die  moderne 
Wissenschaft  aus  den  mittelalterlichen  Anschauungen  herausgelöst;  und  ihr  viel- 
verschlungenes Werden  geht  Hand  in  Hand  mit  den  viellebendigen  Anfangen 
des  gesammten  modernen  Lebens.  Denn  dies  beginnt  überall  mit  der  natur- 
kräftigen Entfaltung  der  Besonderheiten-,  die  lapidare  Einheit,  zu  der  das  mittel- 
alterliche Leben  zusammendrängte,  geht  mit  der  Zeit  aus  einander,  und  ur- 
wüchsige Daseinsfrische  sprengt  den  Ring  der  gemeinsamen  Tradition,  den  die 
Geschichte  um  den  Geist  der  Völker  gezogen.  So  kündet  sich  die  neue  Zeit 
durch  das  Erwachen  nationaler  Lebensgestaltung  an;  die  Zeit  der  Weltreiche 
ist  auch  geistig  vorüber,  und  an  die  Stelle  der  einheitlichen  Concentration,  worin 
das  Mittelalter  gearbeitet  hatte,  tritt  die  reiche  Lebensfiille  der  Decentrali- 
sation.  Rom  und  Paris  hören  auf,  die  beherrschenden  Mittelpunkte  der  abend- 
ländischen Cultur,  das  Lateinische  hört  auf,  die  alleinige  Sprache  der  gebildeten 
Welt  zu  sein. 

Auf  dem  religiösen  Gebiete  zunächst  zeigte  sich  dieser  Vorgang  darin,  dass 
Rom  die  Alleinherrschaft  über  das  kirchliche  Leben  des  Christenthums  verlor. 
Wittenberg,  Genf^  London  u.  a.  wurden  neue  Centren  des  religiösen  Daseins. 
Die  Innerlichkeit  des  Glaubens,  die  schon  in  der  Mystik  sich  gegen  die  Ver- 

18* 


276  IV.  Philosophie  der  Renaissance. 

weltlichung  des  Kirchenlebens  empört  hatte,  erhob  sich  zu  siegreicher  Be- 
freiung, um  sogleich  wieder  der  unerlässlichen  Organisation  in  der  Aussenwelt  zu 
verfallen.  Allein  die  Zersplitterung,  die  damit  hereinbrach,  weckte  zwar  alle 
Tiefen  des  religiösen  Gefühls  und  wühlte  für  die  nächsten  Jahrhunderte  die 
Leidenschaft  und  den  Fanatismus  confessioneller  Gegensätze  auf;  aber  eben  da- 
durch wurde  die  Vorherrschaft  einer  geschlossenen  reUgiösen  Ueberzeugung  auf 
den  Höhen  des  wissenschaftlichen  Lebens  gebrochen.  Was  im  Zeitalter  der 
Kreuzzüge  durch  den  Contact  der  Religionen  begonnen  war,  vollendete  sich  nun 
durch  den  Streit  der  christUchen  Confessionen. 

Es  ist  nicht  zufällig,  dass  in  gleichem  Masse  neben  Paris  die  Zahl  der 
Mittelpunkte  des  wissenschaftlichen  Lebens  im  schnellen  Wachsthum  begrififen 
war.  Hatte  schon  vorher  Oxford  als  Heerd  der  Opposition  der  Franziskaner 
eigene  Bedeutung  gewonnen,  so  entfalteten  nun  erst  Wien,  Heidelberg,  Prag, 
dann  die  zahlreichen  Akademien  Italiens,  endlich  die  reiche  Fülle  der  neuen 
Universitäten  des  protestantischen  Deutschland  ihre  selbständige  Lebenskraft. 
Zugleich  aber  gewann  durch  die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  das  litterari- 
sche Leben  eine  solche  Ausdehnung  und  eine  so  viel  verzweigte  Bewegung,  dass 
es,  innerem  Drange  folgend,  sich  von  dem  strengen  Schulzusammenhange  ab- 
lösen, die  Fesseln  der  gelehrten  Tradition  abstreifen  und  sich  in  ungebundener 
Ausgestaltung  der  Persönlichkeiten  ergehen  konnte.  So  verliert  die  Philosophie 
in  der  Renaissance  den  zunftmässigen  Charakter,  und  sie  wird  in  ihren  besten 
Leistungen  zur  freien  That  der  Ladividuen;  sie  sucht  ihre  Quellen  in  der  Breite 
der  zeitgenössischen  Wirklichkeit,  und  sie  stellt  sich  auch  äusserlich  mehr  und 
mehr  im  Gewände  der  modernen  Nationalsprachen  dar. 

In  dieser  Weise  wurde  die  Wissenschaft  von  einer  gewaltigen  Gährung 
ergriffen.  Die  zwei  Jahrtausende  alten  Formen  des  geistigen  Lebens  schienen 
ausgelebt  und  unbrauchbar  geworden.  Eine  leidenschafthche,  zunächst  noch 
unklare  Neuerungssucht  erfiiUte  die  Geister,  und  die  aufgeregte  Phantasie  be- 
mächtigte sich  der  Bewegung.  An  ihrer  Hand  aber  kam  die  ganze  Mannigfaltig- 
keit der  Interessen  des  weltlichen  Lebens  in  der  Philosophie  zur  Geltung:  die 
kräftige  Entfaltung  des  Staatslebens,  die  reiche  Steigerung  der  äusseren  Cultur, 
die  Ausbreitung  der  europäischen  CiviUsation  über  die  fremden  Welttheile,  nicht 
zum  wenigsten  die  Weltfreude  der  neu  erwachten  Kunst.  Und  diese  lebens- 
frische Fülle  neuen  Inhalts  brachte  es  mit  sich,  dass  die  Philosophie  keinem 
jener  Interessen  vorwiegend  unterthan  wurde,  dass  sie  vielmelu*  alle  in  sich  auf- 
nahm und  sich  mit  der  Zeit  darüber  wieder  zu  freier  Erkenntnissarbeit,  zu  dem 
Ideale  des  Wissens  um  seiner  selbst  willen  erhob. 

Die  Wiedergeburt  des  rein  theoretischen  Geistes  ist  der  wahre 
Sinn  der  wissenschaftlichen  „Renaissance",  und  darin  besteht  auch  die  Con- 
genialität  mit  dem  griechischen  Denken,  welche  für  ihre  Entwicklung 
entscheidend  gewesen  ist.  Die  Unterstellung  unter  Zwecke  des  praktischen, 
ethischen  und  reUgösen  Lebens,  welche  in  der  gesammten  Philosophie  der 
hellenistisch-römischen  Zeit  und  des  Mittelalters  vorgewaltet  hatte,  hörte  mit 
dem  Beginn  der  neueren  Zeit  mehr  und  mehr  auf,  und  die  Erkenntniss  der  Wirk- 
lichkeit erschien  wieder  als  der  Selbstzweck  der  wissenschaftlichen  Forschung. 
Gerade  aber  wie  in  den  Anfangen  des  griechischen  Denkens  richtete  sich  dieser 
theoretische  Trieb  wesentUch  auf  die  Naturwissenschaft.   So  sehr  der  moderne 


lY.  Philosophie  der  Renaissance.  277 

Geist,  welcher  die  Errungenschaften  des  späteren  Alterthums  und  des  Mittel- 
alters in  sich  aufgenommen  hat,  dem  antiken  gegenüber  von  vom  herein  zum 
Selbstbewusstsein  erstarkt,  y erinnerlicht  und  in  sich  vertieft  erscheint,  so  ist 
doch  seine  erste  selbständige  intellectuelle  Bethätigung  die  Eückkehr  zu  einer 
von  keinem  anderen  Interesse  beeinflussten  Auffassung  der  Natur  gewesen: 
dahin  drängt  die  gesammte  Philosophie  der  Renaissance,  und  in  dieser  Richtung 
hat  sie  ihre  grossen  Erfolge  errungen. 

Im  Gefühl  solcher  Verwandtschaft  des  Grundtriebes  ergriff  der  neuzeitliche 
Geist  bei  seinem  leidenschaftlichen  Suchen  nach  dem  Neuen  zunächst  das  Ael teste. 
Begierig  wurde  die  von  der  humanistischen  Bewegung  entgegengebrachte  Kennt- 
niss  der  alten  Philosophie  aufgenommen^  und  in  heftigem  Gegensatze  gegen  die 
mittelalterliche  Tradition  wurden  die  Systeme  der  griechischen  Philosophie 
erneuert.  Aber  diese  Rückkehr  zum  Alterthum  stellt  sich  im  Gesammtverlauf 
der  Geschichte  nur  als  die  instinctive  Vorbereitung  ftir  die  eigene  Arbeit  des 
modernen  Geistes  dar  ^),  der  in  diesem  castalischen  Bade  zu  seiner  Jugendkraft 
erstarkte.  Indem  er  sich  in  die  griechische  Begriffswelt  einlebte,  gewann  er 
darin  die  Fähigkeit,  sein  eigenes  reiches  Aussenleben  im  Gedanken  zu  bemeistem, 
und  so  gerüstet  kehrte  die  Wissenschaft  aus  der  Grübelwelt  der  Innerlichkeit 
mit  gesättigter  Kraft  zur  Erforschung  der  Natur  zurück,  um  sich  darin  neue  und 
weitere  Bahnen  zu  öffnen. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  der  Renaissance  ist  deshalb  der  Haupt- 
sache nach  dies  allmähliche  Herausarbeiten  der  naturwissenschaftUchen  Welt- 
betrachtung aus  der  humanistischen  Erneuerung  der  griechischen  Wissenschaft: 
sie  zerfallt  deshalb  sachgemäss  in  zwei  Perioden,  eine  humanistische  und  eine 
naturwissenschaftliche.  Als  Grenzscheide  zwischen  beiden  darf  etwa  das 
Jahr  1600  angesehen  werden.  Die  erste  dieser  Perioden  enthält  die  Verdrängung 
der  mittelalterlichen  Tradition  durch  diejenige  des  echten  Griechenthums;  über* 
reich  an  culturhistorischem  Interesse  und  an  litterarischer  Bewegtheit,  zeigen 
diese  beiden  Jahrhunderte  in  philosophischem  Betracht  nur  diejenige  Ver- 
schiebung früherer  Gedanken,  durch  welche  die  neuen  vorbereitet  werden:  die 
zweite  Periode  umfasst  die  zur  Selbständigkeit  herausgerungenen  Anfange  der 
modernen  Naturforschung  und  in  deren  Gefolge  die  grossen  metaphysischen 
Systeme  des  17.  Jahrhunderts. 

Beide  Zeiträume  bilden  in  engster  Zusammengehörigkeit  ein  Ganzes. 
Denn  das  innerlich  treibende  Motiv  in  der  philosophischen  Bewegung  des  Huma- 
nismus ist  derselbe  Drang  nach  einer  von  Grund  aus  neuen  Erkenntniss  der 
Welt,  welcher  schliesslich  durch  die  Begründung  und  die  principielle  Ausgestal- 
tung der  Naturwissenschaft  seine  Erfüllung  fand:  aber  die  Art  wie  dies  geschah, 
und  die  begrifflichen  Formen,  in  denen  es  sich  vollzog,  zeigen  sich  an  allen 
wichtigen  Punkten  von  den  Anregungen  abhängig,  die  von  der  Aufnahme  der 
griechischen  Philosophie  ausgingen.  Die  moderne  Naturwissenschaft  ist 
die  Tochter  des  Humanismus. 


1)  In  dieser  Hinsicht  ist  der  Entwicklungseang  der  Wissenschaft  in  der  Renaissance 
genau  demjenigen  der  Kunst  parallel  gelaufen.  Auen  die  Linie,  welche  von  Giotto  zu  Lionardo, 
Kafael,  Michelangelo,  Tizian,  Dürer  und  Rembrandt  leitet,  geht  von  der  Wiederbelebung  der 
classischen  Formen  Schritt  für  Schritt  zu  eigener  und  unmittelbarer  Auffassung  der  Natur  über. 
Und  ebenso  ist  Goethe  der  Beweis,  dass  för  uns  Moderne  der  Weg  zur  Natur  durch  das 
Griecbenthum  führt. 


278  IV.  Philosophie  der  Ronaissance. 

1.  Kapitel.  Die  hnmanistisohe  Periode. 

Jac.  Bubckhabdt,  Die  Gultur  der  Renaissance  in  Italien.  4.  Aufl.   Leipzig  1886. 
Mob«  CABBiiiBE,  Die  philosophische  Weltanschaming  der  Reformationszeit.   2.  Aufl. 
Leipzig  1687. 

A.  Stöckl,  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters,  dritter  Band.  Mainz  1866. 

Die  Continuität  in  der  geistigen  Entwicklung  der  europäischen  Mensch- 
heit tritt  an  keinem  Punkte  so  merkwürdig  zu  Tage  wie  in  der  Eenaissance.  Zu 
keiner  Zeit  vielleicht  ist  das  Bedürfniss  nach  etwas  vöUig  Neuem^  nach  einer 
totalen  und  radicalen  Umgestaltung  nicht  nur  des  Erkenntnisslebens,  sondern 
auch  des  ganzen  Zustandes  der  Gesellschaft  so  lebhaft  gefühlt,  so  mannigfach 
und  so  leidenschaftlich  zum  Ausdruck  gebracht  worden  wie  damals,  und  keine 
Zeit  hat  so  viele,  so  abenteuerliche,  so  weitfliegende  Neuerungsversuche  erlebt 
wie  diese:  und  doch,  wenn  man  genau  zusieht  und  sich  weder  durch  das  groteske 
Selbstbewusstsein  noch  durch  die  naive  Grosssprecherei  täuschen  lässt,  welche 
in  dieser  Litteratur  an  der  Tagesordnung  sind,  so  zeigt  sich,  dass  das  ganze 
vielgestaltige  Treiben  sich  im  Rahmen  der  antiken  und  der  mittelalterlichen 
Traditionen  abspielt  und  nur  in  dunklem  Drange  einem  mehr  geahnten  als  klar 
begriffenen  Ziele  zustrebt.  Erst  das  17.  Jahrhundert  hat  die  Ausgährung  und 
Abklärung  der  so  mit  einander  ringenden  Gedankenmassen  gesehen. 

Das  wesentliche  Ferment  aber  dieser  Bewegung  war  der  Gegensatz  zwischen 
der  überkommenen,  in  sich  bereits  der  Auflösung  verfallenden  Philosophie  des 
Mittelaltei*s  und  den  mit  dem  15.  Jahrhundert  bekannt  werdenden  Original- 
werken der  griechischen  Denker.  Von  ßyzanz  her  brach  über  Florenz  und  Eom 
ein  neuer  Bildungsstrom  herein,  der  den  Lauf  des  abendländischen  Denkens 
abermals  von  seiner  bisherigen  Richtung  stark  ablenkte.  Insofern  erscheint  die 
humanistische  Renaissance,  die  sog.  Wiedergeburt  des  classischen  Alterthums 
als  Fortsetzung  und  Vollendung  jenes  gewaltigen  Aneignungsprocesses,  den  das 
Mittelalter  darstellt  (vgl.  S.  208  f.,  245),  und  wenn  dieser  in  einem  rückläufigen 
Aufrollen  der  antiken  Gedankenbewegung  bestand,  so  erreicht  er  nun  sein 
Ende,  indem  von  der  originalen  altgriechischen  Litteratur  alles  dasjenige  bekannt 
wurde,  worauf  unsere  Kenntmss  im  WesentUchen  noch  heute  beschränkt  ist. 

Das  Bekanntwerden  der  griechischen  Originale  und  die  Ausbreitung  der 
humanistischen  Bildung  rief  zunächst  in  Italien  und  sodann  auch  in  Deutsch- 
land, Frankreich  und  England  eine  oppositionelle  Bewegung  gegen  die  Scholastik 
hervor.  Sie  wendete  sich  der  Sache  nach  gegen  die  mittelalterlichen  üm- 
deutungen  der  griechischen  Metaphysik,  der  Methode  nach  gegen  die  autori- 
tative Deduction  aus  vorausgesetzten  BegrifiFen,  der  Form  nach  gegen  die  ge- 
schmacklose Härte  des  mönchischen  Latein:  und  mit  der  bewunderungsvollen 
Wiedergabe  der  antiken  Gedanken,  mit  der  frischen  Anschaulichkeit  eines  lebens- 
lustigen Geschlechts,  mit  der  Feinheit  und  dem  Witz  einer  künstlerisch  gebildeten 
Zeit  erwarb  diese  Opposition  einen  schnellen  Sieg. 

Aber  sie  war  in  sich  gespalten.  Da  waren  Platoniker,  die  zum  grössten 
Theil  besser  Neuplatoniker  genannt  würden,  da  waren  Aristoteliker,  die 
wieder  je  nach  dem  Anschluss  an  den  einen  oder  den  anderen  der  alten  Aus- 
leger in  verschiedene,  sich  lebhaft  bekämpfende  Gruppen  zerfielen.  Da  wachten 
auch  die  älteren  Lehren  der  griechischen  Kosmologie,  der  Jonier,  der  Pjtha- 


1.  Humamstisclie  Periode.  279 

• 

goreer  wieder  auf ;  da  erhob  sich  die  demokritisch-epikureische  Natur- 
auffassung  zu  neuer  Kraft.  Da  wurden  der  Skepticismus  und  der  populär - 
philosophische  Eclecticismus  wieder  lebendig. 

War  diese  humanistische  Bewegung  entweder  religiös  indifferent  oder  gar 
mit  offenem  „Heidenthum^  im  Kampf  gegen  das  christliche  Dogma  begriffen^ 
so  spielte  sich  im  kirchlichen  Leben  ein  ebenso  heftiger  Streit  der  Ueberlieferungen 
ab.  Die  katholische  Kirche  verschanzte  sich  gegen  den  Ansturm  der  Geister 
unter  Führung  der  Jesuiten  immer  fester  hinter  dem  Bollwerk  des  Thomis- 
mus.  Bei  den  Protestanten  war  —  eine  Fortsetzung  des  Antagonismus, 
den  das  Mittelalter  zeigt,  —  Augustin  der  leitende  Geist.  Aber  in  der  philo- 
sophischen Ausgestaltung  des  Dogmas  blieben  ihm  die  Reformirten  näher:  in 
der  lutherischen  Kirche  überwog  in  Folge  des  Einflusses  des  Humanismus 
eine  Anlehnung  an  die  ursprüngliche  Gestalt  des  aristotelischen  Systems. 
Daneben  aber  erhielt  sich  im  religiösen  Bedürfniss  des  Volks  die  deutsche 
Mystik  mit  all  den  viel  verzweigten  Traditionen,  die  sie  in  sich  vereinigte  (vgl. 
S.  264  ff.),  zu  fruchtbarer  Wirkung  für  die  Philosophie  der  Zukunft  lebens- 
kräftiger, als  die  kirchliche  Gelehrsamkeit,  die  sie  vergeblich  zu  ersticken  suchte. 

Das  Neue,  welches  sich  in  diesen  vielspältigen  Kämpfen  vorbereitete,  war 
der  Abschluss  derjenigen  Bewegung,  welche  auf  dem  Höhepunkte  der  mittel- 
alterlichen Philosophie,  bei  Duns  Scotus  begonnen  hatte:  die  Ablösung  der 
Philosophie  von  der  Theologie.  Je  mehr  sich  die  Philosophie  neben  der  Theo- 
logie als  selbständige  weltliche  "Wissenschaft  constituirte,  um  so  mehr  wurde  als 
ihre  eigentliche  Aufgabe  die  Erkenntniss  der  Natur  erfasst.  In  diesem 
Ergebniss  kommen  alle  Bichtungen  der  Philosophie  der  Renaissance  zusammen. 
Philosophie  soll  Naturwissenschaft  sein,  —  das  ist  die  Parole  der  Zeit. 

Die  Ausführung  dieses  Vorhabens  jedoch  musste  sich  zunächst  innerhalb 
der  traditionellen  Vorstellungsweisen  bewegen :  diese  aber  hatten  ihre  Gemein- 
samkeit in  dem  anthropocentrischen  Charakter  der  Weltanschauung,  der  die 
Folge  der  Ausbildung  der  Philosophie  als  Lebensansicht  und  Lebenskunst  ge- 
wesen war.  Deshalb  nimmt  die  Naturphilosophie  der  Benaissance  auf  allen  Linien 
die  Stellung  des  Menschen  im  Weltzusammenhange  zum  Ausgang  ihrer 
Problembildung,  und  der  Umschwung  der  Vorstellungen,  welcher  sich  in  dieser 
Hinsicht  unter  dem  Einflüsse  der  veränderten  Culturzustände  vollzog,  wurde  für 
die  Neugestaltung  der  ganzen  Weltansicht  massgebend.  An  diesem  Punkte 
wurde  die  metaphysische  Phantasie  am  tiefsten  aufgeregt,  und  von  hier  aus  er- 
zeugte sie  ihre  für  die  Zukunft  vorbildlichen  Weltdichtungen  in  den  Lehren  von 
Giordano  Bruno  und  Jacob  Boehme. 

lieber  die  Erneuerung  der  antiken  Philosophie  im  Allgemeinen  handeln: 
L.  HEEREN,  Geschichte  der  Studien  der  classischen  Litteratur,  Göttingen  1797 — 1802.  — 
G.  Vogt,  Die  "Wiederbelebung  des  classischen  Alterthums.  Berlin  1880  f. 

Der  Hauptsitz  des  Piatonismus  war  die  Akademie  zu  Florenz,  welche  von  Cos- 
musvonMedici  gegründet  und  von  seinen  Nachfolgern  glänzend  erhalten  wurde.  Die  An- 
regung dazu  hatte  Georgios  Gemistos  Plethon  (1355 — 1450)  gegeben,  der  Verfasser  zahl- 
reicher Commentare  und  Oompendien,  sowie  einer  (griechischen)  Schrift  über  den  Unterschied 
der  platonischen  und  der  aristotelischen  Doctrin.  vgl.  Fb.  Schtjltze,  G.  G.  P.  Jena  1874.  — 
Sein  einflussreicher  Schüler  war  Bessarion  (geb.  1403  in  Trapezunt,  gestorben  als  Cardinal 
der  römischen  Kirche  in  Kavenna  1472).  Die  Hauptschrift  Adversus  calumniatorem  Piatonis 
erschien  Rom  1469.  Ges.  Werke  inMigne's  Sammlung,  Paris  1866.  —  Die  bedeutendsten  Er- 
scheinungen aus  dem  platonischen  Kreise  waren  Marsilio  Fi  cino  (aus  Florenz,  1433—1499), 
der  Üebersetzer  der  Werke  Platon's  und  Plotin's  und  Verfasser  einer  Theologia  Platonica 
(Florenz  1482),  und  spater  Francesco  Patrizzi  (1529—1597),  welcher  die  Naturphilosophie 


280  rV*  FbiloBophie  der  Eenaissanoe. 

dieser  Richiiing  in  seiner  Nova  de  unlversis  philosophia  (Ferrara  1591)  zur  geschlossensten 
Darstellung  brachte. 

Aehnhch  wie  bei  dem  letzteren  zeigt  sich  der  Neuplatonismus  mit  neupythagoreischen 
und  altpythagoreischen  Motiven  versetzt  schon  bei  Johannes  Pico  von  Mirandola 
(1463—1494). 

Das  quellenmässige  Studium  des  Aristoteles  wurde  in  Italien  durch  Georgiosvon 
Trapezunt  (1396 — 14^;  Comparatio  Piatonis  et  Aristotelis,  Venedig  1523)  und  Theodoros 
Gaza  (gest.  1478),  in  Holland  und  Deutschland  durch  Rudolf  Agricola  (1442 — 1485),  in 
Frankreich  durch  Jacques  Lefövre  (Faber  Stapulensis,  1455 — 1537)  befördert. 

Die  Aristoteliker  der  B^enaissance  zerfallen  (abgeselien  von  der  kirchlich-scholastischen 
Richtung)  in  die  beiden  Parteien  der  Ave rr eisten  und  der  Alexandristen.  Die  Uni- 
versität Padua  war,  als  der  Hauptsitz  des  Averroismus,  auch  der  Ort  der  lebhaftesten  Streitig- 
keiten zwischen  beiden. 

Als  Vertreter  des  Averroismus  sind  Nicoletto  Vernias  (gest.  1499),  besonders 
der  Bolo^eser  Alexander  Achillini  (gest.  1518;  Werke  Venedig  1545),  femer  Au- 
gostinoNifo  (1473 — 1546,  Hauptschrifl  De  intellectu  et  daemonibus;  Opuscula  Paris  1654) 
und  der  Neapolitaner  Zimara(gest.  1532)  zu  erwähnen. 

Zu  den  Alexandristen  zählen  Ermolao  Barbaro  (Venetianer,  1454 — 1493;  Com- 
pendium  scientiae  naturalis  ex  Aristo  tele,  Ven.  1547),  ferner  der  bedeutendste  Aristoteliker 
der  Renaissance  Pietro  Poroponazzi  (1462  in  Mantua  geb.,  1524  in  Bologna  gestorben. 
Seine  wichtigsten  Schriften  sind:  De  immortalitate  animae  mit  dem  Defensorium  g^enNiphus, 
De  fato  libero  arbitrio  praedestinatione  Providentia  dei  libri  quinque;  vgl.  L.  Ferri,  la  psico- 
logia  di  P.  P.,  Rom  1877)  und  seine  Schüler  Gasparo  Contarini  (gest.  1542),  Simon 
Porta  (gest.  1555)  und  Julius  Caesar  Scaliger  (1484 — 1558). 

Bei  den  späteren  Aristotelikem  Jacopo  Zabarella  (1532 — 1589),  Andreas  Cae- 
salpinus  (1519 — 1603),  Cesare  Cremonini  (1552—1631)  u.  A.  erscheinen  jene  Gegensätze 
mehr  ausgeglichen. 

Von  Erneuerungen  andrer  griechischer  Philosophien  sind  besonders  zu  nennen : 

JoestLips  (1547 — 1606),  Manuductio  ad  Stoicam  philosophiam  (Antwerpen  1604) 
und  andre  Schriften;  und  Caspar  Schoppe,  Elementa  Stoicae  philosophiae  moralis  (Mainz 
1606),  femer 

Dav.  Sennert  (1572— 1637)  Physica  (Wittenberg  1618),  Sebastian  Basso  (Philosophia 
naturalis  adversus  Aristotelem,  Genf  1621)  und  Johannes  Magnenus,  Democritus  revivis- 
cens  (Pavia  1646), 

Claude  de  Berigard  als  Erneuerer  der  ionischen  Naturphilosophie  in  seinen  Cerculi 
Pisani  (üdine  1648ff.), 

Pierre  Gassend  (1592 — 1655)  De  vita  moribus  et  doctrina  Epicuri  (Leyden  1647), 
endlich 

Emanuel  Maignanus  (1601 — 1671),  dessen  Cursus  philoaophicus  (Toulouse  1652) 
empedokleische  Lehren  vertritt. 

Im  Sinne  des  antiken  Skepti eis mus  schrieben:  Michel  de  Montaigne  (1533 — 
1592;  Essais,  Bordeaux  1580,  neue  Ausgaben  Paris  1865  und  Bordeaux  1870),  Franko is 
San  che z  (1562 — 1632;  ein  in  Toulouse  lehrender  Portugiese,  Verfasser  des  Tractatus  de 
multum  nobili  et  prima  universal!  seien tia  quod  nihil  scitur,  Lyon  1581;  vgl.  L.  Gerkrath,  F.  S., 
Wien  1860),  Pierre  Charron  (1541 — 1603;  De  la  sagesse,  Bordeaux  l&l);  später  Francis 
de  la  Motte  le  Vayer  (1586—1672,  Cinq  dialogues.  Mens  1673),  Samuel  Sorbiöre  (1615— 
1670,  üebersetzer  des  Scxtus  Empiricus)  und  Simon  F  euch  er  (1644 — 1696,  Verf.  einer  Ge- 
schichte der  akademischen  Skeptiker,  Paris  1690).  — 

Die  schärfste  Polemik  gegen  die  Scholastik  ging  von  denjenigen  Humanisten  aus,  welche 
ihr  die  römische  eclectischePopularphilosophie  des  gesunden  Menschenverstandes  in 
geschmackvoller  Formund  möglichst  im  rhetorischen  Gewände  entgegen  stellten.  Auch 
hier  ist  Agricola  mit  seiner  Schrift  De  inventione  dialectica  (1480)  zu  nennen,  vor  ihm  Lau- 
rentius  Valla  (1408 — 1457 ;I)ialecticaedi8putatione8 contra  Aristoteleos,  Ven.  1499),  Ludo- 
vi  CO  Vives  (geb.  zu  Valencia  1492,  gest.  1546  zu  Brügge;  De  disciplinis,  Brügge  1531,  ges. 
Werke',  Basel  1555;  vgl.  A.  Lange  in  Schmidt's  Encyclopädie  der  Pädagogik  Bd.  fe), 
Marius  Nizolius  (1498 — 1576;  De  veris  principiis  et  vera  ratione  philosophandi,  Parma 
1553),  endlich  Pierre  de  laRamce  (Petrus  Ramus,  1515 — 1572,  Institutiones  dialectioae, 
Paris  1543;  vgl.  Ch.  Waddington,  Paris  1849  und  1855). 

Die  Tradition  der  thomistischen  Scholastik  hielt  sich  am  kräftigsten  an  den 
spanischen  Universitäten.  Unter  ihren  Vertretern  ragt  Franz  Suarez  (aus  Granada, 
1548—1617;  Disputationes  metaphysicae  1605,  ges.  Werice,  26  Bde.  Paris  1856—66;  vgl. 
K.  AVicBNER,  S.  und  die  Scholastik  der  letzten  Jahrhunderte,  Regensburg  1861)  hervor;  da« 


1.  Hmnanistische  Periode.  281 

« 

neben  ist  das  Sammelwerk  der  Jesuiten  von  Coimbra,  das  sog.  Collegium  Gonembricense  zu 
erwähnen. 

Der  Protestantismus  stand  von  vornherein  der  humanistischen  Bewegung  näher. 
Besonders  in  Deutschland  gingen  beide  vielfach  Hand  in  Hand :  vgL  K.  Haoen,  Deutschlands 
litterarische  und  religiöse  Verhältnisse  im  Reformationszeitalter,  3  Bde.,  Frankfurt  1868. 

An  den  protestantischen  Universitäten  wurde  der  Aristotelismus  hauptsächlich  durch 
Philipp  Melanchthon  eingeführt.  In  der  Ausgabe  seiner  Werke  von  BRETSCHNEiDEa  und 
Bindseil  bilden  die  philosophischen  Werke  den  13.  und  16.  Bd.,  darunter  hauptsächlich  die 
Lehrbücher  der  Logik  (Dialectik)  und  Ethik.  Vgl.  A.  Bichtbr,  M.^s  Verdienste  um  den 
philosophischen  Unterricht  (Leipzig  1870).  K.  Hartfelder,  M.  als  Praeceptor  Germaniae 
(BerHn  1889). 

Luther  selbst  stand  dem  Augustinismus  sehr  viel  näher  (v^l.  Ohr.  Weisse,  Die 
Christologie  Luther's,  Leipzig  1852):  noch  mehr  war  dies  bei  Calvin  der  Fall,  während 
Zwingli  der  zeitgenössischen  Philosophie,  namentlich  dem  italienischen  Neuplatonismus 
freundlicher  gesinnt  war.  Doch  liegt  die  wissenschaftliche  Bedeutung  aller  drei  grossen 
Reformatoren  so  ausschliesslich  auf  dem  theologischen  Gebiet,  dass  sie  hier  nur  als  wesentliche 
Momente  der  allgemeinen  Geistesbewegung  im  16.  Jahrhundert  zu  erwähnen  sind. 

Der  protestantische  Aristotelismus  fand  seine  Gegner  in  Nicolaus  Taurellus  (1547 
— 1606,  Professor  in  Basel  und  Altorf;  Philosophiae  triumphus,  Basel  1573,  Alpes  caesae, 
Frankfurt  1597 ;  vgl.  F.  X.  Schmidt-Schwarzenbero  N.  T.,  Der  erste  deutsche  Philosoph,  Er- 
langen 1864),  femer  in  dem  Socinianismus,  welchen  Lelio  Sozzini  (1525 — 1562,  aus 
Siena)  und  sein  Neffe  Fausto  (1539 — 1604)  begründeten  (vgl.  A.  FooK,  Der  Socinianismus, 
Kiel  1847,  und  den  Artikel  S.  von  Herzoo  in  dessen  theoL  Encycl.  2.  Aufl.  XIV,  377 ff.),  be- 
sonders aber  in  der  Volksbewegung  der  Mystik.  Unter  deren  Vertretern  ragen  hervor: 
Andreas  Osiander  (1498— 1552),  Caspar  Schwenckfeld  (1490— 1561),  Sebastian 
Franok  (1500 — 1545;  vgl.  K.  Hagen,  a.  a.  0.  in  cap.  5)  und  besonders  Valentin  Weigel 
(1553—1588;  Libellus  de  vita  beata  1606,  Der  guldne  Griff  1613,  Vom  Ort  der  Welt  1613, 
Didog^s  de  Christianismo  1614,  TvÄä-t  oaitov  1615;  vgl.  J.  0.  Opel,  V.  W.  Leipzig  1864). 

Die  naturphilosophische  Tendenz  tritt  im  Anschluss  an  Nie.  Cusanus  stärker 
hervor  bei  Charles  Bouille  (ßovillus,  1470 — 1553;  De  intellectu  und  De  sensibus;  De  sa- 
pientia.  Vgl.  J.  Ddppel,  Versuch  einer  System.  Darstellung  der  Fhilos.  des  C.  B.,  Würzburg 
1862)  und  Girolamo  Oardano  (1501 — 1576,  De  vitapropria.  De  varietate  rerum.  De  subtili- 
tate;  ges.  Werke,  Lyon  1663).  Vgl.  hierzu  und  zum  Folgenden:  Bixnbb  und  Siber,  Leben  und 
Lehrmeinungen  berühmter  JPhysiker  im  16.  und  17.  Jahrhundert,  7  Hefte,  Sulzbach  1819  ff. 

Die  glänzendste  Erscheinung  unter  den  italienischen  Naturphilosophen  istGiordano 
Bruno  aus  Nola  in  Campanien.  1548  geboren  und  in  Neapel  erzogen,  fand  er  bei  dem 
Dominikanerorden,  in  den  er  getreten  war,  solche  Beargwöhnnng,  dass  er  entfloh  und  von  da 
an  ein  unstetes  Leben  führte.  Er  ging  über  Born  und  Oberitalien  nach  Genf,  Lyon,  Toulouse, 
hielt  Vorlesungen  in  Paris  und  Oxford,  dann  in  Wittenberg  und  Helmstädt,  berührte  auch 
Marburg,  Frag,  Frankfurt  und  Zürich  und  verfiel  schliesslich  in  Venedig  dem  Schicksal,  durch 
Verrath  in  die  Hände  der  Inquisition  zu  kommen,  nach  Bom  ausgeliefert  und  dort  nach  jahre- 
langer Haft  wegen  standhafter  Verweigerung  des  Widerrufs  1600  verbrannt  zu  werden.  Seine 
lateinischen  Werke  (3  Bde.  Neapel  1880 — 1891)  betreffen  theils  die  Lullische  Kunst  (bes.  De 
imaginum  signorum  et  idearum  compositione),  theils  sind  es  Lehrgedichte  oder  metaphysische 
Schriften  (De  monade  numero  et  flgura;  De  triplici  minimo):  die  italienischen  Schriften 
(hrsg.  von  A.  Wagner,  Leipzig  1829;  neue  Ausgabe  von  F.  de  Laoardb,  2.  Bd.  Göttingen  1888) 
sind  einerseits  satirische  Dichtimgen  (D  candel^jo,  La  cena  delle  cineri,  Spaccio  della  bestia 
trionfante,  deutsch  von  Kühlenbeck,  Leipzig  1 890,  Cabala  del  cavallo  Pe^seo)  andrerseits 
die  vollkommensten  Darstellungen  seiner  Lehre:  Dialoghi  della  causa  principio  ed  uno,  deutsch 
von  Lasson,  Berlin  1872;  Degli  eroici  furori;  Dell'  infinite,  universo  e  dei  mondi.  Vgl.  Bab- 
THOLM^ss,  G.  B.,  Paris  1816 f.;  Dom.  Berti,  Vita  di  G.  B.,  Turin  1867  und  Documenti intomo 
a  G.  B.;  Turin  1880;  Chr.  Sigwart  in  „Kleine  Schriften"  I,  Freiburg  1889;  H.  Brunnhofer, 
G.  B.*s  Weltanschauung  und  Verhängniss,  Leipzig  1882. 

Eine  andere  Richtung  vertreten  BernardinoTelesio  (1508 — 1588;  De  rerum  natura 
iuxta  propria  principia,  Bom  1565  und  Neapel  1586:  über  ihn  F.  Fiorentino,  Florenz  1872 
und  74;  L.  Ferri,  Turin  1873)  und  sein  bedeutenderer  Nachfolger  Tommaso  Campanella. 
1568  in  Stilo  (Calabrien)  geboren,  früh  Dominikaner  geworden,  nach  vielen  Verfolgungen  und 
lan^ähriger  Gefangenschaft  nach  Frankreich  gerettet,  wo  er  mit  dem  cartesianischen  Freundes- 
kreise verkehrte,  starb  er  in  Paris  1639,  ehe  die  Gesammtausgabe  seiner  Schriften,  welche 
Instauratio  scientiarum  heissen  sollte,  vollendet  war.  Eine  neuere  Ausgabe  mit  biographi- 
scher Einleitung  von  d*Ancona  ist  Turin  1854  erschienen.  Von  den  sehr  zahlreichen  Schriften 
seien  erwähnt:  Frodromus  philosophiae  instaurandae,  1617;  Bealis  philosophiae  partes  quatuor 
(mit  dem  Anhang  Givitas  Solis),  1623;  De  monarchia  hispanica,  1625;  Philosophiae  rationalis 
partes  quinqne,  1638;  Universalis  philosophiae  seu  metaphysicarum  rerum  iuxta  propria  prin- 


282  IV.  Philosophie  der  Renaissance.   1.  Humanistische  Periode. 

cipia  partes  tres,  1638.  Ygl.  Baldachini,  Yita  e  filosofia  diT.  0.,  Neapel  1840  und  43;  Dom. 
Berti,  Nuovi  documenti  (u  T.  C,  Eom  1881. 

Theosophisch-magische  Lehren  finden  sich  bei  Johannes  Beuchlin  (1455 — 1522; 
De  verbo  minfico,  De  arte  cabbalistica),  Agrippa  von  Nettesheim  (1487 — 1535;  De 
occulta  philosophia;  De  incerütudine  et  vanitate  scientiarum)  Francesco  Zorzi  (1460 — 
1540,  De  harmonia  mundi,  Paris  1549). 

Bedeutender  und  selbständiger  ist  Theophrastus  Bombastus  Paracelsus  von  Höhen- 
heim (1493  zu  Einsiedeln  geb.,  abenteuernden  Lebens,  Professor  der  Chemie  in  Basel,  1541  in 
Salzburg  gestorben).  Unter  seinen  Werken  (Ausgabe  von  Huser,  Strassburg  1616 — 18)  sind 
das  Opus  paramirum,  Die  grosse  Wundarznei  und  De  natura  rerum  hervorzuheben.  Vgl. 
B.  EüCKEN,  Beiträge  zur  Gesch.  der  neueren  Philos.,  Heidelberg  1886.  —  Von  seinen  zahl- 
reichen Schülern  treten  Johann  Baptist  vanHelmont  (1577 — 1644;  deutsche  Ausgabe 
seiner  Werke  1683)  und  dessen  Sohn  Franz  Mercurius,  femer  Eobert  Fludd  (1574 — 1637, 
Philosophia  Mosaica,  Guda  1638)  u.  A.  hervor. 

Den  merkwürdigsten  Niederschlag  dieser  Bewegungen  bildet  die  Lehre  von  Jacob 
Boehme.  Er  war  1575  in  der  Nähe  von  Görlitz  geboren,  sog  auf  der  Wanderschaft  allerlei 
Gedanken  ein  und  verarbeitete  sie  still  in  sich.  Als  Schuhmachermeister  in  Görlitz  nieder- 
gelassen, trat  er  1610  mit  seiner  Hauptschrift  „Aurora"  hervor,  der  später,  nachdem  er  zeit- 
weilig zum  Schweigen  gezwungen  worden  war,  noch  viele  andere  folgten,  darunter  besonders 
„Vierzig  Fragen  von  der  Seele**  (1620),  Mysterium  magnum  (1623),  „Von  der  Gnadenwahl** 
(1623).  Er  starb  1624.  Ges.  Werke,  hrsg.  von  Sghibbler,  Leipzig  1862.  Vgl.  H.  A.  Fechner, 
J.  B.,  sein  Leben  und  seine  Schriften,  Görlitz  1853;  A.  Pbip,  J.  B.,  der  deutsche  Philosoph, 
Leipzig  1860. 

§  28.  Der  Kampf  der  Traditionen. 

Die  unmittelbare  Anlehnung  an  die  griechische  Philosophie,  welche  in  der 
Renaissance  herrschend  wurde,  ist  im  Mittelalter  nicht  ganz  ohne  Vorgang,  und 
wenn  mit  der  humanistischen  Bewegung  ein  steigendes  Interesse  für  die  Natur- 
erkenntniss  Hand  in  Hand  ging,  so  sind  Männer  wie  Bernhard  von  Chartres  und 
Wilhelm  von  Conches  (vgl.  S.  239)  typische  Vorbilder  dafür.  Merkwürdig  und 
für  das  wechselnde  Geschick  der  üeberlieferungen  charakteristisch  ist  es,  dass 
jetzt  wie  damals  die  Verbindung  zwischen  Humanismus  und  Naturphilosophie 
sich  an  Piaton  knüpft  und  im  Gegensatze  zu  Aristoteles  steht. 

1.  In  der  That  erwies  sich  die  Erneuerung  der  antiken  Litteratur  zunächst 
als  eine  Stärkung  des  Piatonismus.  Die  humanistische  Bewegung  war  seit  den 
Tagen  von  Dante,  Petrarca  und  Boccaccio  in  Fluss  und  stammte  aus  dem  In- 
teresse für  die  römische  Profanlitteratui',  die  mit  dem  Erwachen  des  italienischen 
Nationalbewusstseins  eng  zusammenhing :  aber  zum  siegreichen  Anschwellen  ver- 
half dieser  Strömung  erst  der  äussere  Anstoss,  der  von  der  Uebersiedlung  der 
byzantinischen  Gelehrten  nach  Italien  ausging.  Unter  diesen  waren  nun  Aristo- 
teliker  von  gleicher  Zahl  und  Bedeutung  wie  Platoniker;  aber  die  letzteren 
brachten  das  verhältnissmässig  Unbekanntere  und  deshalb  Eindrucksvollere. 
Dazu  kam,  dass  Aristoteles  im  Abendlande  als  der  mit  der  Kirchenlehre  ein- 
stimmige Philosoph  angesehen  wurde  und  dass  somit  die  Opposition,  welche  nach 
Neuem  verlangte,  bei  Piaton  ungleich  mehr  ihre  Rechnung  zu  finden  hoffte; 
dazu  kam  weiter  der  ästhetische  Zauber,  der  von  den  Schriften  des  grossen 
Atheners  ausgeht  und  den  keine  Zeit  lebhafter  zu  empfinden  wusste  als  diese. 
So  berauschte  sich  zunächst  Italien  in  einer  Begeisterung  für  Piaton,  die  der- 
jenigen des  ausgehenden  Alterthums  gleich  kam.  Wie  zum  directen  Anschluss 
daran  sollte  in  Florenz  die  Akademie  wieder  aufleben,  und  unter  dem  Schutze 
der  Mediceer  entfaltete  sich  hier  wirklich  ein  reiches  wissenschaftliches  Treiben, 
worin  den  Führern  wie  Gemistos  Plethon  und  Bessarion  nicht  geringere  Ehr- 
furcht gezoUt  wurde  als  einst  den  Scholarchen  des  Neuplatonismus. 


§  28.  Kampf  der  Traditionen.  (Platoniker  and  Aristoteliker.)  283 

Aber  die  Verwandtschaft  mit  diesem  ging  tiefer :  die  byzantinische  Tradition^ 
in  der  man  die  platonische  Lehre  empfing;  war  die  neuplatonische.  Was  damals 
in  Florenz  als  Piatonismus  gelehrt  wurde^  war  in  Wahrheit  Neuplatonismus. 
Marsilio  Ficino  übersetzte  Plotin  ebenso  wie  Platon^  und  seine  „platonische 
Theologie^  unterschied  sich  nicht  viel  von  derjenigen  des  Proklos.  Ebenso  ist 
die  phantastische  Naturphilosophie  von  Patrizzi  ihren  begrifflichen  Grundlagen 
nach  nichts  Anderes  als  das  neuplatonische  Emanationssystem :  aber  bedeutsam 
ist  eSy  dass  dabei  die  dualistischen  Momente  des  Neuplatonismus  ganz  abgestreift 
und  die  monistische  Tendenz  reiner  und  voller  zum  Austrag  gebracht  wird.  Des- 
halb stellt  der  Neuplatoniker  der  Renaissance  die  Schönheit  des  Universums 
in  den  Vordergrund;  deshalb  ist  ihm  schon  die  Gottheit;  das  Unomnia;  eine 
erhabene  Welteinheit;  welche  die  Vielheit  harmonisch  in  sich  schliesst ;  deshalb 
vermag  er  auch  die  Unendlichkejit  des  Weltalls  in  phantasieberückender  Weise  zu 
verherrlichen. 

2.  Der  pantheistische  Zug;  der  darin  unverkennbar  ist;  genügte;  um  diesen 
Piatonismus  kirchlich  verdächtig  zu  machen  und  damit  den  peripatetischen 
Gegnern  die  wiUkommene  Handhabe  zu  seiner  Bestreitung  zu  geben;  und  zwar 
nutzten  das  nicht  nur  scholastische  Aristoteliker,  sondern  auch  die  übrigen  aus. 
Umgekehrt  freilich  konnten  die  Platoniker  gerade  dem  neuen  humanistischen 
Aristotelismus  seine  naturalistischen  Tendenzen  vorwerfen  und  die  eigene 
Richtung  auf  das  Uebersinnliche  als  dem  Christenthum  verwandt  preisen.  So 
bekämpften  sich  wieder  die  beiden  grossen  Ueberlieferungen  der  griechischen 
Philosophie;  indem  eine  der  anderen  ihre  Unchristlichkeit  vorhielt  ^).  In  diesem 
Sinne  hatte  Plethon  in  der  yö(ia>v  csoYYpafii]  gegen  die  Aristoteliker  polemisirt 
und  dafür  die  Verdanmiung  von  Seiten  des  Patriarchen  Gennadios  in  Con- 
stantinopel  eingetragen;  in  diesem  Sinne  griff  Georg  von  Trapezunt  die  Aka- 
demie aU;  und  in  demselben  antwortete  ihm;  wenn  auch  milder,  Bessarion.  So 
wurde  die  Animosität  zwischen  beiden  Schulen  und  der.  litterarische  Klatsch; 
den  sie  im  Alterthum  erzeugt;  in  die  Renaissance  herübergenommen;  und  ver- 
gebens mahnten  Männer  wie  Leonicus  Thomaeus  in  Padua  (gest.  1633)  zum 
Verständniss  der  tieferen  Einheit;  welche  zwischen  den  beiden  Heroen  der  Philo- 
sophie besteht. 

3.  Dabei  war  unter  den  Aristotelikern  selbst  durchaus  keine  Einheit. 
Die  griechischen  Ausleger  des  Stagiriten  un4  ihre  Anhänger  sahen  auf  die  Aver- 
roisten  ebenso  verächtUch  herab,  wie  auf  die  Thomisten.  Beide  galten  ihnen 
gleichmässig  als  Barbaren ;  sie  selbst  aber  waren  zum  grössten  Theil  in  der  dem 
Stratonismus  nahestehenden  Auffassung  des  Meisters  befangen;  welche  unter 
den  Commentatoren  am  besten  durch  Alexander  von  Aphrodisias  vertreten 
war.  Auch  hier  stand  also  eine  überlieferte  Ansicht  gegen  die  andere.  Besonders 
hart  stiess  man  in  Padua  auf  einander,  wo  die  Aver reisten  ihre  Hochburg 
durch  die  erfolgreiche  Lehrthätigkeit  des  Pomponatius  bedroht  sahen.  Den 
Hauptstreitpunkt  bildete  das  Problem  der  Unsterblichkeit.  Eine  volle  individuelle 


1)  Gkinz  dasselbe  Yerhältniss  wiederholt  sich  bei  den  verschiedenen  Gruppen  der 
Aristoteliker,  von  denen  jede  als  rechtgläubig  gelten  wollte,  —  sei  es  auch  um  den  Preis  der 
«zweifachen  Wahrheit".  Damit  waren  namentlich  die  Averroisten  bei  der  Hand,  und  so  konnte 
es  kommen,  dass  einer  derselben,  Nifo,  sich  vom  Pabst  mit  der  AViderlegung  von  Pomponazzi's 
Unsterblichkeitslehre  betrauen  liess.  Freilich  deckte  sich  auch  dieser  mit  demselben  Schilde. 


284  ^*  Philosophie  der  Renaissance.  1.  Humanistische  Periode. 

Unsterblichkeit  liessen  zwax  beide  Parteien  nicht  zu.  Aber  der  Averroismus 
glaubte  wenigstens  in  der  Einheit  des  Intellects  einen  Ersatz  dafür  zu  besitzen; 
während  die  Alexandristen  auch  den  vernünftigen  Theil  der  Seele  an  die  ani- 
maUschen  Bedingungen  geknüpft  und  mit  diesen  vergänglich  erachteten.  Im 
Zusammenhange  damit  standen  die  Discussionen  über  die  Theodicee,  über  Vor- 
sehung, Schicksal  und  Willensfreiheit,  Wunder  und  Zeichen,  in  denen  Pompo- 
nazzi  sich  vielfach  stark  zu  der  stoischen  Lehre  neigte. 

Im  Laufe  der  Zeit  wurde  auch  diese  Abhängigkeit  von  den  Commentatoren 
und  ihren  Gegensätzen  abgestreift  und  eine  reine,  unmittelbare  AufiTassung  des 
Aristoteles  angebahnt.  Am  besten  ist  dies  bei  Caesalpinus  gelungen,  der  sich 
selbst  vollständig  zu  Aristoteles  bekannte.  Ein  ebenso  richtiges  Yerständniss 
des  peripatetischen  Systems  haben  von  philologischem  Standpunkte  her  auch 
die  deutschen  Humanisten  gewonnen,  in  ihrer  eigenen  Lehre  aber  nach  dem 
Vorgänge  Melanchthon's  dasselbe  nur  soweit  angenommen,  wie  es  mit  der  pro- 
testantischen Dogmatik  übereinstimmte. 

4.  In  allen  diesen  Fällen  führte  die  Aufnahme  der  griechischen  Philosophie 
zu  einem  sachUchen  Gegensatze  gegen  die  Scholastik:  eine  andere  Richtung  des 
Humanismus,  die  der  römischen  Litteratur  naher  stand,  neigte  zu  einer  vorwiegend 
formalen  Oppositioiir,  für  welche  als  mittelalterhcher  Vorläufer  Johannes  von 
Salisbury  gelten  darf.  Der  Geschmack  der  Humanisten  empörte  sich  gegen  die 
barbarische  Aussenseite  der  mittelalterlichen  Litteratur:  an  die  glatte  Feinheit 
und  durchsichtige  AnschauUchkeit  der  antiken  Schriftsteller  gewöhnt,  vermochten 
sie  den  charaktervollen  Kern,  der  hinter  der  rauhen  Schale  in  der  scholastischen 
Terminologie  steckt,  nicht  zu  würdigen;  die  wesentUch  ästhetisch  gestimmten 
Geister  der  Renaissance  hatten  keinen  Sinn  mehr  für  das  abstracto  Wesen  jener 
Begriffswissenschaft.  So  eröffnen  sie  denn  auf  allen  Linien  mit  den  Waffen  des 
Ernstes  und  des  Spottes  den  Kampf:  statt  der  Begriffe  verlangen  sie  die 
Sachen,  statt  der  künstUchen  Wortbildungen  die  Sprache  der  gebildeten  Welt, 
statt  der  spitzfindigen  Beweise  und  Distinctionen  eine  geschmackvolle,  zu  Phan- 
tasie und  Gemüth  des  lebendigen  Menschen  sprechende  Darstellung. 

Laurentius  Valla  war  der  Erste,  der  diesen  Ruf  erschallen  liess.  Agri- 
cola  nahm  ihn  in  munterem  Streite  auf,  und  auch  Erasmus  stimmte  ein.  Die 
Vorbilder  dieser  Männer  waren  Cicero  und  Quintilian,  und  wenn  nun  an  deren 
Hand  die  Methode  der  Philosophie  geändert  werden  sollte,  so  wurde  die  scho- 
lastische Dialectik  verdrängt,  und  an  ihre  Stelle  schoben  sich  die  Principien  der 
Rhetorik  und  der  Grammatik  ein.  Die  wahre  Dialectik  ist  die  Wissenschaft  von 
der  Rede  ^).  Die  „aristotelische"  Logik  bildet  daher  den  Gegenstand  heftigster 
Polemik;  die  Syllogistik  soll  vereinfacht  und  aus  der  beherrschenden  Stellung 
vertrieben  werden.  Der  Syllogismus  ist  unfähig  Neues  zu  ergeben,  er  ist  eine 
unfruchtbare  Denkform :  das  haben  später  Bruno,  Bacon  und  Descartes  ebenso 
stark  betont  wie  diese  Humanisten. 

Je  enger  aber  die  Herrschaft  des  Syllogismus  mit  dem  dialectischen  „Rea- 
lismus'* zusammenhing,  um  so  mehr  verbanden  sich  mit  der  humanistischen  Oppo- 
sition nominaUstische  und  terministische  Motive.  Das  zeigt  sich  bei  Vives 
undNizolius.    Sie  eifern  gegen  die  Herrschaft  der  allgemeinen  Begriffe;  in 


1)  Petr.  Ramus,  Dialect.  instit.  im  Anfang. 


§  28.  Kampf  der  Traditionen.  (Ramus.)  285 

ihr  besteht  nach  Vives  der  wahre  Grund  fiir  die  mittelalterliche  Verderbniss 
der  Wissenschaften.  Die  Universalien,  lehrt  Nizolius  *),  sind  Collectivnamen, 
welche  durch  „Comprehension",  nicht  durch  Abstraction  entstehen ;  das  Wirk- 
liche sind  die  Einzeldinge  mit  ihren  Qualitäten.  Diese  gilt  es  aufzufassen,  und* 
die  secundäre  Thätigkeit  des  vergleichenden  Verstandes  ist  so  einfach  und  un- 
gekünstelt wie  möglich  auszuführen.  Aus  der  Logik  müssen  daher  alle  meta- 
physischen Voraussetzungen,  die  in  der  bisherigen  Dialectik  eine  so  grosse 
Schwierigkeit  bereiten,  verbannt  werden.  Der  Empirismus  kann  nur  eine  rein 
formale  Logik  brauchen. 

Die  „natürliche"  Dialectik  aber  suchte  man  bei  der  Rhetorik  und  Gram- 
matik. Denn  sie  soll,  meinte  Ramus,  uns  nur  lehren  bei  unserem  willkürlichen 
Denken  denselben  Gesetzen  zu  folgen,  die  nach  der  Natur  der  Vernunft  auch 
unser  unwillkürliches  Denken  beherrschen  und  sich  im  richtigen  Ausdruck  des- 
selben von  selbst  darstellen.  Bei  allem  Nachdenken  aber  handelt  es  sich  darum, 
den  für  die  Frage  bestimmenden  Gesichtspunkt  aufzufinden  und  diesen  alsdann 
richtig  auf  den  Gegenstand  anzuwenden.  Hiemach  theilt  Ramus,  einer  Be- 
merkung von  Vives  *)  folgend,  seine  neue  Dialectik  in  die  Lehren  von  der  Inventio 
und  vom  Judicium  ein.  Der  erste  Theil  ist  eine  Art  von  allgemeiner  Logik, 
welche  doch  nicht  umhin  kann,  in  der  Form  der  „loci"  wiederum  die  Kategorien, 
wie  Causalität,  Inhärenz,  Gattung  etc.  einzufuhren,  und  mit  deren  systemloser 
Aufzählung  der  naiven  Metaphysik  der  gewöhnlichen  Weltvorstellung  verfallt. 
Die  Lehre  von  der  Urtheilskraft  entwickelt  Ramus  in  drei  Stufen:  die  erste 
ist  die  einfache  Entscheidung  der  Frage  durch  Subsumtion  des  Gegenstandes 
unter  den  gefundenen  Gesichtspunkt;  hier  habe  die  Syllogistik,  die  sich  da- 
nach sehr  reduciren  soll,  ihre  Stelle.  In  zweiter  Linie  soll  die  Urtheilskraft 
zusammengehörige  Erkenntnisse  durch  Definitionen  und  Divisionen  zu  einem 
systematischen  Ganzen  vereinigen:  ihre  höchste  Aufgabe  aber  erfiillt  sie  erst 
damit,  dass  sie  alles  Wissen  auf  Gott  bezieht  und  in  ihm  begründet  findet.  So 
gipfelt  die  natürliche  Dialectik  in  Theosophie'). 

So  wenig  tief  und  eigentlich  originell  dieser  Rhetoricismus  war,  so  erregte 
er  doch  in  jener  nach  Neuem  begierigen  Zeit  grosses  Aufsehen.  NamentUch 
in  Deutschland  lagen  Ramisten  und  Antiramisten  in  heftigem  Streit;  unter  den 
Freunden  der  Lehre  ist  besonders  Johannes  Sturm*)  hervorzuheben,  der 
typische  Pädagoge  des  Humanismus,  welcher  der  Erziehung  die  Aufgabe  stellte, 
den  Schüler  dahin  zu  bringen,  dass  er  die  Sachen  kenne  und  über  dieselben 
nach  richtigen  Gesichtspunkten  zu  urtheilen  und  in  gebildeter  Form  zu 
sprechen  wisse. 

5.  Charakteristisch  ist  für  diese  Richtung  das  kühle  Verhältniss  zur  Meta- 
physik :  sie  beweist  eben  damit  ihre  Abstammung  aus  der  römischen  Popular- 
philosophie.  Cicero,  an  den  sie  sich  namentlich  anschloss,  wirkte  besonders 
vermöge  seines  akademischen  Skepticismus  oder  ProbabiUsmus.  Der  Ueber- 
druss  an  begriffichen  Erörterungen  entfremdete  einen  beträchtlichen  Theil  der 
Humanisten  auch  den  grossen  Systemen  des  Alterthums.  Die  Ausbreitung  des 

1)  Mar.  Nizolius,  De  ver.  princ.  I,  4 — 7;  III,  7.  —  2)  Lud.  Vives,  De  causis  corr.  art. 
(erster  TheÜ  von  De  disciplinis)  ni,5.  —  3)  Vfjl.  P.  Lobstkin,  P.  R.  als  Theologe,  Strass- 
burg  1878.  —  4)  Vgl.  E.  Laas,  Die  l^dagogik  des  J.  St.  kritisch  und  historisch  beleuchtet 
(Berlin  1872). 


286  rV.  Philosophie  der  Renaissance.  1.  Humanistische  Periode. 

religiösen  Unglaubens  oder  IndüFerentismus  kam  hinzu,  um  in  vielen  Kreisen 
den  Skepticismus  als  die  rechte  Stimmung  des  gebildeten  Mannes  erscheinen 
zu  lassen.  Der  Beiz  des  äusseren  Lebens,  der  Glanz  verfeinerter  Cultur  thaten 
das  Uebrige,  um  Gleichgiltigkeit  gegen  philosophische  Grübeleien  heranzuziehen. 

Diesen  weltmännischen  Skepticismus  hat  Montaigne  auf  den  vollendeten 
Ausdruck  gebracht.  Mit  der  spielenden  Feinheit  eines  grossen  Schriftstellers 
hat  er  damit  der  französischen  Litteratur  einen  Grundton  gegeben,  der  ihr 
wesentlich  geblieben  ist.  Aber  auch  diese  Bewegung  läuft  im  antiken  Geleise. 
Was  von  philosophischen  Gedanken  in  die  „Essays"  eingesprengt  ist,  stammt 
aus  dem  Fyrrhonismus.  Damit  wird  ein  lange  fallen  gelassener  Faden  der 
Tradition  wieder  aufgenommen.  Die  Relativität  theoretischer  Meinungen  und 
sittlicher  Ansichten,  die  Täuschungen  der  Sinne,  die  Kluft  zwischen  Subject 
und  Object,  die  stetige  Veränderung,  worin  beide  begriffen  sind,  die  Abhängig- 
keit aller  Verstandesarbeit  von  so  zweifelhaften  Daten,  —  alle  diese  Argumente 
der  antiken  Skepsis  begegnen  uns  hier ;  aber  nicht  in  systematischer  Ausbildung, 
sondern  viel  eindrucksvoller  gelegentlich  bei  der  Besprechung  einzelner  Fragen. 

Schulmässiger  wurde  der  Fyrrhonismus  gleichzeitig  von  Sanchez  erneuert, 
auch  von  ihm  jedoch  in  lebhafter  Form  und  nicht  ohne  Hoffnung,  dass  dem 
Menschen  doch  einmal  eine  sicherere  Einsicht  beschieden  sein  könne.  Er  be- 
schliesst,  wie  die  einzelnen  Kapitel,  so  das  Ganze  „Nescis?  At  ego  nescio. 
Quid?**  Auf  dies  grosse  „Quid?"  hat  er  nun  freilich  keine  Antwort  gegeben, 
und  die  Anleitung  zu  einer  wahren  Erkenntniss  ist  er  schuldig  geblieben.  Aber 
in  welcher  Richtung  er  sie  suchte,  darüber  hat  er  keinen  Zweifel  gelassen.  Es 
ist  dieselbe,  die  Montaigne  ebenfalls  andeutet :  von  dem  "Wortkram  der  Schul- 
weisheit muss  die  Wissenschaft  sich  &ei  machen  und  unmittelbar  die  Sachen 
selbst  befragen.  So  fordert  und  ahnt  Sanchez  ein  neues  Wissen :  aber  er  ist 
nicht  damit  fertig  geworden,  wo  und  wie  es  zu  suchen  sei.  An  manchen  Stellen 
scheint  es,  als  ginge  er  auf  empirische  Naturforschung  aus ;  aber  gerade  hier  ver- 
mag er  nicht  über  die  skeptische  Lehre  von  der  äusseren  Wahrnehmung  fort- 
zukommen :  und  wenn  er  die  grössere  Sicherheit  der  inneren  Erfahrung  anerkennt, 
so  verliert  ihm  diese  wieder  durch  ihre  Unbestimmtheit  den  Werth. 

Fester  schon  tritt  Charron  auf,  indem  er  den  praktischen  Zweck  der 
Weisheit  in's  Auge  fasst.  An  der  Möglichkeit  sicheren  theoretischen  Wissens 
verzweifelt  er  wie  seine  beiden  Vorgänger;  in  dieser  Hinsicht  setzen  alle  drei 
die  Autorität  der  Kirche  und  des  Glaubens  ein:  eine  Metaphysik  kann  nur  offen- 
bart sein  ]  die  menschliche  Erkenntnisskraft  reicht  für  sie  nicht  aus.  Um  so 
mehr  genügt  die  letztere,  fahrt  Charron  fort,  zu  derjenigen  Selbsterkenntniss, 
welche  für  das  sitthche  Leben  erforderlich  ist.  Dazu  gehört  vor  Allem  die 
Demuth  des  Skeptikers,  der  sich  selbst  keine  wahre  Erkenntniss  zutraut,  und  in 
dieser  wurzelt  die  Freiheit  des  Geistes,  womit  er  sein  theoretisches  Urtheil 
überall  zurückhält.  Zweifellos  dagegen  wird  in  dieser  Selbsterkenntniss  das 
ethische  Gebot  der  Rechtschaffenheit  und  der  Pflichterfüllung  erkannt. 

Diese  Ablenkung  auf  das  praktische  Gebiet  war,  dem  allgemeinen  Zuge 
der  Zeit  entsprechend,  nicht  von  Dauer.  Die  späteren  Skeptiker  kehrten  wieder 
die  theoretische  Seite  der  pyrrhonischen  Ueberlieferung  hervor,  und  die  Wirkung, 
welche  sich  daraus  für  die  allgemeine  geistige  Stimmung  ergab,  traf  schliessUch 
doch  am  meisten  die  Sicherheit  der  dogmatischen  Ueberzeugungen. 


§  28.  Kampf  der  Traditionen.  (Katholicismus  und  Protestantismus.)  287 

6«  Der  so  mächtig  hereinbrechenden  Gedankemnassen  vermochte  die 
Kirchenlehre  nicht  mehr  in  der  "Weise  Herr  zu  werden,  wie  es  mit  der 
arabisch-aristotelischen  Invasion  gelungen  war:  dazu  war  einerseits  diese  neue 
Ideenwelt  zu  mannigfaltig  und  zu  gegensätzlich,  andrerseits  aber  die  eigene 
Assimilationskraft  des  Dogmas  zu  erschöpft.  Die  römische  Kirche  beschränkte 
sich  deshalb  auf  die  Yertheidigung  mit  allen  Mitteln  ihrer  geistigen  und  äusseren 
Macht;  und  war  nur  darauf  bedacht,  ihre  eigene  Ueberlieferung  so  sicher  wie 
mögUch  in  sich  zu  befestigen.  In  dieser  veränderten  Form  lösten  jetzt  die 
Jesuiten  dieselbe  Aufgabe,  welche  im  13.  Jahrhundert  den  Bettelorden  zugefallen 
war.  Mit  ihrer  Hälfe  wurde  auf  dem  Concil  zu  Trient  (1563)  der  Abschluss 
des  Kirchendogmas  gegen  alle  Neuerungen  festgesetzt,  und  für  die  philosophische 
Lehre  im  Wesentlichen  der  Thomismus  als  massgebend  erklärt.  Es  konnte 
sich  also  für  die  Folge  nicht  mehr  um  principielle  Aenderungen,  sondern  nur 
noch  um  geschicktere  Darstellungen  und  gelegentliche  Einfügungen  handeln. 
Auf  diese  Weise  schloss  sich  die  Kirche  von  der  frischen  Bewegung  der  Zeit 
aus,  und  die  von  ihr  abhängige  Philosophie  verfiel  für  die  nächsten  Jahrhunderte 
der  unvermeidlichen  Stagnation.  Auch  die  kurze  Nachblüthe,  welche  die  Scho- 
lastik um  1600  auf  den  Universitäten  der  iberischen  Halbinsel  erlebte^  trug 
keine  eigene  Frucht.  Suarez  war  ein  bedeutender  Schriftsteller^  klar,  scharf- 
sinnig, sicher  und  von  grosser  Fähigkeit  einer  lichtvollen  Disposition  der  Ge- 
danken; auch  übertrieb  er  in  der  sprachlichen  Form  die  meisten  älteren  Scho- 
lastiker beträchtlich :  aber  in  dem  Inhalte  seiner  Lehre  ist  er  ebenso  durch  die 
Ueberlieferung  gebunden,  wie  dies  bei  dem  grossen  Sammelwerk  der  Jesuiten 
von  Coimbra  sich  von  selbst  versteht. 

Dieser  Form  der  religiösen  Tradition  trat  nun  in  den  protestantischen 
Kirchen  eine  andere  gegenüber.  Auch  hier  nahm  die  Opposition  die  ältere 
Ueberlieferung  für  sich  in  Anspruch  und  lehnte  deren  mittelalterliche  Um- 
bildungen ab.  Die  Reformation  wollte  dem  K^thohcismus  gegenüber  das  ur- 
sprüngUche  Christenthum  erneuern.  Sie  zog  den  Kreis  der  kanonischen  Bücher 
wieder  enger,  sie  erkannte  mit  Ablehnung  der  Yulgata  nur  den  griechischen  Text 
als  massgebend  an,  sie  kehrte  zu  dem  Glaubensbekenntniss  von  Nicaea  zurück. 
Der  Dogmenstreit  des  16.  Jahrhunderts  hat  —  theoretisch  betrachtet  —  zum 
Angelpunkt  die  Frage,  welche  Tradition  des  Chnstenthums  die  bindende  sein  solle. 

Der  theologische  Gegensatz  aber  zog  den  philosophischen  nach  sich,  und 
hier  wiederholte  sich  abermals  ein  Yerhältniss,  das  während  des  Mittelalters  an 
vielen  Punkten  zu  Tage  getreten  war.  In  der  Lehre  Augustinus  fand  das 
religiöse  Bedürfhiss  tiefere,  reichere  Befriedigung  und  unmittelbareren  Ausdruck 
als  in  der  Begrifisarbeit  der  Scholastiker.  Der  Ernst  des  Sündenbewusstseins, 
die  leidenschaftUche  Sehnsucht  nach  Erlösung,  die  ganze  Innigkeit  und  Inner- 
lichkeit des  Glaubens,  —  alles  das  waren  Züge  des  augustinischen  Wesens, 
die  sich  bei  Luther  und  Calvin  wiederfanden.  Aber  nur  des  letzteren  Lehre 
zeigt  den  dauernden  Einfluss  des  grossen  Kirchenvaters:  gerade  dadurch  jedoch 
wurde  wiederum  ein  Antagonismus  von  Thomismus  und  Augustinismus 
geschaffen,  der  sich  namentlich  in  der  französischen  Litteratur  des  17.  Jahr- 
hunderts bestimmend  erweist  (vgl.  §  30  f.).  Für  die  Katholiken  unter  Führung 
des  Jesuitismus  war  Thomas,  für  die  Reformirten  und  die  freieren  Richtungen 
im  Katholicismus  selbst  war  Augustin  die  herrschende  Autorität. 


288  IV.  Philosophie  der  Renaissance.  1.  Humanistische  Periode. 

Der  deutsche  Protestantismus  ging  andere  Wege.  In  der  Ausbildung  des 
lutherischen  Dogmas  trat  der  Eigenart  Luther's  die  Mitwirkung  Melanchthon^s 
und  damit  der  Humanismus  an  die  Seite.  So  wenig  zu  der  gewaltigen  Urkraft 
von  Luther's  glaubenstiefem  Gemüth  das  theoretisch-ästhetische  und  religiös 
indifferente  "Wesen  der  Humanisten  stimmen  mochte  ^),  —  er  musste  sich  doch, 
als  er  seinem  Werke  wissenschaftliche  Form  geben  sollte,  dazu  bequemen,  der 
Philosophie  die  begrif&ichen  Grundlagen  daiür  zu  entlehnen.  Hier  aber  trat 
Melanchthon^s  ausgleichende  Natur  ein,  und  wenn  Luther  den  scholastischen 
Aristotelismus  mit  Leidenschaft  von  sich  gewiesen  hatte,  so  fährte  sein  gelehrter 
Genosse  den  humanistischen  Aristotelismus  als  diePhilosophie  des 
Protestantismus  ein,  auch  hier  die  ältere  Ueberlieferung  der  umgestalteten 
entgegensetzend.  Freilich  musste  dieser  originale  Aristotelismus  an  manchen 
Stellen  durch  die  Schrift  corrigirt  werden,  und  die  Zusammenfägung  der  Lehren 
konnte  nicht  zu  einer  solchen  organischen  Verschmelzung  gedeihen,  wie  sie  durch 
das  langsame  Ausreifen  des  Thomismus  im  Mittelalter  erreicht  worden  war :  aber 
das  peripatetische  System  wurde  diesmal  mehr  nur  als  die  profanwissenschaftliche 
Ergänzung  der  Theologie  behandelt,  und  für  diesen  Zweck  wusste  Melanchthon 
in  seinen  Lehrbüchern  den  Stoff  mit  so  grossem  Geschick  zu  sichten,  zu  ordnen 
und  darzustellen,  dass  sie  die  Grundlage  für  eine  in  der  Hauptsache  einheitliche 
Lehre  auf  den  protestantischen  Universitäten  für  zwei  Jahrhunderte  wurden. 

7.  Allein  im  Protestantismus  waren  noch  andere  traditionelle  Mächte 
lebendig.  Luther's  befreiende  That  verdankte  ihren  Ursprung  und  ihren  Erfolg 
nicht  zum  wenigsten  der  Mystik,  —  nicht  freilich  jener  subhmen  Form  ver- 
geistigter Weltanschauung,  der  Meister  Eckhart  den  genialen  Ausdruck  gegeben 
hatte,  wohl  aber  der  Bewegung  tiefernster  Frömmigkeit,  welche  sich  vom  Rhein 
her  in  dem  „Bunde  der  Gottesfreuude^,  in  den  „Brüdern  vom  gemeinsamen 
Leben**  als  „praktische  Mystik**  weithin  verbreitet  hatte.  Ihr  war  die  Gesinnung, 
die  Reinheit  des  Herzens,  die  Nachfolge  Christi  der  einzige  Inhalt  der  Religion ; 
das  Fürwahrhalten  der  Dogmen,  die  äussere  Werkheiligkeit,  die  ganze  weltUche 
Organisation  des  Kirchenlebens  erschienen  als  gleichgiltig  und  gar  als  hinderlich: 
über  all  dies  Aussenwerk  hinaus  verlangte  das  gläubige  Gemüth  nur  die  Freiheit 
seines  religiösen  Eigenlebens.  Dies  war  die  innere  Quelle  der  Reformation. 
Luther  selbst  hatte  nicht  nur  im  Augustin  geforscht,  er  hatte  auch  die  ^ deutsche 
Theologie"  herausgegeben:  und  sein  Wort  entfesselte  den  Sturm  dieser  religiösen 
Sehnsucht,  der  sich  im  Kampfe  gegen  Rom  ein  Drang  nationaler  Selbständigkeit 
beimischte. 

Als  nun  aber  die  protestantische  Staatskirche  sich  wiederum  in  den  festen 
Formen  einer  theoretischen  Dogmenbildung  consoUdirte  und  an  diesen  um  so 
ängstlicher  sich  anklammerte,  je  mehr  sie  in  dem  Streite  der  Confessionen  um 
ihre  Existenz  ringen  musste,  da  war  der  überconfessionelle  Trieb  der  Mystik 
ebenso  enttäuscht  wie  das  nationale  Bewusstsein.  Die  theologische  Fbcirung  des 
Reformationsgedankens  erschien  als  dessen  Verderb :  und  wie  Luther  einst  gegen 
die  „Sophisterei"  der  Scholastiker  gewettert  hatte,  so  richtete  sich  jetzt  eine  still  im 
Volke  weiter  wühlende  Bewegung  der  Mystik  gegen  seine  eigene  Schöpfung.  In 
Männern  wie  Osiander  und  Schwenckfeld  hatte  er  Theile  seines  eigenen 

1)  Ueher  das  Verhaltnifls  von  Reformation  und  Hnmanismns  vgl.  Th.  Zikoler,  Gesch. 
der  Ethik,  n,  414  m 


§  29.  Makrokosmus  und  Mikrokosmus.  289 

Wesens  und  seiner  Entwicklung  zu  bekämpfen.  Dabei  aber  erwies  sich  nun, 
dass  die  Lehren  der  mittelalterlichen  Mystik  in  der  Stille  unter  allerlei  phanta- 
stischen Anschauungen  und  in  unklaren  Bildern  sich  erhalten  und  sagenhaft 
fortgesponnen  hatten.  Was  davon  bei  Männern  wie  Sebastian  Franck  oder 
in  den  geheim  verbreiteten  Tractätchen  von  Valentin  Weigel  zu  Tage  trat, 
das  war  von  jenem  Idealismus  Eckhart's  getragen,  der  alles  Aeussere  in  Lmeres, 
alles  Historische  in  Ewiges  verwandelte,  und  der  in  der  Er&hrung  der  Natur 
wie  der  Geschichte  nur  das  Symbol  des  Geistigen  und  Göttlichen  erblickte. 
Das  bildete,  wenn  auch  oft  in  wunderhcher  Form,  den  Untergrund  des  Kampfes, 
den  die  Mystiker  des  16.  Jahrhunderts  in  Deutschland  gegen  den  „Buchstaben" 
der  Theologie  führten. 

8.  Wohin  wir  in  der  intellectuellen  Bewegung  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts blicken,  überall  steht  Tradition  gegen  Tradition,  und  jeder  Streit  ist 
ein  Kampf  der  UeberUeferungen.  Der  Geist  der  abendländischen  Völker  hat 
nun  den  ganzen  Bildungsstoff  der  Vergangenheit  in  sich  aufgenommen,  und  in 
der  fieberhaften  Erregung,  worin  ihn  zuletzt  die  directe  Berührung  mit  den 
höchsten  Leistungen  der  antiken  Wissenschaft  versetzt,  ringt  er  zu  voller  Selb- 
ständigkeit auf.  Er  fühlt  sich  gestählt  genug,  eigene  Arbeit  zu  verrichten,  und 
strotzend  von  Gedankenftille  sucht  er  sich  neue  Aufgaben.  Den  Jugendtrieb 
fühlt  man  in  dieser  Litteratur  pulsiren,  als  müsse  etwas  Unerhörtes,  nie  früher 
Dagewesenes  geschehen;  nicht  weniger  verkünden  uns  die  Männer  der  Renais- 
sance, als  dass  eine  totale  Erneuerung  der  Wissenschaft  und  des  Zustandes 
der  Menschheit  bevorstehe.  Der  Kampf  der  UeberUeferungen  fuhrt  zum  Ueber- 
druss  an  der  Vergangenheit,  die  gelehrte  Forschung  nach  der  alten  Weisheit 
endet  mit  dem  Abwerfen  allen  Bücherkrams,  und  jugendlicher  Werdelust  voll 
zieht  der  Geist  aus  in  das  AVeltleben  der  ewig  jungen  Natur. 

Die  classische  Schilderung  dieser  Stimmung  der  Renaissance  ist  der  erste 
Monolog  in  Goethe's  Faust. 

%  29.  Makrokosmas  und  Mikrokosmns« 

Durch  Scotismus  und  Terminismus  war  die  Glaubensmetaphysik  des  Mittel- 
alters zersetzt  und  in  der  Mitte  gespalten  worden:  alles  Uebersinnliche  war  dem 
Dogma  anheimgegeben,  und  als  Gegenstand  der  Philosophie  blieb  die  Erfahrungs- 
welt übrig.  Ehe  aber  noch  das  Denken  Zeit  gehabt  hatte^  um  sich  über  die 
Methode  und  die  besonderen  Aufgaben  dieser  weltlichen  Erkenntniss  klar  zu 
werden,  brach  der  Humanismus  und  mit  ihm  vor  Allem  die  platonische  Welt- 
anschauung herein.  Kein  Wunder,  dass  man  bei  dieser  zunächst  die  Lösung 
der  Aufgabe  suchte,  die  man  selbst  erst  im  Dämmerschein  vor  sich  sah :  und 
um  so  willkommener  mussta  gerade  diese  L^hre,  zumal  in  ihrer  neuplatoni- 
schen Ausgestaltung  sein,  als  sie  die  Welt  des  Uebersinnlichen  ahnungsvoll  im 
Hintergrunde  zeigte,  daraus  aber  das  sinnUch  Besondere  in  zweckvoll  bestimmten 
Umrissen  deutlich  hervortreten  Uess.  Mochte  also  das  Uebersinnliche  selbst  und 
alles,  was  daran  mit  dem  Heilsleben  des  Menschen. zusammenhing,  getrost  der 
Theologie  anheimgestellt  werden:  die  Philosophie  konnte  sich  der  Aufgabe, 
Naturwissenschaft  zu  sein,  um  so  ruhigeren  Gewissens  widmen,  je  mehf  sie 
nach  neuplatonischem  Vorgang  auch  die  Natur  als  ein  Product  des  Geistes  auf- 
fasste  und  so  im  Begriffe  der  Gottheit  einen  höchsten  Einheitspunkt  für  die 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  ]^9 


290  ^*  Philosophie  der  ReDaissance.   1.  Hainanistische  Periode. 

sich  scheidenden  Zweige  der  Wissenschaft,  den  geistlichen  und  den  weltlichen, 
beizubehalten  meinte.  Lehrte  die  Theologie,  wie  sich  Gott  in  der  Schrift 
offenbart,  so  war  es  nun  Sache  der  Philosophie,  seine  Offenbarung  in  der 
Natur  bewunderungsYoU  aufzufassen.  Deshalb  sind  die  Anfange  der  modernen 
Naturwissenschaft  theosophisch  und  durchweg  neuplatonisch  gewesen. 

1.  Dabei  aber  ist  das  Charakteristische,  dass  bei  dieser  Erneuerung  des 
Neuplatonismus  auch  die  letzten  dualistischen  Motive,  welche  demselben  an- 
gehaftet hatten,  völlig  bei  Seite  gedrängt  wurden.  Sie  wichen  zusammen  mit 
dem  specifisch  religiösen  Interesse,  das  sie  getragen  hatte,  und  das  theoretische 
Moment,  in  der  Natur  die  schaffende  Gotteskraft  zu  erkennen,  trat  rein  her- 
vor^). Der  Grundzug  in  der  Naturphilosophie  der  Renaissance  war  deshalb 
die  phantasievoUe  Auffassung  der  göttlichen  Einheit  des  Alllebens,  die 
Bewunderung  des  Makrokosmus:  Plotin's  Grundgedanke  von  der  Schön- 
heit des  Universums  ist  von  keiner  anderen  Zeit  so  sympathisch  aufgenom- 
men worden,  wie  von  dieser:  und  diese  Schönheit  wurde  auch  jetzt  als  Er- 
scheinung der  göttlichen  Idee  betrachtet.  Eine  solche  Anschauung  spricht 
sich  fast  ganz  in  neuplatonischen  Formen  bei  Patrizzi,  in  originellerer  Gestalt 
und  mit  starker  poetischer  Eigenheit  bei  Giordano  Bruno  und  ebenso  bei 
Jacob  Boehme  aus.  Bei  jenem  waltet  noch  das  Bild  des  allgestaltenden  und 
allbelebenden  ürlichtes  (vgl.  S.  192  f.)  vor,  bei  diesen  dagegen  dasjenige  des 
Organismus:  die  Welt  ist  ein  Baum,  der  von  der  Wurzel  bis  zur  Blüthe  und 
Frucht  von  Einem  Lebenssafte  durchquollen,  durch  die  eigene  Keimthätigkeit 
von  innen  heraus  gestaltet  und  gegliedert  ist  ^). 

Darin  liegt  der  Natur  der  Sache  nach  die  Neigung  zum  vollen  Monis- 
mus und  Pantheismus.  Alles  muss  seine  Ursache  haben,  und  die  letzte  Ur- 
sache kann  nur  Eine  sein,  —  Gott").  Er  ist  nach  Bruno  zugleich  die  formale, 
die  wirkende  und  die  Zweckursache,  nach  Boehme  zugleich  der  ^ Urgrund^  und 
die  „Ursache"  (principium  und  causa  bei  Bruno)  der  Welt.  Daher  aber  ist  auch 
das  Weltall  nichts  als  „die  creattirlich  gemachte  Wesenheit  Gottes  selbst"  *). 
Und  doch  verbindet  sich  mit  dieser  Anschauung  wie  im  Neuplatonismus  so 
auch  hier  die  Vorstellung  von  der  Transscendenz  Gottes.  Boehme  hält  darauf, 
dass  Gott  nicht  als  vemunft-  und  „wissenschafts"lose  Kraft,  sondern  als  der 
„allwissende,  allsehende,  allhörende,  allrüchende,  allschmeckende"  Geist  ge- 
dacht werde;  und  Bruno  fügt  eine  andere  Analogie  hinzu,  ihm  ist  Gott  der 
Künstler,  der  unaufhörlich  wirkt  und  sein  Inneres  zu  reichem  Leben  aus- 
gestaltet. 

Danach  ist  denn  auch  für  Bruno  Harmonie  das  innerste  Wesen  der  Welt^ 
und  wer  sie  mit  begeistertem  Blicke  aufzufassen  vermag  (wie  der  Philosoph  es 
in  den  Dialogen  und  Dichtungen  Degli  eroici  furori  thut),  für  den  verachwinden 
die  scheinbaren  Mängel  und  Unvollkommenheiten  des  Einzelnen  in  der  Schön- 
heit des  Ganzen,  Er  bedarf  keiner  besonderen  Theodicee;  die  Welt  ist  voll- 
kommen, weil  sie  Gottes  Leben  ist,  bis  in  alles  Einzelne  hinein,  und  nur  derjenige 
klagt,  welcher  sich  nicht  zur  Anschauung  des  Ganzen  erheben  kann.  Die  Welt- 


1)  In  gewissem  Sinne  könnte  man  dies  auch  so  ausdrücken,  dass  damit  die  stoischen 
Elemente  des  Neuplatonismus  beherrschend  in  den  Vordergrund  traten.  —  2)  Vgl.  die  merk- 
würdige Üebereinstimmung  zwischen  öiord.  Bruno,  Della  causa  pr.  e.  u.  II  (Lag.  I,  231  f.)  und 
Jac.  Boehme,  Aurora,  Vorrede.  —  8)  Aurora,  cap.  3.  —  4)  Ibid.  2. 


§  29.  Makrokosmus  und  Mikrokosmus.   (Bnino.)  291 

freudigkeit  der  ästhetischen  RenaissaDce  singt  in  Brano's  Schriften  philosophi- 
sche Dithyramben:  ein  universalistischer  Optimismus  von  hinreissendem 
Schwung  waltet  in  seinen  Dichtungen. 

2.  Die  Begriffe;  welche  dieser  Entfaltung  der  metaphysischen  Phantasie  bei 
Bruno  zu  Grunde  liegen,  weisen  der  Hauptsache  nach  auf  Nicolaus  Cusanus 
zurück,  dessen  Lehren  durch  Charles  Bouill6  aufrecht  erhalten  worden  waren, 
in  dieser  Darstellung  jedoch  ihre  belebende  Frische  einigermassen  eingebüsst 
hatten.  Gerade  diese  wusste  ihnen  der  Nolaner  wiederzugeben.  Er  steigerte 
nicht  nur  das  Princip  der  coincidentia  oppositorum  zu  der  künstlerischen 
Aussöhnung  der  Gegensätze,  zur  harmonischen  Gesammtwirkung  widerstreiten- 
der Theilkräfte  des  göttlichen  Urwesens,  sondern  er  gab  vor  Allem  dem  Begriffs- 
paar des  Unendlichen  und  Endlichen  eine  sehr  viel  weiter  tragende  Be- 
deutung. Hinsichtlich  der  Gottheit  und  ihrer  Beziehung  zur  Welt  bleibt  es  im 
Wesentlichen  bei  den  neuplatonischen  Verhältnissen.  Gott  selbst  als  die  über 
alle  Gegensätze  erhabene  Einheit  ist  durch  keine  endUche  Bestimmung  erfassbar 
und  deshalb  seinem  eigensten  Wesen  nach  unerkennbar  (negative  Theologie); 
dabei  aber  wird  er  doch  als  die  unei'schöpfbare,  unendliche  Weltkraft,  als  die 
natura  naturans  gedacht,  welcher  in  ewiger  Veränderung  sich  gosetzmässig  und 
zweckvoll  zur  natura  naturata  gestaltet  und  „explicirf.  Diese  Identification  des 
Wesens  von  Gott  und  Welt  ist  eine  allgemeine  Lehre  der  Naturphilosophie  der 
Renaissance,  sie  findet  sich  ebenso  bei  Paracelsus,  bei  Sebastian  Franck,  bei 
Boehme  und  schUesslich  auch  bei  den  gesammten  „Platonikern^.  Dass  sie  auch 
sehr  extrem  naturalistische  Gestalt  annehmen,  zur  Leugnung  aller  Transscendenz 
fuhren  konnte,  bewies  die  agitatorisch  zugespitzte,  reklamehaft  polemische  Lehre 
von  Vanini^). 

Für  die  natura  naturata  dagegen,  das  „Universum^,  denLibegriff  der  Crea- 
turen,  wird  nicht  das  Merkmal  der  wahren  „UnendUchkeit^,  wohl  aber  dasjenige 
der  Unbegrenztheitin  Raum  und  Zeit  in  Anspruch  genommen.  Dieser  Be- 
griff aber  gewann  eine  unvergleichlich  deutlichere  Gestalt  und  festere  Bedeutung 
durch  die  kopernikanische  Theorie*).  Dem  Cusaner  war,  wie  den  alten 
Pytbagoreem  und  wohl  durch  dieselben,  die  Kugelgestalt  und  die  Axendrehuug 
der  Erde  eine  bekannte  Vorstellung  gewesen :  aber  erst  die  siegreich  bewiesene 
Hypothese  von  der  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  war  im  Stande,  die  völlig 
neue  Ansicht  von  der  Stellung  des  Menschen  im  Weltall  zu  begründen, 
welche  der  Wissenschaft  der  Renaissance  eigen  ist.  Die  anthropocentrische  Welt- 
vorstellung, welche  das  Mittelalter  beherrscht  hatte,  ging  aus  den  Fugen.  Wie 
die  Erde,  so  musste  erst  recht  der  Mensch  aufhören,  als  Mittelpunkt  des  Welt- 
alls und  des  Weltgeschehens  zu  gelten.  Ueber  solche  „Beschränktheit"  hoben 
sich  auf  Grund  der  Lehre  Köpernik's,  die  deshalb  auch  von  den  dogmatischen 
Mächten  aller  Confessionen  verdammt  wurde,  auch  solche  Männer  wie  Patrizzi 
und  Boehme  hinaus:  aber  der  Ruhm,  das  kopernikanische  System  naturphilo- 
sophisch und  metaphysisch  zu  Ende  gedacht  zu  haben,  gebührt  Giordano 
Bruno. 


1)  Lucilio  Vanini  (1585  in  Neapel  geb.,  1619  in  Toulouse  verbrannt),  ein  wüster  Aben* 
teurer,  schrieb  Amphitbeatrum  aetemae  providentiae  (Lyon  1615)  und  De  admirandis  naturae 
reginae  deaeque  mortalium  arcanis  (Paris  1616).  —  2)  Nicolaus  EÖpemik,  De  revolutionibus 
orbiam  coelestium,  Nürnberg  1543. 

19* 


292  IV.  Philosophie  der  Renaissance.   1.  Humanistische  Periode. 

Er  entwickelte  daraus  die  Anschauung,  dass  das  Universum  ein  System 
zahlloser  Welten  bilde,  von  denen  jede,  um  ihren  sonnenhaften  Mittelpunkt  be- 
wegt;  ihr  Eigenleben  führe,  aus  chaotischen  Zuständen  zu  klarer  Ausgestaltung 
emporblühe  und  dem  Geschick  des  Vergehens  wieder  anheimfalle.  Wohl  hat 
bei  dieser  Conception  von  der  Pluralität  entstehender  und  wieder  absterbender 
Welten  die  demokritisch- epikureische  Tradition  mitgewirkt ;  allein  gerade  das 
ist  das  Eigenthümliche  der  Bruno'schen  Lehre,  dass  ihm  die  Vielheit  der  Sonnen- 
systeme nicht  als  ein  mechanisches  Beieinander,  sondern  als  ein  organischer 
Lebenszusammenhang,  dass  ihm  der  Process  des  Aufblühens  und  Welkens  der 
Welten  als  getragen  von  dem  Pulsschlag  des  Einen  göttUchen  Alllebens  galt. 

3«  Drohte  in  dieser  Weise  der  Universalismus  mit  dem  kühnen  Flug  in 
räumliche  und  zeitliche  Unbegrenztheit  die  Phantasie  ganz  für  sich  in  Anspruch 
zu  nehmen,  so  bestand  ein  wirksames  Gegengewicht  in  der  peripatetisch-stoischen 
Lehre  von  der  Analogie  zwischen  Makrokosmus  und  Mikrokosmus, 
welche  im  Wesen  des  Menschen  den  Inbegriff,  die  „Quintessenz"  der  kosmischen 
Gewalten  fand.  In  den  verschiedensten  Formen  sehen  wir  diese  Lehre  während 
der  Benaissance  wieder  aufleben*,  sie  behen*scht  durchweg  die  Erkenntnisstheorie 
dieser  Zeit,  und  zwar  ist  dabei  fast  überall  die  neuplatonische  Dreitheilung  mass- 
gebend, welche  das  Schema  für  eine  metaphysische  Anthropologie  ab- 
giebt.  Man  kann  nur  erkennen,  heisst  es  bei  Valentin  Weigel,  was  man 
selbst  ist:  der  Mensch  erkennt  das  All,  sofern  er  es  selbst  ist.  Das  war  ein  durch- 
greifendes Princip  der  Eckhart'schen  Mystik.  Aber  dieser  Idealismus  nahm  nun 
hier  bestimmte  Form  an.  Als  Leib  gehört  der  Mensch  der  materiellen  Welt  an; 
ja,  er  vereinigt  in  sich,  wie  Paracelsus  und  nach  ihm  Weigel  und  Boehme 
lehren,  das  Wesen  aller  materiellen  Dinge  in  feinster  Verdichtung:  eben  deshalb 
ist  er  befugt,  die  Körperwelt  zu  begreifen.  Als  intellectuelles  Wesen  aber  ist  er 
„siderischen"  Ursprungs  und  vermag  deshalb  die  geistige  Welt  in  allen  ihren 
Ausgestaltungen  zu  erkennen.  Endhch  als  göttlicher  „Funke",  als  spiraculum 
vitae,  als  Theilerscheinung  des  höchsten  Lebensprincips  vermag  er  auch  des  gött- 
lichen Wesens  bewusst  zu  werden,  dessen  Ebenbild  er  ist. 

Eine  mehr  abstracte  Anwendung  desselben  Princips,  wonach  alle  Welt- 
erkenntniss  in  der  Selbsterkenntniss  des  Menschen  wurzelt,  findet  sich  bei 
Campanella:  sie  involvirt  nicht  die  neuplatonische  Trennung  der  Weltschichten 
(obwohl  auch  diese  bei  Campanella  vorkommt),  sondern  die  Grundkategorien 
aller  Wirklichkeit.  Der  Mensch,  heisst  es  auch  hier,  erkennt  eigentlich  nur  sich 
selbst  und  das  Uebrige  nur  von  sich  aus.  Alles  Wissen  ist  Wahrnehmen  (sentire) ; 
aber  wir  nehmen  nicht  die  Dinge  wahr,  sondern  nur  die  Zustände,  in  welche  uns 
dieselben  versetzen.  Dabei  aber  erfahren  wir  der  Hauptsache  nach,  dass  wir, 
indem  wir  sind,  etwas  können,  etwas  wissen  und  etwas  wollen,  und  dass  wir  uns 
durch  entsprechende  Functionen  anderer  Wesen  beschränkt  finden.  Daraus  er- 
giebt  sich,  dass  Macht,  Wissen  und  Wollen  die  „Primalitäten"  alles  Wirklichen 
sind,  und  dass,  wenn  sie  Gott  unbeschränkt  zukommen,  er  als  allmächtig,  all- 
wissend und  allgütig  erkannt  wird. 

4.  Die  Lehre,  dass  alle  Gottes-  imd  Welterkenntniss  schUesslich  in  der 
Selbsterkenntniss  des  Menschen  beschlossen  sei,  ist  jedoch  nur  eine  erkenntniss- 
theoretische Folgerung  aus  dem  allgemeineren  metaphysischen  Princip,  wonach 
das  göttliche  Wesen  in  jeder  seiner  endUchen  Erscheinungen  voU  und  ganz  ent- 


§  29.  Makrokosmus  and  Mikrokosmus.  (Bruno.)  293 

halten  sein  sollte.  Anch  darin  folgt  Giordano  Bruno  dem  Cusaner,  dass  nach 
ihm  Gott  ebenso  das  Kleinste  wie  das  Grösste,  ebenso  das  Lebensprincip  des 
Einzelwesens  wie  dasjenige  des  üniversuiAS  ist.  Und  danach  wird  also  jedes 
Einzeldingy  nicht  bloss  der  Mensch,  zum  „Spiegel^  der  Weltsubstanz.  Jedes, 
ausnahmslos,  ist  seinem  Wesen  nach  die  Gottheit  selbst,  aber  jedes  in  eigener^ 
von  allen  anderen  unterschiedener  Weise.  Diesen  Gedanken  legte  Bruno  in  dem 
Begriff  der  Monade  nieder.  Er  verstand  darunter  das  urlebendige,  unvergäng- 
liche Einzelwesen^  welches,  ebenso  körperlicher  wie  geistiger  Natur,  als  stets 
geformter  Stoff  eine  der  Theilerscheinungen  der  Weltkraft  bildet,  in  deren 
Wechselwirkung  das  Weltleben  besteht.  Jede  Monade  ist  eine  individuelle  Da- 
seinsform des  göttlichen  Seins,  eine  endliche  Existenzform  der  unendlichen  Essenz. 
Da  nun  nichts  ist  als  Gott  und  die  Monaden,  so  ist  das  Universimi  bis  in  den 
kleinsten  Winkel  hinein  beseelt,  und  das  unendUche  Allleben  individualisirt  sich 
an  jedem  Punkte  zu  besonderer  Eigenart.  Daraus  ergiebt  sich,  dass  jedes  Ding 
(wie  der  Weltkörper  sich  zugleich  um  die  eigene  Axe  und  um  seine  Sonne  be- 
wegt) in  seiner  Lebensbewegung  theils  dem  Gesetze  seines  besonderen  Wesens, 
theils  einem  aUgemeineren  Gesetze  folgt.  Campanella,  der  mit  dem  kopemikani- 
schen  System  auch  diese  Lehre  aufnahm,  bezeichnete  dies  Streben  zum  Ganzen, 
diesen  Zug  zum  Urquell  aller  Wirklichkeit  als  ReUgion  und  sprach  in  diesem 
Sinne  von  einer  „natürUchen^  Religion,  d.  h.  von  der  Religion  als  „Naturtrieb^ 
{—  man  würde  jetzt  etwa  sagen  Centripetaltrieb  — ),  den  er  folgerichtig  allen 
Dingen  überhaupt  zuschrieb  und  der  im  Menschen  die  Sonderform  der  „ratio- 
nalen^  Religion  annehmen  sollte,  d.  h.  des  Strebens,  durch  Liebe  und  Erkennt- 
niss  mit  Gott  Eins  zu  werden. 

Dies  Princip  der  unendlichen  Variabilität  des  göttlichen  Weltgrundes, 
welcher  sich  in  jedem  Einzeldinge  in  besonderer  Form  darstelle,  findet  sich  auch 
ähnlich  bei  Paracelsus.  Hier  wird  wie  bei  Nicolaus  Cusanus  gelehrt,  dass  in 
jedem  Dinge  alle  Stoffe  vorhanden  seien,  jedes  also  einen  Mikrokosmus  darstelle, 
jedes  aber  auch  wieder  noch  sein  besonderes  Lebens-  und  Wirkensprincip  habe. 
Diesen  Sondergeist  des  Individuums  nennt  Paracelsus  den  Archeus;  Jacob 
Boehme,  auf  den  auch  diese  Lehre  übergegangen  ist,  nennt  ihn  den  Primus. 

Bei  Bruno  verknüpft  sich  der  Begriff  der  Monade  in  sehr  interessanter 
Weise,  wenn  auch  ohne  weitere  Wirkung  auf  seine  physicaUschen  Anschauungen, 
mit  demjenigen  des  Atoms,  der  ihm,  wie  der  früheren  Zeit,  durch  die  epi- 
kureische Tradition  (Lucrez)  zugeführt  wurde.  Das  „Kleinste",  in  der  Meta- 
physik die  Monade,  in  der  Mathematik  der  Punkt,  ist  in  der  Physik  das  Atom, 
das  untheilbare,  kugelförmige  Element  der  Körperwelt.  Erinnerungen  der  pytha- 
goreisch-platonischen Elementenlehre  und  der  verwandten  demokritischen  Atom- 
theorie wurden  so  mitten  im  Neuplatonismus  lebendig;  sie  fanden  aber  auch  bei 
Männern  wie  Basso,  Sennert  u.  A.  selbständige  Erneuerung  und  fährten  so  zu 
der  sog.Korpuskulartheorie,  wonach  die  Körperwelt  aus  untrennbaren  Atom- 
complexen,  den  Korpuskeln,  bestehen  sollte.  In  den  Atomen  selbst  wurde  im 
Zusammenhange  mit  ihrer  mathematischen  Form  eine  ursprüngliche  und  unver- 
änderliche Gesetzmässigkeit  angenommen,  auf  welche  auch  die  Wirkungsweise 
der  Korpuskeln  zurückzufahren  sei '). 

1)  Vgl.  E.  Lasswitz,  Geschichte  des  Atomismus.  I  (Hamburg-Leipzig  1890)  3*  359  ff. 


294  ^'  Philosophie  der  Renaissance.   1 .  Humanistische  Periode. 

5.  Schon  hierbei  machen  sich  in  der  altpythagoreischen  Form,  bzw.  deren 
demokritischer  und  platonischer  Umbildung  die  Wirkungen  der  Mathematik 
geltend.  Die  letzten  Bestandtheile  der  physischen  Wirklichkeit  sind  durch  ihre 
stereometrische  Form  bestimmt,  und  auf  diese  müssen  die  qualitativen  Bestim- 
mungen der  Erfahrung  zurückgeführt  werden.  Die  Verknüpfung  der  Elemente 
aber  setzt  als  Princip  der  Mannigfaltigkeit  die  Zahlen  und  ihre  Ordnung  voraus '). 
So  treten  wieder  die  Raumformen  und  Zahlenverhältnisse  als  das  Wesentliche 
und  Ursprüngliche  in  der  physischen  Welt  hervor*,  und  damit  wird  die  aristotelisch- 
stoische Lehre  von  den  qualitativ  bestimmten  Kräften,  von  den  inneren  „Formen" 
der  Dinge,  von  den  qualitates  occultae  verdrängt.  Wie  sie  einst  über  das  pj'tha- 
goreisch- demokritisch -platonische  Princip  gesiegt  hatte,  so  musste  sie  diesem 
wiederum  weichen:  und  hierin  liegt  eine  der  wichtigsten  Vorbereitungen  für  den 
Ursprung  der  neueren  Naturwissenschaft. 

Die  Anfange  dazu  finden  sich  auch  schon  bei  Nicolaus  Cusanus;  aber  jetzt 
erfuhren  sie  eine  wesentliche  Stärkung  aus  derselben  Quelle,  woraus  sie  bei 
ihm  sich  erklären:  aus  der  alten  Litteratur,  insbesondere  aus  den  neupythagorei- 
schen Schriften.  Eben  deshalb  aber  haben  sie  auch  um  diese  Zeit  noch  das 
phantastisch-metaphysische  Gewand  derZahlenmystik  und  Zahlensymbolik. 
Das  Buch  der  Natur  ist  in  Zahlen  geschrieben,  die  Harmonie  der  Dinge  ist  die- 
jenige des  Zahlensystems.  Alles  ist  von  Gott  nach  Mass  und  Zahl  geordnet,  alles 
Leben  ist  eine  Entwicklung  mathematischer  Verhältnisse.  Allein  ebenso  wie  im 
späteren  Alterthum,  so  entfaltet  sich  auch  hier  dieser  Gedanke  zunächst  als  eine 
willkürliche  BegriflFsdeuterei  und  eine  geheimnissvolle  Speculation.  Von  der  Con- 
struction  der  Dreieinigkeit  an,  wie  sie  z.  B.  auch  Bouill6  versuchte,  soll  das  Her- 
vorgehen der  Welt  aus  Gott  wieder  als  der  Process  der  Verwandlung  der  Ein- 
heit in  das  Zahlensystem  begriffen  werden.  Solchen  Phantasien  gingen  Männer 
wie  Cardanus  und  Pico  nach.  Reuchlin  fügte  noch  die  mythologischen  Gebilde 
der  jüdischen  Cabbala  hinzu. 

6.  So  trat  das  zu  fruchtbarster  Entfaltung  bestimmte  Princip  zunächst 
wieder  mit  alter  metaphysischer  Wunderlichkeit  umhüllt  in  die  neue  Welt,  und  es 
bedurfte  noch  frischer  Kräfte,  um  es  daraus  zu  rechter  Wirkung  herauszuschälen. 
Inzwischen  aber  mischte  es  sich  mit  ganz  anderen  Bestrebungen,  die  gleichfalls 
in  der  neuplatonischen  Tradition  ihren  Ursprung  hatten.  Zu  der  Idee  eines 
seelischen  Universallebens,  zu  der  phantasievollen  Vergeistigung  der  Natur  ge- 
hörte auch  der  Trieb,  mit  geheimnissvollen  Mitteln,  mit  Beschwörungen  und 
Zauberkünsten  in  den  Lauf  der  Dinge  einzugreifen  und  ihn  nach  dem  Willen  des 
Menschen  zu  leiten.  Auch  hier  schwebte  dem  phantastischen  Drange  der  auf- 
geregten Zeit  ein  hoher  Gedanke  vor:  die  Beherrschung  der  Natur  durch  die 
Kenntniss  der  in  ihr  wirkenden  Kräfte.  Aber  auch  diesen  übernahm  man  in  der 
Hülle  antiken  Aberglaubens.  Betrachtete  man  mit  den  Neuplatonikern  das  Leben 
der  Natur  als  ein  Walten  von  Geistern,  als  einen  geheimnissvollen  Zusammen- 
hang innerlicher  Ejräfte,  so  galt  es  sich  diese  durch  Wissen  und  Willen  unter- 
than  zu  machen.  So  wurde  die  Magie  zu  einem  Lieblingsgegenstande  der 
Renaissance,  und  ihre  Wissenschaft  bemühte  sich  wieder  System  in  den  Aber- 
glauben zu  bringen. 


1)  Vgl.  hierzu  besonders  G.  Bruno,  De  triplici  minimo. 


§  29.  Makrokosmos  nnd  Mikrokosmus.  (Paracelsus,  Boehme.)  295 

Die  Astrologie  mit  ihreii  Einwirkungen  der  Gestirne  auf  das  Menschen- 
leben, die  Traum-  und  Zeichendeutung;  die  Nekromantik  mit  ihren  Geister- 
beschwörungen, die  Wahrsagungen  der  Ekstatischen  —  alle  diese  Elemente  der 
stoisch-neuplatonischen  Mantik  standen  damals  in  üppigster  Blüthe.  Pico  und 
Reuchlin  brachten  sie  mit  der  Zahlenmystik  in  Verbindung,  Agrippa  von  Nettes- 
heim  adoptirte  alle  skeptischen  Angriffe  gegen  die  Möglichkeit  rationaler  Wissen- 
schaft, um  bei  mystischen  Erleuchtungen  und  geheimen  Zauberkünsten  Hilfe  zu 
suchen.  Cardanus  ging  allen  Ernstes  daran,  die  Gesetzmässigkeit  dieser  Wir- 
kungen zu  bestimmen,  und  Campanella  räumte  ihnen  in  seiner  Weltvorstellung 
einen  ungewöhnUch  breiten  Raum  ein. 

Insbesondere  zeigten  sich  diesen  magischen  Künsten  die  Aerzte  geneigt, 
deren  Beruf  den  Eingriff  in  den  Naturverlauf  verlangte  und  in  den  geheimen 
Künsten  besondere  Förderung  erwarten  zu  dürfen  schien.  Von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  wollte  Paracelsus  die  Medicin  reformiren.  Auch  er  geht  von  der 
Sympathie  aller  Dinge,  von  dem  geistigen  Zusammenhange  des  Universums  aus. 
Er  findet  das  Wesen  der  Krankheit  in  der  Beeinträchtigung  des  individuellen 
Lebensprincips,  des  Archeus,  durch  fremde  Mächte,  und  er  sucht  die  Mittel, 
um  den  Archeus  zu  befreien  und  zu  kräftigen.  Da  aber  dies  durch  entsprechende 
Zusammensetzung  der  Stoffe  geschehen  sollte,  so  mussten  allerlei  Wundertränke, 
Tincturen  und  sonstige  Geheimmittel  gebraut  werden,  und  so  wurden  die  Künste 
der  Alchymie  in  Bewegung  gesetzt,  die  trotz  aller  Wunderlichkeiten  bei  einem 
unglaubUchen  Massenbetrieb  schliesslich  doch  eine  Anzahl  brauchbarer  Ergeb- 
nisse für  chemische  Einsichten  abwarfen. 

Dabei  fährte  die  metaphysische  Grundvoraussetzung  von  der  wesentlichen 
Einheitlichkeit  aller  Lebenskraft  von  selbst  zu  dem  Gedanken,  dass  ea  auch  ein 
einfaches,  kräftigstes  Gesammtmittel  zur  Stärkung  jedes  beUebigen  Archeus,  dass 
es  eine  Panacee  gegen  alle  Krankheiten  und  zur  Aufrechterhaltung  aller  Lebens- 
kräfte geben  müsse;  und  der  Zusammenhang  mit  den  makrokosmischen  Bestre- 
bungen der  Magie  nährte  die  Hoffnung,  dass  der  Besitz  dieses  Geheimnisses  die 
höchste  Zaubermacht  verleihen  und  die  begehrtesten  Schätze  gewähren  werde. 
Das  Alles  sollte  der  „Stein  der  Weisen"  leisten:  alle  Krankheiten  sollte  er 
heilen,  alle  Stoffe  in  Gold  verwandeln,  alle  Geister  in  die  Gewalt  seines  Besitzers 
bannen.  Und  so  waren  es  schliesslich  sehr  reale  und  nüchterne  Absichten,  welche 
in  den  Abenteuern  der  Alchymie  sich  zu  befriedigen  dachten. 

7.  Die  Einfügung  dieser  magischen  Naturanschauung  in  das  religiöse  Grübel- 
system  der  deutschen  Mystik  macht  das  EigenthümUche  von  Jac.  Boehme's 
Philosophie  aus.  Auch  er  ist  von  dem  Gedanken,  dass  die  Philosophie  Natur- 
erkenntniss  sein  solle,  ergriffen:  aber  der  tiefe  Ernst  des  religiösen  Bedürfnisses, 
welcher  der  deutschen  Reformation  zu  Grunde  lag,  liess  ihn  sich  nicht  bei  der 
seiner  Zeit  üblichen  Scheidung  von  religiöser  Metaphysik  und  Naturwissenschaft 
begnügen,  und  er  suchte  beide  wieder  in  Eins  zu  arbeiten.  Derartige  Bestre- 
bungen, die  über  die  dogmatische  Fixirung  des  Protestantismus  hinaustrieben 
und  mit  einer  christlichen  Metaphysik  die  Aufgaben  der  neuen  Wissenschaft  zu 
lösen  hofften,  wuchsen  auch  sonst  neben  dem  officiellen  Peripateticismus  empor. 
Taurellus  wollte  eine  solche  überconfessioneUe  Philosophie  des  Christenthums 
liefern  und  eignete  sich  mit  richtigem  Instinct  daftlr  manche  Elemente  der 
augustinischen  Willenslehre  an,  vermochte  aber  nicht  genug  aus  dem  realen 


296  IV.  Philosophie  der  Renaissance.  1.  Htimanistische  Periode. 

Inhalt  des  Zeitinteresses  in  diese  Gedanken  hineinzuarbeiten^  gelangte  vielmehr 
schUesslich  zu  einer  völligen  Abscheidung  der  empirischen  Forschung  von  aller 
Metaphysik.  Aehnlich  erging  es  der  mystischen  Bewegung,  die  mit  volksthüm- 
Uchem  Gegensatz  gegen  die  neue  Orthodoxie  um  so  mehr  anschwoll,  je  mehr 
diese  in  sich  vertrocknete  und  verknöcherte:  auch  die  mystischen  Lehren  blieben 
in  vager  Allgemeinheit  hangen,  bis  ihnen  zuerst  durch  Weigel  und  dann  voll- 
ständig durch  Boehme  der  Paracelsismus  zugeführt  wurde. 

In  Boehme^B  Lehre  nimmt  der  Neuplatonismus  wieder  völlig  reUgiöse 
Färbung  an.  Auch  hier  gilt  der  Mensch  als  der  Mikrokosmus,  von  dem  aus  die 
leibUche,  die  „siderische^  und  die  göttliche  Welt  erkannt  werden  können,  wenn 
man  unbeirrt  von  gelehrten  Theorien,  der  rechten  Erleuchtung  folgt.  Die  Selbst- 
erkenntniss  jedoch  ist  die  reUgiöse,  welche  den  Gegensatz  des  Guten  und  des 
Bösen  als  Grundzug  des  menschlichen  Wesens  findet.  Derselbe  Gegensatz  er- 
füllt die  ganze  Welt-,  er  herrscht  im  Himmel  wie  auf  Erden,  und  da  Alles  nur 
in  Gott  seine  Ursache  haben  kann,  so  muss  er  auch  in  diesem  aufgesucht  werden. 
Boehme  dehnt  die  coincidentia  oppositorum  bis  auf  die  äusserste  Grenze  aus, 
und  er  findet  den  Grund  der  Dualität  in  der  Nothwendigkeit  der  Selbstoffen- 
barung des  göttlichen  Urgrundes.  Wie  das  Licht  nur  an  der  Finsterniss,  so 
kann  Gottes  Güte  nur  an  seinem  Zorn  offenbar  werden.  So  schildert  denn 
Boehme  den  Process  der  ewigen  Selbstgebärung  Gottes,  wie  aus  dem 
dunklen  Seinsgrunde  in  ihm  der  „Drang"  oder  der  Wille,  welcher  nur  sich  selbst 
zum  Gegenstande  hat,  zur  Selbstoffenbarung  in  der  göttlichen  Weisheit  gelangt, 
und  wie  der  so  offenbar  Gewordene  sich  in  die  Welt  gestaltet.  Geht  so  un- 
mittelbar die  theogonische  in  die  kosmogonische  Entwicklung  über,  so  zeigt  sich 
in  der  letzteren  überall  das  Bestreben,  den  religiösen  Grundgegensatz  in  den 
naturphilosophischen  Ejitegorien  des  paracelsischen  Systems  durchzuführen.  So 
werden  drei  Reiche  der  Welt  und  sieben  Gestalten  oder  „Qualen**  construirt, 
welche  von  den  materiellen  Kräften  der  Anziehung  und  Abstossung  zu  denen 
des  Lichts  und  der  Wärme  und  von  da  zu  denen  der  sensiblen  und  intellectuellen 
Functionen  aufsteigen.  An  diese  Schilderung  des  ewigen  Wesens  der  Dinge 
knüpft  sich  dann  die  Geschichte  der  irdischen  Welt,  welche  mit  dem  SündenMl 
Lucifer's  und  der  Yersinnlichung  jenes  geistigen  Wesens  beginnt  und  mit  der 
Ueberwindung  des  hochmüthigen  „Vergaffitseins"  in  die  Creatur,  mit  der  reinen 
mystischen  Hingabe  des  Menschen  an  die  Gottheit,  schliesslich  mit  der  Wieder- 
herstellung der  geistigen  Natur  endet.  Das  Alles  vrird  von  Boehme  in  propheten- 
hafter  Bede,  voll  tiefer  Ueberzeugung,  mit  einer  einzigartigen  Mischung  von 
Tiefsinn  und  Dilettantismus  vorgetragen.  Es  ist  der  Versuch  der  Eckhart^schen 
Mystik,  der  modernen  Interessen  der  Wissenschaft  Herr  zu  werden,  und  der  erste 
noch  tastend  unsichere  Schritt  dazu,  die  Naturwissenschaft  in  eine  ideaUstische 
Metaphysik  emporzuheben.  Aber  weil  dies  aus  innerstem  religiösen  Leben  her 
geschieht,  so  treten  bei  Boehme  die  intellectualistischen  Züge  der  älteren  Mystik 
mehr  zurück :  wenn  der  Weltprocess  bei  Eckhart  im  Entstehen  wie  im  Vergehen 
eine  Erkenntniss  sein  sollte,  so  ist  er  bei  Boehme  vielmehr  ein  Bingen  des  Willens 
zwischen  dem  Guten  und  dem  Bösen. 

8.  Auf  allen  diesen  Wegen  war  der  Erfolg  der  Ablösung  der  Philosophie 
von  der  dogmatischen  Theologie  doch  immer  der,  dass  die  gesuchte  Natur- 
erkenntniss  die  Form  der  älteren  Metaphysik  annahm.   Dieser  Vorgang  war  90-^ 


§  29.  Makrokoemus  und  Mikrokosmus.  (Vives,  Telesio.)  297 

lange  unvermeidlich;  wie  der  Wunsch  nach  Naturerkenntniss  noch  weder  üher 
ein  selbsterworbenes  Thatsachenmaterial  noch  über  neue  begriffliche  Formen 
zu  dessen  Verarbeitung  verfugen  konnte.  Als  Vorbedingung  dazu  aber  war  es 
erforderlich,  dass  man  die  Unzulänghchkeit  der  metaphysischen  Theorien  einsah 
imd  sich  mit  Ablehnung  derselben  dem  Empirismus  zuwendete.  Diesen  Dienst 
haben  der  Genesis  des  modernen  Denkens  die  Tendenzen  des  Nominalismus 
und  TerminismuS;  zum  Theil  auch  die  rhetorisch-grammatische  Opposition 
gegen  die  Schulwissenschaft;  sowie  die  Erneuerung  der  antiken  Skepsis  ge- 
leistet. 

Als  gemeinsamer  Ausgangspunkt  dieser  Bestrebungen  müssen  die  Schriften 
von  Ludovico  Vives  angesehen  werden;  aber  sie  beweisen  auch,  dass  die  Be- 
deutung derselben  wesentUch  negativen  Charakters  bleibt.  An  Stelle  der  dunklen 
Wörter  und  der  willkürlichen  Begriffe  der  Metaphysik  mrd  in  nominalistischer 
Weise  die  unmittelbare^  intuitive  Auffassung  der  Sachen  selbst  durch  die  Er- 
fahrung verlangt:  aber  die  Bemerkungen  über  die  Art,  wie  diese  nun  wissen- 
schaftUch  angestellt  werden  soll,  sind  dürftig  und  unsicher ;  vom  Experiment  ist 
die  Rede,  aber  ohne  tiefere  Einsicht  in  das  Wesen  desselben.  Ganz  ebenso  liegt 
die  Sache  später  bei  Sanchez.  und  wenn  die  Verkünstelungen  der  syllogistischen 
Methode  mit  grossem  Lärm  angegriffen  wurden,  so  hatte  an  deren  Stelle  diese 
Richtung  schliesslich  nur  die  ramistischen  Einfalle  der  „natürlichen  Logik^  zu 
setzen. 

Es  kam  hinzu,  dass  dieser  Empirismus  gerade  vermöge  seines  Ursprungs 
aus  dem  Terminismus  sich  der  äusseren  Natur  gegenüber  nur  sehr  unsicher  be- 
wegen konnte.  Er  vermochte  den  Hintergrund  des  Occam'schen  DuaUsmus  nicht 
zu  verleugnen.  Die  Sinneswahrnehmung  galt  ja  nicht  als  ein  Abbüd  des  Dinges^ 
sondern  als  ein  der  Gegenwart  desselben  entsprechender  innerer  Zustand  des 
Subjects.  Diese  Bedenken  konnten  durch  die  Theorien  der  antiken  Skepsis  nur 
verstärkt  werden :  denn  es  kam  nun  die  Lehre  von  den  Sinnestäuschungen,  die 
Betrachtung  der  Relativität  und  des  Wechsels  aller  Wahrnehmungen  hinzu. 
Daher  warf  sich  auch  jetzt  dieser  Empirismus  der  Humanisten  mehr  auf  die 
innere  Wahrnehmung,  die  allgemein  für  sehr  viel  sicherer  erachtet  ward  als  die 
äussere.  Am  glückUchsten  ist  Vives,  wo  er  der  empirischen  Psychologie  das 
Wort  redet ;  Männer  wie  Nizolius,  Montaigne,  Sanchez  theilten  diese  Ansicht, 
und  Charron  gab  ihr  praktische  Bedeutung.  Bei  allen  diesen  geht,  so  sehr  sie 
auf  Anschauung  der  Sachen  selbst  dringen,  doch  schliesslich  die  äussere  Wahr- 
nehmung verhältnissmässig  leer  aus. 

Wie  wenig  selbstgewiss  und  wie  wenig  fruchtbar  in  principieller  Hinsicht 
dieser  Empirismus  damals  war,  zeigen  gerade  am  meisten  seine  beiden  Haupt- 
vertreter in  ItaUen:  Telesio  und  Campanella.  Der  erstere,  einer  der  rührigsten 
und  einflussreichsten  Gegner  des  Aristotelismus,  wird  schon  in  seiner  Zeit  (auch 
von  Bruno  und  Bacon)  überall  als  derjenige  gerühmt,  welcher  am  schärfsten 
verlangt  habe,  dass  die  Wissenschaft  sich  nur  auf  dem  Boden  sinnUch  wahr- 
genommener Thatsachen  aufbauen  solle,  und  er  gründete  in  Neapel  eine  Aka- 
demie, welche  sich  nach  seiner  Heimath  diecosentinische  nannte  und  in  der 
That  viel  zur  Pflege  des  empiristisch-naturwissenschaftUchen  Sinnes  beigetragen 
hat.  Sehen  wir  aber  zu,  wie  er  nun  selbst  über  die  Natur  Juxta  propria  prin- 
cipia"  handelt,  so  begegnen  uns  echt  naturphilosophische  Theorien^  welche  ganz 


298  IV.  Philosophie  der  RenaisBance. 

in  der  Weise  der  alten  Jonier  von  wenigen  Beobachtungen  her  schnellfertig  zu 
allgemeinsten  metaphysischen  Principien  überspringen.  Da  werden  das  Trocken- 
Warme  und  das  Feucht-Kalte  als  die  beiden  gegensätzlichen  Grundmächte  dar- 
gestellt, aus  deren  Kampf  sich  das  makrokosmische  wie  das  mikrokosmische 
Leben  erklären  soll.  Fast  noch  mehr  tritt  derselbe  innere  Widerspruch  bei 
Campanella  hervor.  Dieser  lehrt  den  ausgesprochensten  Sensualismus.  Alles 
Wissen  ist  ihm  ein  „Fühlen"  (sentire);  selbst  Erinnerung,  ürtheil  und  Schluss 
sind  ihm  nur  modificirte  Formen  jenes  Fühlens.  Aber  auch  bei  ihm  kippt  der 
Sensualismus  in  den  psychologischen  Idealismus  um:  er  ist  viel  zu  sehr  Nomina- 
list, um  nicht  zu  wissen,  dass  alles  Wahrnehmen  nur  das  Fühlen  der  Zustände 
des  Wahrnehmenden  selbst  ist.  So  nimmt  er  denn  seinen  Ausgang  von  der 
inneren  Erfsihrung  und  baut  auf  ein  einfaches  Apergu  (vgl.  oben)  nach  dem 
Princip  der  Analogie  von  Makrokosmus  und  Mikrokosmus  eine  vielgliedrige  On- 
tologie.  In  dieselbe  zieht  er  dann  auch  noch  den  ganz  scholastischen  Gegensatz 
des  Seins  und  des  Nichtseins  (ens  und  non-ens)  herein,  welcher  nach  neuplatoni- 
schem Muster  mit  demjenigen  des  Vollkommenen  und  des  unvollkommenen 
identificirt  wird,  und  zväschen  beiden  spannt  er  das  bunte  metaphysische  Bild 
eines  schichtenweis  gegliederten  Weltsystems  aus. 

So  zähe  hängen  sich  überall  die  lang  eingelebten  Gewohnheiten  des  meta- 
physischen Denkens  an  die  Anfange  der  neuen  Forschung. 

2.  Kapitel.  Die  natnrwissensoliaftliGlie  Periode. 

DAMmoN,  Essai  sur  Thistoire  de  la  philosophie  au  17.  si^cle.  Paris  1846. 
KuNO  Fischer,  Fr.  Bacon  und  seine  Nachfolger.  2.  Aufl.  Leipzig  1875. 
Ch.  De  R^MUSAT;  Histoire  de  la  philosophie  en  Angleterre  depuis  Bacon  jusqu'ä  Locke, 
2  Tom.  Paris  1875. 

Den  entscheidenden  Einfluss  auf  die  Entwicklung  der  neueren  Philosophie 
hat  die  Naturwissenschaft  erst  dadurch  gewonnen^  dass  sie  mit  bewusst 
methodischer  Ausgestaltung  ihre  eigene  Selbständigkeit  gewann  und  von  dieser 
aus  die  allgemeine  Bewegung  des  Denkens  der  Form  und  dem  Inhalt  nach  zu 
bestimmen  vermochte.  Insofern  ist  die  Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen 
Methode  von  Kepler  und  Galilei  bis  zu  Newton  zwar  nicht  selbst  der  Werde- 
process  der  modernen  Philosophie,  aber  doch  diejenige  Ereignissreihe,  aufweiche 
derselbe  stetig  bezogen  erscheint. 

Ueberhaupt  aber  sind  deshalb  die  positiven  Anfange  der  modernen  Philo- 
sophie nicht  so  sehr  in  neuen  inhaltlichen  Conceptionen,  als  vielmehr  in  der 
methodischen  Besinnung  zu  suchen,  aus  der  dann  freilich  mit  der  Zeit  auch 
neue  sachliche  Gesichtspunkte  für  die  Behandlung  der  theoretischen  wie  der 
praktischen  Probleme  sich  ergeben  haben.  Zunächst  aber  waren  die  Spring- 
punkte des  modernen  Denkens  überall  diejenigen,  an  welchen  aus  der  huma- 
nistischen Opposition  gegen  die  Scholastik  und  aus  den  aufgeregten  metaphysi- 
schen Phantasien  der  Uebergangszeit  sich  dauernd  fruchtbare  Auffassungen  von 
der  Aufgabe  und  dem  dadurch  bedingten  Verfahren  der  neuen  Wissenschaft 
herausgelöst  haben. 

Hierin  besteht  von  vornherein  ein  wesentlicher  Unterschied  der  modernen 
Philosophie  von  der  antiken:  jene  beginnt  ebenso  refiectirt,  wie  diese  naiv,  und 
das  versteht  sich  von  selbst,  weil  jene  sich  aus  denjenigen  Traditionen  heraus 


3.  Natarwissenschaftliche  Periode.  299 

entwickeln  musste,  welche  diese  geschaffen  hat.  Auf  diese  Weise  ist  es  der  über- 
wiegenden Anzahl  der  Systeme  der  neueren  Philosophie  eigen^  von  methodologi- 
schen und  erkenntnisstheoretischen  Ueberlegungen  her  den  Weg  zu  den  sach- 
lichen Problemen  zu  suchen,  und  im  Besonderen  kann  man  das  17.  Jahrhundert 
in  Betreff  seiner  Philosophie  als  einen  Kampf  der  Methoden  charakterisiren. 

Während  aber  die  Bewegung  der  humanistischen  Periode  der  Hauptsache 
nach  in  Italien  und  Deutschland  sich  abgespielt  hatte,  trat  nunmehr  die  kühlere 
Besonnenheit  der  beiden  westlichen  Culturvölker  hervor.  Italien  war  durch  die 
Gegenreformation  stumm  gemacht;  Deutschland  durch  den  verderblichen  Con- 
fessionskrieg  lahm  gelegt.  England  und  Frankreich  dagegen  erlebten  im 
17.  Jahrhundert  die  Blüthe  ihrer  intellectuellen  Cultur,  und  zwischen  ihnen 
wurden  die  Niederlande  eine  lebensvolle  Heimstätte  für  Kunst  und  Wissen- 
schaft. 

In  der  Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen  Methode  convergirten  die 
Richtungen  des  Empirismus  und  der  mathematischen  Theorie:  in  der 
philosophischen  Verallgemeinerung  traten  beide  unabhängiger  gegen  einander 
hervor.  Das  Programm  der  Erfahrungsphilosophie  stellte  Bacon  auf,  ohne 
dem  methodischen  Grundgedanken  die  fruchtbare  Ausführung  abzugewinnen,  die 
er  in  Aussicht  stellte.  Beträchtlich  vielseitiger  fasste  Descartes  die  natur- 
wissenschafthche  Bewegung  seiner  Zeit  zu  einer  Neubegründung  des  Rationa- 
lismus zusammen,  indem  er  das  scholastische  Begriffssystem  mit  dem  reichen 
Inhalt  der  Galilei'schen  Forschung  erfüllte.  Daraus  aber  ergaben  sich  weit- 
tragende metaphysische  Probleme,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts eine  ausserordentlich  lebhafte  Bewegung  des  philosophischen  Denkens 
hervorriefen,  —  eine  Bewegung,  in  welcher  die  neuen  Principien  mannigfache 
gegensätzliche  Verbindungen  mit  solchen  der  mittelalterlichen  Philosophie  ein- 
gingen. Aus  der  cartesianischen  Schule  entsprang  der  Occasionalismus, 
dessen  Hauptvertreter  Geulincx  und  Malebranche  sind^  ihren  Austrag  aber 
&nd  diese  Entwicklung  in  den  beiden  grossen  philosophischen  Systemen,  welche 
Spinoza  und  Leibniz  aufstellten. 

Die  Einwirkung,  welche  die  mächtige  Ent&ltung  der  theoretischen  Philosophie 
auch  auf  die  Behandlung  der  praktischen  Probleme  ausübte,  zeigt  sich  haupt- 
sächhch  auf  dem  Gebiete  derRechtsphilosophie.  Auf  diesem  nimmt  Hob b es, 
der  gleichmässig  ein  Schüler  Bacon's  und  Descartes'  war  und  als  solcher  auch 
in  der  methodisch-metaphysischen  Linie  einen  wichtigen  Punkt  bedeutet,  die 
entscheidende  Stellung  als  der  Führer  eines  ethischen  Naturahsmus  ein,  welcher 
sich  in  veränderter  Form  auch  bei  seinen  Gegnern  wie  Herbert  von  Cherbury 
und  Cumberland  findet:  in  diesen  Gegensätzen  bereiten  sich  die  Probleme  der 
Aufklärungsphilosophie  vor. 

Die  Reihe  der  grossen  Naturforscher,  welche  unmittelbar  auch  in  philosophische  Fra- 
gen eingeffriflfen  haben,  eröffnet  Johann  K  epl  er  (1571— 1630),  aus  Weil  der  Stadt  in  Württem- 
berg, nach  einem  mit  Noth  und  Sorge  ringenden  Leben  in  ReffeuKburg  gestorben.  Unter 
seinen  Werken  (Ausgabe  von  Febsch,  Frankfurt  1858—71,  8  Bde.)  sind  Mysterium  cosmo- 
graphicum,  Harmonice  mundi,  Astronomia  nova  seu  physica  coelestis  tradita  commentariis 
de  motibus  stellae  Martis  hervorzuheben.  Vgl  Chb,  Siowart,  Kleine  Schriften  I,  182  ff. 
R.  EucKEN,  Fhilos.  Monatsh.  1878,  S.  30  ff.  —  Unmittelbar  an  ihn  schliesst  sich  Galileo  Galilei 
(1564  zu  Pisa  geboren,  1642  zu  Arcetri  gestorben).  Von  den  Werken  (15  Bde.  Florenz  1842 
— ^56  mit  einem  biographischen  Supplementbande  von  Arago)  enthalten  Bd.  11 — 14  die  Fisico- 
mathematica;  darunter  II  saggiatore  (1623)  und  den  Dituog  über  das  ptolemäiBche  und  das 
kopemikanische  System  (1632).   Vgl.  H.  Martin,  G.,  les  droits  de  la  science  et  la  methode 


300  rV.  Philosophie  der  Renaissance. 

des  Sciences  physiques  (Paris  1868);  P.  Natobp,  G.  als  Philosoph  (Philos.  Monatsh.  1882, 
S.  193  ff.). 

Isaak  Newton  (1642 — 1727)  kommt  hauptsächlich  wegen  der  Philosophiae  naturaHs 
principia  mathematica  (1687;  2.  Aufl.  von  Cotes  1713;  deutsch  von  Wolfers  1872)  und  seiner 
Optik  (1704)  in  Betracht.  —  Von  seinen  Zeitgenossen  sind  der  Chemiker  Robert  Boyle  (1626 
— 1691;  Ghemista  scepticus;  Origo  formarum  et  qualitatum;  De  ipsa  natura)  und  der  Nieder- 
länder Christian  Huyghens  (1629 — 1695;  De  causa  gravitatis;  De  lumine)  hervorzuheben.  — 

Vgl.  W.  Whewkll,  History  of  the  inductive  sciences  (London  1837;  deutsch  von 
LiTTROW,  Leipzig  1839  ff.).  —  E.  P.  Apelt,  Die  Epochen  der  Geschichte  der  Menschheit 
(Jena  1845).  —  E.  Dühring,  Kritische  Geschichte  der  Principien  der  Mechanik  (Leipzig 
1872).  —  A.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus,  2.  Aufl.  (Iserlohn  1873).  —  E.  Lasswitz, 
Geschichte  der  Atomistik,  2  Bde.  (Hamburg  und  Leipzig  1890). 

Francis  Bacon,  Baron  vonVerulam,  Viscount  von  St.  Albans,  war  1561  geboren, 
studirte  in  Cambridge,  machte  unter  der  Regierung  der  Elisabeth  und  Jacob  I  eine  glänzende 
Carriere,  bis  er  aus  der  Stellung  des  Grosskimzlers  in  einem  politischen  Tendenzprocess  durch 
Ueberfiihrung  der  Bestechlichkeit  gestürzt  wurde.  Er  starb  1626.  Die  letzte  Ausgabe  seiner 
Werke  ist  die  von  SPEDDm'ound  Heath  (London  1857  ff.).  Die  Hauptschriften  ausser  den  Essays 
(Sermones  fideles)  sind  De  dignitate  et  augmentis  scientiarum  (1623;  ursprünglich  On  the 
proficience  and  aavancement  of  leaming  divme  and  human,  1605)  und  Novum  organon  scien- 
tiarum (1620,  ursprünglich  Cogitata  et  visa,  1612)^).  Vgl.  Ch.  de  R£mx7SAT,  B.  sa  vie,  son 
temps,  sa  philosophie  et  son  influence  jusqu'ä  nos  jours  (Paris  1854).  H.  Heüsslbr,  Fr.  B.  und 
seine  geschichtliche  Stellung  (Breslau  1889). 

Ren^  Descartes  (Cartesius),  1596  in  der  Touraine  geboren,  in  der  Jesuitenschule  la 
Fläche  erzogen,  war  ursprünglich  zum  Soldaten  bestimmt  und  machte  in  verschiedenen 
Diensten  die  Feldzüge  von  1618 — 1621  mit,  zog  sich  dann  aber  erst  in  Paris  und  später  viele 
Jahre  an  verschiedenen  Orten  der  Niederlande  in  eine  wissenschaftliche  Einsamkeit  zurück, 
die  er  geflissentlich  und  sorgfältigst  bewahrte.  Nachdem  ihm  diesen  Aufenthalt  die  Streitig- 
keiten verleidet  hatten,  in  welche  seine  Lehre  an  den  dortigen  Universitäten  verwickelt  wurde, 
folgte  er  1649  einem  Rufe  der  Königin  Christine  von  Schweden  nach  Stockholm,  wo  er  jedoch 
schon  im  folgenden  Jahre  starb.  Die  Werke  sind  lateinisch  in  den  Amsterdamer  Ausgaben 
(1650  u.  a.)i  französisch  von  V.  Cousin  (11  Bde.,  Paris  1824 ff.)  gesammelt;  die  grundlegenden 
Schriften  von  Küno  Fischer  (Mannheim  1863)  übersetzt.  Die  Hauptwerke  sind:  Le  monde 
ou  traite  de  la  lumiöre  (erst  posthum  1654  gedr.);  Essays,  1637,  darunter  der  Discours  de  la 
methode  und  die  Dioptrik;Meditationes  de  prima  philosophia,  1641,  vermehrt  durch  die  Ein- 
würfe verschiedener  Gelehrten  und  D.*8  Antworten;  Principia  philosophiae  1644;  Passions 
de  Vhne,  1650.  Vgl.  F.  Boüillibb,  Histoire  de  la  philosophie  cart^sienne  (Paris  1 854).  X.  Schmio- 
ScHWABZBNBEBO,  K.  D.  und  seine  Reform  der  Philosophie  (Nördlingen  1859).  G-.  Glooaü  in 
Zeitschr.  f.  Philos.  1878,  S.  209  ff.  P.  Natorp,  D.'s  Erkenntnisstheone  (Marbu^  1882). 

Zwischen  diesen  beiden  Führern  der  neueren  Philosophie  steht  Thomas  Hobbes,  1588 
geboren,  in  Oxford  gebildet,  durch  Studien  früh  nach  Frankreich  gezogen  und  häufig  wieder 
dahin  zurückgekehrt,  in  persönlicher  Bekanntschaft  mit  Bacon,  Gassendi,  Campanella  und  dem 
cartesianischen  Kreise,  1679  gestorben.  Die  Gesammtausgabe  seiner  Werke,  englisch  und 
lateinisch,  hat  Moleswobth,  London  1839  ff.  besorgt.  Seine  erste  Schrift  Elements  of  law 
natural  and  political  (1639)  wurde  von  seinen  Freunden  in  zwei  Theilen  Human  nature  und 
De  corpore  politioo  1650  herausgegeben:  vorher  veröffentlichte  er  Elementa  philosophiae  de 
cive  1642  u.  47,  ferner  Leviathan  or  the  matter  form  and  authority  of  govemment  1661. 
Eine  Zusammenfassung  geben  die  Elementa  philosophiae,  I  De  corpore  II  de  homine  1668 
(beide  vorher  englisch  1655  u.  1658).   Vgl.  F.  Tömkibs  in  Vierteljahrsschr.  f.  w.  Philos.  1879  ff. 

Aus  der  cartesianischen  Schule  (vgl.  Boüilueb  a.  a.  0.)  sind  die  Jansenisten 
von  Port-Royal  hervorzuheben,  aus  deren  Kreisen  die  von  Anton  Arnauld  (1612 — 1694)  und 
Pierre  Nicole  (1625 — 1695)  herausgegebene  Logique  ou  Tart  de  penser  (1662)  stamimte; 
femer  die  Mystiker  Blaise  Pascal  (1623 — 1662;  Pensees  sur  la  religion;  vgl.  die  Mono- 
graphien von  J.  G.  Drbtoorfp,  Leipzig  1870  u,  75)  und  Pierre  Poiret  (1646 — 1719;  De 
eruditione  triplici,  solida  superficiaria  et  falsa). 

Die  Entwicklung  zum  Occasionalismus  schreitet  allmählich  in  Louis  de  la  Forge 
(Traitß  de  Tesprit  humain  1666),  Clauberg  (1622 — 1665;  De  coniunctione  corporis  et  animae 


1)  Bekanntlich  ist  in  neuster  Zeit  viel  Larmens  um  die  Entdeckung  gemacht  worden, 
Lord  Bacon  habe  in  seinen  Mussestunden  auch  Shakespeare^s  Werke  geschrieben.  Zwei  grosse 
litterarische  Erscheinungen  in  eine  zu  verschmelzen,  mag  sein  Verlockendes  haben:  jedenfalls 
aber  hat  man  sich  dabei  in  der  Person  vergriffen.  Denn  sehr  viel  wahrscheinlicher  wäre  es 
doch,  dass  Shakespeare  gelegentlich  auch  die  Baconische  Philosophie  gedichtet  hätte. 


2.  Naturwissenschaftliche  Periode.  301 

in  homine)  Oordemoy  (Le  discernement  du  corps  et  de  Tarne,  1666)  vor,  findet  aber  unab- 
hängig von  diesen  seine  volle  Ausbildung  bei  Arnold  Geul  in  ex  (1625 — 1669;  Universitäts- 
lehrer in  Loewen  und  Leyden).  Dessen  Hauptwerk  ist  die  Ethik  (1665;  2  Aufl.  mit  Anmerk. 
1675);  Logik  1662,  Methodus  1663.  Neue  Ausgabe  der  W.  von  J.  F.  N.  Land  (I.  Bd.  Haag 
1891>.  Vgl.  E.  Pfleidebeb,  A.  G.  als  Hauptvertreter  der  occ.  Metaphysik  und  Ethik  (Tübingen 
1882).  y.  VAN  DEB  Haeghbk,  G.  Etüde  sur  sa  vie,  sa  philosophie  et  ses  ouvrages  (Lüttich  1886). 

Aus  dem  vom  Cardinal  Berulle,  einem  Freunde  Descartes,  gegründeten  Oratorium, 
dem  auch  Gibieuf  (De  libertate  dei  et  creaturae,  Paris  1630)  angehörte,  ging  Nicole  Male- 
branche  hervor  (1638 — 1715).  Sein  Hauptwerk  De  la  recherche  de  la  verit^  erschien  1675, 
die  Entretiens  sur  la  metaphysique  et  sur  la  religion  1688.  Die  ges.  Werke  hat  J.  Simon 
(Paris  1871)  herausgegeben. 

Baruch  (Benedict  de)  Spinoza,  1682  zu  Amsterdam  in  der  portugiesischen  Juden- 
gemeinde geboren,  später  aus  dieser  seiner  Ansichten  wegen  ausgestossen ,  lebte  in  gross - 
artiger  Einfachheit  und  Einsamkeit  an  verschiedenen  Orten  Hollands  und  starb  im  Haag 
1677.  Er  hatte  eine  Darstellung  der  cartesianischen  Philosophie  mit  einem  selbständigen 
metaphysischen  Anhang  (1663)  und  den  Tractatus  theologico-politicus  (anonym  1670)  ver- 
öffentlicht. Nach  seinem  Tode  erschienen  in  den  Opera  posthuma  (1677)  sein  Hauptwerk, 
Ethica  more  geometrico  demonstrata,  der  Tractatus  politicus  und  das  Bruchstück  De  intel- 
lectus  emendatione.  Ausserdem  kommt  sein  Briefwechsel  und  das  neu  zu  Tage  getretene 
Jugendwerk  Tractatus  (brevis)  de  deo  et  homine  eiusque  felicitate  in  Betracht,  lieber  das 
letztere  vgl.  Chr.  Sigwart  (Tübingen  1870).  Die  beste  Ausgabe  seiner  Werke  ist  die  von 
VAN  Ylotbn  und  Land  (2  Bde.  Amsterdam  1882f.).  Vgl.  T.  Oahereb,  Die  Lehre  Sp.*s  (Stutt- 
gart 1877). 

Von  philosophischen  Schriftstellern,  die  sich  in  Deutschland  dem  Zuge  der  Be- 
wegung unter  den  beiden  westlichen  Oulturvölkem  anschlössen,  sind  zu  erwähnen:  Joachim 
Jung  (1587 — 1657;  Logica  Hamburgiensis,  1688;  vgl.  G.  E.  Guhracer,  J.  J.  und  sein  Zeit- 
alter, Stuttg.  und  Tüb.  1859);  der  Jenenser  Mathematiker  Erhard  Weigel,  der  Lehrer  von 
Leibniz  und  Pufendorf ;  Walther  von  Tschirnhausen  (1651 — 1708;  Medicina  mentis  sive 
aitis  inveniendi  praecepta  generalia,  Amsterdam  1687)  und  Samuel  Pufendorf  (1632 — 1694; 
pseudon.  Severinus  a  Monzambano,  de  stetu  rei  publicae  germanicae,  1667,  deutsch  von 
H.  Bresslaü,  Berlin  1870;  De  jure  naturae  et  gentium,  London  1672). 

Leibniz  gehört  in  diese  Periode  nicht  nur  der  Zeit,  sondern  auch  der  Entstehung 
und  den  Motiven  seiner  Metaphysik  nach,  während  er  mit  anderen  Literessen  seiner  unglaub- 
lichen Vielseitigkeit  in  das  Zeitalter  der  Aufklärung  hinüberragt :  vgl.  darüber  Theil  V.  Es 
kommen  deshalb  von  seinen  Schriften  hier  hauptsächlich  die  methodologischen  und  meta- 
physischen in  Betracht:  De  principio  individui,  1663;  De  arte  combinatoria  1666;  Nova 
methodus  pro  maximis  et  minimis,  1684;  De  scientia  universali  seu  calculo  philosophico,  1684 
(vgL  A.  Trbndblenburg,  Hist.  Beiträge  zur  Philosophie  III,  Iff.);  De  primae  philosophiae 
emendatione,  1694;  Systeme  nouveau  de  la  nature^  1695,  mit  den  drei  dazu  gehörigen  flclair- 
cissemente  1696;  ausserdem  die  Monadologie  1714^  die  Principes  de  la  nature  et  de  la  grace, 
1714,  und  ein  grosser  Theil  des  ausgebreiteten  Briefwechsels.  Unter  den  Ausgaben  der 
philosophischen  Schriften  ist  die  vortreffliche  von  J.  E.  Ebdmann  (Berlin  1840),  jetzt  durch 
diejenige  von  C.  J.  Gbrha&dt  (7  Bde.,  Berhn  1875 — 91)  überholt.  —  Ueber  das  System  als 
Ganzes  vgl.  L.  Feuerbach,  Darstellung,  Entwicklung  und  Kritik  derL.'schen  Philosophie 
(Ansbach  1837)  A.  Noubisson,  La  philos.  de  L.  (Paris  1860),  E.  Wendt,  Die  Entwicklung  der 
L.'schen  Monadenlehre  bis  1695  (Berlin  1886). 

Ueber  das  histerische  und  systematische  Yerhältniss  derSysteme  zu  einander : 
H.  0.  W.  SiGWABT,  Ueber  den  Zusammenhang  des  Spinozismus  mit  der  cartes.  Philosophie 
(Tübingen  1816)  und  Die  Leibniz'sche  Lehre  von  der  prästebilirten  Harmonie  in  ihrem  Zu- 
sammenhang mit  früheren  Philosophemen  (ibid.  1822).  —  0.  Schaabschmidt,  Descartes  und 
Spinoza  (Bonn  1850).  —  A.  Fouchbb  de  Careil,  Leibniz,  Descartes  et  Spinoza  (Paris  1863). 

—  E.  Pkleiderer,  L.  und  Geulincx  (Tübingen  1884).  —  E.  Zeller,  Sitz.-Ber.  der  Berliner 
Akad.  1884,  S.  673ff.  —  F.  Tönnies,  Leibniz  und  Hobbes  in  Philos.  Monatsh.  1887,  S.  357  CT. 

—  L.  Stein,  Leibniz  und  Spinoza  (Berlin  1890). 

Zu  den  Begründern  der  Rechtsphilosophie  (vgl.  C.  v.  Kaltenbqrn,  Die  Vorläufer  des 
Hugo  Grotius,  Leipzig  1848;  und  R.  v.  Mohl,  Geschichte  und  Litteratur  der  Staatswissen- 
schaften, Erlangen  1855 — 58)  gehören:  Nicolo  Macchiavelli  (1469 — 1527;  11  Principe, 
Discorsi  sulla  prima  decade  di  Tite  Livio);  Thomas  Moore  (1480 — 1535,  De  optimo 
rei  publicae  stetu  sive  de  nova  insula  Utopia,  1516) ;  Jean  Bo  din  (1530 — 1597;  Six  livres  de  la 
republique,  1577;  aus  dem  Heptaplomeres  hat  Gubraüer,  Berlin  1841,  einen  Auszug  ge- 
geben). Albericus  Gentilis  (1561 — 1611,  De  jure  belli  1588);  Johannes  A Uhus  (1557 — 
1638,  Politica,  Groningen  1610,  vgl.  0.  Gierke,  Unters,  z.  deutsch.  Staats-  u.  Rechtsgesch., 


302  rV.  Philosophie  der  Renaissance.   2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

Breslau  1880);  Hugo  de  Groot  (1583—1645;  De  jure  belli  et  pacis,  1645;  vgl.  H.  Luden, 
H.  G.,  BerUn  1806). 

Von  protestantischen  Rechtsphilosophen  können  neben  Melanchthon  J.  Olden- 
dorf  (Elementaris  introductio,  1539),  Nie.  Hemming  (De  lege  naturae,  1562)  Ben.  Winkler 
(Principia  iuris  1615);  von  katholischen  neben  Suarez  Rob.  Bellarmin  (1542 — 1621;  De 
potestate  pontificis  in  temporalibus)  und  Mariana  (1537 — 1624,  De  rege  et  regis  institutione) 
genannt  werden. 

Naturreligion  und  Naturmoral  fanden  im  17.  Jahrhundert  bei  den  Engländern  ihre 
Hauptvertreter  in  Herbert  von  Cherbury  (1581 — 1648;  Tractatus  de  veritate,  1624; 
De  religione  gentilium  errorumque  apud  eos  causis,  1663;  über  ihn  Oh.  de  R^xüsat,  Paria 
1873)  und  Richard  Cumberland  (De legibus  naturae  disquisitiophilosophica, London  1672). 
Unter  den  Platönikem  bzw.  Neupiaton ikern  Englands  in  der  gleichen  Zeit  ragen  hervor 
Ralph  Cudworth  (1617 — 1688;  The  intellectual  System  of  the  universe,  London  1678, 
lateinisch  Jena  1733)  und  Henry  More  (1614 — 1687;  Encheiridion  metaphysicum.  Seine 
Correspondenz  mit  Desoartes  ist  bei  dessen  Werken  ^-  Cousin  Bd.  X.  —  gedruckt). 

%  30«  Das  Problem  der  Methode. 

Allen  Anfangen  der  modernen  Philosophie  ist  eine  impulsive  Opposition 
gegen  die  ^Scholastik^  und  dabei  eine  naive  Verständnisslosigkeit  für  die  Ab- 
hängigkeit gemeinsam,  in  der  sie  sich  trotzdem  von  irgend  einer  Tradition  der- 
selben befinden.  Dieser  oppositionelle  Grundcharakter  aber  bringt  es  mit  sich,  dass 
überall  da,  wo  nicht  bloss  Gremüthsbedürfnisse  oder  phantasievolle  Anscliauungen 
gegen  die  alten  Lehren  gestellt  werden,  die  Besinnung  auf  neue  Methoden 
der  Erkenntniss  im  Vordergrunde  steht.  Aus  der  Einsicht  in  die  Unfruchtbarkeit 
des  „Syllogismus^,  der  ledigUch  das  schon  Gewusste  beweisend  oder  widerlegend 
herausstellen  oder  auf  Besonderes  anwenden  könne,  ergiebt  sich  das  Verlangen 
nach  einer  Ars  inveniendi,  einer  Methode  der  Forschung,  einem  sicheren 
Wege  zur  Auffindung  des  Neuen. 

1.  Da  lag  nun,  wenn  mit  der  Rhetorik  doch  nichts  zu  machen  war,  am 
nächsten,  das  Ding  umgekehrt  von  dem  Einzelnen,  von  den  Thatsachen  her  an- 
zugreifen. Das  hatten  Vives  und  Sanchez  empfohlen,  Telesio  und  Campanella 
gethan.  Aber  sie  hatten  weder  volles  Zutrauen  zu  den  Erfahrungen  gewonnen, 
noch  hinterher  mit  den  Thatsachen  etwas  Siebtes  anzufiangen  gewusst.  In  beiden 
Richtungen  glaubte  Bacon  der  Wissenschaft  neue  Wege  weisen  zu  können,  und 
in  diesem  Sinne  stellte  er  sein  „neues  Organen^  dem  aristotelischen  gegenüber. 

Die  alltägliche  Wahrnehmung,  gesteht  er  mit  Aufnahme  der  bekannten 
skeptischen  Argumente  zu,  bietet  fi'eilich  keinen  sicheren  Boden  für  rechte  Natur- 
crkenntniss :  sie  muss,  um  wissenschaftlich  brauchbare  Erfahrung  zu  werden,  erst 
von  allen  den  irrthümlichen  Zusätzen  gereinigt  werden,  mit  denen  sie  in  der  un- 
willkürlichen Auffassung  verwachsen  ist.  Diese  Fälschungen  der  reinen  Erfahrung 
nennt  Bacon  Idole,  und  er  stellt  die  Lehre  von  den  Trugbildern  in  Analogie 
zu  der  von  den  Trugschlüssen  in  der  alten  Dialectik ').  Da  sind  zunächst  die 
„Trugbilder  der  Gattung"  (idola  tribus),  die  mit  dem  menschlichen  Wesen  im  All- 
gemeinen gegebenen  Täuschungen,  wonach  wir  in  den  Dingen  immer  Ordnung  und 
Zweck  vermuthen,  uns  selbst  zum  Mass  der  Aussenwelt  machen,  eine  durch  Ein- 
drücke einmal  erregte  Vorstellungsrichtung  blind  innehalten  und  ähnl.;  sodann 
die  „Trugbilder  der  Höhle"  (idola  specus),  vermöge  deren  jeder  Einzelne  noch 
besonders  mit  seiner  Anlage  und  seiner  Lebensstellung  sich  in  seine  Höhle  *) 

1)  Nov.  Org.  I,  39 ff.  —  2)  Bacon *s  meist  stark  rhetorisck  bilderreiche  Sprache  will 
mit  dieser  Bezeichnung  (vgl.  De  augnu  V,  cap.  4)  an  das  bekannte  Höhlengleichniss  von  Flaton 


§  30.  Problem  der  Methode.  (Bacon.)  303 

gesperrt  findet ;  weiter  die  „Trugbilder  des  Markts^  (idola  fori);  die  Irrthümer, 
welche  durch  den  Verkehr  der  Menschen,  insbesondere  durch  die  Sprache,  durch 
das  Kleben  am  Wort,  das  wir  dem  Begriff  unterschieben,  überall  hervorgerufen 
werden;  endlich  die  „Trugbilder  der  Bühne"  (idola  theatri),  die  Wahngebilde 
der  Ansichten,  welche  wir  aus  der  menschlichen  Geschichte  gläubig  über- 
nehmen und  urtheilslos  nachsprechen.  Hierbei  findet  Bacon  Gelegenheit,  so 
heftig  wie  nur  irgend  ein  Anderer  gegen  die  Wortweisheit  der  Scholastik,  gegen 
die  Herrschaft  der  Autorität,  gegen  den  Anthropomorphismus  der  früheren 
Philosophie  zu  polemisiren  und  Autopsie  der  Dinge,  unbefangene  Aufnahme 
der  Wirklichkeit  zu  yerlangen.  Jedoch  kommt  er  über  dies  Verlangen  nicht 
hinaus:  denn  die  Angaben  über  die  Axt  und  Weise,  wie  nun  die  mera  ex- 
perientia  gewonnen  und  aus  den  Umhüllungen  der  Idole  herausgeschält  werden 
soll,  sind  äusserst  mager,  und  wenn  Bacon  lehrt,  man  dürfe  sich  nicht  auf  die 
zufalligen  Wahrnehmungen  beschränken,  sondern  die  Beobachtung  methodisch 
anstellen  und  durch  das  selbsterdachte  und  selbstgemachte  Experiment  er- 
gänzen '),  so  ist  auch  dies  nur  eine  allgemeine  Bezeichnung  der  Aufgabe,  wobei 
es  an  einer  theoretischen  Einsicht  in  das  Wesen  des  Experiments  noch  gebricht. 

Ganz  ähnlich  steht  es  mit  der  Methode  der  Induction,  welche  Bacon  als 
die  einzig  richtige  Art  der  Verarbeitung  der  Thatsachen  proklamirte.  Mit  ihrer 
Hilfe  soll  man  zu  den  allgemeinen  Einsichten  (Axiome)  fortschreiten,  um  von 
diesen  her  schliesslich  andere  Erscheinungen  zu  ericlären.  Dabei  soll  der  mensch- 
liche Geist,  zu  dessen  constitutionellen  Fehlem  die  vorschnelle  Verallgemeinerung 
gehört,  bei  dieser  Thätigkeit  so  sehr  wie  möglich  zurückgehalten  werden,  er  soll 
ganz  allmählich  die  Stufenleiter  des  Allgemeineren  bis  zum  Allgemeinsten  empor- 
klimmen. So  gesund  und  schätzenswerth  diese  Vorschriften  sind,  so  sehr  über- 
rascht es,  ihre  nähere  Ausführung  bei  Bacon  ii:  durchaus  scholastischen  Anschau- 
ungen und  Begriffen  sich  vollziehen  zu  sehen  *). 

Alle  Naturerkenntniss  hat  den  Zweck,  die  Ursachen  der  Dinge  zu  ver- 
stehen. Die  Ursachen  aber  sind  —  nach  altem  aristotelischen  Schema  —  formal, 
material,  wirkend  oder  final.  Von  diesen  kommen  nur  die  „formalen '^  Ursachen 
in  Betracht:  denn  alles  Geschehen  wurzelt  in  den  „Formen",  in  den  „Naturen" 
der  Dinge.  Wenn  daher  die  Induction  Bacon's  nach  der  „Form"  der  Er- 
scheinungen, z.  B.  nach  der  Form  der  Wärme  forscht,  so  wird  dabei  unter  Form 
ganz  im  Sinne  des  Scotismus  das  bleibende  Wesen  der  Erscheinungen  ver- 
standen. Die  Form  des  in  der  Wahrnehmung  Gegebenen  setzt  sich  aus  ein- 
facheren „Formen"  und  deren  „Differenzen"  zusammen,  und  diese  gilt  es  auszu- 
kundschaften. Zu  diesem  Zwecke  werden  als  positive  Instanzen  möglichst  viele 
Fälle,  bei  denen  die  betreffende  Erscheinung  vorkommt,  zu  einer  tabula  praesentiae 
zusammengestellt,  ingleichem  zu  einer  tabula  absentiae  solche,  in  denen  sie  fehlt; 
dazu  kommt  drittens  eine  tabula  graduum,  in  der  die  verschiedene  Stärke,  womit 
die  Erscheinimg  auftritt,  mit  derjenigen  andrer  Erscheinungen  verghchen  wird. 
Danach  soll  dann  durch  schrittweise  Ausschliessung  (exclusio)  die  Aufgabe  gelöst 
werden.  Die  „Form"  der  Wärme  z.  B.  wird  also  das  sein,  was  überall  ist,  wo 
sich  Wärme  findet,  was  nirgends  ist,  wo  Wärme  fehlt,  was  stärker  vorhanden  ist, 

(Rep.  514)  erinnerD,  was  um  so  unglücklicher  ist,  als  es  sich  in  der  platonischen  Stelle  gerade 
um  die  allgemeine  Beschränktheit  der  Sinneserkenntniss  handelt. 

1)  Nov.  Org.  I,  82.  —  2)  Vgl.  die  umständliche  Darstellung  im  zweite^  Buch  des  Nov.  Org. 


304  IV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

WO  mehr  Wärme,  schwächer,  wo  weniger  Wärme  stattfindet').  Was  Bacon 
somit  als  Induction  präsentirt,  ist  allerdings  keine  einfache  Enumeration,  aber  ein 
verwickeltes  Abstractionsverfahren,  welches  auf  den  metaphysischen  Voraus- 
setzungen des  scholastischen  Formalismus  (vgl.  S.  269  f.)  beruht  ^) :  die  Ahnung 
des  Neuen  ist  noch  ganz  in  die  alten  Denkgewohnheiten  eingebettet. 

2.  Es  ist  hiernach  begreiflich,  dass  Bacon  nicht  der  Mann  war,  um  der 
Naturforschung  selbst  methodische  oder  sachliche  Förderung  zu  bringen:  aber 
das  thut  seiner  philosophischen  Bedeutung^)  keinen  Eintrag,  welche  gerade  darin 
besteht,  dass  er  die  allgemeine  Anwendung  eines  Princips  verlangte,  dem  er  fiir 
den  nächsten  Gegenstand,  die  Erkenntniss  der  Körperwelt,  noch  keine  brauch- 
bare oder  fruchtbare  Gestalt  zu  geben  vermochte.  Er  hatte  verstanden,  dass 
die  neue  Wissenschaft  sich  von  der  endlosen  Discussion  der  Begriffe  zu  den 
Sachen  selbst  wenden  müsse,  dass  sie  sich  nur  auf  Anschauimg  aufbauen  könne 
und  dass  sie  von  dieser  nur  vorsichtig  und  allmählich  zu  dem  Abstracteren  auf- 
steigen dürfe  *) :  und  er  hatte  nicht  weniger  verstanden,  dass  es  sich  bei  dieser 
Induction  um  nichts  anderes  handeln  würde  als  um  die  Aufsuchung  der  einfachen 
Elemente  des  Wirklichen,  aus  deren  „Natur''  in  ihrer  gesetzmässigen  Beziehung 
und  Verknüpfung  der  ganze  Umfang  des  Wahrgenommenen  erklärt  werden  sollte. 
Die  Induction,  meinte  er,  wird  die  „Formen"  finden,  durch  welche  die  Natur 
„interpretirt"  werden  muss.  Aber  während  er  es  in  der  Kosmologie  nicht  viel 
über  eine  Anlehnung  an  den  traditionellen  Atomismus  hinausbrachte,  und  sich 
sogar  gegen  die  grosse  Errungenschaft  der  kopernikanischen  Theorie  verschloss, 
so  verlangte  er  die  Anwendung  jenes  empiristischen  Princips  auch  auf  die 
Erkenntniss  des  Menschen.  Nicht  nur  die  leibliche  Existenz  in  ihren 
normalen  wie  in  ihren  anomalen  Lebensprocessen,  sondern  auch  die  Bewegung 
der  Vorstellungen  und  der  Willensthätigkeiten,  insbesondere  auch  der  sociale 
und  poUtische  Zusammenhang  —  alles  dies  sollte  nach  der  naturwissenschaft- 
liehen  Methode  auf  seine  bewegenden  Kräfte  („Formen")  hin  untersucht 
und  vorurtheilslos  erklärt  werden.  Der  anthropologische  und  sociale 
Naturalismus,  den  Bacon  in  den  encyclopädischen  Bemerkungen  seines 
Werks  De  augmentis  scientiarum  verkündet,  enthält  für  viele  Wissenszweige 
programmatische  Aufstellungen  ^)  und  geht  überall  von  der  Grundabsicht  aus, 
den  Menschen  und  seine  gesammte  Lebensbethätigung  als  ein  Product  derselben 
einfachen  Elemente  der  Wirkhchkeit  zu  begreifen,  die  auch  der  äusseren  Natur 
zu  Grunde  liegen. 


1)  Wobei  sich  im  Beispiel  herausstellt,  dass  die  Form  der  Wärme  Bewe^ng 
und  zwar  eine  in  der  Ausdehnung  begriifene,  dabei  aber  durch  Hemmung  auf  die  kleinsten 
Theile  des  Körpers  vertheilte  Bewegung  ist,  vgl.  II,  20.  —  2)  Vgl.  Chr.  Sigwabt, 
Logik  II  §  93,  3.  —  8)  Vgl.  Chr.  Sigwart  in  den  Preuss.  Jahrb.  1863,  93  ff.  — 
4)  Die  pädagogischen  Consequenzen  der  Baconischen  Lehre  hat  im  Gegensatz  zum 
Humanismus,  mit  dem  überhaupt  in  dieser  Hinsicht  die  naturwissenschaftlicne  Richtung 
bald  auseinander  kam,  hauptsächlich  Arnos  Komenius  (1592 — 1671)  gezogen.  Seine  Didactica 
magna  stellt  den  Lehrgang  als  ein  stufenweises  Aufsteigen  vom  Anschaulich-Ooncreten  zum 
Abstracteren  dar;  sein  Orbis  pictus  will  für  die  Schide  die  anschauliche  GrundlM^e  des  sach- 
lichen Unterrichts  geben;  seine  Janua  linguarum  rcserrata  endlich  will  das  Erlernen  der 
fremden  Sprachen  nur  so  eingerichtet  wissen,  wie  es  als  Hilfsmittel  für  die  sachliche  Er- 
kenntniss erforderlich  ist.  Aehnlich  sind  die  pädagogischen  Ansichten  auch  bei  Battich 
(1571 — 1685).  —  5)  Wollte  man  deshalb  alles  in  Aussicht  Gestellte  bei  Bacon  für  geleistet 
ansehen,  so  könnte  man  bei  ihm  schon  die  ganze  heutige  Naturwissenschaft  finden. 


§30.  Problem  der  Methode.    (Baoon.)  305 

In  diesem  anthropologischen  Interesse  aber  kommt  noch  ein  anderes 
Moment  zu  Tage.  Auch  das  Yerständniss  des  Menschen  ist  für  Bacon  nicht 
Selbstzweck,  ebensowenig  wie  dasjenige  der  Natur.  Sein  ganzes  Denken  steht 
vielmehr  unter  einem  praktischen  Zweck,  und  diesen  fasst  er  im  grössten  Stile 
auf.  Alle  menschUche  Wissenschaft  hat  zuletzt  nur  die  Aufgabe,  durch  die 
Erkenntniss  der  Welt  dem  Menschen  die  Herrschaft  über  dieselbe  zu  ver- 
schaflfen.  Wissen  ist  Macht,  und  es  ist  die  einzige  dauernde  Macht.  Wenn 
deshalb  die  Magie  mit  phantastischen  Künsten  sich  der  wirkenden  Kräfte  zu 
bemächtigen  suchte,  so  klärte  sich  dies  dunkle  Bestreben  bei  Bacon  zu  der 
Einsicht  ab,  dass  der  Mensch  die  Gewalt  über  die  Dinge  nur  einer  nüchternen 
Erforschung  ihres  wahren  Wesens  werde  verdanken  können.  Deshalb  ist  ihm 
die  Interpretationaturae  nur  das  Mittel,  die  Natur  dem  menschlichen  Geiste 
zu  unterwerfen:  und  sein  grosses  Werk  der  „Erneuerung  der  Wissen- 
schaften" —  Instauratio  magna,  „Temporis  partus  maximus"  —  trägt  auch  den 
Titel  De  regno  hominis. 

Bacon  sprach  damit  aus,  was  Tausenden  seiner  Zeit  unter  dem  Eindrucke 
grosser  Ereignisse  das  Herz  bewegte.  Mit  jener  Reihe  der  überseeischen  Ent- 
deckungen, wo  durch  Irrthümer,  Abenteuer  und  Verbrechen  hindurch  der  Mensch 
erst  vollständig  von  seinem  Planeten  Besitz  ergriffen  hatte,  mit  Erfindungen 
wie  denen  der  Bussole,  des  Schiesspulvers,  der  Buchdruckerkunst  *)  war  in  kurzer 
Zeit  eine  mächtige  Veränderung  im  grossen  wie  im  kleinen  Leben  des  Menschen 
eingetreten.  Eine  neue  Epoche  der  Cultur  schien  eröffnet,  und  eine  exotische 
Aufregung  ergriff  die  Phantasie.  Unerhörtes  sollte  gelingen,  nichts  mehr  un- 
möglich sein.  Das  Femrohr  erschloss  die  Geheimnisse  des  Himmels,  und  die 
Mächte  der  Erde  begannen  dem  Forscher  zu  gehorchen.  Die  Wissenschaft  wollte 
die  Führerin  des  Menschengeistes  bei  seinem  Siegeszuge  durch  die  Natur  sein. 
Durch  ihre  Erfindungen  sollte  das  menschliche  Leben  vollkommen  umgestaltet 
werden.  Welche  Hoffnungen  die  Phantasie  in  dieser  Hinsicht  entfesselte,  sieht 
man  aus  Bacon's  utopischem  Fragment  der  Nova  Atlantis  und  ebenso  aus  Cam- 
panella's  Sonnenstaat.  Der  englische  Kanzler  aber  meinte,  die  Aufgabe  der 
Naturerkenntniss  sei  schliesslich  diejenige,  das  Erfinden,  welches  bisher  meist 
Sache  des  Zufalls  gewesen  sei,  zu  einer  bewusst  auszuübenden  Kunst  zu  machen. 
Freilich  hat  er  nur  in  dem  phantastischen  Bilde  des  Salomonischen  Hauses  in 
seiner  Utopie  diesem  Gedanken  Leben  gegeben;  ihn  ernsthaft  auszufuhren  hat  er 
sich  wohl  gehütet:  aber  dieser  Sinn,  welchen  er  der  Ars  inveniendi  beilegte, 
machte  ihn  zum  Gegner  des  rein  theoretischen  Wissens  und  der  „contemplativen** 
Erkenntniss ;  gerade  von  diesem  Gesichtspunkte  her  bekämpfte  er  den  Aristoteles 
und  die  Unfruchtbarkeit  der  klösterUchen  Wissenschaft.  In  seiner  Hand  war  die 
Philosophie  in  Gefahr,  aus  der  Herrschaft  des  religiösen  Zwecks  unter  diejenige 
der  technischen  Interessen  zu  fallen. 

Der  Erfolg  aber  bewies  wiederum,  dass  die  goldenen  Früchte  des  Wissens 
nur  da  reifen,  wo  sie  nicht  gesucht  werden.  In  der  Hast  der  Utilität  verfehlte 
Bacon  sein  Ziel,  und  die  geistigen  Schöpfungen,  welche  die  Naturforschung 
befähigt  haben,  die  Grundlage  unsrer  äusseren  Cultur  zu  werden,  gingen  von 
den  vornehmeren  Denkern  aus,  die  reinen  Sinnes  und  ohne  Weltverbesserungs- 
gelüste die  Ordnung  der  Natur,  welche  sie  bewunderten,  verstehen  wollten. 

1)  Ygl.  O.  Feschel,  Geschichte  des  Zeitalters  der  Entdeckungen,  2.  Aufl.  Leipzig  1879. 
Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  20 


306  IV.  Philosophie  der  Renaissance.   2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

3.  Die  Richtung  auf  den  praktischen  Zweck  der  Erfindung  raubte  Bacon 
den  Blick  für  den  theoretischen  Werth  der  Mathematik.  Auch  dieser  aber  war 
zunächst  (vgl.  oben  §  29^  5)  in  den  phantastischen  Formen  zum  Bewusstsein  ge- 
kommen^  welche  nach  pythagoreischem  Vorgange  in  neuplatonischer  Ueber- 
schwengUchkeit  die  Zahlenharmonie  des  Universums  priesen.  Von  der  gleichen 
Bewunderimg  der  Schönheit  und  der  Ordnung  des  Weltalls  sind  auch  die  grossen 
Naturforscher  ausgegangen :  aber  das  Neue  in  ihren  Lehren  besteht  eben  darin^ 
dass  sie  diesen  mathematischen  Sinn  der  Weltordnung  nicht  mehr  in  symbolischen 
Zahlenspeculationen  suchen,  sondern  dass  sie  ihn  aus  den  Thatsachen  ver- 
stehen und  beweisen  wollen.  Die  moderne  Naturforschung  ist  als  empirischer 
Pythagoreismus  geboren  worden.  Diese  Aufgabe  hatte  schon  Lionardo 
da  Vinci  gesehen^)  —  sie  zuerst  gelöst  zu  haben,  ist  der  Ruhm  Kepler's. 
Das  psychologische  Motiv  seines  Forschens  war  die  philosophische  Ueberzeugung 
von  der  mathematischen  Ordnung  des  Weltalls;  und  er  bestätigte  dieselbe, 
indem  er  durch  eine  grossartige  Induction  die  Gesetze  der  Planetenbewegung 
entdeckte. 

Dabei  zeigte  sich  einerseits,  dass  die  wahre  Aufgabe  der  naturwissen- 
schaftlichen Induction  darin  besteht,  dasjenige  mathematischeVerhältniss 
au&ufinden,  welches  in  der  ganzen  Reihe  der  durch  Messung  bestimmten  Er- 
scheinungen gleich  bleibt;  andrerseits  dass  der  Gegenstand,  an  welchem  die 
Forschung  diese  Au%abe  zu  leisten  vermag,  kein  andrer  ist  als  die  Bewegung. 
Die  göttliche  Arithmetik  und  Geometrie,  welche  Kepler  im  Universum  suchte, 
fand  sich  in  den  Gesetzen  des  Geschehens.  Von  diesem  Princip  her 
schuf  mit  schon  deutlicherem  methodischen  Bewusstsein  Galilei  die  Me- 
chanik als  die  mathematische  Theorie  der  Bewegung.  Es  ist  überaus 
lehrreich,  die  Gedanken,  welche  dieser  im  Saggiatore  vorträgt,  mit  Bacon's  Inter- 
pretation der  Natur  zu  vergleichen.  Beide  gehen  darauf  aus,  die  in  der 
Wahrnehmung  gegebenen  Erscheinungen  in  ihre  Elemente  zu  zerlegen,  um  aus 
deren  Verknüpfung  die  Erscheinungen  zu  erklären.  Aber  wo  Bacon's  Induc- 
tion die  „Formen"  sucht,  da  spürt  Galileis  resolutive  Methode  den  ein- 
fachsten mathematisch  bestimmbaren  Vorgängen  der  Bewegung  nach,  und 
während  die  Interpretation  bei  Jenem  in  dem  Aufweis  der  Zusammenwirkung 
der  Naturen  zu  dem  empirischen  Gebilde  besteht,  so  zeigt  Dieser  in  der  com- 
positiven  Methode,  dass  die  mathematische  Theorie  unter  der  Voraus- 
setzung der  einfachen  Bewegungselemente  zu  denselben  Resultaten  führt,  welche 
die  Erfahrung  aufweist*).  Auf  diesem  Standpunkt  gewinnt  auch  das  Experi- 
ment eine  ganz  andere  Bedeutung:  es  ist  nicht  bloss  eine  kluge  Frage 
an  die  Natur,  sondern  es  ist  der  zielbewusste  EingriflF,  durch  welchen  ein- 
fache Formen  des  Geschehens  isolirt  werden,  um  sie  der  Messung  zu  unter- 
werfen. So  erhält  alles,  was  Bacon  nur  geahnt,  bei  Galilei  durch  das  mathe- 
matische Princip  und  durch  die  Anwendung  auf  die  Bewegung  eine  bestimmte, 
für  die  Naturforschung  brauchbare  Bedeutung;  und  nach  diesen  Principien 
der  Mechanik  vermochte  Newton  durch  die  Hypothese  der  Gravitation  die 
mathematische  Theorie  für  die  Erklärung  der  Kepler'schen  Gesetze  zu  geben. 

1)  Vgl.  über  ihn  als  Philosophen  K.  Prantl,  Sitz.-Ber.  der  Münchencr  Akad.  1885, 1  fF.  — 
2)  Diesen  methodischen  Standpunkt  machte  sich  Hobbes  (vgl.  De  corp.  cap.  6)  ganz  zu  eigen, 
und  zwar  in  ausdrücklich  rationalistischem  Gegensatze  gegen  den  Empirismus  Bacon's. 


§  30.  Problem  der  Methode.  (Galilei,  Hobbes,  Descartes.)  307 

Hiermit  war  in  völlig  neuer  Form  der  Sieg  des  demokritisch- plato- 
nischen Princips  besiegelt,  dass  der  Gegenstand  der  wahren  Katurerkenntniss 
lediglich  das  quantitativ  Bestimmbare  sei:  es  betraf  aber  diesmal  ausdrück- 
lich nicht  das  Sein,  sondern  das  Geschehen  in  der  Natur.  Die  wissenschaftliche 
Einsicht  reicht  so  weit  wie  die  mathematische  Theorie  der  Bewegung.  Genau 
diesen  Standpunkt  der  Galilei'schen  Physik  nimmt  in  der  theoretischen  Philo- 
sophie Hobbes*)  ein.  Die  Geometrie  ist  die  einzige  sichere  Disciplin,  alle 
Naturerkenntniss  wurzelt  in  ihr.  Wir  vermögen  nur  solche  Gegenstände  zu  er- 
kennen; die  wir  construiren  können,  sodass  wir  aus  dieser  unsrer  eigenen  Operation 
alle  weiteren  Folgerungen  ableiten.  Daher  besteht  die  Erkenntniss  aller  Dinge, 
soweit  sie  uns  zugänglich  ist,  in  der  Zurtickföhrung  des  Wahrgenommenen  auf 
Bewegung  der  Körper  im  Raum.  Die  Wissenschaft  hat  von  den  Erscheinungen 
auf  die  Ursachen  und  von  diesen  wiederum  auf  ihre  Wirkungen  zu  schliessen: 
aber  die  Erscheinungen  sind  ihrem  Wesen  nach  Bewegungen,  die  Ursachen  sind 
die  einfachen  Bewegungselemente,  und  die  Wirkungen  sind  wiederum  Bewegungen. 
So  kommt  der  materialistisch  scheinende  Satz  zu  Stande:  Philosophie  ist  die 
Lehre  von  der  Bewegung  der  Körper!  Das  ist  die  äusserste  Consequenz  ihrer 
mit  den  englischen  Minoriten  begonnenen  Ablösung  von  der  Theologie. 

Das  philosophisch  WesentUche  in  diesen  methodischen  Anfangen  der  Natur- 
forschung ist  also  zweierlei:  der  Empirismus  wurde  durch  die  Mathematik 
corrigirt,  und  der  gestaltlose  Pythagoreismus  der  humanistischen  Tradition 
wurde  durch  den  Empirismus  zur  mathematischen  Theorie  bestimmt.  Den 
Knotenpunkt  dieser  Yerschlingung  bildet  Galilei. 

4.  In  der  mathematischen  Theorie  war  damit  jenes  rationale  Moment 
gefunden  worden,  welches  Giordano  Bruno  bei  der  Behandlung  der  kopernika- 
nischen  Lehre  zur  kritischen  Bearbeitung  der  Sinneswahrnehmung  verlangt 
hatte  *).  Die  rationale  Wissenschaft  ist  die  Mathematik.  Von  dieser  Ueberzeu- 
gung  aus  hat  Descartes  seine  Reform  der  Philosophie  unternommen.  Er  hatte, 
in  der  jesuitischen  Scholastik  aufgewachsen,  die  persönliche  Ueberzeugung  ge- 
wonnen'), dass  für  ein  ernstes  Wahrheitsbedür&iss  weder  in  den  metaphysischen 
Theorien  noch  in  der  gelehrten  Vielwisserei  der  empirischen  Disciplinen,  son- 
dern allein  in  der  Mathematik  Befriedigung  zu  finden  sei,  und  nach  deren  Muster 
meinte  er,  selbst  bekanntlich  ein  schöpferischer  Mathematiker,  das  ganze  übrige 
Wissen  des  Menschen  umgestalten  zu  sollen:  seine  Philosophie  will  eine  Uni- 
versalmathematik sein.  Bei  der  damit  erforderlichen  Verallgemeinerung  des 
Galilei'schen  Princips  fielen  einige  der  Momente,  welche  dasselbe  für  die  be- 
sonderen Aufgaben  der  Naturforschung  fruchtbar  machten,  hinweg,  sodass  Des- 
cartes' Lehre  in  der  Geschichte  der  Physik  nicht  als  Fortschritt  gezählt  zu 
werden  pflegt:  um  so  grösser  aber  war  die  Macht  seiner  Einwirkung  auf  die 
philosophische  Entwicklung,  in  der  er  der  beherrschende  Geist  für  das  17.  Jahr- 
hundert und  darüber  hinaus  gewesen  ist. 

Denjenigen  methodischen  Gedanken,  welche  Bacon  und  Galilei  gemeinsam 
sind,  fügte  Descartes  ein  Postulat  von  grösster  Tragweite  hinzu:  er  verlangte, 
dass  die  inductive  oder  resolutive  Methode  zu  einem  einzigen  Princip 
höchster  und  absoluter  Gewissheit  führen  solle,  von  dem  aus  alsdann  nach 

1)  Vgl.  den  Anfang  von  De  corpore.  —  2)  G.  Bruno,  DelF  inf.  univ  e.  mond.  1  in.  (L. 
307  f.)  —  8)  Vgl.  die  schöne  Darstellung  im  Discours  de  la  m^thode. 

20* 


308  rV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

compositiver  Methode  der  gesammte  umfang  der  Erfahrung  seine  Erklärung 
finden  müsse.  Diese  Forderung  war  durchaus  originell  und  wurzelte  in  dem 
Bedürfniss  nach  einem  systematischen  Zusammenhange  aller  menschlichen  Er- 
kenntniss:  sie  beruhte  zuletzt  auf  dem  üeberdruss  an  der  traditionellen  Auf- 
nahme des  historisch  zusammengelesenen  Wissens  und  auf  der  Sehnsucht  nach 
einer  neuen  philosophischen  Schöpfung  aus  Einem  Guss.  So  will  denn  Descartes 
durch  eine  inductive  Enumeration  und  eine  kritische  Sichtung  aller  Vorstellungen 
zu  dem  einzig  gewissen  Punkte  vordringen,  um  von  hier  aus  die  Ableitung  aller 
weiteren  Wahrheiten  zu  gewinnen.  Die  erste  Aufgabe  der  Philosophie  ist 
analytisch,  die  zweite  synthetisch. 

Die  classische  Ausfuhrung  dieses  Gedankens  bieten  die  Meditationen. 
In  dramatischem  Selbstgespräch  schildert  der  Philosoph  sein  Ringen  nach  Wahr- 
heit. Von  dem  Grundsatze  aus  „De  omnibus  dubitandum"  wird  der  Umkreis 
der  Vorstellungen  allseitig  durchmustert,  und  dabei  begegnet  uns  der  ganze  Apparat 
der  skeptischen  Argumente.  Den  Wechsel  der  Meinungen  und  die  Täuschungen 
der  Sinne  erleben  wir  zu  oft,  sagt  Descartes,  als  dass  wir  ihnen  trauen  dürften. 
Bei  der  Verschiedenheit  der  Eindrücke,  welche  derselbe  Gegenstand  unter  ver- 
schiedenen Umständen  macht,  ist  nicht  zu  entscheiden,  welcher  von  ihnen  und 
ob  überhaupt  einer  das  wahre  Wesen  des  Dinges  enthält,  und  die  Lebhaftig- 
keit und  Sicherheit,  mit  der  wir  erfahrungsmässig  zu  träumen  vermögen,  muss 
uns  das  niemals  völlig  abzuweisende  Bedenken  erregen,  ob  wir  nicht  vielleicht 
auch  da  träumen,  wo  wir  wach  zu  sein  und  wahrzunehmen  glauben.  Indessen 
hegen  doch  allen  den  Combinationen,  welche  die  Einbildung  schaffen  kann,  die 
einfachen  Vorstellungselemente  zu  Grunde,  und  bei  ihnen  stossen  wir  auf  Wahr- 
heiten, von  denen  wir  unweigerlich  sagen  müssen,  dass  wir  nicht  anders  können 
als  sie  anerkennen,  wie  z.  B.  die  einfachen  Sätze  der  Arithmetik,  2X2  =  4 
u.  ähnl.  Aber  wie,  wenn  wir  nun  so  eingerichtet  wären,  dass  wir  unsrer 
Natur  nach  nothwendig  irren  müssten?  wie,  wenn  uns  irgend  ein  Dämon  ge- 
schaffen hätte,  dem  es  gefiel,  uns  eine  Vernunft  mitzugeben,  die,  indem  sie 
Wahrheit  zu  lehren  meint,  nothwendig  täuschte  ?  Gegen  ein  solches  Blendwerk 
wären  wir  wehrlos,  und  dieser  Gedanke  muss  uns  misstrauisch  auch  gegen  die 
evidentesten  Sprüche  der  Vernunft  machen. 

Nachdem  so  der  grundsätzUche  Zweifel  bis  zum  Aeussersten  vorgedrungen 
ist,  erweist  sich,  dass  er  selbst  sich  die  Spitze  abbricht,  dass  er  selbst  eine  That- 
sache  von  vöUig  unangreifbarer  Gewissheit  darstellt:  um  zu  zweifeln,  um  zu 
träumen,  um  getäuscht  zu  werden,  muss  ich  sein.  Der  Zweifel  selbst  beweist, 
dass  ich  als  ein  denkendes^  bewusstes  Wesen  (res  cogitans)  existire.  Der 
Satz  cogito  sum  ist  wahr,  so  oft  ich  ihn  denke  oder  ausspreche.  Und  zwar  ist  die 
Gewissheit  des  Seins  in  keiner  anderen  meiner  Thätigkeiten  enthalten  als  in  der 
des  Bewusstseins.  Dass  ich  spazieren  gehe,  kann  ich  im  Traume  mir  einbilden  ^) : 
dass  ich  bewusst  bin,  kann  ich  mir  nicht  bloss  einbilden,  denn  die  Einbildung  ist 
selbst  eine  Art  des  Bewusstseins*).    Die  Seinsgewissheit  des  Bewusst- 

1)  Descartes'  Eesponsion  gegen  ö^assendi's  Objection  (V,  2)  vgl.  Princ.  phil.  I,  9.  — 
2)  Die  übliche  Uebersetzung  von  cogitare,  cogitatio  mit  „Denken**  ist  nicht  ohne  Ghefahr  des 
Missverständnisses,  da  Denken  im  Deutschen  eine  besondere  Art  des  theoretischen  Be- 
wusstseins bedeutet.  Descartes  selbst  erläutert  den  Sinn  des  cogitare  (Medit.  3;  Princ.  phiL 
I,  9)  durch  Enumerationen:  er  verstehe  darunter  zweifeln,  bejahen,  verneinen,  begreifen, 
wollen,  verabscheuen,  einbilden,  empfinden  etc.    Für  das  allen  diesen  Functionen  Gemein- 


§  80.  Problem  der  Methode.    (Desoartes.)  309 

Seins  ist  die  einheitliche  und  fundamentale  Wahrheit,  welche  Descartes  durch 
die  analytische  Methode  findet. 

Die  Rettung  aus  dem  Zweifel  also  besteht  in  dem  augustinischen 
Argument  (vgl.  S.  218f.)  von  der  Realität  des  bewussten  Wesens. 
Aber  die  Anwendung  desselben  ist  bei  Descartes  ^)  nicht  dieselbe  wie  bei  Augustin 
selbst  und  der  grossen  Zahl  derjenigen,  auf  welche  dessen  Lehre  gerade  in  der 
Uebergangszeit  wirkte.  Hier  galt  die  Selbstgewissheit  der  Seele  als  die  sicherste 
aller  Erfahrungen;  als  die  Grundthatsache  der  inneren  Wahrnehmung,  wodurch 
die  letztere  das  erkenntnisstheoretische  Uebergewicht  über  die  äussere  Wahrneh- 
mung erhielt.  So  hatte  —  um  nicht  wieder  an  Charron's  moralisirende  Deutung 
zu  erinnern  —  das  augustinische  Princip  namentlich  Campanella  gewendet,  wenn 
er,  dem  grossen  Kirchenvater  nicht  unähnlich,  die  Momente  dieser  Selbst* 
er&hrung  in  die  metaphysischen  Primalitäten  aller  Dinge  umdeutete  (vgl.  oben 
§  29,  3).  In  völlig  analoger  Weise  hat  später  —  von  Locke  ganz  abgesehen*) 
—  in  vermeintlichem  Anschluss  an  Descartes  auch  Tschirnhausen  die  Selbst- 
erkenntniss  als  die  experientiaevidentissima  angesehen"),  welche  deshalb  als  der 
aposteriorische  Anfang  der  Philosophie  (vgl.  unten  Nr.  7)  zu  gelten  habe,  sodass 
von  ihr  aus  alle  weiteren  Einsichten  a  priori  construirt  werden  können:  denn  in 
ihr  sei  die  dreifache  Wahrheit  enthalten,  dass  wir  von  einigem  wohl,  von  anderem 
übel  berührt  werden,  dass  wir  einiges  begreifen,  anderes  nicht,  dass  wir  uns  im 
Vorstellen  der  Aussenwelt  gegenüber  leidend  verhalten  —  drei  Ansatzpunkte 
für  die  drei  rationalen  Wissenschafben  Ethik,  Logik  und  Physik. 

5.  Bei  Descartes  dagegen  hat  der  Satz  cogito  sum  nicht  sowohl  die 
Bedeutung  einer  Erfahrung,  als  vielmehr  diejenige  der  ersten,  grundlegenden 
rationalen  Wahrheit.  Seine  Evidenz  ist  auch  nicht  etwa  die  eines  Schlusses^), 
sondern  diejenige  unmittelbarer  intuitiver  Gewissheit.  Die  analytische 
Methode  sucht  hier  wie  bei  Galilei  die  einfachen  selbstverständlichen 
Elemente,  aus  denen  alles  Uebrige  erklärt  werden  soll:  während  aber  der 
Physiker  die  anschauliche  Grundform  der  Bewegung  entdeckt,  die  alles  körper- 
liche Geschehen  begreiflich  machen  soll,  fahndet  der  Metaphysiker  auf  die 
elementaren  Wahrheiten  des  Bewusstseins.  Darin  besteht  der  Ratio- 
nalismus Descartes'. 

Er  spricht  sich  darin  aus,  dass  der  Vorzug  des  Selbstbewusstseins  in  der 
vollen  Klarheit  und  Deutlichkeit  gefunden  wird  und  dass  Descartes  als 
Princip  für  die  synthetische  Methode  den  Grundsatz  aufstellte,  alles  müsse 
wahr  sein,  was  ebenso  klar  und  deutlich  sei  wie  das  Selbstbewusst- 
sein,  d.  h.  was  ebenso  sicher  und  unableitbar  vor  dem  Blicke  des  Geistes  sich 
darstellt  wie  seine  eigene  Existenz.  Klar  definirt  Descartes^)  als  das  dem  Geiste 
intuitiv  Vorschwebende,  deutlich  als  das  durchweg  in  sich  Klare  und  fest  Be- 
stimmte. Und  diejenigen  Vorstellungen  —  oder  wie  er  nach  Art  der  späteren 
Scholastik  sagt  Ideen  — ,  welche  in  diesem  Sinne  klar  und  deutlich  sind,  deren 
Evidenz  von  keiner  anderen  ableitbar,  sondern  lediglich  in  sich  selbst  begründet 

same  haben  wir  im  Deutschen  kaum  ein  anderes  Wort  als  „Bewusstsein".  Dasselbe  gilt  auch 
für  Spinoza's  Gebrauch  des  Terminus;  vgl.  dessen  Princ.  phil.  Cart.  I,  prop.  4  schol.  und  dazu 
Eth.  II  ax.  3  u.  sonst. 

1)  Der  übrigens  Anfangs  den  historischen  Ursprung  dieses  Arguments  nicht  gekannt  zu 
haben  scheint:  vgl.  Obj.  IV  und  Resp.  —  2)  Vgl.  unten  §  33 f.  —  8)  Tschirnh^iuson,  Med.  ment. 
(1695)  p.  290—94.  —  I)  Kesp.  ad  Obj.  11.  -r  5)  Pnno.  phü.  I,  45. 


310  IV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  NatorwissenschafUiche  Periode. 

ist;  nennt  er  eingeborene  Ideen^).  Mit  diesem  Ausdruck  verbindet  er  zwar 
gelegentlich  auch  die  psychogenetische  Vorstellung;  dass  diese  Ideen  der  mensch- 
lichen Seele  von  Gott  eingeprägt  seien,  will  er  aber  meistens  nur  die  er- 
kenntnisstheoretische Bedeutung  der  unmittelbaren  rationalen  Evidenz 
bezeichnen. 

Eigenthümhch  gemischt  finden  sich  beide  Bedeutungen  in  Descartes' 
Beweisen  für  das  Dasein  Gottes^  welche  einen  integrir enden  Bestandtheil 
seiner  Erkenntnisslehre  bilden,  insofern  diese  „Idee"  die  erste  ist,  für  welche 
in  dem  syntlietischen  Fortschritt  seiner  Methode  die  gleiche  Klaiiieit  und 
Deutlichkeit  oder  intuitive  Evidenz  des  „natürlichen  Lichtes"  in  Anspruch 
genommen  wird  wie  für  das  Selbstbewusstsein.  Der  neue  (sog.  cartesianische) 
Beweis,  den  er  dabei  einführt^),  hat  eine  Menge  scholastischer  Voraussetzungen. 
Er  constatirt,  dass  das  individuelle  Selbstbewusstsein  sich  als  endlich  und  des- 
halb als  unvollkommen  (nach  der  alten  Identification  von  Werthbestimmungen 
mit  ontologischen  Gradationen)  wisse,  dass  aber  dies  Wissen  nur  aus  dem  Be- 
griffe eines  absolut  vollkommenen  Wesens  (ens  perfectissimum)  herstammen 
könne.  Dieser  Begriff,  den  wir  in  uns  finden,  müsse  eine  Ursache  haben,  die 
jedoch  weder  in  uns  selbst,  noch  in  irgend  welchen  anderen  endlichen  Dingen 
zu  finden  sei.  Denn  das  Princip  der  Causalität  verlange,  dass  in  der  Ursache 
mindestens  ebenso  viel  Realität  enthalten  sei  wie  in  der  Wirkung.  Dieser  — 
im  scholastischen  Sinn  —  realistische  Grundsatz  wird  nun  nach  Analogie 
Anselm's  auf  das  Verhaltniss  des  Vorgestellten  (esse  in  intellectu  oder  esse 
objective)  zu  dem  Realen  (esse  in  re  oder  esse  formaliter)  angewendet,  um  zu 
schliessen,  dass  wir  die  Idee  eines  vollkommensten  Wesens  nicht  haben  würden, 
wenn  sie  nicht  von  einem  solchen  Wesen  selbst  in  uns  hervorgebracht  worden 
wäre.  Dieser  anthropologisch-metaphysische  Beweis  hat  dann  bei  Descartes  die 
Bedeutung,  dass  dadurch  jenes  skeptisch -hypothetische  Wahngebilde  eines 
täuschenden  Dämons  wieder  zerstreut  wird,  —  dass,  weil  die  Vollkommenheit 
Gottes  seine  Wahrhaftigkeit  involvirt  und  er  uns  unmögUch  so  hat  schaffen 
können,  dass  wir  nothwendig  irren,  das  Vertrauen  in  das  lumen  naturale, 
d.  h.  in  die  unmittelbare  Evidenz  der  Vemunfterkenntniss  wiederhergestellt 
und  damit  definitiv  begründet  wird.  So  wird  von  Descartes  auf  scholastischem 
Umwege  der  moderne  Rationalismus  eingeführt:  denn  dieser  Beweis  giebt  nun 
den  Freibrief  dafür,  dass  alle  der  Vernunft  klar  und  deuthch  einleuchtenden  Sätze 
mit  voller  Gewissheit  anerkannt  werden  können.  Dazu  gehören  in  erster  Linie 
alle  Wahrheiten  der  Mathematik,  dazu  gehört  aber  auch  ebenso  der  onto- 
logische  Beweis  für  das  Dasein  Gottes.  Denn  mit  derselben  Denknothwendig- 
keit  — so  nimmt  Descartes®)  das  Anselm'sche  Argument  auf — ,  mit  der  aus  der 
Definition  des  Dreiecks  die  geometrischen  Sätze  über  dasselbe  folgen,  ergiebt 
sich  auch  aus  der  blossen  Definition  des  allerrealsten  Wesens,  dass  demselben 
das  Merkmal  der  Existenz  zukommt.  Die  MögUchkeit,  Gott  zu  denken,  genügt, 
um  seine  Existenz  zu  beweisen. 

In  dieser  Weise  folgt  aus  dem  Kriterium  der  Klarheit  und  Deutlichkeit, 


1)  Vgl.  E.  Grom,  D.*s  Lehre  von  den  angeborenen  Ideen  (Jena  1873)  und  auch  P.  Natobp, 
D.*8  Erkenntnisstheorie  (Marburg  1882).  Dass  innatus  besser  durch  eingeboren  als  durch  das 
übliche  angeboren  übersetzt  wird,  hat  R.  Eucken,  Geschichte  und  Kritik  der  Grundbegriffe 
der  Gegenwart  p.  73  bemerkt,  —  2)  Med.  3.  —  8)  Ibid.  5. 


§30.  Problem  der  Methode.    (Descartes.)  311 

dass  auch  von  den  endlichen  Dingen  und  insbesondere  von  den  Körpern  so  viel 
erkannt  werden  kann,  als  klar  und  deutlich  darin  vorgestellt  wird.  Dies  ist  aber 
auch  für  Descartes  wiederum  das  Mathematische;  und  beschränkt  sich  auf  die 
quantitativen  Bestimmungen,  während  alles  sinnlich -Qualitative  in  der 
Wahrnehmung  für  den  Philosophen  als  unklar  und  verworren  gilt.  Deshalb  enden 
Metaphysik  und  Erkenntnisstheorie  auch  für  ihn  in  eine  mathematische 
Physik.  Er  bezeichnet^)  die  sinnliche  Auffassung  des  Qualitativen  als  Ein- 
bildung (imaginatio),  diejenige  des  mathematisch  Construirbaren  dagegen  als 
Yerstandeserkenntniss  (intellectio);  und  so  sehr  er  die  Hilfe  zu  schätzen  weiss, 
welche  die  Er&hrung  in  der  ersteren  Gestalt  gewährt,  so  beruht  ihm  doch  eine 
wirklich  wissenschaftliche  Einsicht  nur  auf  der  letzteren.- 

Die  (auf  Duns  Scotus  und  weiter  zurückgreifende)  Unterscheidung  zwischen 
distincten  und  confusen  Vorstellungen  dient  Descartes  ausserdem,  um  das 
Problem  des  Irrthums  zu  lösen,  welches  sich  für  ihn  aus  dem  Princip  der 
veracitas  dei  deshalb  ergiebt,  weil  danach  nicht  abzusehen  scheint,  wie  die  voll- 
konmiene  Gottheit  die  menschliche  Natur  so  hat  einrichten  können,  dass  sie 
überhaupt  zu  irren  vermag.  Hier  hilft  sich')  Descartes  mit  einer  eigenthümUch 
verschr&ikten  Freiheitslehre,  die  dem  thomistischen  Determinismus  und  dem 
scotistiscben  Indeterminismus  gleichmässig  gerecht  werden  möchte.  Es  wird 
nämlich  angenommen,  dass  nur  die  klaren  und  deutUchen  Vorstellungen  eine  so 
zwingende  und  überwältigende  Macht  auf  den  Geist  ausüben,  dass  er  sich  ihrer 
Anerkennung  nicht  entziehen  kann,  während  er  unklaren  und  verworrenen  Vor- 
stellungen gegenüber  die  schrankenlose  und  grundlose  Bethätigung  des  liberum 
arbitrium  indifferentiae  (seiner  weitest  greifenden  Kraft,  die  nach  scotistischer 
Weise  mit  der  Freiheit  Gottes  in  Analogie  gestellt  wird)  behält.  So  entsteht 
der  Irrthum,  wenn  Bejahung  und  Verneinung  willkürUch  (grandlos)  bei  un- 
klarem und  undeutlichem  Urtheilsmaterial  erfolgen^).  Die  daraus  sich  ergebende 
Forderung,  das  Urtheil  überall  zurückzuhalten,  wo  nicht  völlig  klare  und  deut- 
Uche  Einsicht  vorliegt,  erinnert  zu  deuthch  an  die  antike  Itccxiij,  als  dass  die 
Verwandtschaft  dieser  Irrthumstheorie  mit  den  Lehren  der  Skeptiker  und  Stoiker 
von  der  oüpcatdOeoig  (vgl.  S.  131  u.  163)  übersehen  werden  könnte*).  In  der 
That  hat  Descartes  (was  ebenfalls  mit  Augustinus  und  Duns  Scotus'  Erkenntniss- 
lehre übereinstimmt)  das  Willensmoment  im  Ui*theil  deutlich  erkannt,  und  Spinoza 
ist  ihm  darin  so  weit  gefolgt,  dass  er  sogar  Bejahung  oder  Verneinung  als  ein 
nothwendiges  Merkmal  jeder  Vorstellung  bezeichnete  und  damit  lehrte,  der 
Mensch  könne  nicht  denken,  ohne  zugleich  zu  wollen^). 

6.  Descartes'  mathematische  Reform  der  Philosophie  hatte  ein  eigenes 
Schicksal.  Ihre  metaphysischen  Ergebnisse  eröffneten  eine  reiche  und  fruchtbare 
Entwicklung:  ihre  methodische  Tendenz  aber  unterlag  sehr  bald  einem  Miss- 
verständniss,  das  ihre  Bedeutung  geradezu  verkehrte.  Der  Philosoph  selbst  wollte 

1)  Ibid.  6.  —  2)  Ibid.  4.  —  8)  Der  Irrthum  erseheint  danach  als  Act  der  Wülensfreiheit 
in  Parallele  zur  Sünde  und  damit  als  Schuld:  er  ist  die  Schuld  der  Selbsttäuschung.  Diesen 
Gedanken  hat  namentlich  Malebranche  (Entret.  Ulf.)  ausgeführt.  —  4)  Diese  Verwandt- 
schaft erstreckt  sich  folgerichtig  auch  auf  die  Ethik  De8cartes\  Aus  der  klaren  und  deutlichen 
Erkenntniss  der  Vernunft  folgt  nothwendig  das  rechte  Wollen  und  Handeln;  aus  den  dunkeln 
und  verworrenen  Trieben  der  Sinnlichkeit  ergiebt  sich  praktisch  die  Sünde  wie  theoretisch 
der  Lrthum  durch  Missbrauch  der  Freiheit.  Das  sittliche  Ideal  ist  das  sokratisch-stoische 
der  Herrschaft  der  Vernunft  über  die  Sinnlichkeit.  —  5)  Eth.  U,  prop.  49. 


312  rV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

auch  bei  den  einzelnen  Problemen  die  analytische  Methode  im  grossen  Massstabe 
angewendet  sehen;  und  er  dachte  die  synthetische  als  einen  entdeckenden  Fort- 
schritt von  einer  intuitiven  Wahrheit  zur  anderen.  Die  Schüler  aber  verwechselten 
die  schöpferisch  freie  Geistesthätigkeit,  die  Descartes  im  Auge  hatte,  mit  jenem 
streng  beweisenden  System  der  Darstellung,  welches  sie  in  Euklid's  Lehrbuch 
der  Geometrie  fanden.  Der  monistische  Zug  der  cartesianischen  Methodo- 
logie, ihre  Aufstellung  eines  höchsten  Frincips,  aus  dem  alle  andre  Gewissheit 
folgen  sollte,  begünstigte  diese  Verwechselung,  und  aus  der  neuen  Forschungs- 
methode wurde  wieder  eine  Ars  demonstrandi:  als  Ideal  der  Philosophie  erschien 
die  Aufgabe,  ihre  gesammten  Erkenntnisse  als  ein  System  von  ebenso  strenger 
Folgerichtigkeit  aus  dem  Grundprindp  heraus  zu  entwickeln,  wie  Euklid's  Lehr- 
buch die  Geometrie  mit  allen  ihren  Lehrsätzen  aus  den  Axiomen  und  Definitionen 
ableitet. 

Auf  ein  solches  Ansinnen  hatte  Descartes  unter  ausdrücklichem  Hinweis 
auf  die  Bedenklichkeit  dieser  Uebertragung  mit  einer  probeweisen  Skizze  ge- 
antwortet*): aber  gerade  dadurch  scheint  die  Verlockung,  die  Bedeutung  der 
Mathematik  für  die  Methode  der  Philosophie  darin  zu  sehen,  dass  sie  als 
Ideal  der  beweisenden  Wissenschaft  betrachtet  wurde,  nur  verstärkt 
worden  zu  sein.  Wenigstens  hat  sich  in  dieser  Richtung  der  Einfluss  der  car- 
tesianischen Philosophie  für  die  folgende  Zeit  am  stärksten  gezeigt.  In  allem 
Wechsel  der  erkenntnisstheoretischen  Untersuchungen  bis  weit  in  das  18.  Jahr- 
hundert hinein,  ist  diese  Auffassung  der  Mathematik  für  alle  Parteien  ein 
feststehendes  Axiom  gewesen.  Ja,  sie  ist  sogar  unter  dem  directen  Einflüsse 
Descartes'  bei  Männern  wie  Pascal  zum  Hebel  des  Skepticismus  und  Mysti- 
cismus  geworden.  Da  keine  andre  menschliche  Wissenschaft,  so  folgerte  dieser, 
weder  die  Metaphysik  noch  die  empirischen  DiscipUnen,  die  mathematische 
Evidenz  zu  erreichen  vermögen,  so  muss  der  Mensch  sich  in  seinem  rationalen 
Erkenntnissstreben  bescheiden  und  um  so  mehr  dem  Triebe  seines  Herzens  zum 
ahnungsvollen  Glauben  und  dem  Tactgefühl  einer  edlen  Lebensführung  folgen. 
Auch  der  (von Böhme  beeinflusste)  Mystiker  Po ir  et  und  der  orthodoxe  Skeptiker 
Huet^  haben  sich  von  dem  Cartesianismus  deshalb  abgewandt,  weil  er  das 
Programm  der  Universalmathematik  nicht  einzuhalten  veimochte. 

Positive  Ansätze  zu  einer  Umgestaltung  der  cartesianischen  Methode  in  den 
euklidischen  Beweisgang  finden  sich  in  der  Logik  von  Port-Royal  und  in 
den  logischen  Schriften  von  Geuhncx :  fertig  aber  wie  aus  Einem  Gusse  steht  dieser 
methodische  Schematismus  bei  Spinoza  vor  uns.  Er  gab  zunächst  eine  Dar- 
stellung der  cartesianischen  Philosophie  „moregeometrico^,  indem  er  nach 
AufsteUung  von  Definitionen  und  Axiomen  den  Lehrgehalt  des  Systems  Schritt 
für  Schritt  in  Lehrsätzen  (Propositionen)  entwickelte,  von  denen  jeder  aus  den 
Definitionen,  Axiomen  und  vorhergehenden  Lehrsätzen  bewiesen  wurde;  an  die 
einzelnen  fugten  sich  Corollarien  und  freier  erläuternde  Scholien.  In  dieselbe 
schwerfällig-wuchtige  Form  presste  aber  Spinoza  auch  seine  eigene  Philosophie 
in  der  ;,Ethik^  und  damit  glaubte  er  diese  so  sicher  bewiesen  zu  haben,  wie  das 


l)Ee8p.  ad  Obj.  11.  —  2)  Pierre  Daniel  Hu  et  (1630— 1721),  der  gelehrte  Bischof 
von  Avranches,  schrieb  Censura  philosophiae  cartesianae  (1689)  und  Traite  de  la  fiublesse  de 
Tesprit  humain  (1723).  Instructiv  ist  in  obiger  Hinsicht  augh  seine  Autobiographie  (1718). 
Vgl.  über  ihn  Ch.  Babtholmiss  (Paris  1850), 


§  80.  Problem  der  Methode.    (Spinoza,  Leibniz.)  313 

euklidische  System  der  Geometrie.  Das  setzte  nicht  nur  die  lückenlose  Correct- 
heit  des  BeweisverfahrenS;  sondern  auch  eine  unzweideutige  Evidenz  und  wider- 
spruchslose Geltung  der  Definitionen  und  Axiome  voraus.  Ein  Blick  auf  den 
Anfang  der  Ethik  (und  nicht  nur  des  ersten,  sondern  auch  der  folgenden  Bücher) 
genügt,  um  sich  von  der  Naivetät  zu  überzeugen,  mit  der  Spinoza  die  verdichteten 
Gebilde  des  scholastischen  Denkens  als  selbstverständliche  Begriffe  und  Principien 
vorträgt  und  damit  allerdings  dann  schon  sein  ganzes  metaphysisches  System 
implicite  vorwegnimmt. 

Diese  geometrische  Methode  hat  aber  —  und  darin  besteht  ihre 
psychogenetische  Rechtfertigung  —  bei  Spinoza  zugleich  ihre  sachliche  Bedeutung. 
Die  reUgiöse  Grundüberzeugung,  dass  aus  dem  einheitlichen  Wesen  Gottes  alle 
Dinge  nothwendig  hervorgehen,  schien  ihm  eine  Methode  der  philosophischen 
Erkenntniss  zu  verlangen,  welche  in  derselben  Weise  aus  der  Idee  Gottes  die- 
jenigen aller  Dinge  ableitete.  In  der  wahren  Philosophie  soll  die  Ordnung  der 
Ideen  dieselbe  sein,  wie  die  reale  Ordnung  der  Dinge  *).  Daraus  aber  folgt  von 
selbst,  dass  der  reale  Frocess  des  Hervorgehens  der  Dinge  aus  Gott  nach  der 
Analogie  des  logischen  Hervorgehens  der  Folge  aus  dem  Grunde  gedacht  werden 
muss,  und  so  involvirte  die  methodische  Bestinmaung  der  Aufgabe  der  Philosophie 
bei  Spinoza  bereits  den  metaphysischen  Charakter  ihrer  Lösung;  vgl.  §  31. 

7.  So  wenig  man  in  der  nächsten  Zeit  wagte,  sich  den  Inhalt  der  spino- 
zistischen  Philosophie  zu  eigen  zu  machen,  so  imponirend  wirkte  doch  ihre  me- 
thodische Form :  und  je  mehr  sich  die  geometrische  Methode  gerade  in  der  schul- 
mässigen  Philosophie  einbürgeile,  um  so  mehr  hielt  damit  eigentlich  wieder  das 
syllogistische  Verfahren  seinen  Einzug,  indem  alle  Erkenntnisse  durch 
regelrechte  Schlussfolgerungen  aus  den  höchsten  Wahrheiten  abgeleitet  werden 
sollten.  Insbesondere  fasstendie  mathematisch  geschulten  Cartesianer  in  Deutsch- 
land die  geometrische  Methode  in  dieser  Richtung  auf:  so  geschah  es  von  Jung 
und  W  ei  gel,  und  der  akademische  Trieb  zur  Anfertigung  von  Lehrbüchern 
fand  in  dieser  Methode  eine  ihm  äusserst  sympathische  Form.  Im  18.  Jahr- 
hundert hat  Christian  Wolff  (vgl.  V.  Theil)  mit  seinen  lateinischen  Lehr- 
büchern dieser  Neigung  in  der  umfassendsten  Weise  Folge  gegeben,  und  für  die 
Systematisirung  eines  feststehenden  und  in  sich  klar  durchdachten  Lehrstoffes 
konnte  es  in  der  That  keine  bessere  Form  geben.  Das  zeigte  sich  schon,  als 
Pufendorf  es  unternahm,  nach  geometrischer  Methode  aus  dem  einzigen  Princip 
des  Geselligkeitsbedürfnisses  heraus  das  ganze  System  des  Naturrechts  als  eine 
logische  Nothwendigkeit  zu  deduciren. 

Als  diese  Ansicht  im  Werden  war,  wuchs  Leibniz  besonders  unter  dem 
Einfluss  von  Erhard  Weigel  in  dieselbe  hinein,  und  er  war  anfanglich  einer  ihrer 
consequentesten  Vertreter.  Er  machte  sich  nicht  nur  den  Scherz,  einer  politischen 
Broschüre  dies  ungewohnte  Gewand  zu  geben "),  sondern  er  meinte  emstlich,  dass 
die  philosophischen  Streitigkeiten  erst  dann  ihr  Ende  finden  würden,  wenn  einmal 


])  Die  Ansicht,  dass  die  wahre  Erkenntniss  als  genetische  Definition  die  Entstehung 
ihres  Gegenstandes  wiederholen  müsse,  hat  namentlich  Tschibnhaüsen  ausgeführt:  und  er 
schreckte  (Med.  ment.  67  f.)  nicht  vor  der  Paradoxie  zurück,  dass  eine  vollständige  Definition 
des  Lachens  im  Stande  sein  müsse,  das  Lachen  selbst  hervorzurufen!  —  2)  In  dem  Pseudonymen 
Specimen  demonstrationum  politicarum  pi*o  rege  Polonorum  eligendo  (1669)  bewies  er  nach 
„geometrischer  Methode*'  in  sechszig  Propositionen  und  Demonstrationen,  dass  inan  den  Ffal^- 
grafen  von  Neuburg  zuw  König  von  Polen  wählen  müsse. 


314  ^«  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

eine  Philosophie  so  klar  und  sicher  auftreten  könnte  wie  eine  mathematische 
Rechnung  ^). 

Leihniz  ist  diesem  Gedanken  sehr  energisch  nachgegangen.  Die  Anregung 
von  Hobbes,  der  auch  —  wenn  schon  in  ganz  anderer  Absicht^  vgl.  §  31,  2  —  das 
Denken  für  ein  Bechnen  mit  den  begriffiichen  Zeichen  der  Dinge  erklärte, 
mochte  hinzukommen ;  die  luUische  Kunst  und  die  Mühe,  welche  sich  Giordano 
Bruno  mit  ihrer  Verbesserung  gegeben  hatte,  waren  ihm  wohl  bekannt.  Auch 
in  den  cartesianischen  Kreisen  war  der  Gedanke,  die  mathematische  Methode 
zu  einer  regelrechten  Erfindungskunst  umzugestalten,  viel  erörtert  worden:  neben 
Joachim  Jung  hat  in  dieser  Hinsicht  der  Altorfer  Professor  Job.  Christoph 
Sturm^)  auf  Leibniz  gewirkt.  Es  trat  endlich  hinzu,  dass  der  Gedanke,  die 
metaphysischen  Grundbegriffe  und  ebenso  die  logischen  Operationen  ihrer  Ver- 
knüpfung nach  Art  der  mathematischen  Zeichensprache  durch  bestimmte  Cha- 
raktere auszudrücken,  die  Möglichkeit  in  Aussicht  zu  stellen  schien,  eine  philo- 
sophische Untersuchung  in  allgemeinen  Formeln  zu  schreiben  und  sie  dadurch 
über  den  Ausdruck  in  einer  bestimmten  Sprache  hinauszuheben;  —  ein  Bemühen 
um  eine  wissenschaftliche  Universalsprache,  eine  „Lingua  Adamica^,  das  gleich- 
falls zu  Leibniz'  Zeit  in  zahlreichen  Vertretern  zu  Tage  trat  ^).  So  hat  sich 
denn  auch  Leibniz  ausserordentlich  viel  mit  dem  Gedanken  einer  Characteristica 
universalis  und  einer  Methode  des  philosophischen  Kalküls  abgegeben^). 

Der  Ertrag  dieser  wunderUchen  Bemühungen  lag  wesentlich  darin,  dass  ver- 
sucht werden  musste,  jene  höchsten  Wahrheiten  festzustellen,  aus  deren  logi- 
schen Combinationen  alle  Erkenntnisse  abgeleitet  werden  sollten.  So  musste  auch 
Leibniz,  wie  Galilei  und  Descartes,  auf  die  Erforschung  desjenigen  ausgehen,  was 
unmittelbar  und  intuitiv  gewiss  sich  dem  Geiste  als  selbstverständlich 
aufnöthigt  und  durch  seine  Verknüpfungen  alle  abgeleiteten  Erkenntnisse  be- 
gründet. Bei  diesen  Ueberlegungen  aber  stiess  Leibniz  ^)  auf  die  Entdeckung 
(die  vor  ihm  Aristoteles  gemacht  hatte),  dass  es  zwei  völlig  verschiedene  Arten 
dieser  intuitiven  Erkenntnisse  giebt :  die  allgemeinen,  der  Vernunft  von  selbst 
einleuchtenden  Wahrheiten  und  die  Thatsachen  der  Erfahrung.  Die  einen  haben 
zeitlose,  die  anderen  einmaUge  Geltung:  vSritSs  Sternelles  und  vSrit^s  de 
fait.  Beide  aber  haben  das  gemeinsam,  dass  sie  intuitiv,  d.  h.  in  sich  selbst 
und  nicht  durch  Ableitung  von  irgend  etwas  Anderem  gewiss  sind ;  sie  heissen 
deshalb  primae  veritates  oder  auch  primae  possibilitates,  weil  in 
ihnen  die  MögUchkeit  alles  Abgeleiteten  begründet  ist.  Denn  die  „Möglichkeit^ 
eines  Begriffs  erkennt  man  entweder  durch  eine  „Causaldefinition",  welche  den- 
selben aus  den  ersten  Möglichkeiten  ableitet,  d.  h.  a  priori,  oder  durch  die 
unmittelbare  Erfahrung  seiner  Wirklichkeit,  d.  h.  a  posteriori. 

In  sehr  interessanter  Weise  hat  nun  Leibniz  diese  beiden  Arten  der 
„ersten  Wahrheiten"  —  die  rationalen  und  die  empirischen,  wie  man  sieht  —  an  die 
beiden  cartesianischen  Merkmale  der  intuitiven  Selbstverständlichkeit,  die  Klar- 
heit undDeutlichkeit,  angeknüpft.   Er  verschiebt  dazu  um  ein  Geringes 


1)  De  scientia  universali  seu  calculo  phüosophico  (1684).  —  2)  Der  Verfasser  eines  Com- 
pcndium  universalium  seu  metaphysicae  eaclideae.  —  8)  Solche  Entwürfe  hatten  J.  J.  Becker 
(1661),  G.  Dalgam  (1661)  und  besonders  Athanasius  Kircher  (1663)  geschrieben.  —  4)  Vgl. 
A.  Tremdelbnbürg,  Historische  Beiträge  zu  Philosophie,  Bd.  iL  u.  III.  —  5)  Meditationes  de 
cognitione  veritate  et  ideis  (1684). 


§31.  Sabsianz  und  Gausalität.  (Leibniz.)  315 

die  Bedeutung  beider  Ausdrücke*).  Klar  ist  die  Vorstellung,  welche,  von  allen 
anderen  sicher  unterschieden,  zur  Recognition  ihres  Gegenstandes  tauglich  ist; 
deutlich  diejenige,  welche  bis  in  ihre  einzelnen  Bestandtheile  hinein  und  bis  zur 
Erkenntniss  der  Verknüpfung  derselben  klar  ist.  Hiernach  sind  die  apriorischen, 
^geometrischen^  oder  „metaphysischen^  ewigen  Wahrheiten  klar  und  deutlich, 
die  aposteriorischen  dagegen  oder  die  thatsächlichen  Wahrheiten  zwar  klar, 
aber  nicht  deutlich.  Die  ersteren  sind  daher,  vollkommen  durchsichtig,  mit  der 
Ueberzeugung  von  der  Unmöglichkeit  des  Gegentheils  verbunden,  bei 
den  letzteren  bleibt  das  Gegentheil  denkbar.  Bei  den  ersteren  beruht  die  intui- 
tive Gewissheit  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs,  bei  den  letzteren  bedarf 
die  durch  die  thatsächhche  Wirklichkeit  gewährleistete  MögUchkeit  noch  einer 
Erklärung  nach  dem  Satze  vom  zur  eichenden  Grunde. 

AnfangUch  meinte  Leibniz  diese  Unterschiede  nur  in  Bezug  auf  die  Unvoll- 
kommenheit  des  menschlichen  Verstandes.  Bei  den  rationalen  Wahrheiten  sehen 
wir  die  Unmöglichkeit  des  Gegentheils  ein,  bei  den  empirischen  ist  das  nicht  der 
Eall,  und  wir  müssen  uns  mit  der  Feststellung  der  Wirklichkeit  begnügen  ^) :  aber 
auch  die  letzteren  sind  in  natura  rerum  und  für  den  göttlichen  Verstand  so  be- 
gründet, dass  das  Gegentheil  unmöglich  ist,  wenn  es  auch  für  uns  denkbar  bleibt. 
Wenn  Leibniz  jenen  Unterschied  mit  demjenigen  der  commensurablen  und  der 
incommensurablen  Grössen  verghch,  so  meinte  er  anfanglich,  die  Incommen- 
surabiUtät  stecke  nur  in  der  begrenzten  Erkenntnissfahigkeit  des  Menschen. 
Aber  im-  Laufe  seiner  Entwicklung  wurde  ihm  dieser  Gegensatz  zu  einem 
absoluten:  er  gewann  metaphysische  Bedeutung.  Leibniz  unterschied  nun  rea- 
liter zwischen  einer  unbedingten  Nothwendigkeit,  welche  die  logische 
Unmöglichkeit  des  Gegentheils  involvire,  und  einer  bedingten  Nothwendig- 
keit, welche  7,nur^  thatsächlichen  Charakters  sei.  Er  theilte  die  Principien  der 
Dinge  in  solche,  deren  Gegentheil  undenkbar,  und  solche,  deren  Gegen- 
theil denkbar  sei:  er  unterschied  auch  metaphysisch  zwischen  nothwendigen 
und  zufälligen  Wahrheiten.  Das  aber  hing  mit  metaphysischen  Motiven 
zusammen,  welche  aus  einer  Nachwirkung  der  scotistischen  Theorie  von  der  Con- 
tingenz  des  Endlichen  entsprangen  und  die  geometrische  Methode  über  den 
Haufen  warfen. 

%  81.  Substanz  und  Causalität. 

Der  sachliche  Erfolg  der  neuen  Methoden  war  in  der  Metaphysik  wie  in  der 
Naturwissenschaft  eine  Umgestaltung  der  Grundvorstellungen  von  dem  Wesen 
der  Dinge  und  von  der  Art  ihres  Zusammenhanges  im  Geschehen:  die  Begriffe 
der  Substanz  und  der  Causahtät  gewannen  einen  neuen  Inhalt.  Aber  diese  Ver- 
änderung konnte  in  der  Metaphysik  nicht  so  radical  vorgehen,  wie  in  der  Natur- 
wissenschaft. Auf  diesem  begrenzteren  Gebiete  vermochte  man,  nachdem  einmal 
das  Galilei'sche  Princip  gefunden  war,  gewissermassen  ab  ovo  zu  beginnen  und 
eine  in  der  That  vollkommen  neue  Theorie  zu  liefern :  in  den  allgemeineren 
philosophischen  Lehren  war  die  Macht  und  das  Recht  der  Tradition  viel  zu  gross, 
als  dass  sie  hätte  völlig  bei  Seite  geschoben  werden  können  oder  dürfen. 

1)  A.  a.  0.  Anf.,  E.  79.  —  2)  Die  aristotelische  Unterscheidimg  des  3t6n  und  3tt. 


316  rV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Natnrwissensohaftliche  Periode. 

Dieser  Unterschied  machte  sich  schon  bei  dem  delikaten  Verhältniss 
zn  den  religiösen  Begriffen  geltend.  Die  Naturforschung  konnte  sich 
gegen  die  Theologie  absolut  isoliren  und  sich  gegen  dieselbe  völlig  indifferent 
verhalten:  die  Metaphysik  wurde  durch  den  Begriff  der  Gottheit  und  durch  die 
Theorie  von  der  geistigen  Welt  immer  wieder  sei  es  in  feindliche  sei  es  in  freund- 
liche Berührung  mit  dem  rehgiösen  Vorstellungskreise  gebracht.  Ein  Gralilei  er- 
klärte; dass  die  Untersuchungen  der  Physik;  welches  auch  ihr  Resultat  sei,  mit 
der  Lehre  der  Bibel  nicht  das  geringste  zu  thun  hätten  ^);  und  einen  Newton 
hinderte  seine  mathematische  Naturphilosophie  nicht;  sich  mit  wärmster  Frömmig- 
keit in  die  Geheimnisse  der  Apokalypse  zu  vertiefen.  Die  Metaphysiker  aber, 
mochten  sie  religiös  noch  so  indifferent  denken  und  ihre  Wissenschaft  nur  im  rein 
theoretischen  Geiste  betreiben;  mussten  doch  immer  darauf  Bedacht  haben,  dass 
sie  von  Gegenständen  zu  handeln  hatten;  über  welche  die  Kirchenlehre  fixirt  war. 
Dies  gab  der  neueren  Philosophie  eine  einigermassen  heikle  Stellung :  die  mittel- 
alterliche Philosophie  hatte  den  Gegenständen  des  Dogmas  auch  ihrerseits  ein 
wesentlich  religiöses  Interesse  entgegengebracht;  die  neuere  betrachtete  sie, 
wenn  überhaupt;  nur  aus  dem  theoretischen  Standpunkte.  Am  sichersten 
fühlten  sich  daher  diejenigen;  welche  wie  Bacon  und  Hobbes  auch  die  Philo- 
sophie ganz  auf  Naturforschung  beschränkten;  eine  eigentliche  Metaphysik  ab- 
lehnten und  über  Fragen  wie  die  nach  der  Gottheit  und  der  übersinnlichen  Be- 
stimmung des  Menschen  nur  das  Dogma  reden  lassen  wollten.  Bacon  that  das 
mit  grossen  Worten,  hinter  denen  seine  wahre  Gesinnung  schwer  zu  erkennen 
ist^);  Hobbes  liess  eher  durchblicken,  dass  seine  naturalistische  Meinung  nach  Art 
der  epikureischen  in  den  übernatürlichen  Vorstellungen  einen  auf  Mangel  an 
Naturerkenntniss  beruhenden  Aberglauben  sah,  der  durch  die  staatliche  Ordnung 
zur  bindenden  Macht  der  Religion  werde  *).  Sehr  viel  schwieriger  aber  war  die 
Stellung  derjenigen  Philosophen,  welche  den  metaphysischen  Begriff  der  Gottheit 
in  der  Naturerklärung  selbst  festhielten;  Descartes'  ganze  literarische  Thätig- 
keit  ist  von  der  ängstlichen  Vorsicht  zur  Vermeidung  jeden  religiösen  Anstosses  er- 
füllt; während  Leibniz  viel  positiver  die  Conformität  seiner  Metaphysik  mit  der 
Rehgion  durchzufuhren  versuchen  konnte ;  und  andrerseits  zeigte  das  Beispiel 
Spinoza' 8;  wie  gefahrUch  es  war;  wenn  die  Philosophie  die  Verschiedenheit  ihres 
Gottesbegriffs  von  dem  dogmatischen  offen  hervorkehrte. 

1.  Die  Hauptschwierigkeit  der  Sache  aber  steckte  in  dem  Umstände,  dass  das 
neue  methodische  Princip  der  Mechanik  jede  Zurückfiihrung  der  körperlichen 
Erscheinungen  auf  geistige  Kräfte  ausschloss.  Die  Natur  wurde  entgeistert;  die 
Wissenschaft  wollte  in  ihr  nichts  als  die  Bewegungen  kleinster  Körper  sehen,  von 
denen  eine  die  Ursache  der  anderen  sei.  Da  blieb  kein  Raum  für  die  Einwirkung 
übernatürlicher  Mächte.  So  wurden  zunächst  mit  Einem  Schlage  MagiC;  Astro- 
logie und  Alchymio;  in  denen  der  neuplatonische  Geisterspuk  gewaltet  hatte, 
zu  einem  wissenschafthch  überwundenen  Standpunkte.  Schon  Lionardo  hatte 
verlangt,  dass  die  Erscheinungen  der  Aussenwelt  nur  durch  natürliche 
Ursachen  erklärt  werden  sollten;  die  grossen  Systeme  des  17.  Jahrhunderts 
erkennen  ausnahmslos  nur  solche  aU;  und  ein  Caxtesianer;  Balthasar  Bekker, 

1)  Vgl.  den  Brief  an  die  Grossherzogin  Christine,  Op.  11, 26  ff.  —  2)  De  augm.  scient.  IX, 
wo  das  Uebernatürliche  und  Unbegreifliche  als  das  Charakteristische  und  Verdienstliche  des 
Glaubens  dargestellt  wird,  -^  3}  Leviathan,  I,  6j  vgl  do^  drastischen  Ausdruck  Jbi^.  IV,  82, 


§81.  Substanz  und  Causalitat.  (Bacon,  Hobbes,  Deecartes,  Spmoza.)  317 

schrieb  ein  eigenes  Buch  ^),  um  zu  zeigen^  dass  nach  den  Principien  der  modernen 
Wissenschaft  alle  Oeistererscheinungen^  Beschwörungen^  Zaubereien  unter  die 
verderblichen  Irrthümer  gerechnet  werden  müssten,  —  ein  Mahnwort,  das  dem 
reichlichen  Aberglauben  der  Renaissance  gegenüber  sehr  am  Platze  war. 

Mit  den  Geistern  aber  musste  auch  dieTeleologie  weichen.  Die  Er- 
klärung von  Naturerscheinungen  durch  ihre  Zweckmässigkeit  lief  zuletzt  immer 
irgendwie  auf  den  Gedanken  einer  geistigen  Erzeugung  oder  Ordnung  der  Dinge 
hinaus:  und  so  widersprach  sie  dem  Princip  der  Mechanik.  An  diesem  Punkte 
war  der  Sieg  des  Demokritismus  über  die  platonisch-aristotelische  Naturphilo- 
sophie am  fühlbarsten:  diesen  betonte  aber  auch  die  neue  Philosophie  am 
kräftigsten.  Bacon  rechnete  die  teleologische  Naturbetrachtung  zu  den  Idolen, 
und  zwar  zu  den  gefahrlichen  Gattungsidolen,  zu  den  Grundirrthümern,  welche 
dem  Menschen  durch  seine  Natur  selbst  vorgespiegelt  werden:  er  lehrte,  dass 
die  Philosophie  es  nur  mit  den  formalen  oder  wirkenden  Ursachen  zu  thun  habe, 
und  er  drückte  seine  Beschränkung  derselben  auf  Physik,  seine  Ablehnung  der 
Metaphysik  gerade  dadurch  aus,  dass  er  sagte,  die  Naturerklärung  sei  Physik, 
wenn  sie  auf  die  causae  efficientes,  Metaphysik,  wenn  sie  auf  die  causae  finales 
ginge  ^.  Bei  Hobbes,  der  sein  und  Galilei's  Schüler  war,  ist  dieselbe  Ansicht 
selbstverständlich.  Aber  auch  Descartes  will  alle  finalen  Ursachen  von  der 
Erklärung  der  Natur  femgehalten  sehen,  —  er  erklärt  es  für  verwegen,  die 
Absichten  Gottes  erkennen  zu  wollen  *).  Viel  oflFener  und  bei  weitem  am  schärfsten 
polemisirt  Spinoza*)  gegen  den  Anthropomorphismus  der  Teleologie.  Bei  seiner 
Vorstellung  von  Gott  und  dessen  Verhaltniss  zur  Welt  ist  es  absurd,  von  Zwecken 
der  Gottheit  und  gar  von  solchen  zu  reden,  die  sich  auf  den  Menschen  beziehen: 
wo  Alles  mit  ewiger  Nothwendigkeit  aus  dem  Wesen  der  Gottheit  folgt, 
ist  für  eine  Zweckthätigkeit  kein  Raum.  Gegen  diesen  mechanisch-antiteleo- 
logischen  Grundzug  der  neuen  Metaphysik  haben  die  englischen  Neuplatoniker, 
wie  Cudworth  und  Henry  More  mit  der  ganzen  Beredsamkeit  der  alten  Argumente, 
aber  erfolglos  gekämpft.  Die  teleologische  Ueberzeugung  musste  auf  die  wissen- 
schaftliche Erklärung  der  einzelnen  Erscheinungen  definitiv  verzichten,  und  nur 
in  der  metaphysischen  Gesammtau&ssung  fand  schliesshch  Leibniz  (vgl.  unten 
Nr.  8)  und  ähnlich  ein  Theil  der  englischen  Naturforscher  einen  befiiedigenden 
Ausgleich  zwischen  den  widerstrebenden  Principien. 

Mit  dem  Ausschluss  des  Geistigen  aus  der  Naturerklärung  fiel  aber  noch 
ein  drittes  Moment  der  alten  Weltanschauung  dahin:  die  Meinung  von  der  Ver- 
schiedenartigkeit und  Verschiedenwerthigkeit  der  Sphären  der  Natur,  wie  sie  nach 
altpythagoreischem  Vorgange  in  dem  neuplatonischen  Stufenreich  der  Dinge  am 
deutlichsten  niedergelegt  war.  In  dieser  Hinsicht  hatte  die  phantastische  Natur- 
philosophie der  Renaissance  schon  kräftig  vorgearbeitet.  Durch  Nicolaus  Cu- 
sanus  war  die  stoische  Lehre  von  der  Allgegenwart  aller  Stoffe  an  jedem  Punkte 
des  Weltalls  erneuert  worden ;  aber  erst  mit  dem  Siege  des  kopemikanischen 
Systems  war,  wie  man  bei  Bruno  sieht,  auch  die  Vorstellung  von  der  Gleich- 
artigkeit aller  Theile  des  Universums  völlig  durchgedrungen:  diesublu- 
narische  Welt  konnte  nicht  mehr  als  das  Reich  der  Unvollkommenheit  der 


1)  Balthasar  Bekker  (1634r— 1698)  De  betoverte  wereld  (1690).  —  2)  De  augm.  IIT,  4.  — 
8)  Medit.  IV.  —  4)  Vgl.  hauptsächlich  Eth.  I  append. 


318  ^-  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

geistigeren  Sphäre  des  Sternenhimmels  gegenübergestellt  werden ;  Stoff  und  Be- 
wegung sind  in  beiden  gleich.  Von  diesem  Gedanken  gingen  Kepler  und  Galilei 
aus,  und  er  vollendete  sich^  als  Newton  die  Identität  der  Kraft  im  Fall  des 
Apfels  und  im  Umschwung  der  Gestirne  erkannte.  Für  die  moderne  Natur- 
wissenschaft besteht  der  alte  "Wesens-  und  Werthunterschied  von  Himmel  und 
Erde  nicht  mehr.  Das  Universum  ist  durchweg  einheitlich.  Dieselbe 
Anschauung  aber  kehrte  sich  auch  gegen  das  aristotelisch -thomistische  Ehit- 
wickelungssystem  von  Stoffen  und  Formen,  sie  räumte  mit  dem  ganzen  Heer  der 
niederen  und  höheren  Kräfte  —  der  viel  bekämpften  qualitates  occultae  —  auf, 
sie  erkannte  als  Erklärungsgrund  aller  Erscheinungen  nur  das  mechanische 
Princip  der  Bewegung  an,  und  sie  hob  deshalb  auch  den  p r in cipi eilen  Unter- 
schied zwischen  dem  Lebendigen  und  dem  Unbelebten  auf.  Wenn 
auch  hier  der  Neuplatonismus  durch  die  Anschauung  der  Alllebendigkeit  des 
Universums  zur  Ueberwindung  jenes  Gegensatzes  mitgewirkt  hatte,  so  erwuchs 
nun  der  Galilei'schen  Mechanik  umgekehrt  die  Aufgabe,  auch  die  Erschei- 
nungen des  Lebens  mechanisch  zu  erklären.  Die  Entdeckung  des 
Mechanismus  des  Blutumlaufs  durch  Harvey  (1626) ')  gab  dieser  Tendenz  einen 
lebhaften  Impuls;  Descartes  sprach  es  principiell  aus,  dass  die  animalischen  Leiber 
wissenschaftlich  als  complicirteste  Automaten  anzusehen  und  dass  ihre  Lebens- 
thätigkeiten  als  mechanische  Processe  zu  betrachten  seien.  Hobbes  und  Spinoza 
fährten  diesen  Gedanken  schon  genauer  durch ;  in  den  Aerzteschulen  Frankreichs 
und  der  Niederlande  begann  ein  eifriges  Studium  der  Reflexbewegungen,  und  der 
Begriff  der  Seele  als  Lebenskraft  ging  seiner  völligen  Zersetzung  entgegen.  Nur 
die  Platoniker  und  die  Anhänger  des  paracelsisch-böhmischen  Vitalismus,  wie 
van  Helmont,  hielten  in  alter  Weise  daran  fest. 

2.  Diese  mechanistische  Entgeistigung  der  Natur  entsprach  nun 
durchaus  jener  dualistischen  Weltansicht,  welche  aus  erkenntnisstheoreti- 
schen Motiven  sich  in  dem  terministischen  Nominalismus  vorbereitet  hatte,  der 
Ansicht  von  einer  totalen  Verschiedenheit  der  innerlichen  und  der 
äusseren  Welt.  Zu  der  Erkenntniss  ihrer  qualitativen  Differenz  trat  jetzt 
diejenige  ihrer  realen  und  causalen  Getrenntheit.  Die  Welt  der  Körper  erschien 
nicht  nur  ganz  andersartig  als  diejenige  des  Geistes,  sondern  auch  in  ihrer  Exi- 
stenz und  in  dem  Ablauf  ihrer  Bewegungen  durchaus  von  derselben  gesondert. 
Zur  Verschärfung  jenes  Gegensatzes  hatte  in  der  Philosophie  der  Renaissance 
die  humanistisch  erneuerte  Lehre  von  der  Intellectualität  der  Sinnes- 
qualitäten ausserordentlich  viel  beigetragen.  Aus  der  skeptischen  und  der 
epikureischen  Litteratur  war  die  Lehre,  dass  Farben,  Töne,  Gerüche,  Ge- 
schmäcke,  Druck-,  Wärme-  und  Tastqualitäten  nicht  wirkliche  Eigenschaften 
der  Dinge,  sondern  nur  Zeichen  für  solche  im  Geiste  seien,  unter  Wiederholung 
der  antiken  Beispiele  in  die  meisten  Lehren  der  neueren  Philosophie  über- 
gegangen. Vives,  Montaigne,  Sanchez,  Campanella  waren  darin  einig;  Galilei  *), 
Hobbes,  Descartes  erneuerten  die  demokritische  Lehre,  dass  diesen  qualitativen 
Differenzen  der  Wahrnehmung  in  natura  rerum  nur  quantitative  Unterschiede 
so  entsprächen,  dass  jene  die  innere  Vorstellungsweise  für  diese  seien.  Descartes 
betrachtete  ^)  die  sinnlichen  Qualitäten  als  dunkle  und  verworrene  Vorstellungen, 

1)  Worin  ihm  Michael  Servet  (1553  in  Genf  durch  Calvin  verbrannt)  vorangegangen 
war.  -    2)  Saggiat.  IT,  340.  —  8)  Med.  6. 


§  81.  Substanz  und  Causalität.  (Descartes,  Hobbes.)  319 

während  ihm  die  Auffassung  der  quantitativen  Bestimmungen  der  Aussenwelt 
ihres  mathematischen  Charakters  wegen  als  die  einzig  klare  und  deutliche  Vor- 
stellung derselben  galt. 

Deshalb  gehören  nach  Descartes  nicht  nur  die  sinnlichen  Gefühle^  sondern 
auch  die  Empfindungsinhalte  nicht  der  räumlichen,  sondern  nur  der  seelischen 
Welt  an  und  vertreten  in  dieser  die  geometrischen  Gebilde,  deren  Zeichen  sie 
sind.  Freilich  können  wir^)  von  diesem  wahren  mathematischen  Wesen  der 
Körper  bei  der  Erforschung  des  Einzelnen  eine  Kenntniss  nur  mit  Hilfe  der 
Wahrnehmungen  gewinnen,  in  denen  dasselbe  stets  mit  den  qualitativen  Ele- 
menten der  ,,Imagination^  versetzt  ist.  Aber  darin  eben  besteht  die  Aufgabe 
der  physicalischen  Forschung,  durch  die  Reflexion  auf  die  klaren  und  deutlichen 
Elemente  der  Wahrnehmung  dies  reale  Wesen  der  Körper  aus  den  subjectiven 
Vorstellungsweisen  herauszulösen.  John  Locke,  der  sich  auch  diese  Ansicht 
Descartes'  später  popularisirend  aneignete,  bezeichnete^  diejenigen  Eigen- 
schaften, welche  hiernach  dem  Körper  an  sich  zukommen,  als  primär,  dagegen 
alssecundär  solche,  welche  ihm  nur  vermöge  seiner  Wirkung  auf  unsere  Sinne, 
bzw.  unsere  Sinnesempfindung  zukommen').  Descartes  liess  als  primäre  Eigen- 
schaften nur  Gestalt,  Grösse,  Lage  und  Bewegung  gelten,  sodass  ihm  der  physi- 
calische  Körper  mit  dem  mathematischen  zusammenfiel  (vgl.  unten  Nr.  4).  Um 
dagegen  die  Unterscheidung  beider  aufrecht  zu  erhalten,  verlangte  Henry  More^) 
auch  die  Undurchdringlichkeit  als  Princip  der  Raumerfiillung  zum  Wesen  des 
Körpers  zu  rechnen,  und  danach  nahm  Locke  ^)  die  solidity  unter  die  primären 
Eigenschaften  auf. 

Bei  Hobbes^)  verschieben  sich  diese  Gedanken  mehr  nach  der  terministi- 
schen  Auffassung  hin.  Ihm  gelten  auch  der  Raum  (als  phantasma  rei  existentis) 
und  die  Zeit  (als  phantasma  motus)  für  Vorstellungsweisen,  und  gerade  weil 
wir  sie  deshalb  selbst  construiren  können,  hat  die  mathematische  Theorie  den 
Vorzug  der  einzig  rationalen  Wissenschaft.  Statt  aber  daraus  phänomenalistische 
Oonsequenzen  zu  ziehen,  folgert  er,  die  Philosophie  könne  nur  von  Körpern 
handeln  und  müsse  alles  Geistige  der  Offenbarung  überlassen.  Gleichwohl 
besteht  ihm  in  Folge  dessen  das  wissenschafthche  Denken  nur  in  der  immanenten 
Verknüpfung  von  Zeichen.  Diese  sind  theils  unwillkürlich  in  den  Wahr- 
nehmungen, theils  willkürlich  in  den  Worten.  (Aehnlich  Occam,  vgl.  S.  271). 
Erst  durch  die  letzteren  werden  allgemeine  Begriffe  und  Sätze  möglich.  Unser 
Denken  ist  daher  ein  Rechnen  mit  Wortzeichen.  Es  hat  seine  Wahrheit  in 
sich  und  steht  als  etwas  völlig  Heterogenes  neben  der  Aussenwelt,  auf  die  es 
sich  bezieht. 

3.  Alle  diese  Anregungen  verdichteten  sich  bei  Descartes  zu  der  Lehre 
von  dem  Dualismus  der  Substanzen.  Die  analytische  Methode  sollte  die 
einÜEUihen,  selbstverständlichen,  nicht  weiter  ableitbaren  Elemente  der  Wirklich- 
keit auffinden.  Descartes  entdeckte,  dass  alles  Erfahrbare  entweder  eine  Art 
des  räumlichen  oder  des  bewussten  Seins  ist.     Räumlichkeit  und  Bewusst- 


1)  Vgl.  Med.  6,  welche  das  sehr  enge  Verhältniss,  das  Descartes'  pbysicalische 
Forschung  zur  Erüahruiig  hatte,  wohl  am  deutlichsten  hervortreten  lässt.  —  2)  Essay  cohg, 
hum.  und.  11,  8,  §  23 f.  —  8)  Als  tertiäre  Eigenschaften  fugte  Locke  noch  die  „Kräfte" 
zur  Einwirkung  eines  Körpers  auf  andre  hinzu.  —  4)  Desc.  Oeuy.  (C.)  X  p.  181  fiT.  —  5)  Essay 
II,  4.  —  6)  Human  nature,  cap.  2 — 5,  Leviathan  cap.  4  ff. 


320  rV.  Philosophie  der  Renaissaxice.  2.  Natarwissenschaftliche  Periode. 

sein  (Ausdehnung  und  Denken  nach  der  gewöhnlichen  Uebersetzung  von  extensio 
und  cogitatio)  sind  die  letzten,  einfachen,  ursprünglichen  Attribute  der  Reali- 
tät. Alles  was  ist,  ist  entweder  räumlich  oder  bewusst.  Denn  diese  beiden  Ur- 
prädicate  verhalten  sich  zu  einander  disjunctiv:  was  räumlich  ist,  ist  nicht 
bewusst;  was  bewusst  ist;  ist  nicht  räumlich.  Die  Selbstgewissheit  des  Geistes 
ist  nur  diejenige  der  Persönlichkeit  als  eines  bewussten  Wesens.  Der  Körper 
ist  nur  so  weit  real;  als  er  die  quantitatiTen  Bestimmungen  räumUchen  Seins  und 
Geschehens;  der  Ausdehnung  und  der  Bewegung,  an  sich  hat.  Alle  Dinge  sind 
entweder  Körper  oder  Geister;  die  Substanzen  sind  entweder  räumlich  oder 
bewusst:  res  extensae  und  res  cogitantes. 

So  zerfallt  die  Welt  in  zwei  völlig  verschiedene  und  vöUig  getrennte  Reiche : 
das  der  Körper  und  das  der  Geister.  Aber  im  Hintergrunde  dieses  Dualismus 
steht  beiDescartes  der  Begriff  der  Gottheit  als  des  ens  perfec  tissimum  oder 
der  vollkommenen  Substanz.  Körper  und  Geister  sind  endliche  Dinge, 
Gott  ist  das  unendliche  Sein*).  Die  Meditationen  lassen  keinen  Zweifel 
darüber;  dass  Descartes  den  Gottesbegriff  ganz  nach  der  Auffassung  des  scho- 
lastischen Realismus  übernahm.  Der  Geist  soll  in  seinem  eigenen  Sein, 
das  er  als  ein  begrenztes  und  unvollkommenes  erkennt;  mit  derselben  intui- 
tiven Gewissheit  auch  die  Realität  des  vollkommenen  unendlichen  Seins  erfassen 
(vgl.  oben  §  30,  5).  Zu  dem  ontologischen  Argument  kommt  das  Yerhältniss 
von  Gott  und  Welt  in  der  durch  Nicolaus  Cusanus  zur  Geltung  gebrachten  Form 
des  Gegensatzes  des  Unendlichen  und  des  EndUchen  hinzu.  Jene  Verwandtschaft 
aber  mit  dem  Realismus  des  Mittelalters  tritt  gerade  am  deutlichsten  in  der  auf 
Descartes  folgenden  Entwicklung  der  Metaphysik  hervor:  denn  diepantheisti- 
schenConsequenzen  dieser  Voraussetzung;  welche  in  der  scholastischen  Zeit 
mühsam  zurückgehalten  worden  waren,  wurden  jetzt  mit  voller  Klarheit  und  Sicher- 
heit ausgesprochen;  und  wenn  in  den  Lehren  von  Descartes'  Nachfolgern  eine 
starke  Aehnlichkeit  mit  solchen  zu  finden  ist;  welche  im  Mittelalter  nur  eine  mehr 
oder  minder  unterdrückte  Existenz  fuhren  konnten,  so  begreift  sich  dies  auch  ohne 
die  Annahme  einer  directen  historischen  Abhängigkeit  bloss  durch  den  prag- 
matischen Zusammenhang  und  die  sachUche  Nothwendigkeit  der  Folgerungen. 

4.  Der  gemeinsame  metaphysische  Name  der  „Substanz'*  für  Gott  im 
unendhcheu;  für  Geister  und  Körper  im  endUchen  Sinne  konnte  die  Probleme; 
welche  darunter  verborgen  waren,  nicht  dauernd  verdecken.  Der  Begriff  der 
Substanz  war  in  Fluss  gerathen  und  bedurfte  weiterer  Umgestaltung.  Mit  der 
Vorstellung  des  „Dinges",  der  Kategorie  der  Inhärenz,  hatte  er  fast  die 
Fühlung  verloren:  denn  gerade  die  dieser  Kategorie  wesentUche  Verknüpfung 
einer  Mannigfaltigkeit  von  Bestinmiungen  zur  Vorstellung  eines  einheitlich  Wirk- 
lichen fehlte  in  Descartes'  Begriff  der  endUchen  Substanzen  völlig,  indem 
dieselben  durch  eine  Grundeigenschaft,  der  Räumlichkeit  oder  des  Bewusstseins, 
charakterisirt  sein  sollten.  Alles  was  sich  sonst  an  den  Substanzen  fand;  musste 
also  als  Modification  ihrer  Grundeigenschaft,  ihres  Attributs  betrachtet  werden. 
Alle  Eigenschaften  und  Zustände  des  Körpers  sind  Modi  seiner  Räumlichkeit 
(Ausdehnung);  alle  Eigenschaften  und  Zustände  des  Geistes  sind  Modi  des  Be- 
wusstseins (modi  cogitandi). 

1)  Ebenso  sa^  Malebrancbe  (Recb.  m,  2,  9  a.  E.)  Gott  dürfe  eigentlicb  nur  heisseu 
Celui  qui  est,  er  sei  1  etre  sans  restriction,  tout  ctre  infini  et  universol. 


§  31.  Substanz  und  Causalität.  (Descaries,  Malebranobe.)  321 

Darin  jedoch  liegt,  dass  alle  zu  einer  der  beiden  Klassen  gehörigen  Einzel- 
substanzen, also  einerseits  alle  Körper,  andrerseits  alle  Geister,  ihrem  Wesen, 
ihrem  constitutiven  Attribut  nach  gleich  sind.  Von  hier  aber  ist  nur  noch  ein 
Schritt  zu  der  Vorstellung,  dass  diese  Gleichheit  als  metaphysische  Identität 
gedacht  wird.  Alle  Körper  sind  räumlich,  alle  Geister  sind  bewusst:  die  einzelnen 
Körper  unterscheiden  sich  Ton  einander  nur  durch  verschiedene  Modi  der  Räum- 
lichkeit (Gestalt,  Grösse,  Lage,  Bewegung),  die  einzelnen  Geister  unterscheiden 
sich  von  einander  nur  durch  verschiedene  Modi  des  Bewusstseins  (Ideen,  TJr- 
theile,  Willensthätigkeiten).  Die  einzelnen  Körper  sind  Modi  der  Räumlichkeit, 
die  einzelnen  Geister  sind  Modi  des  Bewusstseins.  Auf  diese  Weise  erhält  das 
Attribut  das  metaphysische  üebergewicht  über  die  einzelnen  Substanzen,  welche 
jetzt  als  seine  ModiiScationen  erscheinen;  aus  den  res  extensae  werden  modi 
extensionis,  aus  den  res  cogitantes  modi  cogitationis. 

Descartes  selbst  hat  diese  Consequenz  nur  auf  dem  naturphilosophischen 
Gebiete  gezogen,  auf  welches  er  überhaupt  die  principielle  Ausführung  seiner 
metaphysischen  Lehre  beschränkte.  Hier  aber  nalim  der  aUgemeine  Begriff  der 
Modification  von  selbst  eine  bestimmte  und  anschauliche  Bedeutung  an,  diejenige 
der  Begrenzung  (determinatio).  Die  Körper  sind  Theile  des  Raumes,  Be- 
grenzungen der  allgemeinen  Räumlichkeit  oder  Ausdehnung  *).  Daher  fallt  für 
Descartes  der  Begriff  des  Körpers  mit  demjenigen  einer  begrenzten  Raumgrösse 
zusammen.  Der  Körper  ist  seinem  wahren  Wesen  nach  ein  Stück  Raum.  Die 
Elemente  der  Körperwelt  sind  die  „Korpuskeln"*),  d.  h.  die  realiter  nicht 
mehr  theilbaren,  festen  Raumstücke:  als  mathematische  Gebilde  aber  sind  auch 
sie  bis  in's  Unendliche  theilbar,  d.  h.  es  giebt  keine  Atome.  Ebenso  folgt  aus 
diesen  Voraussetzungen  fiir  Descartes  die  Unmöglichkeit  des  leeren  Raumes 
und  die  Unendlichkeit  der  Körperwelt. 

Für  die  Geisterwelt  ist  die  analoge  Forderung  von  Malebranche  ausge- 
sprochen worden.  Im  Zusammenhange  mit  den  erkenntnisstheoretischen  Motiven 
(vgl.  unten  Nr.  8),  welche  ihm  keine  andere  Erkenntniss  der  Dinge  als  die  in  Gott 
möglich  erscheinen  liessen,  kam  er')  auf  den  Begriff  der  Raison  universelle, 
die,  in  allen  Einzelgeistem  gleich,  nicht  zu  den  Modis  des  endlichen  Geistes 
gehören  kann,  sondern  von  der  vielmehr  die  endlichen  Geister  selbst  Modificationen 
sind,  die  aber  eben  deshalb  nichts  anderes  sein  kann  als  ein  Attribut  Gottes. 
Insofern  ist  Gott  der  „Ort  der  Geister"  ebenso  wie  der  Raum  der  Ort  der 
Körper  ist.  Auch  hier  liegt,  wie  schon  der  Ausdruck  beweist,  das  begriffliche 
Verhältniss  des  Allgemeinen  und  des  Besonderen  zu  Grunde,  und  nach  Analogie 
der  cartesianischen  Auffassung  vom  Raum  und  vom  Körper  wird  es  anschaulich 
als  Participation^)  gedacht.  Alle  menschliche  Einsicht  ist  eine  Participation 
an  der  unendlichen  Vernunft,  alle  Ideen  der  endlichen  Dinge  sind  nur  Deter* 
minationen  der  Idee  Gottes,  alle  auf  das  Einzelne  gerichteten  Begierden  nur 


1)  Vgl.  Frinc.  phil.  II,  9  f.  wo  zugleich  ganz  klar  hervortritt,  dass  dies  Verhältniss  des 
einzelnen  Körpers  zum  allgemeinen  Raum  demjenigen  von  Individuum  und  Gattung  gleich- 

gesetzt  werden  soll.  —  2)  Für  die  Korpuskulartheorie  fand  Descartes  in  Bacon,  Hobbes,  Basso, 
ennert  u.  A.  viele  Anregungen.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Ausbildung  dieser  Theorie,  welche 
auf  der  Dialectik  zwischen  dem  mathematischen  und  dem  physicalischen  Moment  beruht,  hat 
mehr  naturwissenschaftliches  als  philosophisches  Interesse:  eine  vorzügliche  Darstellung  hat 
sie  in  Lasswitz*  Geschichte  der  Atomistik  gefunden.  —  8)  Rech,  de  la  ver.  LLE,  2, 6;  Entret. 1, 10. 
—  4)  Man  erinnere  sich  der  platonischen  p.i^e5:<! 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  21 


322  TV.  Philosophie  der  Renaissance.  2,  Naturwissenschaftliche  Periode. 

Participationen  an  der  dem  endlichen  Geist  nothwendig  innewohnenden  Liebe 
zu  Gott  als  seinem  Wesens-  und  Lebensgrunde.  Freilich  kam  Malebranche 
dadurch;  dass  er  so  den  endlichen  Geist  völlig  in  den  allgemeinen  Gottesgeist 
als  dessen  Modification  aufgehen  liess^  in  eine  sehr  bedenkliche  Lage.  Denn 
wie  sollte  er  hiernach  die  Selbständigkeit  und  Selbstthätigkeit  erklären,  welche 
doch  in  den  Gott  widerstrebenden  Neigungen  und  Willensthätigkeiten  des 
Menschen  ganz  offenkundig  vorzuliegen  schien?  Da  half  nichts  als  das  Wort 
„Freiheit",  wobei  denn  freilich  Malebranche  bekennen  musste,  die  Freiheit  sei 
ein  undurchdringUches  Geheimniss  ^). 

5.  In  diesem  Gedankengange  von  Malebranche  tritt  die  unabweisbare 
Folgerichtigkeit  zu  Tage,  womit  die  Attribute,  welche  bei  Descartes  als  das 
gemeinsame  Wesen  je  einer  der  beiden  Klassen  von  endlichen  Substanzen  galten, 
schliesslich  selbst  nur  als  die  Attribute  der  unendlichen  Substanz  oder 
der  Gottheit  gedacht  werden  konnten.  Genau  darin  aber  besteht  das  Grund- 
motiv des  Spinozismus,  der  sich  in  dieser  Richtung  direct  und  zuerst  aus 
dem  Cartesianismus  heraus  und  sogleich  bis  zur  letzten  Consequenz  entwickelt 
hat.  Auch  er  hält  ebenso  an  dem  qualitativen  wie  an  dem  causalen  Dualismus 
von  Räumlichkeit  und  Bewusstsein  fest.  Die  räumliche  und  die  geistige  Welt 
sind  durchaus  heterogen  und  absolut  unabhängig  von  einander.  Aber  die  ganze 
endlose  Reihe  der  Körper  mit  ihren  Theilungen,  Gestaltungen  und  Bewegungen 
sind  ebenso  nur  die  Modi  der  RäumUchkeit  wie  die  endlose  Reihe  der  Geister  mit 
ihren  Ideen  und  VoUtionen  nur  die  Modi  des  Bewusstseins  sind.  Diesen  endlichen 
„Dingen"  gebührt  daher  nicht  mehr  der  Name  der  „Substanz".  Substanz  kann 
nur  dasjenige  heissen,  dessen  Attribute  die  Räumlichkeit  und  das  Bewusstsein 
selbst  sind:  das  unendliche  Sein,  die  Go  ttheit.  Ihr  Wesen  aber  kann  wiederum 
sich  nicht  in  diesen  beiden  der  menschlichen  Erfahrung  zugänglichen  Attributen 
erschöpfen:  das  ens  realissimum  involvirt  in  sich  die  Wirklichkeit  der  unend- 
lichen Anzahl  aller  möglichen  Attribute. 

Auch  hierfür  hegt  der  letzte  Grund  in  dem  scholastisch -realistischen 
Begriffe  des  allerrealsten  Wesens.  Spinoza's  Definition  der  Substanz  oder 
der  Gottheit  als  des  Wesens  (essentia),  welches  seine  Existenz  involvirt,  ist 
nur  der  verdichtete  Ausdruck  des  ontologischen  Beweises  für  das  Dasein  Gottes: 
die  „Aseität"  ist  in  dem  Terminus  „causa  sui"  aufrechterhalten,  die  Substanz 
als  dasjenige  „quod  in  se  est  et  per  se  concipitur"  ist  wiederum  nur  eine  andere 
Umschreibung  desselben  Gedankens.  Von  diesen  Definitionen  aus  war  der 
Beweis  für  die  Einzigkeit  und  Unendlichkeit  der  Substanz^)  selbstverständlich. 

Dass  wir  es  aber  hier  mit  einem  durchweg  realistisclien  Gedankengange 
zu  thun  haben,  ergiebt  sich  deutlich  aus  Spinoza's  Lehre  von  dem  Wesen  der 
Substanz  selbst  und  ihrem  Verhältniss  zu  den  Attributen.  Denn  von  der 
Substanz  oder  der  Gottheit  sagt  das  spinozistische  System  schlechterdings 
nichts  weiter  aus,  als  was  in  dem  Begriffe  des  ens  realissimum,  des  absoluten 
Seins,  an  formalen  Bestimmungen  enthalten  ist.  Jedes  inhaltliche  Prädicat 
dagegen  wird  ausdrücklich  veraeint:  und  insbesondere  lässt  es  Spinoza  sich  an- 
gelegen sein,  die  Modificationen  des  Bewusstseins  wie  Erkenntniss  und  Willen 
dem  göttlichen  Wesen  abzusprechen").     Ebensowenig  erkennt  er  diesem  selbst- 


1)  Vgl.  oben  S.  311,  Anm.  3.  —  2)  Eth.  I  prop.  1—14.  —  8)  Ibid.  I,  31. 


§  31.   Sabstanz  und  Causalität.  (Spinoza.)  323 

verständlich  Modificationen  der  Räumlichkeit  als  Prädicate  seines  Wesens  zu, 
obwohl  er  dies  besonders  auszusprechen  keine  polemische  Veranlassung  hatte. 
Gott  selbst  also  ist  weder  Geist  noch  Körper,  von  ihm  kann  nur  gesagt  werden : 
er  ist.  Es  ist  deutlich,  dass  hier  mit  veränderter  Ausdrucksweise  das  alte 
Princip  der  negativen  Theologie  vorliegt.  Die  Erkenntniss  aller  endlichen 
Dinge  und  Zustände  führt  auf  zwei  höchste  Allgemeinbegriffe,  Bäumlichkeit  und 
Bewusstsein :  diesen  beiden  wird  eine  höhere  metaphysische  Dignität  zugeschrieben 
als  den  endlichen  Dingen;  sie  sind  die  Attribute,  und  die  Dinge  sind  ihre  Modi. 
Steigt  nun  aber  die  Abstraction  von  diesen  beiden  letzten  inhaltlichen  Bestim- 
mungen zu  dem  Allgemeinsten,  dem  ens  generalissimum ,  auf,  so  fallt  aus  dessen 
Begriff  aller  bestimmte  Inhalt  fort  und  es  bleibt  nur  die  leere  Form  der  Sub- 
stanz übrig.  Auch  für  Spinoza  ist  die  Gottheit  Alles  und  damit  —  Nichts. 
Seine  Gotteslehre  liegt  ganz  auf  dem  Wege  der  Mystik  *). 

Wenn  aber  Gott  so  das  allgemeine  Wesen  der  endlichen  Dinge  ist,  so  existirt 
er  nicht  anders  als  in  ihnen  und  mit  ihnen.  Das  trifft  zunächst  die  Attribute :  Gott 
ist  nicht  von  ihnen  und  sie  sind  nicht  von  ihm  verschieden,  so  wenig  wie  die  Dimen- 
sionen  des  Raumes  von  diesem  selbst  verschieden  sind.  Daher  kann  Spinoza 
auch  sagen,  Gott  bestehe  aus  den  unzähligen  Attributen,  oder  Dens  sive  omnia 
eius  attributa^).  Und  dasselbe  Verhätniss  widerholt  sich  nachher  zwischen  den 
Attributen  und  den  Modi.  Jedes  Attribut  ist,  weil  es  das  unendliche  Wesen 
Gottes  in  bestimmter  Art  ausdrückt  wieder  in  seiner  Weise  unendlich :  aber 
es  existirt  nicht  anders  als  mit  und  in  seinen  zahllosen  Modificationen.  So 
existirt  denn  Gott  nur  in  den  Dingen  als  ihr  allgemeines  Wesen,  und  sie  nur  in 
ihm  als  die  Modi  seiner  Realität.  In  diesem  Sinne  nimmt  Spinoza  von  Nicolaus 
Cusanus  und  Giordano  Bruno  die  Ausdrücke  naturanaturans  und  natura 
naturata  auf.  Gott  ist  die  Natur:  als  das  allgemeine  Weltwesen  ist  er  die 
natura  naturans;  als  Inbegriff  der  Eiuzeldinge,  in  welchen  diese  Essenz  modificirt 
existirt,  ist  er  die  natura  naturata.  Wenn  dabei  die  natura  naturans  auch  gelegent- 
Uch  die  wirkende  Ursache  der  Dinge  genannt  wird,  so  darf  diese  schaffende  Kraft 
nicht  als  etwas  von  ihren  Wirkungen  Verschiedenes  gedacht  werden :  diese  Ur- 
sache existirt  nirgends  als  in  ihren  Wirkungen.  Das  ist  Spinoza's  voller  und 
rückhaltsloser  Pantheismus. 

Es  wiederholt  sich  endhch  dies  Verhältniss  noch  einmal  in  der  Unter- 
scheidung, welche  Spinoza  zwischen  den  unendlichen  und  den  endUchen  Modi 
statuirt  *).  Wenn  jedes  der  zahllosen  Endlichen  ein  Modus  Gottes  ist,  so  muss 
auch  der  unendliche  Zusammenhang,  der  zwischen  denselben  besteht,  als  ein 
Modus  und  zwar  eben  als  ein  u  n  e  n  d  1  i  c  h  e  r  M  o  d  u  s  gelten.  Spinoza  statuirt 
deren  drei  ^).  Die  Gottheit  als  das  allgemeine  Weltding  erscheint  in  den  Einzel- 
dingen als  endlichen  Modi:  ihnen  entspricht  als  unendlicher  Modus  das  Universum. 
Im  Attribut  der  Räumlichkeit  sind  die   endlichen  Modi  die  einzelnen  Raum- 


1)  Dem  entspricht  auch  seine  dreistufige  Erkenntnisslehre,  welche  über  die 
Wahmehmang  und  die  Verstandesthätigkeit  die  „Intuition"  stellt  als  die  unmittelbare 
Auffassung  von  dem  ewigen  Folgen  aller  Dinge  aus  (lott,  als  die  Erkenntniss  sub  specie 
aeternitatis.  Sie  fällt  mit  der  docta  ignoraniia  des  Cusaners  zusammen.  —  3)  Was  aber 
keinesfalls  so  aufzufassen  ist,  als  sollten  (wie  K.  Thomas,  Sp.  als  Metaphysiker,  Königsberg 
1840,  meinte)  die  Attribute  selbständige  Urwirklichkeiten  und  „Gott"  nur  der  Sammelname 
fiir  dieselben  sein.  Solch  ein  grober  nominalistischer  Schlussstein  würde  das  ganze  System  aus 
den  Eugen  drücken.  —  8)  Eth.  I,  23  u.  30  ff.  —  4)  Ep.  64  (Op.  II,  219). 

21* 


324  rV.  Philosophie  der  Renaissance.   2.  Naturwissenschaftliche  Periode, 

gestalten,  der  unendliche  Modus  ist  der  unendliche  Raum  oder  die  Materie  *) 
selbst  in  ihrer  Bewegung  und  Ruhe.  Für  das  Attribut  des  Bewusstseins  steht 
neben  den  einzelnen  Functionen  des  Vorstellens  und  Wollens  der  „inteUectus 
infinitus"  ^).  Hier  erinnert  Spinoza  unmittelbar  an  den  realistischen  Pantheismus 
des  David  von  Dinant  (vgl.  S.  267  f.).  Seine  Metaphysik  ist  das  letzte  Wort  des 
mittelalterlichen  Realismus "). 

6.  Mit  diesen  auf  das  Problem  der  qualitativen  Di£ferenz  der  Substanzen 
bezüglichen  Motiven  strebte  die  neuere  Philosophie  aus  ihren  dualistischen  Vor- 
aussetzungen einem  monistischen  Ausgleich  zu:  damit  aber  verschlangen  sich  noch 
kräftigere  Motive,  welche  aus  der  realen  und  causalen  Trennung  der  räumlichen 
und  der  bewussten  Welt  erwuchsen.  Zunächst  freilich  beförderten  gerade  die 
Principien  der  Mechanik  den  Versuch,  den  Ablauf  des  Geschehens  in  jeder  der 
beiden  Sphären  der  endlichen  Substanzen  völlig  gegen  die  andere  zu  isoliren. 

Verhältnissmässig  einfach  gelang  dies  in  der  Körperwelt.  Auf  diesem 
Gebiete  hatte  durch  Galilei  die  Causalvorstellung  eine  völlig  neue  Be- 
deutung gewonnen.  Nach  der  scholastischen  Auffassung  (die  mit  axiomatischer 
Geltung  auch  noch  in  Descartes'  Meditationen  an  entscheidender  Stelle  vor- 
getragen wurde)  waren  Ursachen  Substanzen  oder  Dinge,  Wirkungen  dagegen 
entweder  deren  Thätigkeiten  oder  andere  Substanzen  und  Dinge,  welche 
durch  solche  Thätigkeiten  zu  Stande  kommen  sollten :  das  war  der  platonisch- 
aristoteUsche  Begriff  der  akia.  Galilei  dagegen  griff  auf  die  Vorstellung  der 
älteren  griechischen  Denker  (vgl.  §  5)  zurück,  welche  das  ursächliche  VerhäJtniss 
nur  auf  die  Zustände,  das  hiess  jetzt  die  Bewegungen  der  Substanzen,  nicht 
auf  das  Sein  der  letzteren  selbst  anwendeten.  Ursachen  sind  Bewegungen  und  Wir- 
kungen sind  Bewegungen.  Das  Verhältniss  von  Stoss  und  Gegenstoss,  der 
Uebergang  der  Bewegung  von  einem  Korpuskel  auf  das  andere*)  ist 
die  anschauliche,  selbstverständliche,  ursprüngliche  und  alle  anderen  erklärende 
Grundform  des  Causalverhältnisses.  Und  die  Frage  nach  dem  Wesen 
dieses  Grund  Verhältnisses  wurde  durch  das  Princip  der  mathematischen 
Gleichheit  gelöst,  welches  dann  in  dasjenige  der  metaphysischen  Iden- 
tität überging.  So  viel  Bewegung  wie  in  der  Ursache  ist,  so  viel  ist  auch  in  der 
Wirkung.  Descartes  formulirte  dies  als  das  Gesetz  von  der  Erhaltung 
derBewegungin  der  Natur.  Die  Summe  der  Bewegung  in  der  Natur  bleibt 
immer  dieselbe:  was  ein  Körper  an  Bewegung  verliert,  giebt  er  an  einen  anderen 
ab.  Hinsichtlich  der  Bewegungsgrösse  giebt  es  in  der  Natur  nichts  Neues,  ins- 
besondere keine  Impulse  aus  der  geistigen  Welt  ^).     Selbst  für  das  Reich  der 

1)  Diese  Identification  ffiii  bei  Spinoza  ebenso  wie  bei  Descartes.  —  2)  Dieser  jntellectus 
infinitus  erscheint  in  dem  ethischen  Theile  des  spinozistischen  Systems  wieder  als  amor  iu- 
tellualis  quo  deus  se  ipsum  amat.  In  beiden  Fällen  kommt  Malebranche's  „raison  uni- 
verselle" auf  dasselbe  hinaus.  —  3)  Aehnlich  wie  Spinoza  und  Malebranche  hat  auch  GeoHncx 
die  endlichen  Körper  und  G-eister  nur  als  „Limitationen"  oder  „Präcisionen"  des  allgemeinen 
unendlichen  Körpers  und  des  göttlichen  Geistes  betrachtet  vgl.  Metaph.  p.  56.  Wenn  wir,  sagt 
er  ibid.  237  flF.,  die  Beschrankung  von  uns  fortdenken,  so  bleibt  übrig  —  Gott.  —  4)  Daher 
schlosa  für  Descartes  das  mechanische  Princip  die  Möglichkeit  einer  Wirkung  in  die  Feme 
ebenso  aus,  wie  den  leeren  Raum.  Dies  nöthigte  ihn  zu  den  künstlichen  Bypothesen  der 
Wirbeltheorie,  wodurch  er  die  kopemikanische  Weltvorstellung  physicalisch  begründen 
wollte.  (Populäre  Darstellung  von  Fontenelle,  Entretiens  sur  la  pluralitc  des  mondes,  1686). 
Die  Gründe,  weshalb  diese  Lehre  durch  die  Newton'sche  Gravitationstheorie  verdrängt  wurde, 
sind  nicht  mehr  philosophischer,  sondern  rein  physicalischer  Natur.  —  5)  Daher  schloss  Hobbes 
den  aristotelisch-thomistischen  Begriff  des  unbewegten  Bewegers  aus  der  Physik  aus,  während 


§  81.  Substanz  und  CauBalität.  (Desoartes,  Spinoza.)  325 

Organismen  wurde  dies  Princip  wenigstens  als  ein  Postulat;  wenn  auch  noch  mit 
sehr  schwachen  Gründen  durchgeführt.  Auch  die  Thiere  sind  Maschinen^  deren 
Bewegungen  durch  den  Mechanismus  des  Nervensystems  hervorgerufen  und  be- 
stimmt werden.  Des  Näheren  dachte  sich  Descartes  (und  mit  ihm  Hobbes  und 
Spinoza)  diesen  Mechanismus  als  eine  Bewegung  feinster  (gasförmiger)  Stoffe, 
der  sog.  spiritus  animales'),  und  den  üebergang  aus  dem  sensiblen  in  das 
motorische  Nervensystem  suchte  er  beim  Menschen  in  einem  nicht  paarig  ver- 
tretenen Theile  des  Gehirns,  der  Zirbeldrüse  (conarium,  glans  pinealis). 

Sehr  viel  schwieriger  erwies  sich  der  andere  Theil  der  Aufgabe:  das  Ver- 
ständniss  des  geistigen  Lebens  ohne  jede  Beziehung  auf  das  körperliche.  So  leicht 
und  anschauUch  die  Einwirkung  eines  Körpers  auf  den  anderen  war,  so  wenig  gab 
es  eine  wissenschaftlich  brauchbare  Vorstellung  von  einem  körperlosen  Zu- 
sammenhange zwischen  verschiedenen  Geistern.  Das  allgemeine  metaphysische 
Postulat  prägte  z.  B.  Spinoza  sehr  energisch  aus,  wenn  er  im  Eingange  des 
dritten  Buchs  der  Ethik  versprach,  er  wolle  die  Handlungen  und  Begierden  des 
Menschen  so  behandeln,  als  wenn  von  Linien,  Flächen  und  Körpern  die  Rede 
wäre ;  denn  es  komme  darauf  an,  sie  weder  zu  begeifern  noch  zu  verspotten, 
sondern  zu  begreifen.  Allein  die  Lösung  dieser  Aufgabe  beschränkte  sich 
von  vornherein  auf  die  Untersuchung  des  Causalzusammenhanges  zwischen  den 
Bewusstseinsthätigkeiten  des  einzelnen  Geistes:  der  Dualismus 
verlangte  eine  yon  allen  physiologischen  Bestandtheilen  freie  Psychologie.  Um 
so  charakteristischer  ist  es  für  die  Vorherrschaft  des  naturwissenschaftlichen 
Geistes  im  17.  Jahrhundert,  dass  es  zu  dieser  durch  die  Theorie  verlangten 
Psychologie  nur  in  beschränktestem  Masse  gekommen  ist.  Und  selbst  die  An- 
sätze dazu  sind  von  dem  Bestreben  beherrscht,  das  methodische  Princip  der 
Mechanik,  welches  in  der  Theorie  der  äusseren  Erfahrung  seine  Triumphe 
feierte,  auch  auf  das  Verständniss  der  inneren  anzuwenden. 

Ebenso  nämlich  wie  die  Naturforschung  von  Galilei  bis  Newton  darauf  aus- 
ging, die  einfache  Grundform  der  körperlichen  Bewegung  ausfindig  zu  machen, 
auf  welche  alle  comphcirten  Gebilde  der  äusseren  Erfahrung  sich  zurückführen 
liessen,  ebenso  wollte  auch  Descartes  die  Grundformen  der  Seelenbewegung  fest- 
stellen, aus  denen  sich  die  Mannigfaltigkeit  der  inneren  Erfahrungen  erklärte. 
Auf  dem  theoretischen  Gebiete  schien  das  durch  die  Feststellung  der  unmittelbar 
einleuchtenden  Wahrheiten  (der  eingeborenen  Ideen),  erreicht,  auf  dem  prak- 
tischen Felde  erwuchs  daraus  die  neue  Aufgabe  einer  Statik  und  Mechanik 
der  Gemüthsbewegungen.  In  diesem  Sinne  lieferten  Descartes  und  Spinoza 
ihre  Naturgeschichte  der  Affecte  und  Leidenschaften^),  letzterer,  indem 
er  den  Gedanken  des  ersteren  diejenigen  von  Hobbes  beimischte.  So  leitet 
Descartes  aus  den  sechs  Grundformen  der  Verwunderung  (admiratio),  der 
Liebe  und  des  Hasses,  des  Verlangens  (desir),  der  Lust  und  der  Unlust  (laetitia  — 
tristitia)  das  ganze  Heer  der  „particularen"  Leidenschaften  als  Arten  und  Unter- 
arten ab;  so  entwickelt  Spinoza  aus  Begierde,  Lust  und  Unlust  (appetitus, 


Descartes,  auch  hierin  mehr  metaphysisch  verfahrend,  der  Materie  die  Bewegung  anfänglich 
von  Gott  ertheilt  worden  seinHiess. 

1)  Ein  Erbstück  aus  der  physiologischen  Psychologie  der  Griechen,  insbesondere  der- 
jenigen der Peripatetiker.  —  2) Descartes,  Les  passions  de  lamc^  Spinoza,  Eth.  HI  u,  Tract, 
brev,  n,  5  ff.  Vgl.  unten  Nr.  7, 


326  ^'  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

laetitia,  tristitia)  das  System  der  Gemüthsbewegungen  durch  den  Nachweis  der 
Vorstellungsprocesse,  mit  denen  sich  dieselben  von  ihrem  ursprünglichen  Gegen- 
stande, der  Selbsterhaltung  des  Individuums,  auf  andere  „Ideen"  übertragen. 
Eine  eigenthümliche  Nebenstellung  nehmen  in  dieser  Hinsicht  die  beiden 
englischen  Denker  ein.  B  a c  o  n  und  H  o  b  b  e  s  liegt  eine  mechanistische  Auffassung 
des  Geistigen  um  so  näher,  je  enger  sie  dasselbe  in  den  Kreis  des  Physischen 
hineinzuziehen  bestrebt  sind.     Beiden  gilt  nämlich  das  empirische  Seelenleben^ 
also  auch  die  Sphäre  des  Bewusstseins,  welche  bei  Descartes  gar  nichts  mit  der 
Körperwelt  zu  thun  haben  sollte,   noch  als  etwas  wesentHch  dazu  Gehöriges: 
dagegen  wird  der  gesammten  Wahmehmungswelt  mehr  etwas  Geistliches  als  etwas 
Geistiges  gegenübergestellt.     Vorstellungen  und  Willensthätigkeiten,    wie  sie 
durch  Erfahrung  bekannt  sind,  sollen  im  Grunde  genommen  auch  Thätigkeiten 
des  Leibes  sein :  und  wenn  ausser  diesen  noch  von  einer  unsterblichen  Seele 
(spiraculum),  von  einer  geistigen  Welt  und  von  dem  göttUchen  Geiste  die  Rede 
ist,  so  soll  das  der  Theologie  anheimfallen.     Die  naturwissenschaftliche  Theorie 
aber   ist  danach  nicht  viel  anders  denn  als  anthropologischer  Materia- 
lismus zu  bezeichnen;  denn  sie  soll  den  ganzen  Ablauf  der  empirischen  Seelen- 
thätigkeiten  als  einen  mechanischen  Process  im  Zusammenhange  mit  den  leib- 
lichen Functionen  begreifen.     Diese  Aufgabe  stellte  wiederum  Bacon;  Hobbes 
versuchte  sie  zu  lösen  und  wurde  damit  zum  Vater  der  sog.  Associations- 
Psychologie.    Mit  demselben  ausgesprochenen  Sensualismus  wie  Cam- 
panella, an  dessen  Ausführungen  die  seinigen  namenthch  in  Betreff  des  Vor- 
stellungsmechanismus   vielfach  erinnern ;   sucht  er  zu  zeigen,  dass  Sinnes- 
empfindungen  die  einzigen  Elemente  des  Bewusstseins  abgeben   und   dass 
durch  ihre  Verknüpfung  und  Umbildung  auch  das  Gedächtniss  und  das  Denken 
zu  Stande  kommen.  Analog  werden  dann  auf  dem  praktischen  Gebiete  der  Selbst- 
erhaltungstrieb und  die  bei  den  Eindrücken  entstehenden  Gefühle  von  Lust  und 
Unlust  als  die  Elemente  gekennzeichnet ,  aus  denen  alle  übrigen  Gefühle  und 
Willensthätigkeiten  entstehen.   So  entwarf  auch  Hobbes  eine  „Naturgeschichte** 
der  Affecte  und  Leidenschaften,  und  diese  ist  nicht  ohne  Einfluss  auf  diejenige 
Spinoza's  gewesen,  bei  dem  die  Affectentheorie  auch  überall  nach  dem  anderen 
Attribut  hinschielt. 

Mit  unerbittlicher  Consequenz  aber  folgte  aus  diesen  methodischen  Vor- 
aussetzungen für  Hobbes  und  für  Spinoza  die  Leugnung  der  Willens- 
freiheit im  Sinne  des  Indeterminismus.  Beide  haben  —  und  Spinoza  that  es 
in  der  denkbar  schroffsten  Form  —  die  strenge  Nothwendigkeit  aufzuzeigen  ge- 
sucht, welche  auch  im  Ablauf  des  Motivationsprocesses  obwaltet:  sie  sind  Typen 
des  Determinismus.  Für  Spinoza  giebt  es  daher  eine  Freiheit  im  psycho- 
logischen Sinne  nicht.  Freiheit  kann  nur  einerseits  metaphysisch  das  absolute, 
durch  nichts  als  durch  sich  selbst  bestimmte  Sein  der  Gottheit,  andrerseits  etlüsch 
das  Ideal  der  Ueberwindung  der  Leidenschaften  durch  die  Vernunft  bedeuten. 
7.  Hierin  zeigte  sich  nun  schon,  dass  den  Thatsachen  der  Psychologie 
gegenüber  jene  absolute  Trennung  der  Körperwelt  und  der  Geisterwelt,  welche 
die  Metaphysik  verlangte,  nicht  aufrechtzuerhalten  war.  Ganz  dasselbe  aber  er- 
fuhr Descartes  selbst.  Aus  dem  Wesen  des  Geistes  Selbst  liessen  sich  zwar  die 
klaren  und  deutlichen  Vorstellungen  und  die  daraus  erwachsenden  Formen  des 
vernünftigen  Willens  erklären,  nicht  aber  die  dunklen  und  vei'worrenen  Vor- 


§  31.  Substanz  und  Causalitftt.  (Deeoartes,  Spinoza.)  327 

Stellungen  und  die  damit  zusammenhängenden  Affecte  und  Leidenschaften. 
Diese  stellen  sich  vielmehrals  eine  Störung^)  des  Geist  es  (perturbationes 
animi)  dar,  und  da  diese  Störung,  welche  den  Anlass  zum  Missbrauch  der  Frei- 
heit giebt  (vgl.  oben  §  30,  5) ,  nicht  von  Gott  herrühren  kann,  so  muss  ihr  Ur- 
sprung schliesslich  doch  in  einer  Einwirkung  des  Körpers  gesucht  werden.  In 
den  Gemüthsstörungen  liegt  deshalb  für  Descartes  eine  unzweifelhafte  Thatsache 
vor,  welche  sich  aus  den  metaphysischen  Grundbestimmungen  des  Systems  nicht 
erklären  lässt.  Hier  sieht  sich  daher  der  Philosoph  genöthigt,  einexceptionelles 
Verhältniss  anzuerkennen,  und  er  legt  sich  das  so  zurecht,  wie  es  durch  die 
Anthropologie  der  Victoriner  (vgl.  S.  240 f.)  vorgebildet  war.  Das  Wesen 
(natura)  des  Menschen,  lehrt  er,  besteht  in  der  innigen  Vereinigung  zweier 
heterogener  Substanzen,  eines  Geistes  und  eines  Körpers,  und  diese 
wunderbare  (d.  h.  metaphysisch  unbegreifliche)  Vereinigung  hat  Gott  so  gewollt, 
dass  in  diesem  einzigen  Falle  die  bewusste  und  die  räumliche  Substanz  auf  ein- 
ander einwirken.  DieThiere  bleiben  für  Descartes  Körper:  ihre  „Empfindungen" 
sind  nur  Nervenbewegungen,  aus  denen  nach  dem  Keflexmechanismus  Erregungen 
des  motorischen  Systems  entstehen.  Im  menschlichen  Körper  aber  ist  zugleich 
die  geistige  Substanz  gegenwäi*tig,  und  in  Folge  dieses  Zusammenseins  erregt 
der  Sturm  der  Lebensgeister  (esprits  animaux)  in  der  Zirbeldrüse  auch  bei  der 
geistigen  Substanz  eine  Störung,  welche  sich  in  dieser  als  unklare  und  undeut- 
liche Vorstellung,  d.  h.  als  sinnliche  Wahrnehmung,  als  Aflfect  oder  als  Leiden- 
schaft darstellt  ^). 

Bei  den  Schülern  war  der  Systemtrieb  grösser  als  bei  dem  Meister.  Sie  fanden 
in  diesem  influxus  physicus  zwischen  Geist  und  Leib  den  wunden  Punkt  der 
cartesianischen  Philosophie,  und  sie  bemühten  sich  die  Ausnahme  zu  beseitigen, 
welche  der  Philosoph  in  den  anthropologischen  Thatsachen  hatte  statuiren  müssen. 
Das  aber  ging  nicht  an,  ohne  dass  die  Auffassung  der  Oausalität  eine  neue  und 
in  gewissem  Sinne  rückläufige  Veränderung  erfuhr,  indem  das  metaphysische 
Moment  über  das  mechanische  wiederum  das  Uebergewicht  gewann.  Die 
immanenten  Causalprocesse  der  räumlichen  und  der  bewussten  Welt  galten  als 
selbstverständlich:  aber  dertransscendente  Causalprocess  aus  einer  dieser  Welten 
in  die  andere  bildete  ein  Problem.  Man  fand  keine  Schwierigkeit  sich  vorzu- 
stellen, dass  eine  Bewegung  sich  in  eine  andere  verwandle  oder  dass  eine 
Function  des  Bewusstseins,  z.  B.  ein  Gedanke,  in  eine  andere  übergehe :  aber  es 
schien  unbegreiflich,  wie  aus  Bewegung  Empfindung  oder  aus  Wille  Bewegung 
werden  soll.     Physische  und  logische  CausaHtät  schienen  keine  Schwierigkeit 

1)  Dies  ist  das  nicht  nur  ethische,  sondern  auch  theoretische  Interesse,  welches  Descartes 
veranlasste,  psychologisch  so  verschiedene  Zustände  wie  AfTecte  und  Leidenschaften  unter  dem- 
selben Gesichtspunkte  und  in  Einer  Linie  zu  behandeln.  Vgl.  zum  Folgenden  Passions  de  Tarne 
I,  und  Med.  5  u.  6.  —  2)  Hieraufbaut  dann  Descartes  seine  Ethik.  In  solchen  Störungen  verhält 
der  Geist  sich  leidend,  und  seine  Aufgabe  ist  es,  in  der  klaren  und  deutlichen  Erkenntniss  sich 
davon  zu  befreien.  Spinoza  hat  diese  intellectualistische  Moral  in  äusserst  grossartiger  und 
ergreifender  Weise  ausgeführt  (Eth.  IV  u.  V).  Zwar  gewann  er  von  seiner  Metaphysik  aus  nur 
künstlich  (Eth.  lU,  def.  2)  den  Gegensatz  eines  activen  und  passiven  Verhaltens  des  endlicheu 
Geistes:  aber  er  führte  den  Gedanken,  dass  die  Ucberwiudung  der  Leidenschaften  aus  ihrer 
Erkenntniss,  aus  der  Einsicht  in  den  nothwendigcn  göttlichen  Zusammenhang  aller  Dinge 
folge,  mit  packender  Consequenz  durch,  er  lehrte,  dass  das  menschliche  Wesen  sicfi  in  der 
Seligkeit  der  activen  Affecte,  welche  nur  in  der  Bcthätigung  des  reinen  Erkennt^nisstriebes 
bestehen  (Eth.  V,  15  ff.),  zu  vollenden  habe,  und  er  stellte  di^nrit  ein  I^el)^q8i4e84  ^^f^  welches 
die  Höhe  der  griechischen  O-etupia  erreicht.  -^ 


328  ^*  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

zu  bieten^  desto  grössere  die  psychophysische  Causalität.  Bei  der 
letzteren  wurde  man  sich  bewusst;  dass  zwischen  Ursache  und  Wirkung  nicht  das 
Yerhältniss  der  Gleichheit  oder  Identität  besteht,  durch  welches  die  mecha- 
nische und  die  logische  Abhängigkeit  verständlich  erschienen.  Daher  musste 
hier  nach  dem  Princip  gefragt  werden,  durch  welches  die  beiden  nicht  an  sich 
zusammengehörigen  Momente  des  CausalTerhältnisses,  Ursache  und  Wu'kung,  mit 
einander  verknüpft  sind  ^).  Wo  dies  Princip  zu  suchen  sei,  konnte  für  die  Schüler 
Descartes'  nicht  zweifelhaft  sein.  Gott,  der  die  Vereinigung  der  beiden  Sub- 
stanzen in  der  Natur  des  Menschen  geschaffen,  hat  sie  auch  so  eingerichtet,  dass 
auf  die  Functionen  der  einen  Substanz  die  entsprechenden  der  anderen  folgen. 
Deshalb  aber  sind  diese  Functionen  in  ihrem  causalen  Verhältnisse  zu  einander 
nicht  eigentUch  und  ihrer  eigenen  Natur  nach  wirkende  Ursachen,  sonderen  nur 
die  Gelegenheiten,  bei  welchen  die  durch  göttliche  Veranstaltung  be- 
stimmten Folgen  in  der  anderen  Substanz  eintreten,  —  nicht  causae  efficientes, 
sondern  causae  occasionales.  Die  wahre  „Ursache"  für  den  causalen  Zu- 
sammenhang von  Reizen  und  Empfindungen  und  von  Absichten  und  GUeder- 
bewegungen  ist  Gott. 

Solche  Ueberlegungen  breiten  sich  in  der  ganzen  Entwicklung  der  carte- 
sianischen  Schule  aus:  Clauberg  macht  sie  für  die  Theorie  der  Wahrnehmungen, 
Cordemoy  für  diejenige  der  zweckmässigen  Bewegung  geltend;  zu  voller  Aus- 
führung gelangen  sie  in  Geulincx'  Ethik.  Doch  ist  in  dieser  nicht  jeder  Zweifel 
darüber  ausgeschlossen,  ob  dabei  die  UrsächUchkeit  Gottes  als  eine  jeweilige 
einzelne  Intervention  oder  ob  sie  als  allgemeine  und  dauernde  Einrichtung  be- 
trachtet wird.  An  einigen  Stellen  ist  freilich  das  Erstere  der  Fall  %  aber  der 
Gesammtgeist  der  Lehre  involvirt  zweifellos  das  Letztere.  Am  klarsten  spricht 
es  GeuUncx  in  dem  Uhrengleichniss")  aus:  wie  zwei  Uhren,  die  von  demselben 
Künstler  gleich  gearbeitet  sind,  in  stetig  correspondirendem  Gang  bleiben 
„absque  ulla  causalitate,  qua  alterum  hoc  in  altero  causat,  sed  propter  meram 
dependentiam,  qua  utrumque  ab  eadem  arte  et  simili  industria  constitutum  est", 
so  folgen  nach  der  einmal  von  Gott  bestimmten  Weltordnung  diecorrespondirenden 
Functionen  des  Geistes  und  des  Körpers  auf  einander*). 

8.  Diese  anthropologische  Begründung  des  Occasionalismus  fügt 
sich  aber  von  Anfang  an  einem  allgemeineren  metaphysischen  Gedankengange 
ein.  Schon  in  dem  cartesianischen  System  lagen  die  Prämissen  für  die  Folgerung, 
dass  bei  allem  Geschehen  in  den  endlichen  Substanzen  das  wirkende  Princip 
nicht  von  diesen  selbst,  sondern  von  der  Gottheit  stamme.  Das  Denken  der 
Geister  geschieht  durch  die  eingeborenen  Ideen,  die  er  ihnen  gegeben  hat;  der 
Körperwelt  hat  er  ein  Quantum  von  Bewegung  mitgetheilt,   welches  nur  in 


1)  Dass  man  damit  thatsächlich  auf  die  G-rundschwierigkeit  aller  Causalverhältnisse 
stiess,  wurde  erst  später,  durch  Hume,  klar:  vgl.  §  84.  —  2)  Z.  B.  bei  dem  Gleichniss  mit  dem 
Kind  in  der  Wiege,  Eth.  123.  Es  scheint  übrigens,  dass  die  erste  Auflage  der  Ethik  (1665)  in 
der  That  mehr  den  deus  ex  machina  einführte,  während  die  in  der  zweiten  Auflage  (1675) 
hinzugekommenen  Anmerkungen  die  tiefere  Auffassung  durchgängig  darbieten.  —  3)  Eth. 
p.  124,  not.  19.  —  4)  Wenn  deshalb  Leibniz,  als  er  später  dasselbe,  in  jener  Zeit  häufig  ge- 
brauchte Gleichniss  Air  seine  „prästabilirte  Harmonie*'  in  Anspruch  nahm  (!^clairc.  2  u.  3), 
die  cartesianische  Auffassung  durch  eine  unmittelbare  Abhängigkeit  der  beiden  Uhren  von 
einander,  die  occasionalistische  aber  durch  eine  stetig  erneuerte  Regulirung  von  Seiten  des 
Uhrmachers  charakten'sirte,  so  traf  das  höchstens  für  einige  Stellen  in  der  ersten  Auflage  der 
Geulincx'schen  Ethik  zu.  — 


§  31.   Substanz  und  Causalitat.   (Geulinox,  Malebranche.)  329 

seiner  Vertheilung  auf  die  einzelnen  Korpuskeln  wechselt,  bei  dem  einzelnen 
Körper  aber  sozusagen  nur  zeitweilig  geborgt  ist:  so  wenig  wie  die  Körper  neue 
Bewegung^  so  wenig  können  die  Geister  neue  Ideen  erzeugen:  die  einzige  Ursache 
ist  Gott. 

Die  alleinige  Causalitat  Gottes  hervorzuheben,  hatten  jedoch  dieCar- 
tesianer  um  so  mehr  Anlass,  als  ihre  Lehre  auf  heftigen  Widerspruch  bei  der 
Orthodoxie  beider  Confessionen  stiess  und  in  die  theologischen  Streitigkeiten  der 
Zeit  hineingezogen  wurde.  Dabei  hatten  Freund  und  Feind  die  Verwandtschaft 
des  Cartesianismus  mit  der  Lehre  Augustinus  ^)  schnell  erkannt,  und  während 
deshalb  die  Jansenisten  und  die  Yäter  des  Oratoriums,  die  in  dem  augustinisch- 
scotistischen  Gedankenkreise  lebten,  der  neuen  Philosophie  freundlich  waren,  so 
befehdeten  sie  die  orthodoxen  Peripatetiker  und  hauptsächlich  die  Jesuiten,  desto 
heftiger.  So  wurde  in  dem  Streit  um  den  Cartesianismus  der  alte  Gegensatz 
von  Augustinismus  und  Thomismus  ausgetragen.  Die  Folge  war  die,  dass 
die  Cartesianer  diejenigen  Momente,  worin  ihre  Lehre  der  augustinischen  ver- 
wandt war,  möglichst  in  den  Vordergrund  schoben.  So  versuchte  Louis  dela 
Forge  *)  die  volle  Identität  des  Cartesianismus  mit  der  Lehre  des  Kirchenvaters 
zu  beweisen,  und  hob  dabei  ganz  besonders  hervor,  dass  nach  beiden  Denkern 
der  alleinige  Grund  alles  Geschehens  in  den  Körpern  wie  in  den  Geistern  Gott 
sei.  Gerade  dies  bezeichnete  dann  später  Malebranche  ^)  als  das  sichere  Merk- 
mal einer  christlichen  Philosophie,  während  der  gefahrlichste  Irrthum  der  heidni- 
schen Philosophie  in  der  Annahme  der  metaphysischen  Selbständigkeit  und 
eigenen  Wirkungsfahigkeit  endUcher  Dinge  bestehe. 

Ebenso  büssen  auch  bei  G  eulin  ex  alle  endlichen  Dinge  das  causale  Moment 
der  Substantialität  ein.  Er  geht  dabei  von  dem  Princip  aus  ^),  dass  man  nur  das  selbst 
thun  kann,  wovon  man  weiss,  wie  es  gemacht  wird.  Daraus  folgt  anthropologisch, 
dass  der  Geist  nicht  die  Ursache  der  leiblichen  Bewegungen  sein  kann  —  Niemand 
weiss,  wie  er  es  anfangt,  auch  nur  den  Arm  zu  heben  — ,  weiter  aber  kosmologisch, 
dass  die  Körper,  die  überhaupt  keine  Ideen  haben,  auch  überhaupt  nicht  wirken 
können,  endlich  erkenntnisstheoretisch,  dass  die  Ursache  der  Wahrnehmungen 
nicht  im  endlichen  Geiste  —  denn  er  weiss  nicht  wie  er  dazu  kommt  —  noch  in 
den  Körpern,  also  allein  in  Gott  zu  suchen  ist.  Dieser  erzeugt  damit  in  uns  eine 
Vorstellungswelt,  die  in  ihrer  Qualitätenfiille  viel  reicher  und  schöner  ist  als 
die  wirkliche  Körperwelt  selbst  *). 

Das  erkenntnisstheoretische  Motiv  findet  endUch  bei  Malebranche®) 
eine  noch  tiefere  Fassung.  Der  cartesianische  Dualismus  macht  eine  directe  Er- 
kenntniss  des  Körpers  durch  den  Geist  überhaupt  unmöglich :  sie  verbietet  sich 
nicht  nur,  weil  zwischen  beiden  kein  influxus  physicus  möglich  ist,  sondern  auch 


1)  Verwandtschaft  und  Gegensatz  betreffen  auch  noch  andere  Punkte.  Descartes  und 
die  Oratorianer  (Gibieuf,  Malebranche)  sind  gegen  den  Thomismus  in  der  augustinisch-scoti- 
stischen  Lehre  von  der  schrankenlosen  Freiheit  der  Gottheit  einig;  sie  behaupten  wieder,  das 
Gute  sei  gut,  weil  Gott  es  so  gewollt  habe,  nicht  per  se  (vgl.  S.  262  f.)  u.  A.  —  2)  Trait.  de 
Tespr.  hum.,  pref.  —  8)  Recherche,  VI,  2,  3.  —  4)  Eth.  p.  113;  Met.  p.  26.  —  5)  Der  Rest 
von  Selbstthäti^keit  endlicher  Wesen,  der  somit  bei  Geulincx  übrig  bleibt,  besteht  in  der 
immanenten  Geistesthätigkeit  des  Menschen:  vgl.  Eth.  121  f.  Die  „Autologie''  oder  Inspectio 
Bui  ist  daher  nicht  nur  der  erkenntnisstheoretische  Ausgangspunkt  des  Systems,  sondern  auch 
dessen  ethischer  Schlusspunkt.  Der  Mensch  hat  in  der  Aussenwelt  nichts  zu  schaffen,  übi 
nihil  vales,  ibi  nihil  velis.  Die  höchste  Tugend  ist  Bescheidung,  Ergebenheit  in  Gottes  Willen 
—  Demutk  —  6)  Rech.  III,  2. 


330  ^*  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

weil  bei  der  totalen  Heterogeneität  beider  Substanzen  nicht  abzusehen  ist,  wie  in 
der  einen  auch  nur  eine  Idee  der  anderen  denkbar  sei.  Auch  in  dieser  Hinsicht 
ist  die  Vermittlung  nur  durch  die  Gottheit  möglich,  und  Malebranche  nimmt 
seine  Zuflucht  zu  der  neuplatonischen  Ideenwelt  in  Gott.  Der  Mensch  erkennt 
nicht  die  Körper,  sondern  ihre  Ideen  in  Gott.  Diese  intelligible  Körperwelt 
in  Gott  ist  einerseits  das  Urbild  der  von  Gott  geschaffenen  wirklichen  Körper- 
welt, andrerseits  dasjenige  der  von  Gott  uns  mitgetheilten  Ideen  von  derselben. 
Unsere  Erkenntniss  gleicht  den  wirklichen  Körpern  so,  wie  zwei  Grössen,  die 
einer  dritten  gleich  sind,  auch  unter  einander  gleich  sind.  So  verstand  es  Male- 
branche, dass  die  Philosophie  lehre,  alle  Dingo  in  Gott  zu  schauen. 

9.  In  ganz  anderer  Weise  hat  Spinoza  die  occasionaUstischen  Probleme 
gelöst.  Die  Erklärung  irgend  eines  Modus  des  einen  Attributs  durch  einen 
Modus  des  anderen  war  durch  seine  Begriffsbestimmung  des  Attributs  (s.  oben 
Nr.  5)  ausgeschlossen,  von  der  es  ^)  wie  von  der  Substanz  galt:  in  se  est  et  per 
se  concipitur.  Von  einer  Abhängigkeit  des  Räumlichen  vom  Bewusstsein  oder 
umgekehrt  konnte  hiemach  nicht  die  Rede  sein;  ihr  Schein,  der  in  den  anthro- 
pologischen Thatsachen  vorlag,  bedurfte  also  einer  anderen  Erklärung,  und  dass 
diese  mit  Hilfe  des  Gottesbegriffs  zu  suchen  war,  verstand  sich  von  selbst.  Wenn 
aber  deshalb  die  Lehre,  dass  Gott  die  alleinige  Ursache  alles  Geschehens  sei,  sich 
auch  bei  Spinoza  findet,  so  ist  doch  seine  Uebereinstimmung  mit  den  Occasio- 
nahsten  nur  im  Motiv  und  im  Worte,  aber  nicht  im  Sinne  der  Lehre  zu  finden. 
Denn  nach  Geulincx  und  Malebranche  ist  Gott  der  Schöpfer,  nach  Spinoza  ist 
er  das  allgemeine  Wesen  der  Dinge:  nach  jenen  erzeugt  Gott  die  Welt  durch 
seinen  Willen,  nach  diesem  folgt  nothwendig  aus  dem  Wesen  Gottes  die 
Welt.  Das  ursächliche  Verhältniss  also  wird  trotz  der  Gleichheit  des  Worts 
causa  sachlich  hier  ganz  anders  gedacht  als  dort.  Bei  Spinoza  heisst  es  nicht : 
Gott  erzeugt  die  Welt,  sondern:  er  ist  die  Welt. 

Seine  Auffassung  auch  von  der  realen  Dependenz,  der  Causalität,  drückt 
Spinoza  stets  durch  das  Wort  „folgen"  (sequi,  consequi)  und  durch  den 
Zusatz  aus  „wie  aus  der  Definition  des  Dreiecks  die  Gleichheit  seiner  Winkel 
mit  zwei  Rechten  folgt".  Deshalb  wird  die  Abhängigkeit  der  Welt  von  Gott  als 
mathematische  Folge  gedacht.  Diese  Auffassung  des  Causalverhältnisses  ^) 
hat  somit  das  empirische  Merkmal  des  „Erzeugens",  welches  gerade  bei  den 
Occasionalisten  eine  so  wichtige  RoUe  spielte,  total  abgestreift  und  setzt  an 
die  Stelle  der  anschaulichen  Vorstellung  vom  lebendigen  Wirken  die  logisch- 
mathematische Beziehung  von  Grund  und  Folge.  Der  Spinozismus 
ist  eine  consequente  Identification  des  Verhältnisses  von  Ursache  und  Wirkung 
mit  demjenigen  von  Grund  und  Folge.  Deshalb  ist  die  Causalität  der  Gottheit 
nicht  zeitlich,  sondern  ewig,  d.  h.  zeitlos,  und  die  wahre  Erkenntniss  eine  Be- 
trachtung der  Dinge  sub  quadam  aetemitatis  specie.  Diese  Auffassung  des  De- 
pendenzverhältnisses  ergab  sich  von  selbst  aus  dem  Begriffe  der  Gottheit  als  des 
allgemeinen  Wesens :  aus  diesem  folgen  zeitlos  alle  seine  Modificationen,  wie 
aus  dem  Wesen  des  Raumes  alle  Lehrsätze  der  Geometrie.  Die  geometrische 
Methode  kennt  keine  andere  Causalität  als  die  des  „ewigen  Folgens"  :  dem  Ra- 
tionalismus gilt  nur  die  dem  Denken  selbst  eigene  Form  der  Dependenz ,  das 

1)  Eth.  I  prop.  10.  -—  2)  Vgl.  Schopbnhaüke,  Ueber  dio  einfache  Wurzel  des  Sataes 
vom  zureichende»  Grunde,  cap.  Ö. 


§  31.  Substanz  und  Cauealität.  (Spinoza.)  331 

logische  Hervorgehen  der  Folge  aus  dem  Grunde;  als  selbstverständlich  und  des- 
halb auch  als  das  Schema  des  Geschehens ') :  auch  die  reale  Dependenz  soll  weder 
mechanisch  noch  teleologisch;  sondern  nur  logisch-mathematisch  begriffen  werden. 

Wie  nun  aber  in  der  Geometrie  zwar  Alles  aus  dem  Wesen  des  Raumes 
folgt;  aber  jedes  besondere  Yerhältniss  durch  andere  besondere  Bestimmungen 
determinirt  ist,  so  besteht  auch  in  der  spinozistischen  Metaphysik  das  noth- 
wendige  Hervorgehen  der  Dinge  aus  Gott  dariu;  dass  jedes  einzelne  Endliche 
durch  andere  Endliche  determinirt  ist.  Die  Summe  der  endlichen  Dinge  und  die 
Modi  jedes  Attributs  bilden  eine  anfangs-  und  endlose  Kette  strenger  Deter- 
mination. In  allen  waltet  die  Nothwendigkeit  des  göttlichen  Wesens:  aber 
kein  Modus  steht  der  Gottheit  näher  oder  ferner  als  der  andere.  Hierin  macht 
sich  der  Gedanke  des  Nicolaus  Cusanus  von  der  Incommensurabilität  des  End- 
lichen mit  dem  ünendhchen  geltend.  Keine  emanatistische  Stufenfolge  fuhrt 
von  Gott  zur  Welt  herab:  alles  Endliche  ist  wieder  durch  Endliches  bestimmt, 
aber  in  allen  ist  Gott  der  alleinige  Grund  ihres  Wesens. 

Ist  dies  der  Fall,  so  muss  die  Einheit  des  Wesens  auch  in  dem  Verhältniss 
der  Attribute  zu  Tage  treten;  mögen  diese  qualitativ  und  causal  noch  so  getrennt 
gehalten  werden.  Es  ist  doch  dasselbe  göttliche  WeseU;  welches  hier  in  der 
Form  der  Räumlichkeit  und  dort  in  der  Form  des  Bewusstseins  existirt.  So 
sind  denn  nothwendig  beide  Attribute  so  aufeinander  bezogen;  dass  jedem  Modus 
des  einen  ein  bestimmter  Modus  des  anderen  entspricht.  Diese  Correspondenz 
oder  dieser  Parallelismus  der  Attribute  löst  das  Räthsel  des  Zusammenhangs 
der  beiden  Welten:  Ideen  sind  nur  durch  Ideen,  und  Bewegungen  sind  nur  durch 
Bewegungen  bestimmt;  aber  es  ist  der  gleiche  Weltinhalt  des  göttlichen  WesenS; 
welcher  den  Zusammenhang  der  einen  ebenso  wie  denjenigen  der  anderen  aus- 
macht; im  Attribut  des  Bewusstseins  ist  dasselbe  enthalten  wie  im  Attribut 
der  Räumlichkeit.  Dies  Verhältniss  wird  von  Spinoza  nach  den  scholastischen 
Begriffen  des  esse  in  intellectu  und  des  esse  in  re  dargestellt.  Was  im  Attribut 
des  Bewusstseins  als  Gegenstand  (objective),  als  Vorstellungsinhalt  existirt;  das- 
selbe existirt  im  Attribut  der  Räumlichkeit  als  etwas  unabhängig  vom  Vor- 
stellen WirkHches  (formaliter)^). 

Spinoza's  Auffassung  ist  also  diese:  jedes  endliche  Ding  als  ein  Modus  des 
göttlichen  Wesens,  z.  B.  der  Mensch,  existirt  gleichmässig  in  beiden  Attributen, 
als  Geist  und  als  Körper:  und  jede  seiner  einzelnen  Functionen  ist  ebenso 
gleichmässig  beiden  Attributen  angehörig;  als  Idee  und  als  Bewegung.  Als 
Idee  ist  sie  durch  den  Zusammenhang  der  IdeeU;  als  Bewegung  durch  denjenigen 
der  Bewegungen  bestimmt:  aber  in  beiden  enthlQt  sie  vermöge  der  Correspondenz 
der  Attribute  dasselbe.  Der  menschliche  Geist  ist  die  Idee  des  mensch* 
liehen  Körpers,  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen'). 

1)  Die  nächste  Aehnlichkeit  hat  daher  Spinoza's  Pantheismus  mit  dem  scholastisch- 
mystischen  Realismus  von  Scotus  Erigena  (vgl.  S.  228  f.),  nur  dass  bei  diesem  noch  mehr  das 
logische  Verhältniss  des  Allgemeinen  zum  Besonderen  das  einzige  Schema  bildete:  daraus 
ergab  sich  bei  ihm  der  emanatistische  Charakter,  der  bei  Spinoza  fehlt.  —  2)  Aber  keine 
dieser  beiden  Existenzweisen  ist  ursprünglicher  als  die  andere  oder  vorbildlich  fiir  die  andere ; 
beide  drücken  gleichmässig  das  Wesen  Gottes  aus  (cxprimere).  Daher  ist  eine  idealistische 
Ausdeutung  Spinoza's  ebenso  unrichtig  wie  eine  materialistische,  —  obwohl  beide  sich  aus  ihm 
entwickeln  konnten.  —  B)  Die  Schwierigkeiten,  welche  hierbei  aus  dem  Selbstbcwusstsein 
und  welche  daneben  aus  dem  Postulat  der  unzähligen  Attribute  entsprangen,  hat  Spinoza  nicht 
gelöst:  vgl.  die  Correspondenz  mit  TscHUttOUVSiSNi  Op.  U,  219f. 


332  rV*  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

10«  Ihren  Abschluss  fand  diese  vielspältige  Gedankenbewegung  in  dem 
metaphysischen  System  von  Leibniz,  demjenigen^  welches  in  der  ganzen 
Geschichte  der  Philosophie  von  keinem  an  Allseitigkeit  der  Motiye  und  an 
ausgleichender  Combinationskraft  erreicht  wird.  Es  verdankt  diese  Bedeutung 
nicht  nur  der  ausgebreiteten  Gelehrsamkeit  und  dem  harmonisirend  abwägenden 
Geiste  seines  Urhebers^  sondern  hauptsächlich  dem  Umstände^  dass  dieser  mit 
ebenso  tiefem  und  feinem  Verständniss  in  den  Ideengängen  der  antiken  und  der 
mittelalterlichen  Philosophie  wie  in  den  Begriffsbildungen  der  modernen  Natur- 
forschung heimisch  war^).  Nur  der  Erfinder  der  Differentialrechnung;  welcher 
für  Flaton  und  Aristoteles  ebensoviel  Verständniss  hatte  wie  für  Descartes  und 
Spinoza^  welcher  Thomas  und  Duns  Scotus  ebenso  kannte  und  vnirdigte^  wie 
Bacon  und  Hobbes,  —  nur  er  konnte  der  Schöpfer  der  „prästabilirten  Harmonie'^ 
werden. 

Die  Versöhnung  der  mechanischen  und  der  teleologischen 
Weltanschauung;  und  damit  die  Vereinbarung  des  w|i8senschaftlichen 
und  des  religiösen  Interesses  seiner  Zeit  ist  das  Leitmotiv  des Leibniz'schen 
Denkens.  Er  wünschte  die  mechanische  Naturerklärung;  deren  begriffliche 
Ausgestaltung  er  selbst  wesentlich  forderte;  in  ganzer  Ausdehnung  durchgeführt 
zu  seheU;  und  er  sann  dabei  auf  solche  gedanklichen  Mittel;  durch  deren  Hilfe 
trotzdem  der  zweckvoll  lebendige  Charakter  des  Weltalls  begreiflich  bliebe. 
Es  musste  deshalb;  wozu  sich  Andeutungen  schon  bei  Descartes  fanden;  der 
Versuch  gemacht  werden;  ob  nicht  der  ganze  mechanische  Ablauf  der  Welt- 
begebenheiten doch  zuletzt  auf  wirkende  Ursachen  zurückzufuhren  sei;  deren 
zweckvolles  Wesen  auch  der  Gesammtheit  ihrer  Wirkung  eine  inhaltvolle  Be- 
deutung gewähre.  Leibniz'  ganze  philosophische  Entwicklung  läuft  darauf  hinaus, 
den  Korpuskeln  „Entelechien^  unterzuschieben  und  dem  indifferenten  Gott 
der  geometrischen  Methode  die  Rechte  der  platonischen  altta  wiederzugewinnen. 
Das  letzte  Ziel  seiner  Philosophie  ist;  den  Mechanismus  des  Geschehens  als  das 
Mittel  und  die  Erscheinungsform  zu  verstehen,  wodurch  der  lebendige 
Inhalt  der  Welt  sich  verwirklicht.  Deshalb  konnte  er  die  „Ursache"  nicht  mehr 
nur  als  „Sein";  konnte  er  Gott  nicht  mehr  bloss  als  ens  perfectissimum,  konnte  er  die 
„Substanz"  nicht  mehr  nur  durch  ein  unveränderliches  Seinsattribut  charakterisirt, 
konnte  er  ihre  Zustände  nicht  mehr  bloss  als  ModificationeU;  Determinationen 
oder  Specificationen  solcher  Grundeigenschaft  bestimmt  denken:  sondern  das 
Geschehen  wurde  ihm  wieder  zum  Wirken,  die  Substanzen  nahmen  die  Bedeu- 
tung der  Kräfte^)  an,  und  auch  der  philosophische  Gottesbegriff  hatte  zum 
wesentlichen  Merkmal  die  schöpferische  Kraft.  Das  aber  war  Leibniz'  Grund- 
gedanke; dass  sich  diese  schöpferische  Kraft  in  der  mechanischen  Ordnung  der 
Bewegungen  bethätige. 

Diesen  d  y  nami  s  eben  Standpunkt  gewann  Leibniz  zunächst  in  der  Theorie 
der  Bewegung  und  zwar  in  einer  Weise;  welche  von  selbst  zur  Uebertragung  auf 
die  Metaphysik  nöthigte  ®).  Das  mechanische  Problem  der  Stetigkeit  und  die 
von  Galilei  begonnene  Auflösung  der  Bewegung  in  die  unendlich  kleinen  Impulse- 
weiche für  die  in  der  Naturforschung  massgebenden  Untersuchungen  von  Huyg, 
hens  und  Newton  den  Ausgangspunkt  bildeten,  führten  Leibniz  auf  das  Princip 

1)  Vgl.  Syst.  nouv.  10.  —  2)  La  substance  est  un  etre  capable  d*action.  Princ.  de  la 
jiat.  et  do  la  gräce  1.  Vgl,  Syst,  nouv.  2 f.  „Force  primitive".  —  8)  Syst.  nouv.  8. 


§  81.  Substanz  und  Causalltät.  (Leibniz.)  333 

des  InfinitesiinalcalcülS;  auf  seinen  Begriff  der  „lebendigen  Kraft^^  insbesondere 
aber  auf  die  Einsicht^  dass  das  Wesen  des  Körpers,  worin  der  Grund  der  Bewegung 
zu  suchen  sei,  nicht  in  der  Ausdehnung  und  auch  nicht  in  der  Masse  (Undurchdring- 
lichkeit), sondern  in  der  Fähigkeit  zu  wirken,  in  der  Kraft  bestehe.  Ist  aber  die 
Substanz  Kraft,  so  ist  sie  überräumlich  und  immateriell.  Deshalb  sieht 
sich  Leibniz  genöthigt,  auch  die  körperliche  Substanz  als  immaterielle  Kraft  zu 
denken.  Der  Körper  ist  seinem  Wesen  nach  Kraft ;  seine  Baumgestalt,  seine 
Baumerfullung  und  seine  Bewegung  sind  erst  Wirkungen  dieser  Kraft.  Die  Sub- 
stanz des  Körpers  ist  metaphysisch').  Im  Zusammenhange  mit  Leibniz'  Er- 
kenntnisslehre lautet  dies  so,  dass  die  rationale,  klare  und  deutUche  Erkenntniss 
den  Körper  als  Kraft,  die  sinnliche,  dunkle  und  verworrene  dagegen  ihn  als 
räumliches  Gebilde  auffasst.  Daher  ist  der  Raum  für  Leibniz  weder  mit  dem 
Körper  identisch  (wie  bei  Descartes)  noch  die  Voraussetzung  desselben  (wie  bei 
Newton),  sondern  ein  Kraftproduct  der  Substanzen,  ein  phaenomenon  bene 
fundatum,  eine  Ordnung  ihrer  Coexistenz,  —  keine  absolute  Wirküchkeit,  sondern 
ein  ens  mentale  ^).  Und  dasselbe  gilt  mutatis  mutandis  von  der  Zeit.  Daraus 
folgt  dann  aber  weiter,  dass  die  auf  diese  räumliche  Erscheinungsweise  der 
Körper  bezüglichen  Gesetze  der  Mechanik  nicht  rational,  keine  „geometrischen", 
sondern  thatsächUche  und  zufallige  Wahrheiten  sind.  Sie  könnten  anders  gedacht 
werden.  Ihr  Grund  ist  nicht  logische  Nothwendigkeit,  sondern  —  Zweckmässig- 
keit. Sie  sind  lois  de  convenance;  und  sie  wurzeln  in  der  choix  de  la 
sagesse  ^).  Gott  hat  sie  gewählt,  weil  in  der  durch  sie  bestimmten  Form  der 
Weltzweck  am  besten  erfüllt  wurde.  Sind  die  Körper  Maschinen,  so  sind  sie 
es  in  dem  Sinne,  dass  dies  zweckmässig  construirte  Gebilde  sind^). 

11.  So  wird  bei  Leibniz  wieder,  aber  in  reiferer  Form  als  beim  Neuplato- 
nismus,  das  Leben  zum  Erklärungsprincip  für  die  Natur;  seine  Lehre  istVita- 
lismus.  Aber  Leben  ist  Mannigfaltigkeit  und  dabei  doch  wieder  Einheit.  Die 
mechanische  Theorie  führte  Leibniz  ebenso  auf  den  Begriff  unendlich  vieler 
Einzelkräfte,  metaphysischer  Punkte*),  wie  auf  die  Idee  ihres  continuirlichen  Zu- 
sammenhanges. Der  demokritischen  Atomtheorie,  der  nominalistischen  Meta- 
physik (Nizolius)  hatte  er  ursprünglich  nahe  gestanden;  die  occasionaUstische  Be- 
wegung und  vor  allem  das  System  Spinoza's  machten  ihm  den  Gedanken  der 
All-Einheit  vertraut:  und  die  Lösung  fand  er  wie  Nicolaus  Cusanus  und  Giordano 
Bruno  in  dem  Princip  der  Identität  des  Theils  mit  dem  Ganzen.  Jede 
Kraft  ist  die  Weltkraft,  aber  in  eigener  Weise;  jede  Substanz  ist  die  Welt- 
substanz, aber  in  besonderer  Form.  Darum  bestimmt  Leibniz  den  Begriff  der 
Substanz  auch  geradezu  dahin,  sie  sei  Einheit  in  der  Vielheit®).  Das 
bedeutet,  dass  jede  Substanz  in  jedem  Zustande  die  Fülle  der  übrigen  „vorstellt", 
und  zum  Wesen  der  „Vorstellung"  gehört  immer  die  Vereinheitlichung  einer 
Mannigfaltigkeit  ^). 


1)  Damit  war  die  Coordination  der  beiden  Attribate  extensio  und  cogitatio  wieder  auf- 
gehoben :  die  Welt  des  Bewusstseins  ist  die  wahrhaft  wirkliche,  die  Welt  der  Bäumlichkeit  ist 
Erscheinung.  VöUiff  platonisch  stellt  Leibniz  (Nouv.  Ess.  IV,  3)  die  intelliffible  "Welt  der 
Substanzen  den  Erscheinungen  der  Sinne  oder  der  materiellen  Welt  gegenüber,  vgl.  unten  §  33  f. 
—  2)  Vgl.  hauptsächlich  die  Correspondenz  mit  des  Bosses.  —  8)  Princ.  11.  —  4)  Ibid.  3.  — 
5)  Syst.  nouv.  11.  —  6)  Monad.  13—16.  —  7)  Sehr  glücklich  kommt  hierbei  Leibniz  (vgl. 
a.  a.  0.)  die  Zweideutigkeit  von  Representation  (die  übrigens  auch  das  deutsche  „vorstellen** 
trifft)  zu  Statten,  wonach  das  Wort  einerseits  „vertreten",  andrerseits  die  Function  des  Be- 


334  IV.  Philosophie  der  Renaissance.    2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

Mit  diesen  Gedanken  verbinden  sich  nun  bei  Leibniz  die  der  metaphy- 
sischen Bewegung  seit  Descartes  geläufigen  Postulate  der  Isolirung  der  Sub- 
stanzen gegen  einander  und  der  in  dem  gemeinsamen  Weltgrunde  entspringenden 
Correspondenz  ihrer  Functionen.  Beide  Denkmotive  sind  in  der  Monadologie 
am  vollkommensten  zum  Austrag  gekommen.  Leibniz  nennt  die  Kraftsubstanz 
Monade^  —  ein  Ausdruck,  der  ihm  auf  verschiedenen  Wegen  der  Tradition  in 
der  Renaissance  zufliessen  mochte.  Jede  Monade  ist  den  anderen  gegenüber  ein 
vollkommen  selbständiges  Wesen,  welches  Einflüsse  weder  erfahren  noch  ausüben 
kann.  Die  Monaden  „haben  keine  Fenster",  und  diese  Fensterlosigkeit  ist 
gewissermassen  der  Ausdruck  ihrer  „metaphysischen  Undurchdringlichkeit"*). 
Dieser  Abgeschlossenheit  nach  aussen  giebt  aber  Leibniz  zuerst  den  positiven 
Ausdruck,  dass  er  die  Monade  für  ein  rein  inneres  Princip  erklärt*):  die 
Substanz  ist  daher  eine  Kraft  von  immanenter  Wirksamkeit:  die  Monade 
ist  nicht  physischer,  sondern  seelischer  Natur.  Ihre  Zustände  sind  Vor- 
stellungen^ und  das  Princip  ihrer  Thätigkeit  ist  das  Begehren  (appetition),  die 
„Tendenz"  von  einer  Vorstellung  zur  anderen  überzugehen'). 

Jede  Monade  ist  jedoch  andrerseits  ein  „Spiegel  der  Welt",  sie  enthält 
das  ganze  Universum  als  Vorstellung  in  sich ;  darin  besteht  die  Lebenseinheit 
aller  Dinge.  Jede  aber  ist  auch  einlndividuum,  von  allen  anderen  unterschieden. 
Denn  es  giebt  nicht  zwei  gleiche  Substanzen  in  der  Welt"*).  Wenn  sich  nun  die 
Monaden  nicht  durch  den  Vorstellungsinhalt  unterscheiden,  der  vielmehr  bei 
allen  derselbe'^)  ist,  so  kann  ihre  Verschiedenheit  nur  in  der  Vorstellungsart  zu 
suchen  sein,  und  Leibniz  erklärt:  der  Unterschied  der  Monaden  besteht  nur  in 
dem  verschiedenen  Grade  von  Klarheit  und  Deutlichkeit,  mit  der  sie 
das  Universum  „repräsentiren".  So  wird  Descartes'  erkenntnisstheoretisches 
Kriterium  zum  metaphysischen  Prädicat,  und  zwar  dadurch,  dass  Leibniz,  ähnlich 
wie  Duns  Scotus  (vgl.  S.  261),  den  Gegensatz  des  Distincten  und  des  Confusen 
als  einen  solchen  der  Vorstellungskraft  oder  der  Intensität  aufiksst.  Daher  gilt 
die  Monade  als  activ,  sofern  sie  klar  und  deutlich,  als  passiv,  sofern  sie  dunkel 
und  verworren  vorstellt®):  daher  ist  auch  ihr  Trieb  (app6tition)  auf  den  Uebergang 
von  den  dunklen  zu  den  klaren  Vorstellungen  gerichtet,  und  die  „Aufklärung" 
ihres  eigenen  Inhalts  ihr  Lebensziel.  Auf  jene  Inten tisät  der  Vorstellungen  aber 
wendet  Leibniz  das  mechanische  Princip  der  unendlich  kleinen  Impulse  an:  er 
nennt  diese  unendlich  kleinen  Bestandtheile  des  Vorstellungslebens  der  Monaden 
petites  perceptions^)  und  bedarf  dieser  Hypothese  zur  Erklärung  dafür,  dasa 
nach  seiner  Lehre  die  Monade  offenbar  sehr  viel  mehr  Vorstellungen  hat,  als  sie 


wusstseins  bedeutet.  Dass  jede  Substanz  die  übrigen  „repräsentirt'^,  heisst  also  einerseits,  dass 
Alles  in  Allem  enthalten  ist  (Leibniz  citirt  das  antike  oujxirvo'.a  icavta  wie  das  omnia  ubique 
der  Renaissance),  andrerseits,  dass  jede  Substanz  alle  übrigen  „percipirt".  Der  tiefere  Sinn 
und  die  Rechtfertigung  dieser  Zweideutigkeit  liegt  aber  darin,  dass  wir  von  der  Vereinheit- 
lichung eines  Mannigfaltigen  uns  überhaupt  keine  andere  klare  und  deutliche  Vorstellung 
machen  können,  als  nach  der  Art  der  Verknüpfung,  welche  wir  in  der  Function  des  Bewusst- 
Beins  (Synthesis  nach  Kant)  in  uns  selbst  erleben. 

1)  Monad.  7.  Vgl.  Syst.  nouv.  14,  17.  —  2)  Monad.  11.-8)  Ibid.  15—19.  —  4)  Leib- 
niz sprach  dies  als  das  principium  identitatis  indiscernibilium  aus  (Mon.  9).  —  5)  Dabei  übersah 
freilich  Leibniz,  dass  es  in  diesem  Systeme  des  gegenseitigen  Vorstellens  der  Substanzen  zu 
keinem  realen  Inhalt  kommt.  Die  Monade  a  stellt  er  vor  die  Monaden  b,  c,  d  .  .  .  .  x.  Aber  was 
ist  die  Monade  b?  Es  ist  wiederum  die  Vorstellung  der  Monaden  a,  c,  d  . .  .  .  x.  Dasselbe 
gilt  bei  c  u.  s.  f.  bis  ins  Unendliche.  —  6)  Monad.  49.  —  7)  Ibid.  21. 


§  31.  Substanz  und  Causalitat.  (Leibniz.)  336 

sich  deren  bewusst  ist  (vgl.  unten  §  33).  Nach  heutigem  Ausdruck  würden  die 
petites  perceptions  unbewusste  Vorstellungen  sein. 

Solcher  Verschiedenheiten  giebt  es  aber  unendlich  viele^  und  die  Monaden 
bilden  nach  dem  Gesetz  der  Continuität  —  natura  non  facit  saltum  —  eine  un- 
unterbrochene Stufenreihe,  ein  grosses  Entwicklungssystem,  welches  von 
den  ^einfachen^  Monaden  zu  den  Seelen  und  den  Geistern  aufsteigt').  Die  nie- 
dersten Monaden,  welche  nur  dunkel  und  verworren,  d.  h.  unbewusst  vorstellen, 
sich  also  nur  leidend  verhalten,  bilden  die  Materie:  die  höchste  Monade, 
welche  das  Universum  mit  vollkommener  Klarheit  und  Deutlichkeit  vorstellt  — 
eben  deshalb  nur  Eine  — und  somit  reine  Activität  ist,  heisst  die  Central- 
monade  —  Gott.  Indem  aber  jede  dieser  Monaden  sich  selbst  auslebt,  stimmen 
sie  vermöge  der  Gleichheit  ihres  Inhalts,  in  jedem  Momente  alle  völlig  mit  ein- 
ander überein  ^),  und  dadurch  entsteht  der  Schein  der  Wirkung  einer  Substanz 
auf  die  andere.  Dies  Verhältniss  ist  die  harmonie  preetablie  des  substances 
—  eine  Lehre,  worin  das  von  Geulincx  und  Spinoza  flir  die  Beziehung  der  beiden 
Attribute  eingeführte  Princip  derCorrespondenz  auf  das  Verhältniss  der 
Gesammtheit  aller  Substanzen  ausgedehnt  erscheint.  Hier  wie  dort  aber  bedingt 
dasselbe  in  seiner  Ausführung  die  lückenlose  Determination  in  der  Thätigkeit 
aller  Substanzen,  die  strenge  Nothwendigkeit  alles  Geschehens  und  den  Aus- 
schluss allen  Zufalls  und  aller  Freiheit  im  Sinne  der  Ursachlosigkeit.  Auch  Leibniz 
rettet  den  Begriff  der  Freiheit  für  die  endlichen  Substanzen  nur  in  der  sittlichen 
Bedeutung  einer  Herrschaft  der  Vernunft  über  die  Sinne  und  die  Leidenschaften'). 

Die  prästabilirtc  Harmonie,  diese  Seins-  und  Lebensverwandtschaft  der 
Substanzen,  bedarf  aber  eines  einheitlichen  Erklärungsgrundes,  und  dieser 
kann  nur  in  der  Centralmonade  gesucht  werden.  Gott,  der  die  endlichen  Sub- 
stanzen schuf,  hat  einer  jeden  seinen  eigenen  Inhalt  in  besonderer  Abstufung  der 
Intensität  des  Vorstellens  mitgegeben  und  damit  sämmtliche  Monaden  so  ein- 
gerichtet, dass  sie  durchweg  mit  einander  übereinstimmen.  Und  in  dieser  ihrer 
noth wendigen  Lebenscntfaltung,  mit  der  ganzen  mechanischen  Determination  ihrer 
Vorstellungsabfolge  verwirklichen  sie  den  Zweck  des  schöpferischen  Allgeistes. 
Dies  Verhältniss  des  Mechanismus  zur  Teleologie  fiigt  sich  endhch  auch  den 
erkenntnisstheoretischen  Principien  von  Leibniz  ein.  Die  Gottheit  und  die  anderen 
Monaden  verhalten  sich  wie  bei  Descartes  die  unendlichen  und  die  endlichen  Sub- 
stanzen. Für  die  rationalistische  Auffassung  aber  ist  nur  das  Unendliche  ein 
Denknothwendiges,  das  Endliche  dagegen  etwas  „Zufälliges^  in  dem  Sinne,  dass 
es  auch  anders  gedacht  werden  könnte,  dass  das  Gegentheil  keinen  Widerspruch 
enthielte  (vgl.  oben  §  30,  7).  So  nimmt  der  Gegensatz  der  ewigen  und  der  noth- 
wendigen  Wahrheiten  metaphysische  Bedeutung  an:  nur  Gottes  Sein  ist  eine 
ewige  Wahrheit;  er  existirt  nach  dem  Satz  vom  Widerspruch  mit  logischer 
oder  absoluter  Nothwendigkeit.  Die  endlichen  Dinge  aber  sindzufällig,  sie 
existiren  nur  nach  dem  Princip  des  zureichenden  Grundes  vermöge  ihrer  Deter- 
mination durch  Anderes;  die  Welt  und  alles,  was  zu  ihr  gehört,  hat  nur  bedingte, 
hypothetische  Nothwendigkeit.  Diese  Oontingenz  der  Welt  führt  Leib- 


1)  Princ.  4.  Dabei  wird  die  „Seele"  als  Centralmonade  eines  Organismus  aufgefasst, 
indem  sie  am  deutlichsten  die  diesen  constituirenden  Monaden  und  danach  erst  mit  genngerer 
Deutlichkeit  das  übrige  Universum  vorstelle:  Monad.  61  ff.  —  2)  Syst.  nouv.  14.  —  8)  Eo  magis 
est  libertas  quo  magis  agitur  ex  ratione  eta:  Leibn.  de  libert.  (Op.  E.  669). 


336  rV.  Philosophie  der  Benaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

uiz  mit  Duns  Scotus ')  auf  den  Willen  Gottes  zurück.  Die  Welt  könnte  anders 
sein;  dass  sie  so  ist,  wie  sie  ist,  verdankt  sie  der  Auswahl,  welche  Gott  zwischen 
den  vielen  Möglichkeiten  getroffen  hat^). 

So  laufen  in  Leibniz  alle  Fäden  der  alten  und  der  neuen  Metaphysik  zu- 
sammen. Mit  den  in  der  Schule  der  Mechanik  gebildeten  Begriffen  gestaltete  er 
die  Ahnungen  der  Philosophie  der  Renaissance  zu  einem  systematischen  Ge- 
dankenbau um,  in  welchem  die  Ideen  des  Griechenthums  ihre  Heimstätte  mitten 
zwischen  den  Erkenntnissen  der  modernen  Forschung  fanden, 

8  32.  Das  Naturrecht 

Auch  die  Rechtsphilosophie  der  Renaissance  ist  einerseits  von  den  An- 
regungen des  Humanismus  und  andrerseits  von  den  Bedürfnissen  des  modernen 
Lebens  abhängig.  Die  ersteren  zeigen  sich  nicht  nur  in  den  Anlehnungen  an  die 
antike  Litteratur,  sondern  auch  in  der  Wiedergeburt  der  antiken  Staatsauffassung 
und  in  der  Anknüpfung  an  deren  Tradition:  die  letzteren  treten  als  theoretische 
Verallgemeinerung  deqenigen  Interessen  auf,  mit  welchen  sich  während  dieser 
Zeit  die  welthchen  Staaten  zu  selbstherrlichen  Lebensformen  gestalteten. 

1,  Alle  diese  Motive  zeigen  sich  zuerst  beiMacchiavelli.  In  seiner  Be- 
wunderung des  Römerthums  spricht  unmittelbar  das  italienische  National- 
gefühl, und  aus  dem  Studium  der  alten  Geschichte  gewann  er  die  Theorie  des 
modernen  Staates  wenigstens  nach  ihrer  negativen  Seite  hin.  Er  forderte  die 
völlige  Unabhängigkeit  des  Staats  von  der  Kirche  und  führte  Dante's  ghibelli- 
nische  Staatslehre  bis  an  die  letzte  Consequenz.  Als  das  dauernde  Hinderniss 
eines  italienischen  Nationalstaates  bekämpft  er  die  weltliche  Herrschaft  desPapst- 
thums,  und  so  vollzieht  sich  bei  ihm  wie  einst  bei  Occam  und  Marsilius  von  Padua 
(vgl.  S.  259)  fUr  das  praktische  Gebiet  die  allen  Anfangen  des  modernen  Denkens 
gemeinsame  Trennung  des  Geistlichen  und  des  Weltlichen.  Die  Folge  davon 
aber  war  wie  bei  jenen  NominaHsten,  dass  der  Staat  nicht  teleologisch,  sondern 
rein  naturalistisch  als  ein  Product  der  Bedürfnisse  und  der  Interessen  auf- 
gefasst  wurde.  Daraus  erklärt  sich  die  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  Macchiavelli 
die  Theorie  von  der  Erwerbung  und  Erhaltung  der  fürstlichen  Macht  ausführte 
und  die  Politik  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Interessenkampfes  be- 
handelte. 

Das  Verhältniss  von  Staat  und  Kirche  erregte  aber  im  16.  und  17  Jahr- 
hundert gerade  dadurch  besonderes  Interesse,  dass  es  in  den  Kämpfen  und  Ver- 
schiebungen der  confessionellen  Gegensätze  eine  immer  wichtige,  oft  die  ent- 
scheidende Rolle  spielte.  Dabei  kam  es  zu  einer  interessanten  Vertauschung  der 
Auffassungen.  Die  protestantische  Weltansicht,  welche  dem  ersten  Princip  nach 
die  mittelalterliche  Werthscheidung  des  Geistlichen  und  des  Weltlichen  änderte 
und  die  weltlichen  Lebenssphären  „entprofanisirte",  sah  auch  im  Staat  eine  gött- 
liche Ordnung,  und  die  r ef  o rm at oris  che  R e chtsph il o s op  hi  e  unter  Führung 
Melanchthon's  beschränkte  das  Recht  des  Staates  mehr  durch  dasjenige  der 
unsichtbaren  Kirche  als  durch  die  Ansprüche  der  sichtbaren:  ja,  der  protestan- 


1)  Die  Beziehungen  Leibniz'  zu  dem  grÖsstcn  der  Scholastiker  sind  nicht  nur  hierin, 
sondern  auch  in  vielen  anderen  Punkten  zu  erkennen;  doch  haben  sie  leider  bisher  noch  nicht 
die  verdiente  Beachtung  oder  Behandlung  gefunden.  —  2)  Vgl.  jedoch  hierzu  unten  §  35. 


§  32.  Naturrecht.    (Morus,  Bodinus,  Grotius.)  337 

tischen  Staatskirche  bot  jene  göttliche  Mission  der  Obrigkeit  einen  werthvollen 
Kückhalt.  Viel  weniger  konnte  sich  dem  modernen  Staate  die  katholische 
Kirche  verpflichtet  fühlen,  und  obwohl  sie  damit  vom  Thomismus  abging,  so 
liess  sie  sich  doch  solche  Theorien  wie  die  von  Bellarmin  und  Mariana  gefallen, 
in  denen  der  Staat  als  menschliches  Machwerk  oder  als  ein  Vertrag  aufgefasst 
wurde.  Denn  damit  verlor  er  die  höhere  Autorität  und  gewissermassen  seine 
metaphysische  Wurzel;  er  erschien  aufhebbar:  der  menschliche  Wille ,  der  ihn 
geschaffen,  konnte  ihn  auch  wieder  lösen,  und  selbst  sein  Oberhaupt  büsste  die 
absolute  Unverletzlichkeit  ein.  Galt  den  Protestanten  der  Staat  als  unmittelbare 
göttliche  Ordnung,  so  bedurfte  er  für  die  Katholiken  als  menschliche  Einrichtung 
der  Sanction  der  Kirche  und  sollte  nicht  mehr  gelten,  wo  diese  fehlte,  sollte  sie 
aber  nur  dann  erhalten,  wenn  er  sich  in  den  Dienst  der  Kirche  stellte.  So  lehrte 
Campanella,  die  spanische  Welthen-schaft  (monarchia)  habe  die  Aufgabe,  die 
Schätze  der  fremden  Welttheile  der  Kirche  für  die  Bekämpfung  der  Ketzer  zur 
Verfugung  zu  stellen. 

2*  Auf  die  Dauer  aber  wichen  diese  Gegensätze  der  Rechtsphilosophie 
dem  confessionellen  Indifferentismus,  der  auch  in  der  theoretischen 
Wissenschaft  zur  Herrschaft  gelangt  war,  und  indem  der  Staat  wesentlich  als 
eine  Ordnung  der  irdischen  Dinge  betrachtet  wurde ,  fiel  das  Verhältniss  des 
Menschen  zu  Gott  aus  seinem  Wirkungskreise  heraus.  Die  Philosophie  verlangte 
für  den  Staatsbürger  überhaupt  das  Recht,  welches  sie  für  sich  selber  in  Anspruch 
nahm,  das  Recht  individuell  freier  Stellungnahme  zu  den  religiösen  Mächten  der 
Zeit,  und  sie  wurde  damit  zur  Verfechterin  der  Toleranz.  Der  Staat  habe  sich 
um  die  religiöse  Meinung  der  Einzelnen  nicht  zu  kümmern,  das  Recht  des  Bürgers 
sei  von  seiner  Zugehörigkeit  zu  der  einen  oder  der  anderen  Confession  unabhängig, 
—  diese  Forderung  war  das  noth wendige  Ergebniss  der  leidenschaftlich  hin  und  her 
wogenden  Confessionsstreitigkeiten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  Darin  kamen 
ungläubige  Gleichgültigkeit  und  positive  üeberzeugung,  die  sich  gegen  anders- 
gläubige Staatsmacht  zu  wehren  hatte,  überein. 

In  diesem  Sinne  schrieb  schon  Macchiavelli  gegen  die  Alleinherrschaft  der 
römischen  Kirche:  vollständig  ist  das  Princip  der  Toleranz  zuerst  von  Thomas 
Morus  proklamirt  worden.  Die  Bewohner  der  glückseligen  Insel  gehörenden 
verschiedensten  Confessionen  an,  die  alle  friedlich  neben  einander  leben,  ohne 
dass  der  Verschiedenheit  der  religiösen  Ansichten  irgend  eine  politische  Bedeu- 
tung beigemessen  würde.  Sie  haben  sich  sogar  über  einen  gemeinsamen  Cultus 
geeinigt,  den  jede  Partei  in  ihrem  Sinne  deutet  und  durch  besondere  Cultus- 
formen  ergänzt.  Ebenso  hat  Jean  Bo  din  in  seinem  Heptaplomeres  hochgebildete, 
typisch  charakterisirte  Vertreter  nicht  nur  der  christlichen  Confessionen ,  son- 
dern auch  des  Judenthums,  des  Mohammedanismus  und  des  Heidenthums  eine 
allen  gleich  genügende  Form  der  Verehrung  Gottes  finden  lassen.  In  mehr  ab- 
stracter  Weise  endlich  hat  Hugo  Grotius  in  den  scharfen  Unterscheidungen, 
mit  denen  er  die  Principien  der  philosophischen  Rechtswissenschaft  vortrug,  gött- 
liches und  menschliches  Recht  vollkommen  gesondert,  jenes  auf  die  Offenbarung 
und  dieses  auf  die  Vernunft  gegründet,  dabei  aber  auch  eine  ebenso  scharfe  und 
durchgängige  Trennung  der  Lebenssphären  ihrer  Anwendung  verlangt. 

Das  classische  Grundbuch  aber  für  die  Toleranzbewegung  ist  Spinoza's 
theologisch-p  oli  tischer  Tractat  geworden,  welcher  den  so  viel  behandelten 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  22 


338  rV.  Philosophie  der  Rcnaiesance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

Gegenstand  an  der  Wurzel  fasste.  Unter  Benutzung  mancher  Gedanken  und 
Beispiele  aus  der  älteren,  vom  Averroismus  beeinflussten  jüdischen  Litteratur 
führte  dies  Werk  den  Nachweis,  dass  die  Religion  und  insbesondere  die  rehgiösen 
Urkunden  weder  die  Aufgabe  noch  die  Absicht  haben,  theoretische  Wahrheiten 
zu  lehren,  und  dass  das  Wesen  der  Religion  nicht  in  der  Anerkennung  einzelner 
Dogmen,  sondern  in  der  Gesinnung  und  in  dem  dadurch  bestimmten  Wollen 
und  Handeln  bestehe.  Daraus  aber  folge  unweigerhch,  dass  der  Staat  noch 
weniger  Grund  oder^ Recht  habe,  sich  um  die  Zustimmung  seiner  Bürger  zu 
besonderen  dogmatischen  Lehren  zu  kümmern,  dass  er  vielmehr  kraft  seiner 
realen  Macht  jeden  Versuch  zum  Gewissenszwange ,  der  von  irgend  einer  der 
kirchlich  organisirten  Formen  des  religiösen  Lebens  ausgehe,  in  seine  Schranken 
zurückzuweisen  habe.  Die  mystisch  tiefe  Religiosität  Spinoza's  entfremdet  ihn 
der  dogmatischen  Herrschaft  der  Kirchen  und  dem  Glauben  an  den  Wortlaut 
ihrer  historischen  Urkunden.  Er  macht  das  Princip  geltend,  dass  die  religiösen 
Bücher  ihrem  theoretischen  Inhalt  nach  ebenso  wie  alle  anderen  Erscheinungen 
der  Litteratur  historisch  erklärt,  d.h.  aus  dem  intellectueUen  Zustande  ihrer  Ver- 
fasser begriffen  werden  müssen,  und  dass  diese  historische  Kritik  jenen 
theoretischen  Vorstellungsweisen  die  bindende  und  normative  Bedeutung  für 
eine  spätere  Zeit  nimmt. 

3«  Zu  den  politischen  und  kirchenpolitischen  Literessen  gesellten  sich  die 
so  cialen.  Keiner  hat  ihnen  beredteren  Ausdruck  gegeben  als  Thomas  Morus. 
Das  erste  Buch  der  Utopia  kommt  mit  einer  ergreifenden  Schilderung  des  Elendes 
der  Massen  zu  dem  Schluss ,  dass  die  Gesellschaft  besser  thäte  statt  der  drako- 
nischen Gerechtigkeit,  mit  der  sie  die  Verletzung  ihrer  Gesetze  straft,  die  Quellen 
des  Verbrechens  zu  verstopfen;  der  Verfasser  führt  aus,  dass  an  dem  Unrecht 
des  Einzelnen  der  grössere  Theil  der  Schuld  den  verkehrten  Einrichtungen  des 
Ganzen  zufalle.  Diese  aber  bestehen  in  der  durch  den  Gebrauch  des  Geldes 
herbeigeführten  Ungleichheit  des  Besitzes,  welche  den  Anlass  zu  allen  Ver- 
irrungen  der  Leidenschaft,  des  Neides  und  des  Hasses  giebt.  Das  Idealbild, 
welches  Moore  im  Gegensatze  dazu  von  dem  vollkommenen  Zustande  der  Gesell- 
schaft auf  der  Insel  Utopia  entwirft,  ist  in  seinen  Grundzügen  dem  platonischen 
Idealstaate  nachgebildet.  Diese  humanistische  Erneuerung  aber  unterscheidet 
sich  von  ihrem  Urbilde  in  einer  für  den  modernen  Socialismus  charakteristischen 
Weise  durch  die  Aufhebung  der  Standesunterschiede,  welche  dem  an- 
tiken Denker  durch  seine  Reflexion  auf  die  thatsächlich  gegebene  Verschieden- 
heit in  dem  intellectueUen  und  moralischen  Bestände  der  Individuen  nothwendig 
erschienen  waren.  In  einer  für  die  folgende  Entwicklung  vorbildHchen  Abstrac- 
tion  geht  Morus  von  dem  Gedanken  der  rechtlichen  Gleichheit  aller  Staats- 
bürger aus,  und  die  Formen  der  Lebensgemeinschaft,  welche  Piaton  von  den 
herrschenden  Klassen  als  Verzicht  auf  die  natürlichen  Triebe  nach  individueller 
Interessensphäre  verlangt  hatte,  verwandelte  Morus  in  eine  Gleichheit  des  An- 
spruchs aller  Bürger.  Bei  Piaton  sollten  die  Bevorzugten,  um  sich  ganz  dem 
allgemeinen  Wohl  zu  widmen,  auf  allen  Eigenbesitz  verzichten:  bei  Morus  wird 
die  Aufhebung  des  Eigenthums  als  sicherstes  Mittel  zur  Abschaffung  der  Ver- 
brechen verlangt  und  durch  die  Gleichheit  des  Anspruchs  aller  an  den  Gesammt- 
besitz  begründet.  Dabei  aber  hält  der  englische  Kanzler  noch  so  weit  an  dem 
idealen  Vorbilde  des  antiken  Philosophen  fest,  als  er  diese  ganze  Gleichtheilung 


§  32.  Naturrecht.    (Baoon,  Campanella.)  339 

der  materiellen  Interessen  als  die  unerlässliche  Grundlage  dafür  behandelt,  dass 
allen  Staatsbürgern  gleichmässig  der  Genuss  der  idealen  Güter  der  Gesellschaft, 
der  Wissenschaft  und  der  Kunst,  ermöghcht  werden  soll.  Ein  sechsstündiger 
Normalarbeitstag  aller  Mitglieder  der  Gesellschaft,  meinte  er,  werde  genügen, 
um  alle  äusseren  Bedürfhisse  der  Gesammtheit  zu  befriedigen:  die  übrige  Zeit 
solle  jedem  frei  zu  edlerer  Beschäftigung  bleiben.  Mit  diesen  Bestimmungen  er- 
wächst bei  Morus  aus  dem  platonischen  Entwurf  das  Programm  fiir  alle  höheren 
Formen  des  modernen  Socialismus. 

Aber  der  Geist  der  Renaissance  war  von  noch  viel  weltlicheren  Interessen 
beseelt.  Durch  den  Zauber  der  Entdeckungen  gereizt,  vom  Glanz  der  Erfindungen 
geblendet,  stellte  er  sich  die  Aufgabe,  den  gesammten  äusseren,  auf  die  natür- 
lichen Lebensbedingungen  gerichteten  Zustand  der  menschlichen  Gemeinschaft 
durch  seine  neuen  Einsichten  umgestalten  zu  können,  und  er  sah  vor  sich  ein 
Ideal  der  Behaglichkeit  des  Menschenlebens,  welches  sich  aus  einer  voll- 
kommenen und  systematischen  Ausnutzung  der  durch  die  Wissenschaft  ermög- 
lichten Kenntniss  und  Beherrschung  der  Natur  entwickeln  werde.  Alle  socialen 
Schäden  werden  dadurch  geheilt  werden,  dass  die  menschhche  Gesellschaft  durch 
die  wissenschaftliche  Steigerung  der  äusseren  üultur  über  alle  Sorgen  und  alle 
Noth,  die  sie  jetzt  bedrängen,  hinausgehoben  wird.  Einige  Erfindungen  wie 
Compass ,  Buchdruckerkunst  und  Schiesspulver,  sagt  Bacon ,  haben  genügt ,  um 
dem  Menschenleben  neue  Bewegung,  grössere  Dimensionen,  mächtigere  Entfal- 
tung zu  geben:  welche  Umgestaltungen  stehen  uns  bevor,  wenn  das  Erfinden 
erst  eine  zweckvoll  geübte  Kunst  sein  wird !  So  wii'd  das  sociale  Problem  auf 
eineVerbesserung  des  materiellen  Zustandes  derGesellschaft hinüber- 
geleitet. 

In  Bacon's  Nova  Atlantis^)  wird  ein  glückliches  Inselvölkchen  vor- 
geführt, das  in  sorgfaltig  bewahrter  Verborgenheit  durch  geschickte  Massregeln 
von  den  Culturfortschritten  aller  anderen  Völker  Kenntniss  erhält  und  dabei 
selbst  durch  systematischen  Betrieb  des  Forschens,  Entdeckens  und  Erfindens 
die  Beherrschung  der  Natur  für  die  praktischen  Interessen  des  Menschenlebens 
auf  das  Höchste  steigert.  Da  werden  in  phantastischer  Ahnung  allerlei  mögliche 
und  unmögliche  Erfindungen  erzählt^),  und  die  ganze  Thätigkeit  des  „salomoni- 
schen Hauses"  ist  auf  die  Verbesserung  des  materiellen  Wohlbefindens  der  Gesell- 
schaft gerichtet,  während  die  Schilderung  der  staatlichen  Verhältnisse  nur  ober- 
flächlich und  unbedeutend  ist. 

Dagegen  kommt  es  in  Campanella's  Sonnenstaat,  in  welchem  die 
Nachwirkungen  der  „Utopia"  von  Morus  sehr  stark  bemerkbar  sind,  zu  einem 
vollständigen,  sogar  pedantisch  bis  in  alle  kleinen  Verhältnisse  geordneten  Ent- 
wurf des  socialistischen  Zukunftsstaates,  der  nach  keiner  Richtung 
vor  der  äussersten  Vergewaltigung  der  Freiheit  individueller  Lebensbewegung 


1)  Der  Titel  dieser  Utopie  und  manches  Andere  darin  ist  eine  Reminiscenz  an  Platon^s 
Fragment  des  Kritias  (113  f.)  —  2)  Da  fehlen  zu  Mikroskop  und  Teleskop  nicht  Mikrophon 
und  Telephon ;  da  giebt's  riesige  Sprengstoffe,  Flugmaschinen,  allerlei  Werke  mit  Lufl-  und 
Wasserkraft  und  sogar  „einige  Arten"  des  perpetuum  mobile !  Besonderen  Werth  aber  legt 
der  Verf.  darauf,  wie  durch  bessere  Pflanzen-  und  Thierzucht,  durch  ungeahnte  chemische 
Entdeckungen,  durch  Bäder  und  Luftkuren  die  Krankheiten  vertrieben  und  das  Leben  ver- 
längert werden  sollen:  auch  Experimente  an  Thieren  werden  im  Interesse  der  Medicin  ein- 
geführt. 

22* 


340  IV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

zurückschreckt.  Von  dorn  mathematisch  abgezirkelten  Plan  der  Reichsstadt  bis 
zur  Stundeneintheilung  des  täglichen  Arbeitens  und  Geniessens,  bis  zur  Bestimmung 
des  Berufs,  bis  zur  Paarung,  bis  zur  astrologisch  vorbestimmten  Stunde  der  Be- 
gattung geschieht  hier  alles  aus  staatKcher  Anordnung  zum  Wohle  des  Ganzen, 
und  ein  vielgegliedertes,  sorgfaltig  (unter  Beimischung  metaphysischer  Motive  *) 
ausgeklügeltes  System  der  Bureaukratie  baut  sich  auf  der  Abstufung  des  Wissens 
auf.  Je  mehr  einer  weiss,  um  so  mehr  Macht  soll  er  im  Staate  haben,  um  durch 
seine  Kenntniss  den  Naturverlauf  zu  regeln  und  zu  verbessern.  Die  Gesichts- 
punkte dieser  Verbesserung  aber  richten  sich  auch  bei  Campanella  wesentlich 
auf  die  äussere  Cultur.  Bei  ihm  sollen  sogar  vier  Stunden  Tagesarbeit  im  Durch- 
schnitt genügen,  um  das  Wohlleben  der  Gesellschaft  zu  sichern,  und  an  dieses 
auch  wieder  Alle  gleichen  Anspruch  haben. 

4,  Bei  aller  Abenteuerlichkeit  und  Wunderlichkeit  ^)  kommt  aber  doch  in 
Campanella's  Sonnenstaat  mehr  noch  als  in  Moore's  Utopie  der  Gedanke  zur 
Geltung,  dass  der  Staat  ein  Kunstwerk  der  menschhchen  Einsicht  zur  Hebung 
der  socialen  Schäden  sein  solle.  Beide  Männer  wollen  so  wenig  wie  Piaton  ein 
blosses  Phantasiegebilde  aufstellen,  sie  glauben  an  die  Möglichkeit,  ^die  beste 
Staatsverfassung"  durch  vernünftige  Reflexion  auf  eine  naturgemässe  Ordnung 
der  socialen  Verhältnisse  zu  verwirklichen.  Sie  stiessen  damit  freilich  auf  manchen 
Widerstand.  Schon  Cardanus  bekämpfte  die  Utopien  im  Princip  und  empfahl 
statt  ihrer  der  Wissenschaft  die  Aufgabe,  die  Nothwendigkeit  zu  begreifen,  mit 
welcher  die  wirkHchen  historischen  Staaten  in  ihrer  besonderen  Bestimmtheit 
sich  aus  dem  Charakter,  den  Lebensverhältnissen  und  den  Erlebnissen  der  Völker 
entwickeln;  er  will  sie  als  Naturproducte  wie  Organismen  betrachtet  und  auf 
ihre  Zustände  die  medicinischen  Kategorien  von  Gesundheit  und  Krankheit 
angewendet  wissen.  In  grösserem  Style  und  firei  von  der  pythagoreischen  Astro- 
logie, in  der  sich  der  Mathematiker  Cardanus  erging,  dafür  aber  mit  stark  con- 
structiver  Phantasie  hat  der  praktische  Staatsmann  Bodin  die  Mannigfaltigkeit 
der  historischen  Wirklichkeit  im  Staatsleben  zu  begreifen  gesucht. 

Allein  der  Zug  der  Zeit  ging  mehr  darauf,  ein  für  alle  Zeiten  und  Verhält- 
nisse gleichmässig  in  der  Natur  begründetes  und  durch  Vernunft  aUein  zu  er- 
kennendes Recht  zu  suchen:  wollte  doch  ein  Mann  wie  Albericus  Gentilis 
durch  kindlich- plumpe  Analogien  privatrechtUche  Principien  auf  physicalische 
Gesetze  zurückführen.  Festeren  und  fruchtbareren  Boden  gewann  man,  wenn  statt 
der  allgemeinen  „Natur"  die  menschliche  Natur  genommen  wurde.  Das  ge- 
schah von  Hugo  Grotius.  Wie  Thomas  von  Aquino  fand  er  imGeselligkeits- 
bedürfniss  das  Grundprincip  des  natürlichen  Rechts,  und  in  der  logischen 
Deduction  die  Methode  seiner  Entwicklung.  Was  die  Vernunft  als  mit  der  ge- 
selligen Natur  des  Menschen  übereinstimmend  und  daraus  folgend  erkennt,  daiin 
besteht  das  durch  keine  geschichthche  Wandlung  abzuändernde  ins  naturale*). 
Der  Gedanke  eines  solchen  absoluten  Rechts,  welches  nur  durch  seine  Begrün- 
dung in  der  Vernunft  unabhängig  von  staatlicher  Macht  und  vielmehr  als  deren 


1)  Dem  obersten  Herrscher  —  Sol  oder  Metaphysicus  — ,  der  das  ganze  Wissen  in 
sich  verkörpern  muss,  unterstehen  zunächst  drei  Fürsten,  deren  Wirkungskreise  den  drei 
-„Primalitäten"  des  Seins,  Macht,  Weisheit  und  Liebe  (vgl.  §  29,  3)  entsprechen,  u.  s.  w.  — 
2)  Abenteuerlich  ist  besonders  der  starke  Zusatz  astrologisch-magischen  Aberglaubens,  wunder- 
lich die  mönchisch-rohe  Behandlung  sexueller  Verhältnisse.  —  S)  De  iur.  bell,  et  pac.  1,  1,  10. 


§82.  Naturrecht.     (Hobbes.)  341 

letzter  Grund  bestehe,  war  Grotius  durch  die  Analogie  des  Völkerrechts  nahe 
gelegt,  welchem  seine  Untersuchung  zunächst  galt.  Andrerseits  aber  wurde  ver- 
möge dieses  sachlichen  Princips  das  Privatrecht  massgebende  Voraussetzung  auch 
für  das  Staatsrecht.  Befriedigung  individueller  Interessen,  Schutz  des  Lebens 
und  Eigenthums  erschien  als  wesentUcher  Zwecldnhalt  der  Rechtsordnung.  In 
formeller  und  methodischer  Hinsicht  dagegen  war  dies  philosophische  Rechts- 
System  durchaus  constructiv;  es  sollte  nur  die  logischen  Consequenzen  des  Princips 
der  Geselligkeit  ziehen.  In  gleicher  Weise  galt  auch  für  Hobbes  das  corpus 
politicum  als  eine  aus  dem  Begriffe  ihres  Zwecks  durch  reine  Verstandesthätigkeit 
abzuleitende  Maschine  und  die  philosophische  Rechtslehre  als  eine  vollkommene 
demonstrirbare  Wissenschaft.  Damit  aber  erschien  dies  Feld  in  hervorragendem 
Masse  zur  Anwendung  der  geometrischen  Methode  geeignet,  und  Pufendorf 
iührte  den  ganzen  Apparat  derselben  ein,  indem  er,  Grotius  und  Hobbes  com- 
binirend,  das  ganze  System  synthetisch  aus  dem  Gedanken  entwickelte,  dass  der 
Selbsterhaltungstrieb  des  Individuums  sich  vernünftiger  und  erfolgreicher  Weise 
nur  in  der  Befriedigung  des  Geselligkeitsbedürfnisses  erfüllen  könne.  In  dieser 
Form  hat  das  Naturrecht  als  Ideal  einer  ^geometrischen^  Wissenschaft  bis  weit 
in  das  18.  Jahrhundert  hinein  (Thomasius,  Wolflf,  ja  bis  Fichte  und  Schelling)  be- 
standen und  den  allgemeinen  Niedergang  des  cartesianischen  Princips  überdauert. 

5.  Sachhch  aber  war  damit  der  letzte  Grund  des  öffentlichen  Lebens  und 
des  gesellschafthchen  Zusammenhanges  in  die  Interessen  der  Individuen 
verlegt:  die  Mechanik  des  Staats  fand  in  der  Triebbestimmtheit  des  Einzel- 
menschen jenes  selbstverständliche  und  einfache  Moment  ^),  woraus  nach  Galilei- 
schem  Princip  die  zusammengesetzten  Gebilde  des  Rechtslebens  erklärt  werden 
konnten.  Damit  ging  auch  die  Staatslehre  auf  die  epikureische  ^)  Theorie  des 
gesellschaftlichen  Atomismus  (vgl.  S.  137)  zurück,  und  das  synthetische  Princip^ 
wodurch  das  Zustandekommen  des  Staats  begriffen  werden  sollte^  war  der  Ver- 
trag. Von  Occam  und  Marsilius  bis  zu  Rousseau^  Kant  und  Fichte  hat  diese 
Vertragstheorie  das  philosophische  Staatsrecht  beherrscht.  Grotius  und  Hobbes 
haben  ihr  die  sorgfaltigste  Ausfiihrung  gewidmet.  An  den  Staatsvertrag;  durch 
welchen  die  Individuen  sich  zu  einer  Interessengemeinschaft  vereinigen,  schliesst 
sich  der  Herrschafts-  oder  ünterwerfungsvertrag,  vermöge  dessen  die  Einzelnen 
ihr  Recht  und  ihre  Macht  auf  die  Obrigkeit  übertragen.  Das  erwies  sich  als  ein 
allgemeiner  Rahmen,  in  den  die  verschiedensten  politischen  Ansichten  passten. 
Während  Grotius  und  ebenso  Spinoza  die  Interessen  der  Bürger  am  besten  durch 
eine  aristokratisch -repubUkanische  Verfassung  gewährleistet  fanden ,  konnte 
Hobbes  von  derselben  Voraussetzung  her  seine  Theorie  des  rein  weltlichen 
Absolutismus  deduciren,  wonach  die  Staatsgewalt  in  Einer  Persönlichkeit,  der 
allgemeine  Wille  in  dem  Einzelwillen  des  Herrschers  unverbrüchlich  vereinigt 
sein  sollte. 

Auf  das  Engste  verbunden  erscheint  mit  der  Vertragstheorie  die  Ausbildung 
des  Begriffs  der  Souveränetät.  Die  Quelle  aller  Herrschergewalt  ist  danach 
der  Volkswille,  aus  dem  der  Staats-  und  Unterwerfungsvertrag  hervorgegangen 
ist :  der  eigentliche  Träger  der  Souveränetät  ist  das  Volk.  Indessen  wird  nun 

1)  Der  Terminus  „conatus'*  trifft  In  diesem  Sinne  bei  Hobbes  und  Spinoza  ftir  beide 
Gebiete,  das  physische  wie  das  psychische,  zu.  —  2)  Wie  auf  dem  theoretischen  Gebiet,  so 
erringt  i^ucb  auf  dem  praktischen  das  demokritisch-epikureische  Princip  einen  späten  Sieg. 


342  IV.  Philosophie  der  RenaissaDce.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

jener  Veitrag  und  die  damit  vollzogene  Macht-  und  Rechtübertragung  von  den 
Einen  als  unwiderruflich,  von  den  Anderen  als  widerruflich  angesehen.  So  behauptet 
Bodin  trotz  der  Lehre  von  der  Volkssouveränetät  die  Unbeschränktheit  und  be- 
dingungslose Geltung  der  königlichen  Gewalt,  die  Unverletzlichkeit  des  Herr- 
schers und  die  Unberechtigtheit  jeden  Widerstandes  gegen  ihn :  noch  vollständiger 
aber  erscheint  bei  Hobbes  die  Souveränetät  des  Volkes  in  derjenigen  des  Mon- 
archen aufgesogen,  dessen  Wille  hier  ganz  im  Sinne  des  L'etat  c'est  moi  als 
alleinige  Rechtsquelle  im  positiven  Staatsleben  gilt.  Im  Gegensatz  dazu^  und 
der  Voraussetzung  nach  entschieden  consequenter,  behaupteten  die  „monarcho- 
machischen  Theorien",  deren  Hauptvertreter  nebenBuchanan  (1506— 1582)und 
Languet  (1518 — 1581)  der  Niedersachse  Althus  ist,  dass  der  Herrschafts- 
vertrag hinfalUg  werde,  sobald  die  Obrigkeit  nicht  mehr  recht,  d.  h.  nicht  mehr 
im  Interesse  und  nach  dem  Willen  des  Volkes  regiert.  Wird  der  Vertrag  von 
der  einen  Seite  gebrochen,  so  ist  er  auch  für  die  andere  nicht  mehr  verbindlich : 
in  dieser  Lage  fällt  die  Souveränetät  wieder  an  ihren  ursprünglichen  Träger 
zurück.  Hat  der  Mensch  mit  Absicht  und  Ueberlegung  den  Staat  gemacht,  so 
hebt  er  ihn  wieder  auf,  wenn  sich  zeigt,  dass  die  Absicht  verfehlt  wird.  So  be- 
reitet schon  die  Renaissance  die  Theorie  der  Revolution  vor^). 

Ihre  besondere  Färbung  aber  erhalten  alle  diese  Theorien  durch  die  kir- 
chenpolitischen Rücksichten,  wonach  die  unumschränkte  Gewalt  des  Herr- 
schers je  nach  seinem  Verhältniss  zu  den  Confessionen  entweder  als  gefahrlich 
oder  als  forderlich  empfunden  wurde.  Den  radicalsten  Standpunkt  der  Real- 
politik nahm  vermöge  seines  religiösen  Indifferentismus  Hobbes  ein:  Religion 
ist  Privatmeinung,  und  staatliche  Geltung  hat  nur  diejenige,  zu  welcher  sich  der 
Souverän  bekennt.  Keine  andere  Rehgion  oder  Confession  kann  im  öffentlichen 
Leben  geduldet  werden.  Hobbes  gab  die  philosophische  Theorie  für  das  histo- 
rische Cuius  regio  iUius  religio.  Und  Spinoza  schloss  sich  ihm  an.  Er  trat 
für  Gedankenfreiheit  und  gegen  allen  Gewissenszwang  auf,  aber  ihm  war  die 
Rehgion  nur  Erkenntniss  und  Gesinnung;  für  das  öffentliche  Erscheinen  der 
ReUgiosität  in  Kirche  und  Gottesdienst  sollte  im  Interesse  der  Ordnung  und 
des  Friedens  nur  die  Bestimmung  der  Obrigkeit  gelten.  In  positiverem  Sinne 
erklärte  sich  die  protestantische  Rechtsphilosophie  für  die  kirchen- 
politische Souveränetät  des  Königthums  von.  Gottes  Gnaden,  während  auch 
in  ihr,  z.  B.  bei  Althus,  einer  andersgläubigen  Obrigkeit  gegenüber  die  Sou- 
veränetät des  Volkes  vertheidigt  wurde.  Dasselbe  Motiv  entschied  da,  wo  die 
Jesuiten  die  Absetzbarkeit  der  Obrigkeit  und  die  Entschuldbarkeit  des  Fürsten- 
mordes behaupteten  (vgl.  oben). 

6.  Die  Begründung  der  Vertragstheorie  beruhte  bei  Hobbes  auf  all- 
gemeineren Motiven.  Wenn  das  gesellschafthche  und  staatliche  Leben  aus  der 
„menschlichen  Natur"  begriffen  werden  sollte,  so  fand  der  englische  Philosoph 
deren  alles  bestimmenden  Grundzug  in  dem  Selbsterhaltungstriebe  oder 
dem  Egoismus,  dem  einfachen,  selbstverständHchen  Erklärungsprincip  für  das 
ganze  Willensleben,    Dabei  liessen  die  materialistische  Metaphysik  und   die 


1)  Mit  specieller  AnwenduDg  auf  die  englischen  Zustande  des  17.  Jahrhunderts  und 
das  Recht  der  damaligen  „Revolution''  sind  diese  Frincipien  von  dem  Dichter  John  Milton 
(Defensio  pro  populo  Anglicano  1651)  und  von  Algemon  Sidney  (Discourses  of  govenunent 
1683)  vertreten  worden. 


§  32.  Naturrecht.    (Hobbes,  Spinoza.)  343 

sensualistische  Psychologie  (vgl.  §  31)  diesen  Selbsterhaltungstrieb  seinem  ur- 
sprünglichen Wesen  nach  nur  auf  die  Erhaltung  und  Förderung  der  sinnlichen  Exi- 
stenz des  Individuums  gerichtet  erscheinen.  Alle  anderen  Gegenstände  des  Willens 
konnten  nur  als  Mittel  zur  Herbeiführung  jenes  obersten  Gesammtzwecks  gelten. 
Diesem  Princip  gemäss  gab  es  auch  für  den  Menschen  als  Naturwesen  keine 
andere  Norm  der  Beurtheilung  als  diejenige  der  Förderung  oder  Hemmung^  des 
Nutzens  oder  Schadens:  die  Unterscheidung  des  Guten  und  des  Bösen,  des 
Gerechten  und  des  Ungerechten  ist  nicht  auf  dem  individuellen^  sondern  nur 
auf  dem  socialen  Standpunkte  möglich,  wo  statt  des  einzelnen  das  gemeinsame 
Interesse  den  Massstab  bildet.  So  wurde  der  Egoismus  zum  Princip  der 
gesammten  praktischen  Philosophie;  denn  wenn  der  Selbsterhaltungstrieb 
des  Individuums  durch  das  Gebot  des  Staats  beschränkt  und  corrigirt  werden 
sollte^  so  galt  dieser  Staat  selbst  als  die  künstlichste  und  vollkommenste  aller  der 
Vorrichtungen,  welche  der  Egoismus  getroffen  hat,  um  seine  Befriedigung  zu 
erreichen  und  zu  sichern.  Der  Naturzustand,  in  welchem  ursprünglich  der 
Egoismus  eines  Jeden  gegen  den  jedes  Andern  steht,  ist  der  Kampf  Aller 
gegen  Alle:  ihm  zu  entrinnen,  ist  der  Staat  als  ein  Vertrag  zu  gegenseitiger 
Gewährleistung  der  Selbsterhaltung  gegründet  worden.  Das  Geselligkeits- 
bedürfniss  ist  nicht  ursprünglich :  es  ergiebt  sich  nur  mit  Noth wendigkeit  als  das 
leistungsfähigste  und  sicherste  Mittel  zur  Befriedigung  des  Egoismus. 

Diese  Lehre  nahm  Spinoza  an,  gab  ihr  aber  durch  Einfügung  in  seine 
Metaphysik  eine  idealere  Bedeutung.  „Suum  esse  conservare"  ist  auch  für  ihn 
Quintessenz  imd  Grundmotiv  alles  Wollens.  Da  aber  jeder  endliche  Modus  gleich- 
massig  beiden  Attributen  angehört,  so  richtet  sich  sein  Selbsterhaltungstrieb 
ebenso  auf  seine  bewusste  Thätigkeit,  d.  h.  sein  Wissen,  wie  auf  seine  Be- 
hauptung in  der  körperlichen  Welt,  d.  h.  seine  Macht.  Dies  auf  die  baconische 
Identität  von  Wissen  und  Macht  gedeutete  Individualstreben  bildet  dann  für 
Spinoza  nach  dem  Princip,  dass  das  Recht  eines  Jeden  so  weit  reiche  wie  seine 
Macht,  den  Erklärungsgrund  für  das  empirische  Staatsleben,  wobei  er  sich  der 
Hauptsache  nach  in  den  Bahnen  von  Hobbes  bewegt  und  nur  in  Betreff  der 
Ansicht  über  die  zweckentsprechendste  Verfassungsform,  wie  oben  bemerkt,  von 
ihm  abweicht.  Dieselbe  Begriffsverschlingung  aber  bietet  sich  Spinoza  auch  als 
Ausgangspunkt  für  seine  mystisch-religiöse  Tugendlehre  dar.  Denn  da  das  wahre 
„esse^  jedes  endlichen  Dinges  die  Gottheit  ist,  so  ist  die  einzig  vollkommene 
Befriedigung  des  Selbsterhaltungstriebes  in  der  „Liebe  zu  Gott"  zu  finden.  Dass 
Malebranche,  der  über  den  „atheistischen  Juden'^  so  heftig  sprach,  „mit  ein 
bischen  anderen  Worten"  dasselbe  lehrte,  ist  schon  oben  (§  31,  4)  erwähnt 
worden. 

7.  Lebhaften  Widerspruch  fand  Hobbes'  Theorie  des  Egoismus  —  das 
selfish  System,  wie  man  später  meist  sagte  —  bei  seinen  Landsleuten  *).  Die 
Zurückfuhrung  ausnahmslos  aller  Willensthätigkeiten  auf  den  Selbsterhaltungs- 
trieb erregte  zugleich  sittliche  Empörung  und  den  theoretischen  Widerspruch 
psychologischer  Erfahrung.  Den  Kiampf  gegen  Hobbes  nahm  zunächst  die  neu - 
platonische  Schule  von  Cambridge  auf,  deren  litterarische  Hauptvertreter 


1)  Vgl.  J.  Talloch,  Rational  theology  and  Christian  phUosophy  in  England  in  the 
1 7  th  Century.    (London  1872J. 


344  rV.  Philosophie  der  Renaissance.  2.  Naturwissenschaftliche  Periode. 

Ralph  Cudworth  und  Henry  More  sind.  In  diesem  Kampfe  aber  ent- 
wickelte sich  nach  antikem  Vorbilde  der  Gegensatz  von  (pöotc  und  ^ou;.  Für 
Hobbes  entsprangen  Recht  und  Sittlichkeit  gesellschaftlicher  Satzung;  für 
seine  Gegner  waren  sie  ursprüngliche  und  unmittelbar  gewisse  Forderungen  der 
Natur.  Beide  Theile  hielten  der  theologisch- dogmatischen  Begründung  der 
praktischen  Philosophie  die  lex  naturaUs  entgegen:  aber  fiir  Hobbes  war  das 
Naturgesetz  die  demonstrirbare  Consequenz  des  wohlverstandenen  Egoismus; 
für  die  „Platoniker"  war  es  eine  unmittelbare,  dem  menschlichen  Geiste  ein- 
geborene Gewissheit. 

In  demselben  Sinne  ging  Cumberland  gegen  Hobbes  vor.  Er  wollte 
die  Socialität  des  Menschen  für  ebenso  ursprünglich  angesehen  haben  wie  seinen 
Egoismus:  die  „wohlwollenden",  altruistischen  Neigungen,  deren Thatächlich- 
keit  nicht  zu  bezweifeln  ist,  sind  unmittelbar  selbständige  Gegenstände  der  Selbst- 
wahrnehmung •,  das  „GeselUgkeitsbedürfniss"  ist  nicht  erst  das  raffinirte  Product 
kluger  Selbstsucht,  sondern  —  wie  es  Hugo  Grotius  aufgefasst  hatte  —  ein  pri- 
märes, constitutives  Merkmal  der  menschlichen  Natur.  Wenn  der  Egoismus  auf 
das  Eigenwohl  abzielt,  so  sind  die  altruistischen  Motive  auf  das  Gesammtwohl 
gerichtet,  ohne  welches  das  Eigenwohl  nicht  möglich  ist.  Diese  Verknüpfung, 
welche  bei  Hobbes  an  die  kluge  Einsicht  des  Menschen  gebunden  erschien,  gilt 
für  Cumberland  als  eine  Bestimmung  Gottes,  dessen  Befehl  daher  als  das  autori- 
tative Princip  für  die  Befolgung  der  in  den  wohlwollenden  Neigungen  sich  aus- 
sprechenden Anforderungen  betrachtet  wird. 

Der  natürlichen  Vernunftmoral,  welche  so  einerseits  gegen  die 
Orthodoxie  andrerseits  gegen  den  Sensualismus  verfochten  wurde,  tritt  die  na- 
türliche Vernunftreligion  an  die  Seite,  weche  von  Herbert  von  Cher- 
bu  ry  gegen  dieselben  beiden  Fronten  aufgestellt  worden  war.  Auch  die  Religion 
soll  weder  auf  historische  OfiFenbarung  noch  auf  menschliche  Satzung  begründet 
werden:  sie  gehört  zum  eingeborenen  Besitz  des  menschlichen  Geistes.  Der  con- 
sensus  gentium  beweist  —  so  argumentirt  Herbert  in  altstoischer  Weise  — , 
dass  der  Glaube  an  die  Gottheit  ein  nothwendiger  Bestandtheil  der  menschlichen 
Vorstellungswelt,  eine  Forderung  der  Vernunft  ist:  aber  als  wahrer  Inhalt 
der  Rehgion,  den  Dogmen  der  Rehgionen  gegenüber,  kann  deshalb  auch  nur  das 
Bestand  haben,  was  jenen  Forderungen  der  Vernunft  entspricht. 

So  spielen  sich  in  der  durch  Hobbes  angeregten,  sehr  lebhaften  Discussion 
der  enghschen  Litteratm*  die  Fragen  der  praktischen  Philosopliie  allmälilich  auf 
das  psychologische  Gebiet  hinüber.  Was  ist  im  menschlichen  Geiste  —  so 
lautet  das  Problem  —  der  Ursprung  von  Recht,  Moral  und  Religion?  Damit 
aber  leiten  sich  die  Bewegungen  der  Aufklärungsphilosophie  ein. 


345 


V.  Theil. 
Die  Philosophie  der  Anfklärung. 

Ausser  der  Litteratur  auf  S.  275  sind  zu  vergleichen: 

Lkslib  Stephen,  History  of  English  thought  in  the  18  th  Century.   London  1876. 

J.  Mackintgsh,  On  the  progress  of  ethical  philosophy  during  the  1 7th  and  18*h  centuries ; 
Edinburg  1872. 

Ph.  Damiron,  Memoires  pour  servir  k  Thistoire  de  la  philosophie  au  18  i^™«  siöcle. 
3  Bde.   Paris  1868— 64. 

E.  Zeller,  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  seit  Leibniz.   München  1873. 

Dazu  n.  Hettner,  Litteraturgeschichte  des  18.  Jahrh.    3  Thle. 

Der  natürliche  Rhythmus  des  intellectuellen  Geschehens  brachte  es  mit 
sich,  dass  in  der  modernen  wie  in  der  griechischen  Philosophie  auf  eine  erste 
kosmologisch- metaphysische  Periode  ein  Zeitraum  wesentlich  anthropologischen 
Charakters  folgte,  und  dass  damit  wiederum  das  neu  erwachte  rein  theoretische 
Streben  der  Philosophie  einer  praktischen  Auffassung  derselben  als  Weltw^is- 
heit  weichen  musste.  In  der  That  finden  sich  alle  Züge  der  griechischen 
Sophistik  mit  gereifter  Gedankenfülle,  mit  ausgebreiteter  Mannigfaltigkeit,  mit 
vertieftem  Inhalt,  aber  deshalb  auch  mit  verschärfter  Energie  der  Gegensätze  in 
der  Philosophie  der  Aufklärung  wieder,  deren  zeitUche  Ausdehnung  un- 
gefähr mit  dem  18.  Jahrhundert  zusammenfallt.  An  die  Stelle  Athen's  tritt 
die  ganze  Breite  der  geistigen  Bewegung  in  den  europäischen  Culturvölkern,  und 
die  wissenschaftliche  Tradition  zählt  nun  ebensoviel  Jahrtausende ,  wie  damals 
Jahrhunderte :  aber  die  gesammte  Richtung  und  die  Gegenstände,  die  Gesichts- 
punkte und  die  Ergebnisse  des  Philosophirens  zeigen  in  diesen  beiden  zeithch  so 
weit  geschiedenen  und  ihrem  Culturhintergrunde  nach  so  sehr  verschiedenen 
Perioden  eine  lehrreiche  Aehnlichkeit  und  Verwandtschaft.  Es  waltet  in  beiden 
dieselbe  Einkehr  in  das  Subject,  dieselbe  zweifelvoll  überdrüssige  Abwendung 
von  metaphysischer  Grübelei,  dieselbe  Voriiebe  für  eine  empirisch -genetische 
Betrachtung  des  menschlichen  Seelenlebens,  dieselbe  Forschung  nach  der  Mög- 
Hchkeit  und  den  Grenzen  wissenschaftlicher  Erkenntniss  und  dieselbe  Leiden- 
schaftlichkeit in  der  Discussion  der  Probleme  des  gesellschafthchen  Lebens:  nicht 
minder  charakteristisch  endUch  ist  für  beide  Zeitalter  das  Eindringen  der  Philo- 
sophie in  die  breiten  Kreise  der  allgemeinen  Bildung  und  die  Verschmelzung  der 
wissenschaftlichen  mit  der  litterarischen  Bewegung. 

Für  die  Aufklärung  des  18.  Jahrhunderts  aber  war  die  Grundlage  in  den 
allgemeinen  Zügen  einer  weltlichen  Lebensansicht  gegeben,  wie  sie  während 
der  Renaissance  durch  die  frischen  Bewegungen  in  Kunst,  Religion,  Staat  und 
Naturforschung  herausgearbeitet  worden  waren.  Hatten  diese  im  17.  Jahrhundert 
zunächst  ihre  metaphysische  Formulirung  gefunden,  so  kam  nun  wieder  die  Frage 
in  den  Vordergrund,  wie  in  dem  Rahmen  der  neuen  Weltanschauung  der  Mensel^ 


346  V.  Philosophie  der  Aufklärung. 

sein  eigenes  Wesen  und  seine  eigene  Stellung  aufzufassen  habe :  und  vor  dem 
Werthe,  den  man  auf  diese  Frage  legte,  trat  das  Interesse  an  der  Verschieden- 
heit der  metaphysischen  Begriffe,  worin  jene  Weltanschauung  niedergelegt 
worden  war,  immer  entschiedener  zurück.  Man  begnügte  sich  mit  den  allgemeinen 
Umrissen  derselben,  um  desto  eingehender  sich  mit  den  Fragen  des  Menschen- 
lebens zu  beschäftigen,  und  alle  die  Lehren  der  Aufklärung,  welche  so  heftig 
gegen  die  Speculation  polemisiren,  arbeiten  im  Grunde  genommen  von  Anfang  an 
mit  einer  Metaphysik  des  „gesunden  Menschenverstandes",  der  zuletzt 
seine  Stimme  so  laut  erhob,  und  der  doch  schliesslich  nur  dasjenige  als  selbst- 
verständliche Wahrheit  voraussetzte ,  was  ihm  aus  dem  Ertrag  der  Arbeit  der 
vorhergehenden  Jahrhunderte  zugefallen  war. 

Die  Anfange  der  Aufklärungsphilosophie  sind  in  England  zu  suchen,  wo 
bei  den  geordneten  Zuständen,  welche  dem  Abschluss  der  Revolutionsperiode 
folgten,  ein  mächtiger  Aufschwung  des  htterarischen  Lebens  auch  die  Philosophie 
für  die  Interessen  der  allgemeinen  Bildung  in  Anspruch  nahm.  Von  England 
verpflanzte  sich  diese  Litteratur  nach  Frankreich:  hier  aber  wirkte  der  Gegen- 
satz der  Ideale,  welche  sie  mit  sich  brachte,  zu  der  socialen  und  politischen  Wirk- 
lichkeit derartig,  dass  nicht  nur  der  Vortrag  der  Gedanken  von  vornherein  er- 
regter, heftiger  war,  sondern  auch  die  Gedanken  selbst  sich  schärfer  zuspitzten 
und  ihre  negative  Energie  gegen  das  in  Staat  und  Kirche  Bestehende  kräf- 
tiger hervorkehrten.  Von  hier  aus  zunächst,  dann  aber  auch  von  directer  Ein- 
wirkung aus  England*)  übernahm  Deutschland  die  aufklärerischen  Ideen,  für 
die  es  in  mehr  theoretischer  Weise  schon  selbständig  vorbereitet  war:  und  hier 
fanden  diese  ihre  letzte  Vertiefung  und  eine  Reinigung  und  Veredlung  durch  ihr 
Aufgehen  in  die  deutsche  Dichtung,  mit  welcher  sich  die  Renaissance 
des  classischen  Humanismus  vollendete. 

Der  Führer  der  englischen  Aufklärung  ist  John  Locke  dadurch  ge- 
worden, dass  er  eine  populäre  Form  empirisch-psychologischer  Darstellung  fiir 
die  allgemeinen  Umrisse  der  cartesianischen  WeltauflFassung  fand.  Während  dann 
derenjmetaphysische  Tendenz  in  Berkeley  noch  einen  idealistischen  Nachspröss- 
ling  hervorbrachte,  breitete  sich  die  anthropologisch-genetische  Betrachtungs- 
weise schnell  und  siegreich  über  alle  Probleme  der  Phüosophie  aus.  Dabei  blieb 
der  Gegensatz  zwischen  der  sensualistischen  Associationspsychologie 
und  den  nativistischen  Theorien  verschiedenen  Ursprungs  für  die  Entwick- 
lung massgebend.  Er  beherrschte  die  lebhafte  Bewegung  der  Moralphilo- 
sophie und  die  damit  zusammenhängende  Ausbildung  des  Deismus  und  der 
Naturreligion:  und  er  fand  seine  schärfste  Ausprägung  auf  dem  erkenntniss- 
theoretischen Gebiete,  wo  der  consequenteste  und  tiefste  der  englischen  Denker, 
David  Hume,  den  Empirismus  zum  Positivismus  entwickelte  und  dadurch 
den  Widerspruch  der  schottischen  Schule  hervorrief. 

Als  der  Pionier  der  französischen  Aufklärung  erscheint  Pierre  Bayle, 
dessen  Dictionnaire  die  Anschauungen  der  gebildeten  Welt  völlig  in  die  Richtung 
der  religiösen  Skepsis  lenkte ;  und  nach  dieser  Seite  hauptsächlich  wurde  dann 
auch  die  englische  Litteratur  in  Paris  aufgenommen.   Voltaire  ist  der  grosse 


1)  Vgl.  G.  Zart,  Der  Einfluss  der  englischen  Phüosophen  auf  die  deutsche  Phüos,  des 
lajahrh.    (Berlin  1881). 


^ 


V.  Philosophie  der  Auf  klaning.  347 

Schriftsteller,  welcher  nicht  nur  dieser  Wendung  den  beredtesten  Ausdruck  ge- 
geben, sondern  auch  die  positiven  Momente  der  Aufklärung  in  der  nachdi-ück- 
lichsten  Weise  vertreten  hat.  Aber  die  Entwicklung  drängte  mit  viel  grösserer 
Wucht  auf  die  negative  Seite.  In  dem  gemeinsamen  Denken  der  En  cyclo - 
pädisten  vollzog  sich  Schritt  für  Schritt  der  Umschwung  vom  Empirismus  zum 
Sensuahsmus,  vom  Naturalismus  zum  Materialismus,  vom  Deismus  zum  Atheis- 
mus, von  der  enthusiastischen  zur  egoistischen  Moral.  Solcher  Aufklärung 
des  Verstandes,  deren  gesammte  Linien  in  dem  Positivismus  Condillac's 
zusammenliefen,  trat  in  Rousseau  eine  Gefühlsphilosophie  von  elemen- 
tarer Gewalt  gegenüber,  um  zur  intellectuellen  Gestaltung  der  Revolution 
zu  führen. 

Deutschland  war  für  die  aufklärerische  Bewegung  schon  durch  dieLeib- 
niz'sche  Philosophie  und  den  grossen  Kathedererfolg,  welchen  Wolflf  mit  ihrer 
Umbildung  erzielte,  gewonnen:  aber  hier  überwog  bei  dem  Mangel  eines  einheit- 
lichen öfifentUchen  Interesses  die  Tendenz  der  individuellen  Bildung.  Für 
deren  Zwecke  wurden  die  Ideen  des  ^philosopliischen  Jahrhunderts''  auf  psycho- 
logischem und  erkenntnisstheoretischem,  wie  auf  moralischem,  politischem  und 
religiösem  Gebiete  mit  grosser  Mannigfaltigkeit,  aber  ohne  principielle  Neu- 
schöpfung verarbeitet,  bis  der  trockenen  Verständigkeit,  womit  sich  eine  über- 
hebungsvolle  Popularphilosophie  besonders  an  der  Berliner  Akademie  *) 
breit  machte,  frisches  Leben  und  höhere  Gesichtspunkte  durch  die  poetische 
Bewegung  und  die  grossen  Persönlichkeiten  ihrer  Träger,  Lessing  und 
Herder,  zugeführt  wurden.  Dieser  Umstand  bewahrte  die  deutsche  Philosophie  des 
18.  Jahrhunderts  davor,  sich  in  theoretisch-skeptische  Selbstzersetzung  wie  die 
englische,  oder  in  praktisch-politische  Zersplitterung  wie  die  französische  zu 
verlieren:  durch  die  Berührung  mit  einer  grossen ,  von  Ideengehalt  strotzenden 
Litteratur  bereitete  sich  hier  eine  neue  grosse  Epoche  der  Philosophie  vor. 

John  Locke,  1632  zu  Wrington  bei  Bristol  geboren,  in  Oxford  gebüdct,  durch  seinen 
Lebenslauf  in  das  wechselvolle  Geschick  des  Staatsmannes  Lord  Shaftesbury  verflochten,  kam 
mit  Wilhelm  von  Oranien  aus  holläudischem  Exil  1688  in  seine  Heimath  zurück,  bekleidete 
unter  der  neuen  Regierung,  die  er  auch  publicistisch  mehrfach  vertrat,  mehrere  höhere  Staats- 
ämter und  starb  in  ländlicher  Müsse  1704.  Sein  philosophisches  Werk  führt  den  Titel  Essay 
conceming  human  understanding  (1690);  daneben  sind  Some  thoughts  on  education  (1693), 
The  reasonableness  of  Christianity  (1695)  und  unter  den  posthumen  Abhandlungen  The  con- 
duct  of  understanding  zu  nennen.  Vgl.  Fox  Boürne,  The  life  of  J.  L.  (London  1876).  Th. 
FowLEB,  J.  L.  (London  1880). 

George  Berkeley  war  in  Killerin  (Irland)  1685  geboren,  betheiligte  sich  als  Geistlicher 
eine  Zeitlang  an  Missions-  und  Colonisationsversuchen  in  America,  wurde  1734  Bischof  von 
Cloyne  und  starb  1753.  Vorbereitet  durch  die  Theorie  of  vision  (1709J,  erschien  1710  sein 
Treatise  on  the  principles  of  human  knowledge,  welchem  Hauptwerke  später  die  Three  dia- 
logues  between  Hylas  and  Philonous  und  Alciphron  or  the  minute  philosopher  folgten.  Aus- 
gabe der  Werke  von  Fräser,  4  Bde.,  London  1871;  derselbe  hat  auch  eine  gute  Gesammt- 
darstellung  (Edinburg  u.  London  1881)  gegeben.  Vgl.  Collyns  Simon,  Universal  immaterialism 
(London  1862). 

Die  Associationspsychologie  fand  ihre  Hauptvertreter  in  Feter  Brown  (als 
Bischof  von  Cork  1735  gestorben;  The  procedure,  extent  and  limits  of  human  understanding 
1719),  David  Hartley  (1704— -1757;  De  motus  sensus  et  idearum  generatione,  1746;  Obser- 
vations  on  man,  his  frame,  his  duty  and  bis  expectations,  1749),  Edward  Search,  pseudon. 
für  Abraham  Tucker  (1705—1774,  Light  of  nature,  7  Bde.,  London  1768-77);  Joseph 
Priestley  (1733—1804;  Hartley's  Theorie  of  human  mind  on  the  principles  of  association 
of  ideas,  1775;  Disquisitions  relating  to  matter  and  spirit,  1777);  John  Mome  Tooke  (1736 — 


1)  Vgl.  Ch.  Babtholh£:ss,  Histoire  philosophique  de  Taoademie  de  Prusse.  Faris  1851. 


348  V.  Philosophie  der  Aufklärung. 

1812;  'Riesa  ittsposvta  or  the  diversions  of  parley,  1798;  vgl.  Stephen,  Memoires  of  J.  M.  T., 
London  1813) ;  Erasmus  D  arwin  (1731 — 1802,  Zoonomia  or  the  laws  of  organic  life,  1794 ff.) ; 
ßchliesslich  Thomas  Brown  (1778 — 1820;  Inquiry  into  the  relation  of  cause  and  effect,  1804; 
posthum  die  in  Edinburcr  gehaltenen  Lectures  on  the  philosophy  of  human  mind.).  —  Vgl.  Br. 
ScHOENLANK,  Hartley  u.  rriestley  als  Be^nder  des  Associationismus  (Halle  1882);  L.  Perri, 
Sulla  dottrina  psicbologica  delV  associazione,  sag^o  storico  e  critico  (Rom  1878). 

Yon  den  in  der  älteren  Weise  platonisirenden  Gegnern  dieser  Richtung  ist  namentlich 
Richard  Price  (1723 — 91)  durch  seinen  Streit  mit  Priestley  bekannt  geworden: 

Priestley,  The  Doctrine  of  philosophical  necessity,  1777 ;  Price,  Letters  on  materialism 
and  philosophical  necessity,  1778;  Priestley,  Free  discussions  of  the  doctrines  of  materia- 
lism, 1778. 

Unter  den  englischen  Moralphilosophen  nimmt  die  bedeutendste  Stellung 
S haft es bury  (Anthony  Ashley,  Cooper,  1671 — 1713)  ein,  dessen  Abhandlungen  unter  dem 
Titel  Characteristics  of  men,  manners,  opinions  and  times  (1711)  gesammelt  sind.  V^l.  G.  v. 
GizYCKi,  Die  Philosophie  Sh.'s  (Leipzig  u.  Heidelberg  1876).  —  Nach  ihm  scheiden  sich  ver- 
schiedene Gruppen:  die  intellectualistische  repräsentiren  Samuel  Olarke  (1675 — 1729; 
A  demonstration  of  the  being  and  attributs  of  God,  1705;  Philosophical  inquiry,  concerning 
human  liberty,  1715;  vgl.  seine  Oorrespondenz  mitLeibniz)  und  William  WoUaston  (1659— 
1724;  The  religion  of  nature  delineated,  1722);  —  die  Gefühlsmoral  dagegen  Francis  Hut  che- 
son  (1694 — 1747;  Inquiry  into  the  ori^nal  of  our  ideas  of  beauty  and  virtue,  1725;  A  System 
of  moral  philosophy,  1756;  vgl.  Th.  Fowler,  Shaftesbury  and  Hutcheson,  London  1882); 
Henrv  Home,  pseud.  für  Lord  Kaimes  (1696 — 1782;  Essays  on  the  principles  of  morality 
and  natural  religion,  1751;  Elements  of  criticism  1762);  Edmund  Burke  (1730—1797;  Philo- 
sophical inquiry  into  the  origin  of  our  ideas  of  sublime  and  beautifal,  1756) ;  Adam  Ferguson 
(1724 — 1816;  Institutions  of  moral  philosophy,  1769),  und  in  gewissem  Sinne  auch  Adam 
Smith  (1723 — 1790,  Theory  of  moral  sentiment,  1759);  das  Autoritätaprincip  vertreten  Jos. 
Butler  (1692—1752;  Sermons  upon  human  nature,  1726)  und  William  Paley  (1743—1805, 
Principles  of  moral  and  political  philosophy,  1785);  die  Ethik  der  Associationspsychologie 
wurde  hauptsächlich  durch  Jeremy  Bentham  ausgebildet  (1748 — 1832;  Introduction  to  the 
principles  of  moral  and  legislation,  1789;  Trait^  de  l^gislation  civile  et  penale,  zusammen- 
gestellt von  E.  DüMONT,  1801;  Deontology,  hrsg.  von  J.  Bowring,  1834;  Werke  in  11  Bänden, 
Edinburg  1843). —  In  eigenthümlicher  Sonderstellung  erscheint  Beruh,  de  Mandeville 
(1670 — 1733;  The  fable  of  the  bees  or  private  vices  made  public  benefits,  1706,  später  mit  er- 
läuternden Dialogen  1728;  Inquiry  into  the  origin  of  moral  virtue,  1732;  Free  thoughts  on 
religion,  church,  govemment,  1720). 

Mit  dieser  moralphilosophischen  Litteratur  fällt  zum  grossen  Theil  diejenige  des  Deis- 
mus zusammen;  in  letzterer  Richtung  aber  treten  ausserdem  hervor:  John  Toland  (1670 — 
1722;  Christianity  not  mysterious,  1696;  Letters  to  Serena,  1704;  Adeisidaemon  1709;  Pan- 
theisticon  1710);  Anthony  CoUins  (1676— 1729;  A  discourse  of  free  thinking,  1713)  Matthews 
Tindal  (1656—1733;  Christianity  as  old  as  thfe  creation,  1730);  Thomas  Chubb  (1679— 
1747;  A  discourse  concerning  reason  with  regard  to  religion,  1730);  Thomas  Morgan  (1743 
gestorben;  The  moral  philosopher,  3  Tbl.,  London  1737 ff.);  endlich  Lord  Bolingbroke 
(1672—1751;  Werke  von  MoUet  in  5  B.  1753 f.  herausgegeben;  vgl.  Fr.  v.  Raumer,  AbhandL 
der  Berl.  Akad.  1840).  —  Vgl.  V.  Lechler,  Geschichte  des  englischen  Deismus  (Stuttgart  und 
Tübingen  1841). 

Englands  grösster  Philosoph  ist  David  Hume,  1711  in  Edinburg  geboren  und  dort  ge- 
bildet. Nachdem  er  sich  eine  Zeit  lang  als  Kaufmann  versucht  hatte,  lebte  er  mehrere  Jahre 
in  Frankreich  seinen  Studien  und  verfasste  den  genialen  Treatise  on  human  nature  (gedr. 
1739  f.).  Der  Misserfolg  dieses  Buchs  veranlasste  ihn,  dasselbe  als  zweiten  Band  seiner  erfolg- 
reicheren Essays  moral  political  and  litterary  in  einer  Umarbeitung  unter  dem  Titel  Inquiry 
concerning  human  understanding  (1748)  herauszugeben  und  einen  Inquiry  concerning  prin- 
ciples of  moral  (1751),  sowie  The  natural  history  of  religion  (1755)  anzuschliessen.  Als 
Bibliothekar  der  Juristenfakultät  in  Edinburg  fand  er  Anlass,  seine  „Geschichte  Englands"  zu 
schreiben.  Nach  einem  ruhmreichen  Aufenthalt  in  Paris,  wo  er  u.  A.  mit  Rousseau  in  Ver- 
bindung kam,  war  er  einige  Zeit  lang  Unterstaatssekretär  im  auswärtigen  Amt,  zog  sich  aber 
dann  nach  Edinburg  zurück,  wo  er  1776  starb.  Posthum  erschienen  die  Dialogues  concerning 
natural  religion  und  kleinere  Abhandlungen.  Ausgabe  der  Werke  von  Green  und  Gross  in 
4  Bdn.  (London  1875).  Seine  Autobiographie  gab  sein  Freund  Adam  Sboth  (1777)  heraus. 
Vgl.  J.  H.  Burton,  Life  and  corrcspondence  of  D.  H.  (Edinburg  1846—50);  E.  Feüerlbin  in 
der  Zeitschr.  „Der  Gedanke"  (Berlin  1863 f.);  E.  PpLEroERBR,  Empirismus  und  Skepsis  in  D. 
H.'s  Philosophie  (Berlin  1874);  Th.  Huxley,  D.  H.  (London  1879);  Fr.  Jodl,  Leben  u.  Philo- 
sophie D.  H.'s  (Halle  1872);  A.  Meinong,  Hume-Studien  (Wien  1877  u.  82);  G.  v.  Geycki, 
Die  Ethik  D.  H.'8  (Breslau  1878).  — 

Die  schottische  Schule  wurde  begründet  von  Thomas  Reid  (1710 — 1796,  Professor 
in  Glasgow;  Inquiry  into  the  human  mind  oi)  the  principles  of  conm^on  8e^se,  17^;  Essais  of 


V.  Philosophie  der  Aufklärung.  349 

the  powers  of  the  human  mind,  1785  u.  88;  Gesammtausgabe  von  W.  Hamilton,  Edinburg 
1827)  und  hatte  neben  James  Oswald  (gest.  1793,  Appeal  to  common  sense  in  behalf  of  reli^ 
gion,  1766)  und  James  Beattie  (gest.  1805,  Essay  on  the  nature  and  immutability  of  truth, 

1770)  ihren  akademischen  und  litterarischen  Hauptvertreter  in  Dugald  Stewart  (1753 — 
1828  Professor  in  Edinburg;  Elements  of  the  philosophy  of  human  mind,  3  Thle.,  1792—1827 
u.  A.;  Ausgabe  der  Werke  von  W.  Hamilton,  10  Bde.,  Edinburg  1864  fif.).  — 

Pierre  Bayle,  Der  Typus  skeptischer  Polyhistorie,  1647  zu  Carlat  geboren,  fährte  ein 
durch  zweimaligen  Confessionswechsel  beunruhigtes  Dasein,  war  schliesslich  in  Sedan  und 
Rotterdam  Professor  und  starb  1706.  Seine  einfiussreiche  Lebensarbeit  ist  in  dem  Dictionnaire 
historique  et  critique  (1695  u.  97)  niedergele^.  Vgl.  L.  Feüebbaoh,  P.  B.  nach  seinen  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  und  Menschheit  mteressantesten  Momenten,  Ansbach  1833. 

Von  Voltaire  (Pran^ois  Arouet  le  jeune,  1694 — 1778;  die  Hauptetappen  des  Schriffc- 
stellerlebens  sind  die  Flucht  nach  London,  der  Aufenthalt  bei  der  Marquise  du  Chätelet  in 
Cirey,  der  Besuch  bei  Friedrich  dem  Grossen  in  Potsdam,  die  Altersruhe  auf  dem  Landsitz 
Femey  bei  Genf)  kommen  hier  hauptsächlich  in  Betracht :  Lettres  sur  les  Anglais  (1784), 
Metaphysique  de  Newton  (1740),  Elements  de  la  philosophie  de  Newton  mis  ä  la  portee  de 
tout  le  monde  (1741),  Examen  important  de  Mylord  Bolingbroke  (1736),  Candide  ou  sur 
Toptimisme  (1757),  Dictionnaire  philosophique  (1764),  Le  philosophe  ignorant  (1767),  Reponse 
au  Systeme  de  la  nature  (1777),  das  Gedicht  Les  syst^mes  etc.  Vgl.  E.  Bersot,  La  philosophie 
de  V.  (Paris  1848),  D.  F.  Strauss,  V.  (Leipzig  1870),  J.  Morlby,  V.  (London  1872). 

Skeptischer  schon  in  metaphysischer  Hinsicht  erscheinen  Naturforscher  und  Mathema- 
tiker, wie  Maupertuis  (1698 — 1759;  an  der  Berliner  Akademie  thätig;  Essai  de  philosophie 
morale,  1750;  Essai  de  cosmologie,  1751;  Streitschriften  zwischen  ihm  und  dem  WolfHaner 
S.  König  gesammelt  Leipzig  1758)  oder  d'Alembert  (Melanges  de  litterature,  d^histoire  et 
de  Philosophie,  1752),  naturalistischer  verfahren  andere  wie  Buffon  (1708 — 1788,  Histoire 
naturelle  generale  et  particuliöre,  1749  ff.)  und  Jean  Battiste  Robinet  (1735 — 1820,  De  la 
nature,  1761,  Considerations  philosophiques  de  la  gradation  naturelle  des  formes  d'etre 
1767). 

Der  Sensualismus  erscheint  in  Verbindung  mit  dem  Materialismus  bei  Julien  Offrai 
de  Lamettrie  (1709 — 1751;  Histoire  naturelle  de  T&me,  1745;  L'homme  machine,  1748; 
L'art  de  jouir,  1751;  Oeuvres  Berlin  1751 ;  über  ihn  A.  Lange,  Gesch.  des  Mater.  I,  826 ff.; 
N6r6e  Quäpat,  Paris  1873),  als  lediglich  psychologische  Theorie  bei  Charles  Bonnet  (1720 — 
1793,  Essai  de  psychologie,  1755 ;  Essai  analytique  sur  les  facultas  de  Täme,  1759;  Considerations 
sur  les  Corps  organis^s,  1762;  Contemplation  de  la  nature,  1764;  Paling^nesies  philosophiques, 
1769"),  mit  positivistischer  Zuspitzung  bei  Etienne  Bonnot  de  Condillao  (1715 — 1780;  Essai 
sur  lorigine  de  la  connaissance  humaine,  1746;  Traite  des  systemes,  1749;  Trait^  des  sensa- 
tions,  1754;  Logique,  1780;  Langue  des  calculs  in  der  Gesammtausgabe,  Paris  1798;  vgl.  F. 
R^THOR^,  C.  ou  Tempirisme  et  le  rationalisme,  Paris  1864).  Die  letzten  Vertreter  dieser 
Theorien  sind  einerseits  Pierre  Jean  George  Cabanis  (1757 — 1808;  Les  rapports  du  physique 
et  du  moral  de  Thomme,  1802;  Oeuvres,  Paris  1821 — 25),  andrerseits  Antoine  Louis  Claude 
Destutt  de  Tracy  (1754—1836;  Elements  d'id^ologie  in  4  Thl.  1801—15,  zusammen  1826). 
—  Vgl.  Fr.  Picavbt,  Les  idöologues  (Paris  1891).  — 

Die  litterarische  Concentration  der  aufklärerischen  Bewegung  in  Frankreich  bildet  die 
Encyclopädie.  (Encyclop^die  ou  dictionnaire  raisonne  des  sciences,  des  arts  et  des  m^tiers, 
28  Bde.,  1752—1772,  Supplement  und  Register  7  Bde.  bis  1780).  Neben  d'Alembert,  der  die 
Einleitung  schrieb,  war  ihr  Herausgeber  und  das  geistige  Haupt  des  Kreises,  aus  dem  sie  her- 
vorging, Denis  Diderot  (1713 — 1784;  Pensees  philosophiques,  1746;  Pensees  sur  l'interpre- 
tation  de  la  nature,  1754;  aus  den  posthumen  Veröffentlichungen  sind  die  Promenade  d'un 
Sceptique,  der  Entretieu  d'Alembert  et  de  Diderot  und  der  Reve  d^Alembert  hervorzuheben ; 
auch  ist  der  Essai  de  peinture  zu  erwähnen;  Oeuvres  completes,  Paris  1875,  20  Bde.;  vgl.  K. 
Rosenkranz,  D.,  sein  Leben  und  seine  Werke,  Leipzig  1866;  J.  Morlet,  D.  and  the  Encyclo- 
paedists ,  London  1878).  Weitere  Mitarbeiter  an  der  Encyclopädie  waren  (ausser  den  bald 
ausscheidenden  Voltaire  und  Rousseau)  Turgot  (Art.  Existence),  Daubenton,  Jaucourt, 
Duclos,  Grimm,  Holbach  etc.  —  Aus  dem  gleichen  Kreise  (»Les  philosophes")  ging  später 
das  Systeme  de  la  nature  hervor  (pseudonym  Mirabaud,  1770),  der  Hauptsache  nach  auf 
Dietrich  von  Holbach  zurückzuführen  (1723 — 1789,  ein  Piälzer;  Le  bon  sens  ou  id^es  natu- 
relles oppos^es  aux  idees  sumaturelles,  1772;  Elements  de  la  morale  universelle,  1776  u.  s.  w.). 
Daneben  wirkten  Grimm  (1723 — 1807,  Correspondance  litt^raire,  1812),  der  Mathematiker 
Lagrange,  der  Abb^  Galiani,  Naigeon  u.  A.  mit;  das  Schlusskapitel  „Abregt  du  code  de  la 
nature''  stammt  vielleicht  aus  Diderot's  Feder;  eine  sehr  populäre  Darstellung  schrieb  Helve- 
tius  „Vrai  sens  du  systöme  de  la  nature**  (1771).   Derselbe  (Claude  Adrien  Helvetius,  1715— 

1771)  gab  der  sensualistisch-associationspsychologischen  Moral  in  seinem  viel  gelesenen  Buch 
De  1  esprit  (1758)  den  schärfsten  Ausdruck ;  vgl.  auch  sein  posthumes  Werk  De  Thomme,  de 
868  facult^  et  de  son  education  (1772). 


350  V»  Philosophie  der  Aufklärung. 

Die  Theorie  des  englischen  Constitutioaalismus  bürgerte  in  Frankreich  Montesquieu 
ein  (1689 — 1755;  Lettres  persanes,  1721;  De  Tesprit  des  lois,  1748).  Die  socialen  Probleme 
behandelten  einerseits  die  sog.  Physiokraten,  wie  Quesnay  (Tableau  eoonomique,  1758) 
Turgot  (Reflexions  sur  la  Formation  et  la  distribution  des  richesses,  1774;  Gegner  Galiani, 
Dialogues  sur  le  commerce  des  bles)  U.A.,  andrerseits  die  Communis  ten,  wie  Morel  ly 
(Code  de  la  nature,  1755)  und  Mably,  der  Bruder  Condillac*s  (De  la  legislation  ou  principes 
des  lois,  1776). 

Die  merkwürdigste  Figur  der  französischen  Aufklärung  ist  Jean  Jacques  Rousseau 
(1712  in  Genf  geboren,  nach  einem  abenteuerlichen,  zuletzt  durch  Trübsinn  und  Verfolgungs- 
wahn gestörten  Leben  1778  in  Ermenonville  gestorben).  Seine  Hauptschriften  —  ausser  den 
autobiographischen  Confessions  —  sind:  Discours  sur  les  sciences  et  les  arts  (1750)  Discours 
sur  Torigine  et  les  fondemens  de  Tinegalite  parmi  les  hommes  (1773),  La  nou volle  Heloise 
(1761),  Emile  ou  sur  Teducation  (1762),  Du  contrat  social  (1762).  Vgl.  F.  Brockbrhoff,  R., 
sein  Leben  und  seine  Werke  (Leipzig  1863  u  74);  E.  Feuerlein  in  „Der  Gedanke**  (Berlin 
1866);  L.  MoREAU,  J.  J.  R.  et  le  siecle  philosophique  (Paris  1870);  J.  Morlet,  J.  J.  R.  (London 
1873) ;  R.  Fester,  R.  und  die  deutsche  Geschichtsphilosophie  (Stuttgart  1890). 

Die  philosophische  Theorie  der  Revolution  entwickeLo  hauptsächlich  Charles 
Fran^ois  de  St-Lambert  (1716 — 1803;  Principes  des  moeurs  chez  toutes  les  nations  ou 
catechisme  universel,  1798),  Const.  Fr.  Chasseboeuf  Comte  de  Volnay  (1757 — 1820;  Les 
ruines,  1791;  La  loi  naturelle  ou  principes  physiques  de  la  morale,  deduits  de  Torganisation 
de  Thomme  et  de  Tunivers  ou  catechisme  du  citoyen  frangais,  1793),  Marie  Jean  Ant.  Nie.  de 
Condorcet  (1743 — 1794;  Esquisse  dVn  tableau  historique  du  progrös  de  Tesprit  humain, 
1795),  Dominique  Garat  (1749 — 1833;  vgl.  Conte  rendu  des  seances  des  ecoles  normales, 
n,  1 — 40).  Vgl.  L.  Fbrraz,  La  philosophie  de  la  r^volution  (Paris  1890). 

Gottfried  Wilhelm  Leib niz,  der  vielseitige  Begründer  der  deutschen  Philosophie, 
war  1646  in  Leipzig  geboren,  studirte  dort  und  in  Jena,  promovirte  in  Altorf,  wurde  dann 
durch  die  Bekanntschaft  mitBoyneburg  in  die  Dienste  der  churmainzischen  Diplomatie  gezogen, 
worin  er,  eigene  politische  und  wissenschaftliche  Pläne  verfolgend,  eine  Gesandtschaftsreise 
nach  Paris  und  Ix>ndon  (mit  gelegentlichem  Besuch  bei  Spinoza  im  Haag)  mitmachte,  und 
trat  dann  als  Bibliothekar  und  Holhistoriograph  in  den  Dienst  des  Hannoverischen  und  des 
Braunschweigischen  Hofes.  In  allen  diesen  Stellungen  war  er  publicistisch  und  diplomatisch 
im  deutsch-nationalen  Sinne  und  im  Literesse  des  confessionellen  Friedens  thätig.  Später 
lebte  er  am  Hofe  der  ersten  preussischen  Königin,  Sophie  Charlotte,  einer  hannoverischen 
Prinzessin,  in  Charlottenburg  und  Berlin,  wo  unter  ihm  die  Akademie  gegründet  wurde; 
nachher  auf  einer  Archiv-Reise  längere  Zeit  in  Wien.  Hier,  wie  für  Petersburg,  gab  er  die 
später  verwirklichten  Anregungen  zur  Gründung  der  Akademien.  Er  starb  1716  in  Hannover. 
Die  Vielgeschäftigkeit  und  Zersplittertheit  seines  Lebens  zeigt  sich  auch  darin,  dass  seine 
wissenschaftlichen  Ansichten  meist  nur  in  fragmentarischen  Aufeätzen  und  in  einer  unglaublich 
ausgebreiteten  Correspondenz  niedergelegt  sind.  Die  beste  Ausgabe  seiner  philosophischen 
Schriften  ist  die  neueste  von  C.  J.  Gerhardt,  7  Bde.  (Berlin  1875 — 1890).  Die  metaphysischen 
Abhandlungen  sind  oben  (S.301)  au%efiihrt:  für  seine  Wirkung  auf  die  Aufklärungsphilosophie 
kommen  neben  der  Correspondenz  mit  Bayle  und  Clarke  hauptsächlich  in  Betracht:  Essais 
de  Theodic^e  sur  la  bonte  de  Dieu,  la  liberte  de  Thomme  et  Torigine  du  mal  (Amsterdam  1710) 
und  die  erst  1765  von  Raspe  veröifentlichten  Nouveaux  essais  sur  Tentendement  humain. 
Vgl.  G.  E.  GüHRAüBR,  G.W.  Frhr.  v.  L.  (Breslau  1842);  E.  Pflkidkrer,  L.  als  Patriot,  Staats- 
mann und  Bildnngsträger  (Leipzig  1870).  Art.  L.  in  Ersch  und  Gruber's  Encyclopädie  von 
W.  Winoelband.  —  L.  Feuerbagh,  Darstellung,  Entwicklung  und  Kritik  der  L/schen  Philo* 
Sophie  (Ansbach  1844);  E.  Nourisson,  La  philosophie  de  L.  (Paris  1860);  L.  Grote,  L.  und 
seine  Zeit  (Hannover  1869);  0.  Caspari,  L.'  Philosophie  (Leipzig  1870);  J.  Th.  Merz,  L. 
(London  1884). 

Zu  den  einflussreichsten  Aufklärern  in  Deutschland  gehörte  L.*  Zeit-  und  Landsgenosse 
Christian  Thomasius  (1655 — 1728;  Einleitung  zur  Vemuuftlehre,  Ausfuhrung  der  Vernunft* 
lehre,  beide  1691;  Einleitung  zur  Sittenlehre  1692,  Ausführung  der  Sittenlehre  1696;  Fun- 
damenta  iuris  naturae  et  gentium  ex  sensu  communi  deducta,  1705;  vgl.  A.  Luden,  Chr.  Th., 
Berlin  1805). 

Den  IVIittelpunkt  des  wissens(;haftlichen  Lebens  bildeten  in  Deutschland  während  des 
18.  Jahrhunderts  die  Lehre  und  die  Schule  von  Christian  Wolf  f.  Er  war  1679  in  Breslau  ge* 
boren,  studirte  in  Jena,  war  in  Leipzig  Privatdocent  und  lehrte  in  Halle,  bis  er  auf  Betreiben 
orthodoxer  Gegner  1723  verjagt  wurde:  er  war  dann  Professor  in  Marburg;  1740  rief  ihn 
Friedrich  der  Grosse  in  der  ehrenvollsten  Weise  nach  Halle  zurück,  wo  er  darauf  bis  an  seinen 
Tod  1754  gewirkt  hat.  Er  behandelte  den  ganzen  Umfang  der  Philosophie  in  lateinischen  und 
in  deutschen  Lehrbüchern:  die  letzteren  fuhren  alle  den  Titel  „Vernünftige  Gedanken**  und 
handeln  von  den  Kräften  des  menschlichen  Verstandes  1712;  von  Gk)tt,  der  Welt  und  der 
ÜeelG  des  Menschen,  auch  allen  Dingen  überhaupt,  1719;  von  der  Menschen  Thun  und  Lassen, 


V.  Philosophie  der  Aufklärung.  351 

1720;  vom  gesellschaftlichen  Leben  der  Menschen,  1721;  von  den  Wirkungen  der  Natur, 
1723;  von  den  Absichten  der  natürlichen  Dinge,  1724;  von  den  Theilen  der  Menschen,  Thiere 
und  Pflanzen,  1725.  Dazu  Philosophia  rationalis  sive  Logica,  1718;  Philosophia  prima  sive 
Ontologia,  1728;  Cosmologia,  1731;  Psychologia  empirica,  1732;  rationalis,  1734;  Theologia 
naturalis,  1736;  Philosophia  practica  universalis,  1738;  Jus  naturae,  17403*.;  Jus  gentium, 
1749;  Philosophia  moralis,  posthum  175Ö.  —  Vgl.  K.  G.  Ludovici,  Ausfuhrlicher  Entwurf  einer 
vollständigen  Historie  der  WolflTschen  Philosophie  (Leipzig  1736 ff.);  auch  W.  L.  G.  v.  Eber- 
STEIN,  Versuch  einer  Geschichte  der  Logik  und  Metaphysik  bei  den  Deutscheu  von  Leibniz  an 
(HaUe  1799). 

Unter  den  Wolffianern  sind  etwa  zu  nennen:  G.  B.  Bilfinger  (1693 — 1750,  Dilucida- 
tiones  philosophicae  de deo,  animahumana,  mundo  etc.,  1725);  M.  Kuntzen  (gestorben  1751, 
Systema  causarum  efficientium,  1746,  vgl.  B.  Erdmann,  M.  Kn.  und  seine  Zeit,  Leipzig  1876), 
J.  Chr.  Gottsched  (1700—1766,  Erste  Gründe  der  gesammten  Weltweisheit,  1784);  Alex. 
Baumgarten  (1714—1762;  Metaphysica,  1739;  Aesthetica,  1750—58). 

Als  Vertreter  der  geometrischen  Methode  erscheinen  M.  G.  Hansch  (1683 — 1752; 
Ars  inveniendi,  1727)  und  G.  Ploucquet  (1716 — 1790;  vgl.  A.  P.  Book,  Sammlung  von 
Schriften,  welche  den  logischen  Calcül  des  Herrn  P.  betreffen,  Frkfrt.  u.  Lpzg.  1766);  als 
Gegner  derselben  Pierre  Crousaz  (1663 — 1748,  Logjik  1712  u.  24;  Lehre  vom  Schönen,  1712), 
Andreas  Rüdiger  (1671 — 1731 ;  De  sensu  veri  et  falsi,  1709;  Philosophia  synthetica,  1707)  und 
Chr.  A.  Crusius  (1712 — 1775;  Entwurf  der  nothwendigen  Vernunftwalu'heiten,  1745;  Weg 
zur  Gewissheit  und  Zuverlässigkeit  der  menschlichen  Erkenntniss,  1747).  Eine  eclectische 
Zwischenstellung  nehmen  ein  J.Fr.  Budde  (1667 — 1729;  Institutiones  philosophiae  eclecticae, 
1705)  und  die  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  J.  J.  Brucker  und  D.  Tiedemann, 
femer  Joh.  Lossius  (Die  physischen  Ursachen  des  Wahren,  1775)  und  A.  Platner  (1744 — 
1818;  Philosophische  Aphorismen,  1776  u.  82). 

Von  selbständigerer  Bedeutung  sind  J.  H.  Lambert  (1728  in  Mülhausen  geboren, 
1777  in  Berlin  gestorben;  Eosmologische  Briefe,  1761;  Neues  Organen,  1764;  Architektonik, 
177i)  und  Nie.  Tetens  (1736 — 1805;  Philosophische  Versuche  über  die  menschliche  Natur 
und  ihre  Entwicklung,  1776 f.;  vgl.  Fr.  Harms,  üeber  die  Psychologie  des  N.  T.,  Berlin  1887). 
Beide  standen  im  litterarischen  Zusamenhange  mit  Kant  (vgl.  VI.  Th.  1.  Kap.)»  dessen  vor- 
kritische  Schriften  ebenfalls  noch  in  diesen  Rahmen  gehören;  es  sind  hauptsächlich :  Allgemeine 
Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels,  1755;  Principiorum  primorum  cognitionis  meta- 
physicae  nova  dilucidatio,  1755;  Monadologia  physica,  1756;  Die  falsche  Spitzfindigkeit  der 
vier  syllogistischen  Figuren,  1762;  Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration 
des  Daseins  Gottes,  1763;  Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit 
einzufuhren,  1763;  Ueber  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und 
Moral,  1 764;  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen,  1764 ;  Traume  eines 
Geistersehers,  erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik,  1 766 ;  De  mundi  sensibilis  atque  intelli- 
gibilis  forma  et  principiis,  1770.   Vgl.  R.  Zimmermann,  Lambert  der  Vorgänger  Kant's,  1879. 

Der  Deismus  fand  in  Deutschland  au  zahlreichen  Wolffianern  eine  lebhafte  und  lehr- 
hafte, wenn  auch  principiell  nicht  neue  Vertretung,  für  welche  die  Bibelübersetzung  von 
Lorenz  Schmidt  charakteristisch  ist.  Den  Gesichtspunkt  historischer  Kritik  der  biblischen 
Schriften  machte ßalomon  Sem  1er  (1725 — 1791)  geltend.  Die  schärfsten  Consequenzen  der 
deistischen  Kritik  zog  Samuel  Reimarus  (1699—1768;  Abhandlungen  von  den  vornehmsten 
Wahrheiten  der  natürlichen  Religion,  1754;  Betrachtung  über  die  Triebe  der  Thiere,  1760; 
besonders  die  Schutzschrift  für  die  vernünftigen  Verehrer  Gottes,  1767,  woraus  Lessing  die 
„Wolfenbüttler  Fragmente *",  in  neuerer  Zeit  Dav.  Fr.  Stbaüss,  Leipzig  1862,  einen  Auszug 
herausgab).  Ein  spinozistischer  Freidenker  war  Joh.  Chr.  Edelmann  (1698 — 1767).  Vgl.  K. 
MöNCKBBEBa,  Reimarus  xmd  Edelmann  (Hamburg  1867). 

Die  von  Spener  (1635 — 1705)  begonnene  und  von  Aug.  Herrn.  Francke  (1663 — 
1727)  mit  organisatorischer  Energie  fortgeführte,  dem  Mysticismus  verwandte  Richtung  des 
sog.  Pietismus  hat  während  dieser  Zeit  auf  die  Philosophie  nur  indirect  Einfluss  gehabt; 
noch  ferner  stehen  ihr  die  mehr  vereinzelten  mystischen  Sektirer  wie  Gottfried  Arnold  (1666 
—  1714)  und  Conrad  Dippel  (1673—1734). 

Die  empirische  Psychologie  ist  im  18.  Jahrhundert  bei  den  Deutschen  durch  zahl- 
reiche Namen,  umfangreiche  Sammlungen,  Lehrbücher  und  Sonderuntersuchungen  vertreten. 
Da  sind  Casimir  von  Creuz  (1724 — 1770),  Joh.  Gottl.  Krüger  (Versuch  einer  experimentalen 
Seelenlehre,  1756),  J.  J.  Hentsch  (Versuch  über  die  Folge  der  Veränderungen  der  Seele, 
1756),  J.  Fr.  Weiss  (De  natura  animi  et  potissimum  cordis  humani,  1761),  Fr.  v.  Irwing  (Er- 
fahrungen und  Untersuchungen  über  den  Menschen,  1777  ff.)  u.  A.;  einen  Sammelplatz  von 
Beiträgen  zu  dieser  beHebten  Wissenschaft  bildete  das  von  Moritz  (1785 — 1793)  heraus- 

gegebene  „Magazin  zur  Erfahrungsseelenlehre**.  W^eitere  Litteratur  bei  K.  Foetlage,  System 
er  Psychologie  I,  42  f. 

Eine  empirisch-psychologische  Kunstlehre  findet  sich  ausser  bei  Baumgarten^s  Schüler 
G.  Fr.  Meier  (1718— 1777j  namentlich  bei  Joh.  Georg  Sulzer  (1720—1779;  Theorie  der  an- 


352  V.  Philosophie  der  Aufklärung. 

genehmen  Empfindungen,  1762;  Vermischte  Schriften,  1773 ff.;  Allgemeine  Theorie  der 
schönen  Künste,  1771 — 74,  ein  ästhetisches  Lexicon). 

Von  den  Popularphilosophen  seien  erwähnt:  Moses  Mendelssohn  ^1729 — 1786; 
Briefe  über  die  Empfindungen,  1755;  Ueber  die  Evidenz  in  den  metaphysiscnen  Wissen- 
schaften, 1764;  Phaedon,  1767;  Morgenstunden,  1785;  Werke  hrsg.  von  Brasch,  Leipzig  1889), 
der  Buchhändler  Fr.  Nicolai  (1733 — 1811),  welcher  hinter  einander  die  Bibliothek  der 
schönen  Wissenschaften,  die  Briefe  die  neueste  deutsche  Litteratur  betreffend,  die  Allgemeine 
deutsche  Bibliothek  und  die  Neue  allgemeine  deutsche  Bibliothek  herausgab ;  femer  J.  Aug. 
Eberhard  (1738— 1809),  Joh. Beruh.  Basedow  (1723— 1790),  Thomas  Abb t  (1738—1766), 
Joh.  Jac.  Engel  (1741—1802,  Herausgeber  des  „Philosoph  für  die  Welt**),  .T.  G  H.  Feder 
(1740—1821),  Chr.  Meiners  (1747—1810),  Chr.  öarve  (1742—1798). 

Eine  persönlich  hochinteressante  Stellung  nimmt  Friedrich  der  Grosse,  der 
„Philosoph  von  Sanssouci''  ein,  über  den  zu  vgl.  Ed.  Zeller,  Fr.  d.  Gr.  als  Philosoph 
(Beriin  1886). 

Von  Lessing's  Schriften  kommen  für  die  Geschichte  der  Philosophie  hauptsächlicli 
in  Betracht  die  Hamburger  Dramaturgie,  die  „Erziehung  des  Menschengeschlechts**,  die 
Wolfenbüttler  Fragmente  und  die  theologischen  Streitschriften.  Vgl.  RoB.  Zimmermann, 
Leibniz  und  Lessing  (Studien  und  Kritiken,  I,  126  ff.),  E.  Zibnoiebl,  Der  Jacobi-mendel- 
sohn'sche  Streit  über  Lessing's  Spinozismus  (München  1861).  C.  Heblbr,  Lessing-Studien 
(Bern  1862).    W.  Dilthey  (Preuss.  Jahrb.  1869). 

Unter  Her  der 's  Schriften  gehören  in  diese  Zeit:  Ueber  den  Ursprung  der  Sprache, 
1772;  Auch  eine  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit,  1774;  Vom  Erkennen  und  Em- 
pfinden der  menschlichen  Seele,  1778:  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit, 
1784 ff.;  Gott,  Gespräche  über  Spinoza  s  System,  1787;  Briefe  zur  Beförderung  der  Humanität, 
1793 ff.  (Ueber  seine  spätere  philosophische  Schriftstellerthätijjkeit  vgl.  unten  vi.  Thl.,  2  cap.). 
Vgl.  R.  Hatm,  H.  nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken  (Berlm  1877 — 85).  E.  Melzer,  H.  als 
GeschichtsphilosophjfNeisse  1872).   M.  Kronenbbrg,  H.'s  Philosophie  (Heidelberg  1889). 

Vgl.  auch  J.  Witte,  Die  Philosophie  unserer  Dichterheroen  (Bonn  1880). 

1.  Eapitel  Die  theoretisclieii  fragen. 

„The  proper  study  of  mankind  is  man".  Dies  Wort  Pope*s  gilt  für  die  ge- 
sammte  Aufklärungsphilosophie  nicht  nur  in  dem  praktischen  Sinne,  dass  sie  den 
Zweck  aller  wissenschaftlichen  Untersuchung  zuletzt  immer  in  der  „Glückselig- 
keit" des  Menschen  findet,  sondern  auch  in  theoretischer  Hinsicht  insofern,  als 
sie  —  ihrem  Gesammtzuge  nach  —  alle  Erkenntniss  auf  die  Beobachtung  der 
thatsächlichen  Vorgänge  des  Seelenlebens  gründen  will.  Seitdem  Locke  *)  das 
Princip  aufgestellt  hatte,  vor  allen  metaphysischen  Ueberlegungen  und  Streitig- 
keiten müsse  entschieden  werden,  wie  weit  überhaupt  die  menschliche  Einsicht 
reiche,  und  das  sei  wiederum  nur  möglich  durch  die  genaue  Darlegung  der  Quellen, 
aus  denen  sie  fliesse,  und  des  Entwicklungsganges ,  durch  welchen  sie  zu  Stande 
komme,  —  seitdem  war  die  Erkenntnisstheorie  in  die  erste  Linie  des 
philosophischen  Literesses  gerückt,  zugleich  aber  für  diese  als  massgebende  und 
entscheidende  Instanz  die  empirische  Psychologie  anerkannt.  Die  Trag- 
weite der  menschlichen  Vorstellungen  soll  danach  beurtheilt  werden,  wie  sie  ent- 
stehen. So  wird  die  Erfahrungsseelenlehre  mit  all  den  stillschweigenden  Voraus- 
setzungen, die  in  ihr  üblich  sind,  zur  Grundlage  der  gesammten  philosophischen 
Weltansicht,  zur  Lieblingswissenschaft  des  Zeitalters  und  zugleich  zur  Vermitt- 
lung der  Wissenschaft  mit  der  allgemeinen  Litteratur.  Wie  in  dieser,  zumal  bei 
den  Engländern  und  Deutschen  die  Seelenmalerei  und  die  Selbstbespiegelimg  vor- 
walteten, so  sollte  auch  die  Philosophie  nur  das  Bild  des  Menschen  und  seiner 
Bewusstseinsthätigkeiten  zeichnen.  Es  gründeten  sich  Gesellschaften  zur  „Beob- 


1)  Einleitung  zum  Essay.    Vgl,  M.  Drobisch,  Locke,  der  Vorläufer  Kant's  (Zeitschr.  f. 
exacte  Philosophie  1861). 


1.  Theoretische  Fragen.  353 

achtung  des  Menschen",  in  weitschichtigen  „Magazinen"  wurden  allerlei  dilet- 
tantische Berichte  über  merkwürdige  Erlebnisse  aufgespeichert,  und  die  Regie- 
rung der  französischen  Republik  ersetzte  in  ihrem  officiellen  ünterrichtssystem  ^) 
die  „Philosophie"  durch  den  tönenden  Titel  der  „Analyse  de  Tentendement 
humain". 

Wenn  somit  unter  den  theoretischen  Fragen  der  Auf  klärungsphilosophie 
diejenige  nach  dem  Ursprung,  der  Entwicklung  und  der  Erkenntnisskraft  der 
menschlichen  Vorstellungen  obenan  stand,  so  wurde  dieselbe  von  vornherein 
unter  der  Voraussetzung  der  populären  Metaphysik,  des  naivenRealismus 
gestellt.  Da  ist  „drausseu"  eine  Welt  von  Dingen,  von  Körpern  oder  wer  weiss 
sonst  was,  —  und  hier  ist  ein  Geist,  der  sie  erkennen  soll :  wie  kommen  in  diesen 
Geist  Vorstellungen  hinein,  die  jene  Welt  in  ihm  reproduciren?  Dies  altgriechische 
Schema  des  Erkenntnissproblems  beherrscht  die  theoretische  Philosophie  des 
18.  Jahrhunderts  vollständig  und  gelangt  in  ihr  ebenso  zu  vollkommenster  For- 
mulirung  wie  zu  entscheidender  Zersetzung.  Gerade  in  dieser  Hinsicht  nimmt 
die  cartesiani  sehe  Metaphysik  mit  ihrem  Dualismus  von  bewussten 
und  körperlichen  Substanzen  eine  beherrschende  Stellung  für  das  ganze 
Aufklärungszeitalter  ein,  und  die  populär- empirische  Ausdrucksweise,  in  der  sie 
von  Locke  vorgetragen  wurde,  machte  diesen  zum  Führer  der  neuen  Bewegung. 
Die  methodischen  und  metaphysischen  Ueberlegungen,  welche  in  Descartes'  be- 
deutenden Schülern  zu  grosser  und  charaktervoller  Entfaltung  gekommen  waren, 
wurden  nun  in  die  Sprache  der  empirischen  Psychologie  übersetzt  und  so  fiir  das 
gemeine  Bewusstsein  zurechtgelegt. 

In  diesem  Zusammenhange  aber  kam  der  in  der  gesammten  neueren  Philo- 
sophie angelegte  und  besonders  in  England  (Hobbes)  gepflegte  Terminismus 
zu  siegreichem  Durchbruch :  die  qualitative  Sonderung  des  Bewusstseinsinhaltes 
und  der  Bewusstseinsformen  von  der  „Aussenwelt",  auf  die  sie  sich  doch  allein 
beziehen  sollten,  wurde  Schritt  für  Schritt  weiter  und  tiefer  und  schliesslich  bis 
zu  der  äussersten  Consequenz  inHume's  Positivismus  geführt.  Der  wissen- 
schaftlichen Auflösung,  welche  damit  die  Metaphysik  erfuhr,  entsprach  dann 
wieder  eine  populär-praktische  und  anspruchsvoll  bescheidene  Abwendung  von 
aller  feineren  Begrifisarbeit  oder  ein  um  so  ausdrücklicheres  Bekenntniss  zu  den 
Wahrheiten  des  gesunden  Menschenverstandes. 

Was  dabei  von  metaphysischem  Interesse  in  der  Aufklärungslitteratur 
lebendig  blieb,  heftete  sich  an  das  religiöse  Bewusstsein  und  an  diejenigen  Be- 
strebungen, welche  aus  dem  Streit  der  Confessionen  zu  einer  allgemeinen  und 
rationalen  Ueberzeugung  zu  gelangen  hofften.  In  dem  Deismus,  der  aus  dem 
engUschen  Frei  denke rthum  sich  über  Europa  verbreitete,  concentriren  sich 
die  positiven  Welt-  und  Lebensansichten  der  Aufklärungszeit,  und  wenn  diese 
Ueberzeugungen  anfangs  sich  aus  dem  Zusammenhange  der  naturwissenschaft- 
lichen Metaphysik  des  vorigen  Jahrhunderts  entwickelten  und  in  Folge  dessen  den 
Problemen  der  Teleologie  ein  besonders  lebhaftes  Interesse  zuwandten,  so 
verschoben  sie  sich  mit  der  Zeit  immer  mehr  aus  dem  metaphysischen  auf  das 
moralische,  aus  dem  theoretischen  auf  das  praktische  Gebiet. 


1)  Vgl.  die  höchst  amüsanten  S^ances  des  ^coles  normales  ans  dem  Jahre  I.  — 
Windelband,  Geschichte  der  Pliilosophie.  23 


354  ^^'  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

g  33.  Die  eingeborenen  Ideen. 

In  Betreff  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Vorstellungen  fand  die 
Aufklärungsphilosophie  bereits  den  scharf  ausgeprägten  Gegensatz  des  Sensu- 
alismus und  des  Rationalismus  vor. 

1.  Ersteren  hatte  Hobbes  auf  dem  theoretischen  Gebiete  ebenso  wie  auf  dem 
praktischen  vertreten,  indem  er  den  Menschen,  soweit  er  Gegenstand  wissen- 
schaftlicher Erkenntniss  sei,  für  ein  durchaus  sinnliches,  an  die  Empfindungen  und 
Triebe  des  Leibes  gebundenes  Wesen  hielt:  alle  Vorstellungen  sollten  nach  ihm  in 
der  Sinnesthätigkeit  ihren  Ursprung  haben,  und  der  Associationsmechanismus  sollte 
das  Entstehen  aJler  übrigen  seelischen  Gebilde  aus  diesen  Anfangen  erklären.  Durch 
solche  Lehren  fanden  nicht  nur  die  orthodoxen  Gegner  von  Hobbes  die  über- 
sinnliche "Würde  des  Menschen  in  Frage  gestellt,  sondern  dasselbe  Motiv  be- 
stimmte auch  die  Neuplatoniker  zu  lebhafter  Gegnerschaft.  Besonders  hatte  sich 
in  dieser  Hinsicht  Cudworth  hervorgethan:  bei  seiner  Bekämpfung  des  Atheis- 
mus ^)  hatte  er  nicht  zum  wenigsten  Hobbes  im  Auge,  und  gegenüber  der  "Lehre, 
dass  alle  menschlichen  Vorstellungen  aus  der  Einwirkung  der  Aussenwelt 
stammen,  beruft  er  sich  namenthch  auf  die  mathematischen  Begriffe,  denen  die 
körperlichen  Erscheinungen  nie  völUg  entsprechen,  sondern  höchstens  ähnlich 
sind  2).  Beim  Gottesbegriff  dagegen  nimmt  er  das  Argument  des  consensus 
gentium  mit  breitester  Ausfiihrung  *)  in  Anspruch,  um  zu  zeigen,  dass  derselbe 
eingeboren  sei.  In  gleicher  Weise  hatte  schon  Herbert  von  Oherbury  mit  der 
stoisch-ciceronianischen  Lehre  von  den  communes  notitiae  alle  Hauptlehren  der 
natürlichen  Religion  und  Moral  begründet. 

In  etwas  anderem  Sinne  war  die  Lehre  von  den  eingeborenen  Ideen  bei 
Descartes  *)  und  seinen  Schülern  aufgefasst  worden.  Hier  war  es  weniger  auf  die 
psychologische  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Vorstellungen  abgesehen,  obwohl 
auch  diese  an  einer  entscheidenden  Stelle  der  Meditationen  (3)  djüiin  beantwortet 
war,  dass  das  Eingeborensein  der  Gottesidee  wie  ein  Zeichen,  das  der  Schöpfer 
seinem  Geschöpf  eingeprägt,  aufzufassen  sei;  im  Ganzen  aber  hatte  der  grosse 
Metaphysiker  mehr  darauf  Gewicht  gelegt,  dass  das  Kriterium  des  Eingeboren- 
seins in  der  unmittelbaren  Evidenz  bestehe.  Er  hatte  daher  schliesslich  (fast 
mit  Abstreifung  der  anfänghchen  psychologischen  Bedeutung)  die  Bezeichnung 
der  ideae  innatae  auf  alles  ausgedehnt,  was  lumine  naturali  clare  et  distincte 
percipitur.  Die  sofortige  Zustimmung  war  übrigens  auch  von  Herbert  von  Oher- 
bury als  Merkmal  der  eingeborenen  Ideen  aufgeführt  worden  ^). 

2.  Locke's  polemische  Stellung  zu  der  Behauptung  der  eingeborenen  Ideen 
ist  zwar  von  erkenntnisstheoretischer  Absicht,  aber  saclilich  nur  durch  die 
psychogenetische  Auffassung  bestimmt.  Er  fragt  zunächst  nur,  ob  die  Seele 
bei  ihrer  Geburt  fertige  Erkenntnisse  mit  auf  die  Welt  bringt,  und  diese  Frage 
findet  er  verneinenswerth^).  In  Folge  dessen  richtet  sich  die  Entwicklung  der 
These  „No  innate  principles  in  the  mind"  im  ersten  Buch  des  Locke'schen  Essay 


1)  Im  Systema  intellectuale,  besonders  am  Schluss  V,  5,  28 ff.  —  2)  Ibid.  V,  1,  108  ff. 
(p.  905  ff.  Mosh.)  —  3)  Das  ganze  Kap.  TV  ist  dieser  Aufgabe  gewidmet.  -— '  4)  Vgl.  E.  Grimm, 
Descartes'  Lehre  von  den  angeborenen  Ideen,  Jena  1873.  —  5)  De  veritate  (1656)  p.  76.  — 
6)  Worin  ihm  übrigens  Descartes  durchaus  beistimmte,  der  auch  meinte,  es  sei  nicht 
anzunehmen,  dass  der  Geist  des  Kindes  im  Mutterleibe  Metaphysik  treibe:  Op,  (C.)  VIII,  269. 


§  33.  Eingeborene  Ideen.    (Locke.)  356 

weniger  gegen  Descartes  als  gegen  die  englischen  Neuplatoniker  *) :  sie  bestreitet 
in  erster  Linie  den  consensus  gentium  durch  Berufung  auf  die  Erfahrung  der 
Einderstube  und  der  Völkerkunde,  sie  findet,  dass  weder  theoretische  noch 
praktische  Grundsätze  allgemein  bekannt  oder  anerkannt  seien  und  nimmt  von 
diesem  Nachweise  (mit  ausdrücklicher  Wendung  gegen  Herbert)  auch  nicht  die 
Vorstellung  von  Gott  aus,  welche  vielmehr  nicht  nur  sehr  verschieden  bei  den 
verschiedenen  Menschen  sei,  sondern  manchen  sogar  ganz  fehle.  Auch  lässt 
Locke  nicht  die  von  Henry  More  ^  angedeutete  Ausrede  gelten,  dass  die  einge- 
borenen Ideen  in  der  Seele  nicht  aktuell,  sondern  implicite  enthalten  sein  könnten: 
das  könne  nur  bedeuten,  die  Seele  sei  fähig,  sie  zu  bilden  und  zu  bilhgen,  — 
ein  Merkmal,  das  dann  schliesslich  für  alle  Vorstellungen  gelte.  Die  sofortige 
Zustimmung  endlich,  welche  das  Eingeborene  charakterisiren  sollte,  treffe  gerade 
bei  den  allgemeinsten,  abstracten  Wahrheiten  nicht  zu,  und  wo  sie  sich  finde, 
beruhe  sie  auf  der  schon  früher  aufgefassten  Bedeutung  der  Wörter  und  ihrer 
Verbindung '). 

So  wird  die  Seele  wieder  alles  ursprüngUchen  Besitzthums  entkleidet :  sie 
gleicht  bei  der  Geburt  (vgl.  S.  159)  einem  unbeschriebenen  Blatt,  —  white  paper 
voit^of  all  characters  *).  Um  dies  positiv  zu  beweisen,  macht  sich  Locke  dann 
anheischig,  zu  zeigen,  dass  alle  unsere  „Ideen"  *)  aus  der  Erfahrung  stammen. 
Hierbei  unterscheidet  er  die  einfachen  und  die  zusammengesetzten  Ideen  in  der 
Voraussetzung,  dass  die  letzteren  aus  den  ersteren  entstehen :  für  die  einfachen 
Ideen  aber  giebt  er  zwei  verschiedene  Quellen  anrsensationundreflection 
die  äussere  und  die  innere  Wahrnehmung.  Unter  Sensation  versteht 
er  die  durch  die  leiblichen  Sinne  vermittelten  Vorstellungen  von  der  Körperwelt, 
unt^r  Reflexion  dagegen  das  Wissen  von  den  dadurch  hervorgerufenen  Thätig- 
keiten  der  Seele  selbst.  Psychogenetisch  also  verhalten  sich  diese  beiden  Arten 
der  Wahrnehmung  so,  dass  die  Sensation  Anlass  und  Voraussetzung  für  die 
Reflexion  ist,  —  sachlich  so,  dass  aller  Inhalt  der  Vorstellungen  aus  der  Sen- 
sation stammt,  die  Reflexion  dagegen  das  Bewusstsein  der  an  diesem  Inhalt  voll- 
zogenen  Functionen  enthält. 

3.  Zu  diesen  Functionen  gehörten  aber  auch  alle  diejenigen,  durch  welche 
die  Verknüpfung  der  Bewusstseinselemente  zu  den  zusammengesetzten  Vor- 
stellungen erfolgt,  d.  h.  alle  Vorgänge  des  Denkens.  Und  hierbei  Hess  nun 
Locke  das  Verhältniss  der  intellectuellen  Thätigkeiten  zu  ihren  ursprünglich- 
sinnlichen Inhalten  in  einer  populären  Unbestimmtheit,  welche  den  Anlass  zu  den 
verschiedensten  Umbildungen  seiner  Lehre  in  der  nächsten  Zeit  gegeben  hat. 
Einerseits  nämlich  erscheinen  jene  Thätigkeiten  als  die  „Vermögen"  (faculties) 
der  Seele,  welche  sich  dieser  ihrer  eigenen  Functionsweisen  in  der  Reflexion 
bewusst  wird  (wie  denn  z.  B.  die  Vorstellungsfahigkeit  selbst®)  als  die  ur- 
sprünglichste Thatsache  der  Reflexion  behandelt  wird,  für  die  jeder  Einzelne  an 
seine  eigene  Erfahrung  zu  verweisen  sei);  andrerseits  wird  die  Seele  auch  in 
diesen  beziehenden  Thätigkeiten,  wie  der  Erinnerung,  der  Unterscheidung,  der 


1)  Vgl.  (aach  zum  Folgenden)  G.  Gsm,  Die  Abhängigkeit  Locke's  von  Descartes  (Strass- 
burg  1887).  —  2)  H.  Mork,  Antidot,  adv.  ath.  I,  3  u.  7,  u.  Locke  I,  2,  22.  Vgl  Gbil,  a.  a.  O. 
p.  49.  —  31  Locke  I,  2,  23  f.  —  4)  Ibid.  n,  1,  2.  —  6)  Der  Terminus  „Idee"  hat  schon  in  der 
späteren  Scholastik  seinen  platonischen  Sinn  verloren  und  die  allgemeinere  Bedeutung  von 
„Vorstellung"  überhaupt  angenommen.  —  6)  Essay  II,  9,  If. 

23* 


356  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

Vergleichung,  der  Verbindung  etc.  durchweg  als  passiv  und  an  den  Inhalt  der 
Sensation  gebunden  betrachtet.  Daher  haben  sich  aus  der  Locke'schen  Lehre 
die  verschiedensten  Ansichten  entwickeln  können  je  nach  dem  verschiedenen 
Grade  von  Selbstthätigkeit^  den  man  der  Seele  in  der  Verbindung  der 
Vorstellungen  zuschrieb. 

Von  besonderem  Interesse  war  dabei  vermöge  der  aus  dem  Mittelalter 
stanmienden  Probleme  der  Erkenntnisstheorie  und  Metaphysik  die  Entwicklung 
der  abstractenVorstellungen  aus  den  Daten  der  Sensation.  Wie  die 
Mehrzahl  der  englischen  Philosophen  bekannte  sich  Locke  zum  N  omin  alismuS; 
der  in  den  allgemeinen  Begriflfen  nur  innerliche,  intellectuelle  Gebilde  sehen  wollte. 
Bei  der  Erklärung  derselben  aber  nahm  Locke  in  grosser  Ausdehnung  die  Mit- 
wirkung der  „Zeichen"  und  insbesondere  Sprache  in  Anspruch.  Sie  ermög- 
lichen durch  ihre  mehr  oder  minder  willkürliche  Anknüpfung  an  einzelne  Vor- 
stellungstheile  die  Heraushebung  derselben  aus  den  ursprüngUchen  Complexionen 
und  damit  die  weiteren  Functionen,  durch  welche  derartig  isolirte  und  fixirte 
Bewusstseinsinhalte  in  logische  Beziehungen  zu  einander  gesetzt  werden ').  Daher 
fiel  für  Locke,  wie  einst  für  die  Epikureer  und  dann  für  die  Terministen,  die  Logik 
mit  der  Zeichenlehre,  der  Semeiotik,  zusammen^).  Damit  war  ganz  im  Sinne 
Occam's  trotz  der  sensualistischen  Grundlage,  welche  für  allen  Vorstellungsinhalt 
gelten  sollte,  Raum  für  eine  demonstrative  Wissenschaft  der  Begriffe  und  fiir 
alle  abstracten  Operationen  des  erkennenden  Geistes  gewonnen.  Alle  diese 
Bestimmungen  waren  in  philosophischem  Betracht  nicht  neu,  und  auch  ihre  Dar- 
stellung ist  bei  Locke  ohne  Originalität  und  gedankliche  Eigenkraft:  aber  sie  ist 
schlicht  und  einfach,  von  anmuthiger  Durchsichtigkeit  undLeichtverständUchkeit, 
sie  verschmäht  alle  Schulform  und  gelehrte  Terminologie,  sie  gleitet  geschickt 
über  alle  tieferen  Probleme  hinweg  und  hat  damit  ihren  Urheber  zu  einem  der 
gelesensten  und  einflussreichsten  Schriftsteller  in  der  Geschichte  der  Philoso- 
phie gemacht. 

4,  So  sehr  Locke  (schon  wegen  seines  metaphysischen  Anschlusses  an 
Descartes,  worüber  unten  §  34,  1)  die  Selbständigkeit  der  inneren  Erfahrung 
neben  der  äusseren  betont  hatte,  so  war  doch  die  Abhängigkeit,  in  welche  er 
genetisch  und  inhaltlich  die  Reflexion  von  der  Sensation  setzte,  so  stark,  dass 
sie  sich  in  der  Entwicklung  seiner  Lehre  als  das  entscheidende  Moment  erwies. 
Diese  Umwandlung  zum  voUen  Sensualismus  ging  auf  verschiedenen  Wegen 
vor  sich. 

In  der  erkenntnisstheoretisch-metaphysischen  Ausbildung  des  Nominalis- 
mus führte  sie  bei  Locke's  englischen  Nachfolgern  zudenäusserstenConsequenzen. 
Berkeley^)  erklärte  nicht  nur  die  Lehre  von  der  Realität  abstracter  Begriffe  für 
den  seltsamsten  aller  Irrthümer  der  Metaphysik,  sondern  leugnete  auch  —  den 
extremsten  Nominalisten  des  Mittelalters  ähnlich  —  die  Existenz  abstracter 


1)  Die  Entwicklung  dieser  logischen  Beziehungen  zwischen  den  durch  Wortzeichen 
festgelegten  Yorstellungsinhalten  erscheint  bei  Locke  unter  dem  Namen  des  lumen  naturale. 
Descartes  hatte  darunter  sowohl  die  intuitive  als  auch  die  demonstrative  Erkenntniss  verstanden, 
und  diese  gesammte  natürliche  Erkenntnissthätigkeit  der  Offenbarung  gegenübergestellt;  Locke, 
der  das  Intuitive  mit  tenninistischer  Reserve  behandelt  (vgl.  §  34, 1)  beschränkt  die  Bedeutung 
des  light  of  nature  auf  die  logischen  Operationen  und  das  Bevrusstsein  der  in  denselben  der 
Natur  des  Denkvermögens  nach  geltenden  Grundsätze.  —  2)  Essay  FV,  21,  4.  —  8)  Treat, 
on  the  princ.  5  ff.  — 


§  83.  Eingeborene  Ideen.    (Berkeley,  Hume.)  357 

Ideen  im  Geiste  selbst.  Der  Schein  derselben  entstehe  eben  durch  die  Wort- 
bezeichnungy  in  Wahrheit  aber  werde  auch  bei  einer  solchen  stets  nur  die  sinn- 
liche Vorstellung  oder  die  Gruppe  sinnlicher  Vorstellungen  gedacht,  welche  an- 
fanglich zu  jener  Bezeichnung  Anlass  gegeben  hat.  Jeder  Versuch,  das  Abstracte 
allein  zu  denken,  scheitert  an  der  Sinnesvorstellung,  welche  als  der  alleinige  In- 
halt der  geistigen  Thätigkeit  immer  bestehen  bleibt.  Denn  auch  die  erinnerten 
Vorstellungen  und  die  Theilvorstellungen,  die  sich  daraus  ablösen  lassen,  haben 
keinen  anderen  Inhalt  als  die  ursprünglichen  Sinneseindrücke,  weil  eine  Idee  nie 
etwas  anderes  abbilden  kann  als  eine  andere  Idee.  Abstracte  Begriffe  sind  also 
eine  Schulfiction;  in  der  wirklichen  Denkthätigkeit  bestehen  nur  sinnliche  Einzel- 
vorsteUungen ,  und  von  diesen  können  einige  wegen  der  Gleichheit  der  Sprach- 
bezeichnung auch  andere  ihnen  ähnliche  vertreten. 

David  Hume  machte  sich  diese  Lehre  in  voUem  Umfange  zu  eigen  und 
schob  auf  Grund  derselben  der  Locke'schen  Unterscheidung  äusserer  und  innerer 
Wahrnehmung  mit  veränderter  Terminologie  einen  anderen  Gegensatz,  den  des 
Urbildlichen  und  des  Abbildlichen,  unter.  Ein  Bewusstseinsinhalt  ist  entweder 
ursjprünglich  oder  die  Copie  eines  ursprünglichen,  ent  weder  einEindruck  (imp  res - 
sion)  oder  eine  Idee.  Alle  Ideen  also  sind  Abbilder  von  Impressionen ,  und 
es  giebt  keine  Idee,  die  anders  zu  Stande  gekommen  wäre,  als  durch  Copie  eines 
Eindrucks,  oder  die  einen  anderen  Inhalt  hätte,  als  den,  welchen  sie  dem  Ein- 
druck entnommen  hat.  Deshalb  erschien  es  als  die  Aufgabe  der  Philosophie, 
auch  für  die  scheinbar  abstractesten  Begriffe  das  Original  in  einer  Impression 
aufisusuchen  und  danach  den  Erkenntnisswerth  der  ersteren  zu  beurtheilen.  Frei- 
lich verstand  dann  Hume  unter  den  Impressionen  keineswegs  nur  die  Elemente 
der  äusseren ,  sondern  auch  diejenigen  der  inneren  Erfahrung.  Es  waren  also 
(nach  Lockens  Ausdrucksweise)  die  simple  ideas  aus  Sensation  und  reflexion, 
welche  er  für  Impressionen  erklärte,  und  der  weite  Blick  eines  grossen  Denkers 
behütete  ihn  vor  dem  Fall  in  beschränkten  SensuaUsmus. 

6.  Eine  andersartige  und  doch  zu  verwandtem  Ziel  führende  Umbildung 
vollzog  siqh  an  der  Hand  der  physiologischen  Psychologie.  Locke  hatte 
nur  die  Sensation  von  der  leiblichen  Sinnesthätigkeit  abhängig  gedacht,  ihre  Ver- 
arbeitung aber  in  den  der  Reflexion  unterliegenden  Functionen  als  eine  Leistung 
der  Seele  betrachtet;  und  wenn  er  auch  der  Frage  nach  der  immateriellen 
Substanz  auswich,  so  hatte  er  doch  die  im  engeren  Sinne  inteUectucllen  Thätig- 
keiten  durchaus  als  etwas  Unkörperliches  und  vom  Leibe  Unabhängiges  be- 
handelt. Dass  das  anders  wurde,  dass  man  den  physischen  Organismus  als 
den  Träger  nicht  nur  der  einfachen  Ideen,  sondern  auch  der  Verknüpfung 
von  solchen  zu  betrachten  anfing,  war  bei  der  unentschiedenen  Vieldeutigkeit 
der  Locke'schen  Lehren  leicht  möglich,  wurde  aber  noch  mehr  durch  einseitige 
Consequenzen  aus  cartesianischen  und  spinozistischen  Theorien  hervor- 
gerufen. 

Descartes  nämlich  hatte  das  gesammte  Seelenleben  des  Thieres  als  mecha- 
nischen Process  im  Nervensystem  behandelt,  das  menschliche  dagegen  der 
immateriellen  Substanz,  der  res  cogitans,  zugeschrieben.  Je  mehr  man  jetzt  im 
Gefolge  der  Locke'schen  Untersuchung  die  durchweg  sinnliche  Bestimmtheit  des 
menschlichen  Vorstellens  erkannt  zu  haben  meinte,  um  so  näher  lag  die  Frage, 
ob  es  sich  au^echt  erh^-ltep  lasse,  dp^s  dieselben  Vorgänge,  welche  beim  Thier 


358  V.  Philosophie  der  Aufklärung,   1.  Theoretische  Fragen.  / 


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als  Nervenprocess  begreiflich  erschienen,  beim  Menschen  auf  die  Activität  einer 
immateriellen  Seelensubstanz  zurückgefiihi-t  werden  sollten.  —  Von  einer  anderen 
Seite  her  wirkte  in  derselben  Richtung  Spinoza's  Parallelismus  der  Attribute 
(vgl.  oben  §  31,  9).  Nach  diesem  sollte  jedem  Vorgange  des  Seelenlebens  ein 
Vorgang  des  leiblichen  Lebens  en tspre  chen,  ohne  dass  (dem  Sinne  des  Philo- 
sophen selbst  nach)  einer  des  anderen  Ursache  oder  einer  das  Ursprüngliche,  der 
andere  das  Abgeleitete  bedeutete.  Dies  war  nun  zunächst  von  den  Gregnern  so- 
gleich als  Materialismus  und  dahin  aufgefasst  worden,  als  meine  Spinoza,  der 
Grundprocess  sei  der  leibhche  und  der  seelische  solle  nur  seine  Begleiterschei- 
nung bilden.  Aber  auch  bei  den  Anhängern,  zumal  bei  Aerzten  und  Natur- 
forschern, wie  dem  einflussreichen  Boerhave  in  Leyden,  schob  sich  an  der  Hand 
der  Erfahrungen  der  experimentellen  Physiologie,  die  sich  nach  Descartes'  An- 
regung viel  mit  Reflexbewegungen  beschäftigte,  bald  eine  stark  zum  Materialismus 
neigende  Vorstellungsweise  unter. 

Es  ist  interessant,  dass  die  Consequenzen  dieser  Gedankenverbindungen 
litterarisch  zuerst  in  Deutschland  hervorgetreten  sind.  Hier  lehrte  schon  1697 
ein  Arzt  Namens  Pancratius  Wolff  in  seinen  Cogitationes  medico-legales,  dass 
die  Gedanken  mechanische  Thätigkeiten  des  menschHchen  Leibes,  insbesondere 
des  Gehirns  seien,  und  im  Jahre  1713  erschien  der  anonyme  „Briefwechsel 
vom  Wesen  der  Seele"  *),  worin,  gedeckt  durch  fromme  Widerlegungen,  die 
Lehren  von  Bacon,  Descartes  und  Hobbes  zu  einem  anthropologischen  Materia- 
lismus fortgeführt  werden :  zwischen  dem  Seelenleben  des  Thiers  und  dem  des 
Menschen  wird  nur  ein  gradueller  Unterscliied  anerkannt,  Vorstellungen  und 
Willensthätigkeiten  werden  ausnahmslos  als  Functionen  der  erregten  Gehim- 
fasem  betrachtet  und  Uebung  und  Erziehung  als  die  Mittel  angegeben,  durch 
welche  die  höhere  Stellung  des  Menschen  eiTeicht  und  erhalten  werde. 

Vorsichtiger  ging  man  in  England  zu  wege.  In  der  Weise  wie  Locke  das 
Baconische  Programm  ausgeführt  hatte,  studirte  man  zunächst  den  inneren 
Mechanismus  der  Seelenthätigkeiten  und  die  Entwicklung  der  höheren  aus  den 
elementaren  Zuständen  nach  rein  psychologischer  Gesetzmässigkeit:  so  geschah 
es  von  Peter  Brown  auf  erkenntnisstheoretischem,  von  anderen  auf  dem  Gebiete 
der  Willensthätigkeiten.  In  derselben  Weise  verfuhr  auch  David  Hartley,  der 
für  die  zwischen  den  Elementen  auftretenden  Verknüpfungen  und  Beziehungen 
den  (schon  vorher  gebrauchten)  Ausdruck  Association^)  üblich  gemacht  hat. 
Er  wollte  diese  von  ihm  mit  aller  Sorgfalt  des  Naturforschers  analysirten  Ver- 
hältnisse lediglich  als  seelische  Vorgänge  auffassen  und  hielt  an  ihrer  völligen 
Unvergleichlichkeit  mit  den  materiellen  Vorgängen,  auch  mit  den  feinsten  Formen 
der  körperlichen  Bewegung  fest.  Aber  auch  er  war  Arzt,  und  der  Zusammen- 
hang des  Seelenlebens  mit  dem  Ablauf  der  Zustände  des  Leibes  war  ihm  so 
deutlich,  dass  er  die  stetige  Correspondenz  beider  und  das  Aufeinander- 
bezogensein  der  psychischen  Functionen  und  der  Nervenerregungen,  die  man 
damals  als  „Vibrationen"  bezeichnete*),  zum  Hauptgegenstande  seiner  Asso- 
ciationspsychologie  machte.    Dabei  hielt  er  die  qualitative  Difi'erenz  zwischen 


1)  Ueber  den  Alb.  Lange,  Gesch.  des  Materialismus  I  (2.  Aufl.)  319  S.  berichtet.  — 
2)  In  der  späteren,  namentlich  der  schottischen  Litteratur  und  insbesondere  bei  Thomas 
Brown  ist  der  Ausdruck  Association  vielfach  durch  Suggestion  ersetzt.  —  8)  Erasmus 
Darwin  führte  statt  dessen  den  Ausdruck  „Bewegungen  des  Sensoriums'*  ein,  -^ 


§  33.  Eingeborene  Ideen.    (Hartley,  Priestley,  Lamettrie,  Voltaire.)  369 

beiden  parallelen  Erscheinungsreihen  fest^  und  die  metaphysische  Frage  nach 
der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Substanz  liess  er  unentschieden:  aber  in  Bezug 
auf  die  Causalität  gerieth  er  unvermerkt  in  den  Materialismus^  indem  er  den 
Mechanismus  der  Nervenzustände  schliesshch  doch  als  das  primäre  Geschehen 
und  denjenigen  der  Seelenthätigkeiten  nur  als  dessen  Begleiterscheinung  auffasste. 
Einfachen  Nervenerregungen  entsprechen  einfache  Empfindungen  oder  Be- 
gierden,  zusammengesetzten  zusammengesetzte.  Freilich  verwickelte  ihn  diese 
wissenschaftliche  Theorie  in  schwere  Widersprüche  mit  seiner  fromm  gläubigen 
Ueberzeugung,  und  die  „Observations"  zeigen,  wie  ernst  und  objectiv  erfolglos  er 
zwischen  beiden  gerungen  hat.  Ganz  dasselbe  gilt  von  Priestley,  der  sogar  dem 
Materialismus  die  weitere  Concession  machte,  dass  er  die  Heterogenität  des 
seelischen  und  des  leiblichen  Vorganges  fallen  liess  und  die  Psychologie  voll- 
ständig durch  Nervenphysiologie  ersetzen  wollte,  deshalb  auch  den  von  den 
Schotten  vertheidigten  Standpunkt  der  inneren  Erfahrung  ganz  preisgab,  damit 
aber  doch  die  warm  vertretene  Ueberzeugung  eines  teleologischen  Deismus  ver- 
einigen wollte. 

In  der  schroffsten  Weise  ist  der  anthropologische  Materialismus  von  dem 
Franzosen  Lamettrie  ausgebildet  worden.  Durch  ärztliche  Beobachtungen  an 
sich  und  Anderen  von  der  völligen  Abhängigkeit  der  Seele  vom  Leibe  überzeugt, 
hat  er  —  den  Anregungen  Boerhave's  folgend  —  den  Mechanismus  des  Lebens 
bei  Thieren  und  Menschen  studirt,  und  Descartes'  Auffassung  der  ersteren 
scheint  ihm  auch  fär  die  letzteren  vöUig  zutreffend.  Der  nur  graduelle  Unter- 
schied zwischen  beiden  erlaubt  auch  für  die  menschlichen  Seelenthätigkeiten  keine 
andere  Erklärung  als  die,  dass  sie  mechanische  Functionen  des  Gehirns  sind. 
Deshalb  aber  ist  es  ein  Uebergriff  der  Metaphysik,  dem  „Geiste"  eine  eigene  Sub- 
stantilität  neben  der  Materie  zuzuschreiben.  Der  Begriff  der  Materie  als  des  an 
sich  todten  Körpers,  der  des  Geistes  als  bewegenden  Princips  bedürfe,  ist  eine 
willkürUche  und  falsche  Abstraction:  die  Erfahrung  zeigt,  dass  die  Materie  sich 
bewegt  und  lebt.  Das  hat,  sagt  Lamettrie,  gerade  Descartes'  Mechanik  bewiesen, 
und  deshalb  ist  ihre  unabweisbare  Consequenz  der  Materialismus.  Und  dass  alles 
seelische  Leben' nur  eine  der  Functionen  des  Leibes  ist,  ergiebt  sich  daraus,  dass 
sich  darin  kein  einziger  Inhalt  findet,  der  nicht  aus  der  Erregung  irgend  eines 
Sinnes  herstammte.  Dächte  man  sich  —  so  schreibt  Lamettrie  ^)  zur  Begründung 
seines  aus  Locke  entwickelten  Sensualismus  — ,  wie  es  schon  der  Kirchenvater 
Arnobius  vorschlug,  den  Menschen  von  seiner  Geburt  an  von  allem  Zusammen- 
hange mit  seines  Gleichen  ausgeschlossen  und  auf  die  Erfahrung  weniger  Sinne 
beschränkt,  so  würde  man  in  ihm  keine  anderen  Vorstellungsinhalte  als  die  ihm 
durch  eben  diese  Sinne  zugefiihrten  finden. 

6.  Principiell  weniger  belangreich,  aber  litterarisch  um  so  ausgebreiteter 
waren  die  übrigen  Umbildungen,  welche  Locke's  Lehre  in  Frankreich  erfuhr. 
Schon  Voltaire,  der  sie  durch  seine  Lettres  sur  les  Anglaisbei  seinen  Landsleuten 
heimisch  machte,  gab  ihr  ein  durchaus  sensualistisches  Gepräge  und  zeigte  sich 
sogar  —  obschon  mit  skeptischer  Reserve  —  nicht  abgeneigt,  dem  Schöpfer  die 
Macht  zuzutrauen,  dass  er  das  Ich,  welches  Körper  ist,  auch  mit  der  Fähigkeit 
ausstattete,  zu  denken.    Dieser  skeptische  Sensualismus  ist  zum  Grundton  der 

J)  Am  SchluBS  der  Histoire  naturelle  de  Väme.  Vgl.  übrigens  oben  S.  176  Anm.  3. 


360  V'  Philosophie  der  Aufklärung,    l.  Theoretische  Fragen. 

französischen  Aufklärung  geworden*).  Zu  ilim  bekannte  sich  Condillac,  der 
Anfangs  nur  Lockens  Lehre  dargestellt  und  anderen  Systemen  gegenüber  ver- 
theidigt  hatte,  in  seinem  einflussreichen  Traite  des  sensations.  Was  auch  die 
Seele  sein  mag,  der  Inhalt  ihrer  Bewusstseinsthätigkeiten  stammt  allein  aus  der 
Sinneswahrnehmung.  Condillac  entwickelt  die  associationspsychologische  Theorie  an 
der  Fiction  der  Bildsäule,  welche,  nur  mit  Empfindungsfähigkeit  ausgerüstet,  hinter 
einander  die  Erregungen  der  verschiedenen  Sinne  zugeführt  erhält  und  dadurch 
allmähUch  ein  menschenähnliches  intellectuelles  Leben  entfaltet.  Dabei  ist  die 
Grund  Vorstellung  die,  dass  das  blosse  Beieinandersein  verschiedener  Empfindungen 
in  demselben  Bewusstsein  von  selbst  die  Empfindung  des  Verhältnisses 
und  der  Beziehung  derselben  mit  sich  bringt.  Nach  diesem  Princip  wird  ge- 
schildert, wie  sich  aus  der  Wahrnehmung  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  seelischen 
Thätigkeiten  entfalte:  in  der  theoretischen  Reihe  erwachsen  vermöge  der 
Verschiedenheiten  hinsichtlich  der  Intensität  und  der  Wiederholung  der  Em- 
pfindungen nacheinander  Aufmerksamkeit,  recognoscirende  Erinnerung,  Unter- 
scheidung, Vergleichung,  Urtheil,  Schluss,  Einbildung  und  Erwartung  des 
Zukünftigen,  endlich  mit  Hilfe  der  Zeichen,  besonders  der  sprachlichen,  die  Ab- 
straction  und  die  Fassung  allgemeiner  Sätze.  Aber  die  Wahrnehmung  hat  neben 
der  Empfindung  auch  noch  das  Gefühlsmoment  der  Lust  und  Unlust,  und  aus 
diesem  entwickelt  sich  an  der  Hand  der  Vorstellungsbewegung  Begierde,  Liebe 
und  Hass,  Hoffnung,  Furcht^)  und  durch  alle  solche  Wandlungen  des  praktischen 
Bewusstseins  hindurch  schliesslich  der  moraUsche  Wille.  So  wachsen  Erkenntniss 
und  Sittlichkeit  auf  dem  Boden  der  Sinnlichkeit. 

Dieser  systematische  Aufbau  hatte  einen  grossen  Erfolg.  Der  Systemtrieb, 
welcher  auf  dem  metaphysischen  Gebiete  zurückgedrängt  war  (vgl.  §  34,  7)  warf 
sich  zum  Ersatz  mit  desto  grösserer  Energie  auf  diese  „Analyse  des  mensch- 
lichen Geistes",  und  wie  schon  Condillac  selbst  manche  feine  Beobachtungen 
in  die  Darstellung  des  Entwicklungsprocesses  verwoben  hatte,  so  fand  eine  ganze 
Schaar  von  Anhängern  Gelegenheit,  durch  kleine  Aenderungen  und  Ver- 
schiebungen der  Phasen,  durch  Neuerungen  in  der  Nomenklatur  und  durch  mehr 
oder  minder  gehaltreiche  Ausführungen  sich  an  der  Vervollständigung  dieses 
Gebäudes  zu  betheiligen.  Die  Regierung  der  Revolution  erkannte  nur  dies 
Studium  der  empirischen  Entwicklung  der  InteUigenz  als  Philosophie  an,  und 
Destutt  de  Tracy  gab  demselben  später  den  Namen  „Ideologie"  ^).  So  kam 
es,  dass  man  in  Frankreich  am  Anfang  unseres  Jahrhunderts  die  Philosophen 
meist  Ideologen  nannte. 

7.  Hinsichtlich  des  Seelenwesens ,  in  welchem  sich  diese  Umbildungen  des 
Empfindens  (sentir)  abspielen  sollten,  blieb  ein  grosser  Theil  der  Ideologen  bei 
Condillac's  positivistischer  Zurückhaltung;  andere  gingen  von  Voltaire's  proble- 


1)  Derselbe  macht  sich  auch  in  den  Anfängen  der  ästhetischen  Kritik  in  Gestalt  des 
Princips  geltend,  dass  das  Wesen  ajlcr  Kunst  in  der  „Nachahmung;  der  schönen  Natur**  be- 
stünde. Der  Typus  dieser  Auffassung  ist  E.  Batteux  (1713 — 1 780)  mit  seiner  Schrift  Les  beaux 
arts  reduits  k  un  meme  principe  (1746).  —  2)  In  der  Entwicklung  der  praktischen  Reihe  des 
Bewusstseins  machte  sich  bei  Condülac  und  seinen  Schülern,  wie  zum  Theil  auch  bei  den  eng- 
lischen Associationspsychologen  der  Einfluss  von  Descartes'  und  Spinoza's  Theorie  der  Affecte 
und  Leidenschaften  geltend.  —  3)  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  diese  Namengebung  bei 
de  Tracy  ein  Seitenstück  zu  Ficbte's  „Wissenschaftslehre"  (vgl.  unten  Thl.  V[,  Kap.  2) 
sein  soUte, 


§  38.  Eingeborene  Ideen.    (Ideologie.)  361 

matischem  zu  Lamettrie's  assertorischem  Materialismus  mit,  —  erst  in  der  Weise 
Hartley's  mit  Betonung  der  durchgängigen  Abhängigkeit  der  Ideenverbindungen 
von  Nervenbewegungen,  dann  mit  ausdrücklicher  Behauptung  der  Materialität 
der  Seelenthätigkeiten.  Am  deutlichsten  ist  diese  Entwicklung  bei  Diderot 
zu  sehen.  Von  Shaftesbury  und  Locke  ging  er  aus,  aber  die  sensualistische 
Litteratur  wurde  in  dem  Herausgeber  der  Encyclopädie  von  Schritt  zu  Schritt 
mächtiger;  er  verfolgte  *)  die  Hypothesen  des  Hylozoismus  (vgl.  unten  §  34, 9)  und 
schliesslich  betheiligte  er  sich  an  der  Abfassung  des  Systeme  de  la  nature. 
Das  letztere  stellte  in  dem  Rahmen  seiner  Metaphysik  auch  die  menschlichen 
Seelenthätigkeiten  als  die  feinen  unsichtbaren  Bewegungen  der  Nerven  dar  und 
behandelte  ihren  genetischen  Process  gerade  so  wie  Lamettrie.  Unter  den  späteren 
Ideologen  ragt  in  dieser  Hinsicht  durch  Neuheit  des  physiologischen  Gesichts- 
punktes Cabanis  hervor;  er  trägt  den  Fortschritten  der  Naturwissenschaft  in- 
sofern Rechnung,  als  er  die  Zustände  der  Nerven,  auf  welche  die  Seelenzustände 
(le  moral)  des  Menschen  zurückgeführt  werden  müssen,  nicht  mehr  bloss  in 
mechanischen  Bewegungen,  sondern  in  chemischen  Veränderungen  sucht. 
Das  Vorstellen  ist  das  Sekret  des  Gehirns  ebenso  wie  andere  Organe  andere 
Sekrete  liefern. 

Im  Gegensatz  dazu  hielt  eine  andere  Richtung  der  Ideologie  an  dem  Locke'- 
schen  Princip  fest,  dass  zwar  aller  Inhalt  des  Vorstellens  aus  den  Sinnen  stamme, 
dass  aber  in  den  auf  die  Verknüpfung  gerichteten  Functionen  die  Eigenart  des 
Seelenwesens  sich  bethätige.  Der  Führer  dieser  Richtung  ist  Bonn  et.  Auch 
er  macht  sich  die  von  Lamettrie  mit  Verweis  auf  Arnobius  empfohlene  Be- 
trachtung ähnlich  wie  Condillac  zu  eigen,  aber  er  ist  ein  viel  zu  klar  geschulter 
Naturforscher,  um  zu  verkennen,  dass  die  Empfindung  sich  niemals  in  Bewegungs- 
elemente auflösen  lässt,  dass  ihr  Verhältniss  zu  den  physischen  Zuständen  syn- 
thetisch, aber  nicht  analytisch  ist.  Daher  sieht  er  in  dem  Mechanismus  des 
Nervensystems  nur  die  causa  occasionalis  für  die  selbstthätige  Reaction  der 
Seele,  deren  Substantialität  ihm  durch  die  Einheit  des  Bewusstseins  be- 
wiesen erscheint.  Er  verbindet  mit  dieser  Ansicht  allerlei  phantastische  Hypo- 
thesen^). Religiöse  Vorstellungen  sprechen  beiihm  in  der  Annahme  derimmateriellen 
Seelensubstanz  mit  •,  aber  der  Sensualismus  lässt  eine  Thätigkeit  dieser  Substanz 
nur  in  Verbindung  mit  einem  Leibe  zu ;  deshalb  hilft  sich  Bonnet  zur  Erklärung 
der  Unsterblichkeit  und  der  ununterbrochenen  Thätigkeit  der  Seele  durch  die 
Hypothese  eines  ätherischen  Leibes,  der  mit  der  Seele  wesentUch  verbunden  sei 
und  sich  je  nach  ihrem  Aufenthalte  einen  gröberen  materiellen  Aussenorganis- 
mus  gestalte. 

Diese  Vereinigung  des  Sensualismus  mit  der  Behauptung  selbständiger 
Substantialität  und  Reactionsfahigkeit  der  Seele  ist  auf  Bonnet^s  Landsmann 
Rousseau  übergegangen,  der  damit  die  psychologischen  Theorien  der  Encyclo- 
pädisten  bekämpfte.  Er  fand,  dass  diese  Eigenheit  der  Seele,  die  Einheitlichkeit 
ihrer  Function  sich  im  G  ef  ühl  (sentiment)  bethätige  und  spielte  diese  ursprüng- 
liche Natürlichkeit  ihres  Wesens  gegen  den  kalten  und  gleichgiltigen  Mecha- 
nismus der  Ideen  aus,  welcher  sie  zur  unbedingten  Abhängigkeit  von  der  Aussen- 


1)  Die  entscheidende  Uebergangsschrift  ist  der  „Traum  d'Alembert's".  —  2)  In  den 
Paliugeuesies  philusophiques. 


362  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen, 

weit  erniedrige.  Das  Gefühl  der  Individualität  empörte  sich  bei  ihm  gegen 
eine  Lehre,  nach  der  sich  im  Bewusstsein  des  Menschen  nur  eine  zufallig  zu- 
sammenkommende Masse  fremder  Inhalte  wie  auf  einem  indifferenten  Schauplatze 
abspielen,  vereinigen  und  wieder  trennen  sollte.  Er  wollte  zum  Ausdruck  bringen, 
dass  das  geistige  Leben  nicht  nur  in  uns  geschieht,  sondern  dass  wir  selbst  dabei 
sind  als  die  thätig  bestimmenden  Persönlichkeiten.  Diese  üeberzeugung  dictirte 
Rousseau's  Gegensatz  gegen  die  verstandesmässige  Aufklärung,  welche  in  dem 
Sensualismus  Condillac's  und  der  Encyclopädisten  das  Innenleben  des  Menschen 
nur  als  ein  mechanisches  Product  der  von  aussen  erregten  Empfindungselemente 
betrachten  wollte:  dem  psychologischen  Atomismus  hält  Rousseau  äas  Princip  der 
Monadologie  entgegen. 

In  derselben  Weise,  und  den  Argumenten  nach  wohl  nicht  ohne  Einfluss 
von  Rousseau  hat  St.  Martin  seine  Stimme  gegen  den  herrschenden  Condil- 
lacismus  erhoben :  er  trat  sogar  aus  seiner  mystischen  Vereinsiedelung  heraus, 
um  in  den  Sitzungen  der  Ecoles  normales  ^)  gegen  die  Oberflächlichkeit  des  Sen- 
sualismus zu  protestiren.  Die  Ideologen,  sagt  er,  reden  so  viel  von  der 
menschlichen  Natur:  aber  statt  sie  zu  beobachten,  mühen  sie  sich,  sie  „zu- 
sammenzusetzen" (composer). 

8,  Die  psychologischen  Gegner  des  Sensualismus  in  allen  seinen  Formen 
sinddie  schottischen  Philosophen.  Der  gemeinsame  Boden,  aufdem  sich  dieser 
Contrast  entwickelte,  ist  der  Psychologismus.  Denn  auch  Reid  und  seine  Schüler 
suchen  die  Aufgabe  der  Philosophie  in  der  Untersuchung  des  Menschen  und 
seiner  geistigen  Fähigkeiten;  ja  sie  haben  den  methodischen  Gesichtspimkt,  dass 
alle  Philosophie  empirische  Psychologie  sein  müsse,  noch  viel  energischer  und 
einseitiger  bestimmt,  als  die  verschiedenen  Schulen  ihrer  Gegner.  Aber  ihre  An- 
sicht von  der  menschlichen  Seelenthätigkeit  und  deren  Entwicklung  ist  diametral 
von  derjenigen  der  Sensualisten  verschieden.  Diese  halten  das  Einfache,  jene 
das  Zusammengesetzte,  diese  die  Einzelvorstellungen,  jene  die  Urtheile,  diese 
das  Sinnliche,  jene  das  Innerliche,  diese  das  Einzelne,  jene  das  Allgemeine  für 
den  ursprünglichen  Inhalt  der  Seelenthätigkeit.  Reid  erkennt  an,  dass  Berke- 
ley's  Idealismus  und  Hume's  Skepticismus  ebenso  correcte  Folgerungen  aus  dem 
Locke'schen  Princip  seien  wie  Hartley's  Materialismus:  aber  gerade  die  Absiir- 
dität  dieser  Consequenzen  widerlege  jenes  Princip. 

Im  Gegensatz  dazu  will  nun  Reid  die  baconische  Methode  der  Induction 
auf  die  Thatsachen  der  inneren  "Wahrnehmung  anwenden,  um  durch  deren  Ana- 
lyse zu  den  ursprünglichen  Wahrheiten  zu  gelangen,  welche  mit  dem  Wesen 
der  menschlichen  Seele  von  vornherein  gegeben  sind  und  sich  in  der  Entwicklung 
ihrer  Thätigkeiten  als  die  bestimmenden  Grundsätze  geltend  machen,  und  so 
soll  mit  Ablehnung  jeder  Hilfe  der  Physiologie  die  psychologische  Grundwissen- 
schaft als  eine  Ai-t  Naturforschung  der  inneren  Beobachtung  ausgebildet  werden. 
Bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  hat  Reid  selbst  und  nach  ihm  besonders  Dugald 
Stewart  eine  bedeutende  Umsicht  in  der  Auffassung  innerer  Vorgänge  und 
eine  grosse  Feinheit  in  der  Analyse  ihres  wesentlichen  Inhalts  entwickelt:  eine 
Fülle  werthvoller  Beobachtungen  über  die  genetischen  Processe  des  Seelenlebens 
steckt  in  ihren  weitschichtigen  Untersuchungen.   Und  doch  fehlt  es  diesen  an 


1)  Seances  des  ec.  norm,  ni,  61  ff. 


§  33.  Eingeborene  Ideen.    (Wolff,  Lambert.)  363 

ideeller  Fruchtbarkeit  ebenso  wie  an  energisch  zusammenfassender  Beweiskraft. 
Denn  sie  vermischen  überall  den  Nachweis  dessen,  was  in  den  seelischen  Func- 
tionen als  allgemeingiltiger  Inhalt  aufgefunden  werden  kann,  mit  der  Voraus- 
setzung, dass  dies  auch  genetisch  das  Ursprüngliche  und  Bestimmende  sei:  und 
da  diese  Philosophie  kein  anderes  Princip  als  das  der  psychologischen  Thatsäch- 
lichkeit  hat,  so  gilt  ihr  kritiklos  alles,  was  sich  in  dieser  Weise  als  wirklicher 
Inhalt  der  Seelenthätigkeit  nachweisen  lässt,  alsselbstverständlicheWahr- 
heit.  Die  Gesammtheit  dieser  Grundsätze  wird  als  common  sense,  als  ge- 
sunder Menschenverstand  bezeichnet  und  soll  als  solcher  die  oberste  Richtschnur 
für  alle  philosophische  Erkenntniss  bilden. 

9«  In  der  deutschen  Auf  klärungsphilosophie  mischen  sich  alle  diese  Rich- 
tungen mit  den  Nachwirkxmgen  des  cartesianischen  und  Leibniz'schen  Ratio- 
nalismus. Die  methodische  Doppelrichtung  des  letzteren  hatte  durch  Christian 
Wolff  eine  feste,  systematische  Gestalt  angenommen.  Alle  Gegenstände  sollten 
nach  ihm  sowohl  unter  dem  Gesichtspunkt  der  ewigen  Wahrheiten  als  auch  unter 
dem  der  zufalligen  Wahrheiten  betrachtet  werden;  für  jedes  Gebiet  der  Wirklich- 
keit gab  es  eine  Erkenntniss  durch  Begriffe  und  eine  andere  durch  Thatsachen, 
eine  apriorische  Wissenschaft  aus  dem  Verstände  und  eine  aposteriorische  Wissen- 
schaft aus  der  Wahrnehmung.  Dabei  soUten  beide  im  Resultat  derartig  zusammen- 
kommen, dass  z.  B.  die  empirische  Psychologie  die  Thatsächlichkeit  aller  der- 
jenigen Thätigkeiten  erweisen  musste,  welche  in  der  rationalen  Psychologie  aus 
dem  metaphysischen  Begriff  der  Seele  und  deren  daraus  sich  ergebenden  „Ver- 
mögen" abgeleitet  wurden.  Andrerseits  wurde  dabei  nach  Leibniz'ens  Vorgange 
der  Werthimterschied  beider  Erkenntnissweisen  insofern  festgehalten,  als  nur 
das  Verstandeswissen  als  klare  und  deutliche  Einsicht,  die  empirische  (oder 
wie  man  damals  sagte  historische)  Kenntniss  dagegen  als  eine  mehr  oder  minder 
dunkle  und  verworrene  Vorstellung  der  Sachen  galt. 

Psychologisch  vertheilten  sich  die  beiden  Erkenntnissarten  nach  cartesia- 
nischem  Muster  auf  die  ideae  innatae  und  die  ideae  adventitiae.  Doch  legte 
Wolff  selbst,  der  metaphysischen  Richtung  seines  Denkens  gemäss,  auf  das  gene- 
tische Moment  wenig  Gewicht.  Um  so  mehr  war  das  bei  seinen  Anhängern  und 
seinen  Gegnern  der  Fall,  die  schon  unter  demEinfluss  der  französischen  und  der 
englischen  Theorien  standen.  Dabei  war  der  Gang  der  Entwicklung  im  Allgemeinen 
der,  dass  die  Bedeutung,  welche  Leibniz  und  Wolff  dem  Empirismus  eingeräumt 
hatten,  durch  das  Eindringen  der  Locke'schen  Principien  immer  mehr  erweitert 
wurde.  Die  psychologische. Methode  überwucherte  Schritt  für  Schritt  die  meta- 
physisch-ontologische,  und  innerhalb  der  psychologischen  Methode  wurden  dem 
Sensualismus  derartig  wachsende  Concessionen  gemacht ,  dass  schliesslich  nicht 
nur  ernste  Männer  der  Wissenschaft  wie  Rüdiger  und  Lossius,  sondern  nament- 
lich auch  ein  grosser  Theil  der  Popularphilosophen  vollständig  die  Lehre  vertraten, 
alle  menschlichen  Vorstellungen  stammten  aus  der  Sinneswahrnehmung.  Das 
bunte  Durcheinander  der  Abstufungen ,  in  denen  sich  dieser  Process  vollzog, 
hat  nur  litterarhistorisches  Interesse*),  weil  dabei  keine  neuen  Argumente  zu 
Tage  traten. 

Nur  Einer  unter  diesen  Männern  brachte  den  psychologisch-erkenntniss- 


1)  Vgl.  W.  WiNDELBAND,  Gesch.  d.  neueren  Phüosophie  I,  §  53—  55. 


304  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   L  Theoretische  Fragen. 

theoretischen  Dualismus,  der  in  der  deutschen  Philosophie  der  Aufklärung 
herrschte,  auf  eine  originelle  und  fruchtbare  Wendung.  Heinrich  Lambert,  der 
völlig  auf  der  Höhe  der  Naturforschung  seiner  Zeit  stand,  war  dem  Yerständniss 
der  mathematiscli-logischen  Methode  ebenso  gewachsen  wie  der  Einsicht  in  den 
Werth  der  Erfahrung:  und  indem  er  die  psychologische  Bedeutung  dieser  beiden 
Elemente  des  Wissens  gegen  einander  abzugrenzen  versuchte,  disponirte  er  in 
der  Phänomenologie  seines  „Neuen  Organen"  die  für  die  Erkenntniss  der  Wirk- 
lichkeit erforderliche  Mischung  apriorischer  und  aposteriorischer  Bestandtheile 
in  einer  Weise,  welche  zur  Unterscheidung  von  Form  und  Inhalt  des  Vor- 
stellens  führte.  Die  inhaltlichen  Elemente  des  Denkens,  lehrte  er,  können  nur 
durch  die  Wahrnehmung  gegeben  werden:  aber  ihre  Verbindungsweise,  die  Form 
der  Beziehung,  welche  zwischen  ihnen  gedacht  wird,  ist  nicht  von  aussen  gegeben, 
sondern  eine  eigene  Thätigkeit  der  Seele.  Diese  Unterscheidung  konnte  aus  Locke's 
vieldeutiger  Darstellung  herausgelesen  werden  *):  aber  Niemand  hatte  sie  so  scharf 
und  präcis  unter  diesem  Gesichtspunkte  aufgefasst  wie  Lambert.  Und  dabei  war 
dieser  Gesichtspunkt  von  grosser  Tragweite  für  die  genetische  Betrachtung  der 
menschlichen  Vorstellungswelt.  Aus  ihm  folgte,  dass  weder  aus  der  blossen  Form 
der  Inhalt  noch  aus  dem  Inhalt  die  Form  der  Erkenntniss  abgeleitet  werden  konnte. 
Das  erste  widerlegte  den  logischen  Rationalismus,  mit  dem  Wolff  aus  den  all- 
gemeinsten Sätzen  der  Logik  und  zuletzt  aus  dem  einen  Satze  des  Widerspruchs 
die  ganze  Ontologie  und  Metaphysik  herausspinnen  wollte,  das  andere  entzog 
dem  Sensualismus  den  Boden,  der  mit  den  Inhalten  der  Wahrnehmung  auch  die 
Erkenntniss  ihrer  Verhältnisse  unmittelbar  gegeben  meinte.  Hieraus  erwuchs 
nun  für  die  „Verbesserung  der  Metaphysik"  die  Aufgabe,  diese  Beziehungsformen 
aus  dem  Gesammtbestande  der  Erfahrung  rein  herauszulösen  und  ihr  Verhält- 
niss  zu  dem  Inhalte  klarzulegen.  Dafür  aber  suchte  Lambert  vergebens  nach  einem 
einheitlichen  Principe),  und  seine  „Architektonik"  begnügte  sich  schliesslich 
mit  einer  äusserlichen  Zusammenraffung  derselben. 

10.  Während  alle  diese  Ansichten  über  den  Ursprung  der  menschlichen 
Vorstellungen  sich  auf  dem  litterarischen  Markte  tummelten,  war  das  versöhnende 
Wort  über  das  Problem  der  eingeborenen  Ideen  längst  gesprochen,  harrte  aberin 
einem  Manuskripte  auf  der  Hannoverischen  Bibliothek  der  mächtigen  Wirkung, 
welche  seine  Veröffientlichung  haben  sollte.  Leibniz  hatte  in  seinen  „Nouveaux 
essais"  die  Locke'sche  Ideologie  Schritt  für  Schritt  mit  einem  kritischen  Commen- 
tar  versehen  und  darin  die  tiefsten  Gedanken  seiner  Philosophie  und  die  feinsten 
Folgerungen  seiner  Monadologie  niedergelegt. 

Unter  den  Argumenten,  mit  denen  Locke  das  Eingeborensein  der  Ideen 
bestritt,  war  auch  dasjenige  gewesen,  womit  er  behauptete,  es  könne  nichts  in 
der  Seele  sein,  wovon  dieselbe  nichts  wisse.  Dies  Princip  war  von  ihm*)  auch 
nach  der  Seite  hin  ausgesprochen  worden,  dass  die  Seele  nicht  immer  denke. 
Damit  war  die  cartesianische  Definition  der  Seele  als  einer  res  cogitans  in  Frage 
gestellt:  denn  das  wesentliche  Merkmal  einer  Substanz  dai'f  derselben  in  keinem 
Momente  abgesprochen  werden.   In  diesem  Sinne  war  die  Frage  zwischen  den 


1)  Vgl.  den  Nachweis  bei  G.  Hartenstbin,  Locke's  Lehre  von  der  menschlichen  Er- 
kenntniss in  Vergleichung  mit  Leibniz'  Kritik  derselben  (Leipzig  1861,  Abhandl.  d.  sÄchs.  Ges. 
d.  Wissensch.).  —  2)  Man  sieht  dies  am  besten  in  seiner  interessanten  Corrcspondenz  mit  Kant 
(gedr.  bei  den  Werken  des  letzteren),  -r-r  ^)  Essay  II,  1,  10  f. 


§  33.  Eingeborene  Ideen.  (Leibniz.)  365 

Schtilen  mehrfach  verhandelt  worden. '  Leibniz  aber  war  durch  seine  Monadologie 
in  eine  eigenthümliche  Zwischenstellung  gewiesen.  Da  ihm  die  Seele,  wie  jede 
Monade;  eine  „Torstellencle^  Kraft  war;  so  musste  sie  in  jedem  Momente  Vor- 
stellungen (perceptions)  haben:  da  aber  alle  Monaden,  auch  diejenigen ;  welche 
die  Materie  constituireU;  Seelen  sind^  so  können  diese  Vorstellungen  unmöghch 
alle  klar  und  deutlich  sein.  Die  Lösung  des  Problems  hegt  also  wieder  in  dem 
Begriffe  der  unbewussten  Vorstellungen  oder  petites  perceptions 
(vgl.  oben  §  31).  Die  Seele  hat  (wie  jede  Monade)  immer  Vorstellungen,  aber 
nicht  immer  bewusste,  nicht  inmier  klare  und  deutUche  Vorstellungen:  allein  ihr 
Leben  besteht  in  der  Entwicklung  der  unbewussten  zu  bewussten,  der  dunklen 
und  verworrenen  zu  klaren  und  deutlichen  Vorstellungen. 

Li  dieser  Hinsicht  fuhi*te  nun  Leibniz  einen  äusserst  bedeutsamen  Begriff 
in  die  Psychologie  und  Erkenntnisstheorie  ein.  Er  unterschied  zwischen  den 
Zuständen;  in  welchen  die  Seele  Vorstellungen  nur  hat;  und  solchen;  in  denen 
sie  sich  derselben  bewusst  ist*).  Die  ersteren  bezeichnete  er  als  perceptiou; 
die  letzteren  als  apperception').  Er  verstand  also  unter  Apperception  den 
Vorgang;  durch  welchen  unbewusste ,  dunkle  und  verworrene  Vorstellungen  in 
das  klare  und  deuthche  Bewusstsein  erhoben;  damit  aber  von  der  Seele  als  ihre 
eignen  erkannt  und  vom  Selbstbewusstsein  angeeignet  werden.  Der 
genetische  Process  des  Seelenlebens  besteht  in  der  Verwandlungunbewusster 
in  bewusste  Vorstellungen,  in  der  Au&ahme  der  Perceptionen  in  die  Klar- 
heit und  Deutlichkeit  des  Selbstbewusstseins.  Im  Lichte  der  Monadologie  nahm 
Leibniz'  methodologische  Ansicht  von  den  empirischen  oder  zufalligen  Wahr- 
heiten (vgl.  §  30,  7)  eine  eigenthümhche  Färbung  an.  Die  Fensterlosigkeit  der 
Monaden  verbietet,  die  Wahrnehmung  metaphysisch  als  Wirkung  der  Dinge 
auf  die  Seele  aufzufassen'):  die  Sinnesvorstellungen  müssen  vielmehr  als  Thätig- 
keiten  gedacht  werden,  welche  die  Seele  vermöge  der  prästabilirten  Harmonie 
in  dunkler  und  verworrener  Weise  (als  petites  perceptions)  entwickelt,  und  die 
Umbildung;  die  an  ihnen  stattfindet;  kann  nur  als  Verdeutlichung  und  Aufklärung; 
als  Aufnahme  in  das  Selbstbewusstsein;  als  Apperception  betrachtet  werden. 

Sinnlichkeit  und  Verstand;  deren  Unterschied  bei  Leibniz  mit  den 
verschiedenen  Oraden  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  zusammenfiel;  haben  daher 
nach  ihm  denselben  Inhalt;  nur  dass  in  der  ersteren  dunkel  und  verworren  vor- 
gestellt ist,  was  der  andere  klar  und  deutlich  besitzt.  In  die  Seele  kommt  Nichts 
von  aussen  hinein,  sondern  was  sie  bewusst  vorstellt;  ist  schon  vorher  unbewusst 
in  ihr  enthalten  gewesen:  und  andrerseits  kann  die  Seele  nichts  in  ihren  bewussten 
Vorstellungen  hervorbringen,  was  nicht  von  vornherein  in  ihr  gewesen  ist.  Daher 
muss  Leibniz  dahin  entscheiden;  dass  in  gewissem  Sinne,  nämlich  unbewusst;  alle 
Vorstellungen  eingeboren  sind;  und  dass  in  anderem  Sinne,  nämlich  bewusst,  der 
menschhchen  Seele  keine  Vorstellung  eingeboren  ist.  Er  bezeichnet  dies  in  den 
Principien  der  Monadologie  vorgezeichnete  Verhältniss  mit  dem  Namen  des  vir- 
tuellen Eingeborenseins  der  Ideen. 

Die  Nouveaux  essais  fuhren  diesen  Gedanken,  der  als  der  leitende  Gesichts- 
punkt gleich  im  Anfang  behandelt  wird;  besonders  hinsichtlich  der  allgemeinen 

1)  Diese  deutschen  Ausdrücke  nach  Kant,  Anthropologie  §  5.  —  2)  Frinc.  de  la  nat.  et 
de  la  fiTace,  4,  wo  die  Verwandtschaft  mit  der  Locke^schen  „Reflection"  stark  hervortritt;  Nouv. 
Ess.  n,  9,  4.  -  3)  N.  E.  IV,  4,  5.  — 


f 


3ß6  V.  Philosophie  der  AufkläruDg.   1.  Theoretische  Fragen. 

oder  ewigen  Wahrheiten  aus.  Das  war  ja  die  brennende  Frage:  hier  behaup- 
teten die  Einen  (die  Neuplatoniker  und  zum  Theil  die  Cartesianer),  sie  seien 
„aktuell",  als  „fertige"  Wahrheiten  eingeboren;  die  anderen  (Hobbes  und  zum 
Theil  Locke)  wollten  sie  aus  der  Zusammenwirkung  von  Empfindungselementen 
erklären.  Leibniz  aber  fuhrt  auS;  dass  solche  Sätze  bereits  in  der  Wahr- 
nehmung, als  petites  perceptions,  nämlich  als  die  unwillkürlichen  For- 
men des  beziehenden  Denkens  enthalten  sind,  dass  sie  aber  nach  dieser 
unbewussten  Anwendung  appercipirt,  d.  h.  zu  klarer  und  deutlicher  Vorstellung 
erhoben  und  so  an  der  Hand  der  Erfahrung  erkannt  werden.  Schon  in  der  sinn- 
lichen Vorstellung  steckt  unklar  und  verworren  die  Thätigkeitsform  der  Seele, 
welche  nachher  als  allgemeiner  Grundsatz,  als  ewige  Wahrheit  zur  Klarheit  und 
Deutlichkeit  der  Verstandesauffassung  gebracht  wird.  Wenn  daher  Locke  sich 
den  scholastischen  Satz  angeeignet  hatte  Nihil  est  intellectu  quod  non  fuerit  in 
sensu,  so  fügt  Leibniz  hinzu  nisi  intellectus  ipse^). 

11.  Als  die  Nouveaux  essais  1765  gedruckt  wurden,  erregten  sie  grosses 
Aufsehen :  Lessing  war  daran,  sie  zu  übersetzen.  Dass  das  Leben  der  Seele  weit 
über  alles  klar  und  deutlich  Bewusste  hinaus  in  dunkel  geahnten  Tiefen  wurzle, 
war  für  die  Litteratur,  die  eben  aus  aufklärerischer  Verstandestrockenheit  und 
schaler  Begelrechtigkeit  zu  genialer  Entfaltung  aufrang,  eine  Einsicht  von  höch- 
stem Werthe,  und  um  so  werthvoUer,  wenn  sie  von  demselben  Denker  herrührte, 
den  Deutschland  als  den  Vater  und  den  Heros  seiner  Aufklärung  verehrte.  In 
dieser  Richtung  hat  Leibniz  auch  namentlich  auf  Herder  gewirkt :  man  sieht 
das  nicht  nur  in  seinen  ästhetischen  Anschauungen  ^),  sondern  mehr  noch  in  der 
Preisschrift  vom  Erkennen  und  EmpiSnden  der  menschlichen  Seele. 

Unter  dem  Vorwiegen  des  methodologischen  Gesichtspunktes  hatte  die 
Leibniz- Wolff'sche  Schule  den  Gegensatz  zwischen  rationaler  und  empirischer  Er- 
kenritniss  so  weit  als  möglich  ausgespannt  und  Verstand  und  Sinnlichkeit  als  zwei 
verschiedene  „Vermögen"  behandelt.  Das  Verhältniss  dieser  beiden  getrennten 
Kräfte  zu  einander  und  den  Antheil  einer  jeden  von  beiden  am  menschlichen 
Wissen  hatte  die  Berliner  Akademie  untersucht  sehen  wollen :  Herder  spielte 
den  wahren  Leibniz,  wie  er  sich  in  den  Nouveaux  essais  entwickelt  hatte,  gegen 
das  herrschende  Schulsystem  aus,  wenn  er  in  seiner  Abhandlung  die  lebendige 
Einheit  des  menschlichen  Seelenlebens  hervorhob  und  zeigte,  dass  Sinnlichkeit 
und  Verstand  nicht  zwei  verschiedene  Quellen  des  Wissens,  sondern  nur  die  ver- 
schiedenen Stufen  einer  und  derselben  Lebensthätigkeit  seien,  womit  die  Monade 
das  Weltall  in  sich  begreift.  Als  innere  Kräfte  sind  der  Seele  alle  die  Vor- 
stellungen eingeboren,  mit  denen  sie  in  ihrer  Entwicklung  Schritt  für  Schritt  sich 
vom  Bewusstsein  ihrer  nächsten  Umgebung  zu  der  Erkenntniss  der  Weltharmonie 
erhebt.  Diese  tiefere  Einheit  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  nannte  Herder  das 
Gefühl:  und  darin  fand  er  auch  bei  seiner  Forschung  nach  dem  „Ursprung 
der  Sprache"  die  einheitliche,  alle  Sinne  umfassende  Function,  vermöge  deren 
der  psychophysische  Mechanismus  des  „Tönens"  und  „Hörens"  zum  Aus- 
druck des  Gedankens  erhoben  wird. 

12.  Bedeutsamer  noch  war  eine  andere  Wirkung  des  Leibniz'schen  Werkes. 
Es  war  kein  Geringerer  als  Kant,  der  die  Lehre  der  Nouveaux  essais  zu  einem 

1)  Nouv.  Es8.  II,  1,2.  —  2)  Vgl.  hauptsächlich  das  vierte  „Kritische  Wäldchen".  — 


§  34.  Erkenntniss  der  Aussenwelt.    (Kant,  Tetens.)  367 

System  der  Erkenntnisstheorie  auszubauen  unternahm  (vgl.  §  34, 9).  Der  Königs- 
berger Philosoph  wurde  durch  jenes  Werk  zu  einer  der  wichtigsten  Wendungen 
seiner  Entwicklung  angeregt  und  vollzog  dieselben  in  seiner  Inauguraldisser- 
tation^). Er  war,  aus  der  Wolffschen  Schidmetaphysik  herausgewachsen,  lange 
mit  der  Prüfung  der  empiristischen  Theorien  beschäftigt  gewesen  und  hatte  sich 
doch  nicht  bei  ihnen  befriedigen  können^),  ging  vielmehr  noch  immer  auf  eine 
Neubegründung  der  Metaphysik  aus  und  folgte  Lambert's  Versuchen,  damit  bei 
der  Unterscheidung  von  Form  und  Inhalt  der  Erkenntniss  anzusetzen.  Nun  zeigte 
gerade  Leibniz  von  den  „ewigen  Wahrheiten",  dass  sie  als  unwillkürliche  Be- 
ziehungsformen schon  in  der  sinnlichen  Erfahrung  selbst  stecken ,  um  durch  die 
Beflexion  des  Verstandes  zu  klarem  und  deutlichem  Bewusstsein  herausgehoben 
zu  werden.  Dies  Princip  des  virtuellen  Eingeborenseins  ist  der  Nerv  der  kan- 
tischen Inauguraldissertation:  die  metaphysischen  Wahrheiten  liegen  in  der  Seele 
als  Gesetze  ihrer  Thätigkeit  *),  um  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  in  Function 
zu  treten  und  dann  zum  Gegenstand  und  Inhalt  der  Verstandeserkenntniss  zu 
werden. 

Kant  wendet  nun  diesen  Gesichtspunkt  in  neuer  und  fruchtbarer  Weise 
auf  die  sinnliche  Erkenntniss  an.  Er  stellte  diese  aus  methodischen  Gründen 
der  Verstandeserkenntniss  viel  schärfer  noch  als  die  Wolffianer  gegenüber:  für 
ihn  aber  war  deshalb  die  Frage,  ob  sich  in  der  Sinnen  weit  etwa  eben  solche  ur- 
sprüngliche Formbeziehungen  finden,  wie  sie  Leibniz  in  der  Verstandeswelt 
nachgewiesen  und  Kant  selbst  sie  anerkannt  hatte  (vgl.  in  der  Schrift  De  mundi 
sensibilis  et  intelligibilis  forma  et  principiis  §  8  und  den  ganzen  vierten  Ab- 
schnitt): und  so  entdeckte  er  die  „reinen  Formen  der  SinnUchkeit"  —  Raum 
und  Zeit.  Sie  sind  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  nicht  eingeboren,  sondern  er- 
worben, aber  nicht  aus  den  Daten  der  Sinnlichkeit  abstrahirt,  sondern  ab  ipsa 
mentis  actione  secundum  perpetuas  leges  sensa  sua  coordinante: 
und  wie  die  Verstandesformen,  so  werden  sie  durch  Aufmerksamkeit  auf  die 
Thätigkeit  des  Geistes  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  erkannt,  welches  das  Ge- 
schäft der  Mathematik  ist. 

Eine  andere  Pormulirung  gab  dem  Princip  des  virtuellen  Angeborenseins 
Tetens.  Er  schrieb  seine  Versuche  über  die  menschliche  Natur  und  ihre  Ent- 
wicklung bereits  auch  unter  dem  Eindruck  der  kantischen  Inauguraldissertation. 
Auch  er  erklärt,  die  „Actus  des  Denkens"  seien  die  ersten,  ursprünglichen  „ Ver- 
hältnissgedanken" :  wir  erfahren  sie  dadurch ,  dass  wir  sie  anwenden,  wenn  wir 
denken;  und  damit  erweisen  sie  sich  als  die  Naturgesetze  des  Denkens. 
Die  allgemeinen  Sätze,  welche  aller  philosophischen  Erkenntniss  zu  Grunde  Hegen, 
sind  danach  „subjectivische  Nothwendigkeiten",  in  denen  das  Wesen  der  denken- 
den Seele  selbst  zum  Bewusstsein  kommt. 

%  34.  Die  Erkenntniss  der  Aussenwelt. 

Den  Hintergrund  aller  dieser  Theorien  bildet  ihr  erkenntnisstheoretischer 
Zweck.  Dieser  aber  nimmt  unter  der  Voraussetzung  des  naiven  BeaUsmus,  der 

1)  Die  Abhängigkeit  dieser  Schrift  von  den  Nouv.  Ess.  ist  nachgewiesen  von  "W. 
WniDKiiBAND,  Vierteljahrschr.  f.  wissensch.  Philos.  I,  1876  p.  234  ff.  —  2)  Das  beweist  am 
besten  die  der  Metaphysik  scheinbar  am  fernsten  stehende  Schrift,  die  „Träume  eines  Geister- 
sehers". Vgl.  übrigens  Tbl.  "VT,  Kap.  1.  —  3)  De  mundi  sens.  et  int.  f.  et  pr.  §  6:  dantur  per 
ipsam  naturam  intellectus.  Vgl.  §  8,  dazu  das  Corollarium  der  3.  Section. 


368  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

sich  an  die  cartesianische  Metaphysik  anknüpfte,  von  vornherein  eine  etwas 
engere  Fassung  an.  Das  Princip  des  cogito  ergo  sum  liess  die  Selbsterkenntniss 
des  geistigen  Wesens  als  die  ursprüngliche  Gewissheit,  als  das  Selbstverständliche 
und  unmittelbar  Zweifellose  erscheinen ;  je  andersartiger  aber  neben  der  Welt 
des  Bewusstseins  diejenige  des  Raums  und  der  Körper  aufgefasst  wurde,  um  so 
grössere  Schwierigkeiten  ergaben  sich  hinsichtlich  der  Erkennbarkeit  der  letz- 
teren. Das  lehrte  schon  die  metaphysische  Entwicklung  unmittelbar  nach  Des- 
cartes  (vgl.  §  31),  und  dasselbe  wiederholte  sich  nun  in  den  mannigfaltigsten 
Formen  bei  der  Uebersetzung  derselben  Gedanken  in  die  Sprache  der  empirischen 
Psychologie  und  des  Sensualismus. 

So  ist  in  der  Erkenntnisstheorie  der  modernen  Philosophie  von  Anfang  an 
ein  Uebergewicht  der  inneren  Erfahrung  angelegt,  vermöge  deren  das 
Wissen  von  der  Aussenwelt  problematisch  wird.  Darin  macht  sich  in 
der  ganzen  Ausdehnung  des  neueren  Denkens  eine  Nachwirkung  des  Terminis- 
mus,  mit  dem  das  Mittelalter  geendet  hatte,  als  bestimmende  AuiFassung  gel- 
tend: die  Heterogenität  von  Aussenwelt  und  Innenwelt  giebt  dem  Geiste  ein 
stolzes  Gefühl  substantieller  Eigenheit  den  Dingen  gegenüber,  zugleich  aber  eine 
gewisse  Unsicherheit  und  Zweifelhaftigkeit  bei  seiner  Orientirung  in  dieser  ihm 
fremden  Welt.  Auf  diese  Weise  erweist  sich  gerade  die  Grundproblemstellung 
der  Aufklärungsphilosophie  als  ein  Nachklang  jener  Vertiefung  des  Geistes  in 
sich  selbst,  jener  Verselbständigung  des  Bewusstseins  gegenüber  der  Aussen- 
welt, worin  die  antike  Philosophie  ausgelaufen  war.  Darin  wurzelte  die  Macht 
des  augustinischen  Geistes  über  die  moderne  Philosophie. 

1.  Das  Uebergewicht  der  inneren  Erfahrung  macht  sich  auch  bei  Locke 
sehr  stark  geltend,  obgleich  er  in  psychologischer  Hinsicht  Sensation  und 
Reflexion  principiell  gleichstellte  und  in  der  genetischen  Theorie  sogar  die 
letztere  von  der  ersteren  abhängig  machte.  Allein  bei  der  erkenntnisstheore- 
tischen Werthung  kehrt  sich  dies  Verhältniss  sogleich  im  Sinne  der  cartesianischen 
Bestimmungen  um.  Der  Dualismus  der  endlichen  Substanzen,  welchen  der  grosse 
französische  Metaphysiker  aufgestellt  hatte,  wird  nämlich  bei  Locke  in  der  Stille 
mit  dem  Dualismus  der  Erfahrungsquellen  eingeführt :  die  Sensation  ist  zur  Er- 
kenntniss  der  körperlichen  Aussenwelt,  die  Reflexion  zur  Erkenntniss  der  Thätig- 
keiten  des  Geistes  selbst  bestimmt :  und  dabei  findet  sich  denn  von  selbst,  dass 
die  letztere  ihrer  Aufgabe  sehr  viel  mehr  gewachsen  ist,  als  die  erstere.  Unser 
Wissen  von  unseren  eigenen  Zuständen  ist  ein  intuitives  und  das  gewisseste  von 
allem,  und  mit  unseren  Zuständen  sind  wir  dabei  auch  unserer  eigenen  Existenz 
vollkommen  und  zweifellos  sicher.  Mit  fast  wörtlicher  Anlehnung  an  Descartes 
trägt  Locke  diese  Lehre  von  der  Selbstgewissheit  vor  ^) :  dagegen  verhält  er  sich 
hinsichtUch  der  Erkenntniss  der  Körperwelt  sehr  viel  zurückhaltender.  Eine 
solche  ist  nur  durch  Empfindung  mögUch  und  ermangelt,  wenn  sie  auch  noch  den 
Namen  knowledge  verdient,  doch  der  völligen  Sicherheit  und  Adäquatheit. 
Zunächst  ist  nur  das  Vorhandensein  der  Idee  im  Geiste  intuitiv  gewiss;  dass  ihr 
ein  Ding  entspricht,  ist  nicht  intuitiv  sicher,  und  die  Demonstration  kann  höch- 
stens lehren,  dass  ein  Ding  da  ist,  aber  nichts  über  dies  Ding  aussagen. 

Freihch  ist  Locke  in  dieser  Hinsicht  durchaus  nicht  mit  sich  selber  in 


1)  Essay  IV,  9,  3. 


1 


§  34.  Erkenntniss  der  Aussenwelt.  (Locke.)  369 

UebereinstimmuDg.  Bei  der  Theorie  der  Ideen  der  Sensation  übernimmt  er  die 
Lehre  von  der  Intellectualität  der  Sinnesqualitäten  ganz  in  der  von  Descartes 
ausgearbeiteten  Form  (vgl.  oben§  31,  2),  bezeichnet  sie  glücklich  durch  die  Unter- 
scheidung primärer  und  secundärer  Eigenschaften,  fügt  dann  noch  als  tertiäre 
Eigenschaften  solche  Kräfte  hinzu,  welche  die  Beziehung  auf  andere  Körper  aus- 
drücken, erklärt  die  primären  Eigenschaften  für  diejenigen,  welche  den  Körpern 
an  sich  real  zukommen  und  rechnet  dazu  sogar  ausser  den  von  Descartes  ange- 
nommenen noch  die  Undurchdringlichkeit.  Sachlich  ist  das  der  Lehre  von 
Hobbes  gegenüber  ein  entschiedener  Rückfall  in  die  demokritisch-epikureische 
Vorstellungsweise,  was  sich  auch  darin  zeigt,  dass  Locke  nach  der  Theorie  der 
Bilderchen  die  Reize  auf  die  Berührung  der  Nerven  durch  kleinste  von  den 
Gegenständen  ausströmende  Stoflftheilchen  zurückführt^).  Im  Ganzen  werden 
hier  also  die  cartesianischen  Grundlagen  der  mathematischen  Naturkenntniss 
wiederholt  und  sogar  in  wichtiger  Hinsicht  erweitert. 

Ganz  anders  aber  lautet  Locke's  Entscheidung  bei  der  Analyse  des  Sub- 
stanzbegriffs. Von  der  intuitiven  und  der  durch  Sensation  gegebenen  Erkennt- 
niss unterscheidet  er,  ähnlich  wie  Occam,  die  demonstrative:  sie  bezieht  sich  nicht 
auf  das  Verhältniss  von  Ideen  zur  Aussenwelt,  sondern  auf  das  Verhaltniss  der 
Ideen  unter  einander.  Sie  steht  an  Erkenntnisswerth  der  intuitiven  nach,  während 
sie  der  sensitiven  darin  überlegen  ist^).  Das  demonstrative  Denken  wird 
dann  ganz  terministisch,  etwa  wie  bei  Hobbes  als  ein  Rechnen  mit  Begriffs- 
zeichen aufgefasst:  die  Nothwendigkeit  der  Demonstration  gilt  nur  innerhalb  der 
Vorstellungswelt,  sie  betrifft  unter  Anderem  die  allgemeinen  oder  abstracten  Be- 
griffe, denen  in  natura  rerum  keine  eigene  Wirklichkeit  entspricht.  Sind  einmal 
die  Ideen  vorhanden,  so  lassen  sich,  ganz  abgesehen  von  aller  Beziehung  auf  die 
Sachen,  Urtheile  über  die  zwischen  ihnen  bestehenden  Verhältnisse  bilden,  und 
damit  allein  hat  es  das  demonstrative  Wissen  zu  thun.  Solche  „complexen"  Vor- 
stellungen sind  Ge dankendinge,  die,  nachdem  sie  durch  Definition  festgestellt 
sind,  jede  durch  ihren  Inhalt  bestimmte  Verbindung  unter  einander  im  Denken 
eingehen  können,  ohne  dass  dadurch  eine  Beziehung  auf  die  Aussenwelt  ge- 
wonnen wäre.  Unter  diesen  Verbindungsweisen  zeichnet  sich  nun  aber  diejenige, 
welche  durch  den  Substanzbegriff  ausgedrückt  wird  (die  Kategorie  der 
Inhärenz),  in  besonderer  Weise  aus.  Alle  übrigen  Inhalte  und  Verhältnisse 
nämUch  können  nur  so  gedacht  werden,  dass  sie  an  irgend  einer  Substanz  haften. 
Diesem  Verhältnisse  kommt  also  doch  Realität  zu,  die  Idee  der  Substanz  ist 
nach  Locke's  Ausdruck  ectypisch,  —  aber  nur  so,  dass  wir  für  die  in  den  ein- 
zelnen Ideen  gegebenen  Modi  ein  reales  Substrat  anzunehmen  genöthigt  sind, 
ohne  dabei  doch  etwas  darüber  aussagen  zu  können,  was  dieses  Substrat  selbst 
sei.  Substanz  ist  der  selbst  unbekannte  Träger  bekannter  Eigenschaften,  deren 
Zusammengehörigkeit  wir  anzunehmen  Veranlassung  haben. 

Diese  Ansicht  von  der  Unerkennbarkeit  der  Substanzen  hindert  nun 
freilich  Locke  nicht,  an  anderer  Stelle ')  doch  wieder  ganz  cartesianisch  eine 
Eintheilung  aller  Substanzen  in  „cogitative  und  nichtcogitative"  vorzunehmen: 
andrerseits  aber  wendet  er  sie  auf  seine  Behandlung  des  cogito  ergo  sum  an.  Dies 

1)  Ibid.  II,  8,  7  ff".  Vgl.  hierzu  auch  B.  Küttknauer,  Zur  Vorgeschichte  des  Idealismus 
und  Kriticismus  (Freiburg  1882)  und  Geil,  a.  a.  0.  p.  66  ff.  —  2)  Ess.  IV,  2.  —  8)  Ibid.  II,  23, 
29;  IV,  10,  9.  — 

Windelband,  Oeschichte  der  Philosophie.  24 


370  V.  Philosophie  der  Aufklärung^.   1.  Theoretische  Fragen. 

Princip  überträgt  er  aus  dem  metaphysischen  ganz  in  das  empirisch-psycho- 
logische  Gebiet.  Die  Selbstgewissheit  ist  ihm  diejenige  des  inneren  Sinnes 
(internal  sense);  die  Intuition  bezieht  sich  dabei  nur  auf  unsere  Zustände  und 
Thätigkeiten^  aber  nicht  auf  unser  Wesen;  sie  zeigt  uns  zwar  unmittelbar  und 
zweifellos,  dass  wir  sind,  aber  nicht,  was  wir  sind.  Die  Frage  nach  der  Substanz 
der  Seele  (und  denigemäss  auch  diejenige  nach  ihrem  Verhältniss  zum  Körper) 
ist  ebenso  unbeantwortbai',  wie  die  nach  dem  „Was"  irgend  einer  Substanz 
überhaupt. 

Gleichwohl  hält  es  Locke  für  möglich,  von  dem  Dasein  Gottes  eine 
demonstrative  Gewissheit  zu  gewinnen.  Er  adoptirt  zu  diesem  Zwecke 
den  ersten  der  cartesianischen  Beweise  (vgl.  oben  §  30,  5)  in  etwas  modificirter 
Form,  und  fügt  noch  den  üblichen  kosmologischen  Beweis  hinzu.  Es  muss  ein 
unendliches,  ewiges  und  vollkommenes  Wesen  gedacht  werden,  eine  letzte 
Ursache  der  endlichen  Substanzen,  als  deren  eine  der  Mensch  sich  selbst 
intuitiv  erkennt. 

So  mannigfach  und  widerspruchsvoll  sind  die  Denkmotive,  welche  sich  in 
Locke's  Erkenntnisslehre  kreuzen.  Die  scheinbar  so  leichte  und  durchsichtige 
Darstellung,  zu  der  er  den  Cartesianismus  verwässert  hat,  gleitet  über  die  Strudel 
hinweg,  welche  aus  der  dunklen  Tiefe  ihrer  historischen  Voraussetzungen  auf- 
steigen. Wie  aber  die  vieldeutige  Unbestinmitheit  seiner  Psychologie  sich  in  die 
Gegensätze  der  folgenden  Entwicklungen  aus  einander  legte,  so  bot  auch  diese 
erkenntnisstheoretische  Metaphysik  die  Ansatzpunkte  für  die  mannigfaltigsten 
Umbildungen  dar. 

2.  Gleich  die  erste  derselben  zeigt  der  Locke'schen  Unentschiedenheit 
gegenüber  eine  kühne  Energie  der  Einseitigkeit.  Berkeley  brachte  dasUeber- 
gewiclit  der  inneren  Erfahrung  zur  vollen  Herrschaft,  indem  er  an  der  Hand 
seines  extremen  Nominahsmus,  mit  Rückgriff  auf  die  Lehren  von  Hobbes,  der 
schwankenden  Stellung,  welche  Locke  in  der  Frage  nach  der  Erkenntniss  der 
Körper  eingenommen  hatte,  ein  Ende  machte.  Er  zerstörte  den  Begriff 
der  körperlichen  Substanz.  Von  dem  Ideencomplex,  den  uns  die  Wahr- 
nehmung als  einen  Körper  darbietet,  sollte  nach  der  Unterscheidung  primärer 
und  secundärer  QuaUtäten  ein  Theil  ausgeschieden  und  ein  anderer  als  allein 
real  zurückbehalten  werden :  aber  diese  Unterscheidung,  so  hatte  bereits  Hobbes 
gelehrt  (vgl.  §  31,  2),  ist  schon  sachlich  unrichtig.  Auch  die  „mathematischen" 
Eigenschaften  der  Körper  sind  ebenso  Ideen  in  uns  wie  die  Sinnesqualitäten, 
und  Berkeley  hatte  gerade  dies  mit  analogen  Argumenten  in  seiner  „Theorie  des 
Sehens*^  nachgewiesen.  Er  bestreitet  die  Berechtigung  der  cartesianischen  (bezw. 
demokritischen)  Unterscheidung.  Sind  aber  danach  alle  Eigenschaften  des 
Körpers  ausnaJhimslos  Ideen  in  uns,  so  hat  Locke  als  den  realen  Träger  der- 
selben noch  eine  unerkennbare  „Substanz"  übrig  behalten:  ähnlich  reden  Andere 
von  der  Materie  als  dem  Substrat  der  „erscheinenden"  Eigenschaften, 

Allein  in  allen  diesen  Fällen,  sagt  Berkeley,  wird  uns  zugemuthet,  ein  Ab- 
stractum  ftir  das  allein  Wirkliche  zu  halten.  Abstracte  Begriffe  aber  existiren 
nicht,  —  sie  existiren  nicht  einmal  im  Geiste,  geschweige  denn  in  natura  rerum. 
Locke  hat  ganz  Recht  gehabt,  dass  diese  „Substanz"  Niemand  erkennen  könne: 
es  kann  sie  sogar  Keiner  denken ;  sie  ist  eine  Schulfiction.  Für  das  naive  Bewusst- 
sein,  für  den  „gesunden  Menschenverstand",  dessen  Sache  Berkeley  gegen  die 


§34.  Erkenntniss  der  Anssenwelt.   (Berkeley.)  '  371 

Künstelei  der  Philosophen  zu  führen  meint,  ist  der  Körper  eben  genau  das,  was 
wahrgenommen  wird,  nicht  mehr  und  nicht  weniger;  nur  die  Philosophen  suchen 
dahinter  noch  etwas  Anderes,  Geheimnissvolles,  Abstractes,  das  sie  selbst  nicht 
sagen  können.  Für  den  unbeirrt en  Sinn  ist  der  Körper  das,  was  man  sieht,  tastet, 
schmeckt,  riecht  und  hört:  sein  Esse  fallt  mit  seinem  Percipi  zusammen. 

Der  Körper  ist  also  nichts  Anderes  als  ein  Complex  von  Ideen.  Zieht 
man  von  einer  Kirsche  alle  die  Eigenschaften  ab,  welche  durch  irgend  einen  Sinn 
percipirt  werden  können,  was  bleibt  übrig?  Nichts.  Der  Idealismus,  der  im 
Körper  nichts  weiter  sieht,  als  ein  Bündel  von  VorsteUungen,  ist  die  Ansicht  des 
gemeinen  Mannes;  er  soll  auch  diejenige  der  Philosophen  sein.  Den  Körpern 
kommt  keine  andere  Wirklichkeit  zu  als  diejenige  des  Vorgestelltwerdens. 
Es  ist  falsch  zu  meinen,  es  stecke  in  ihnen  noch  eine  Substanz,  die  in  ihren 
Eigenschaften  „erscheine".   Sie  sind  nichts  als  die  Summe  dieser  Eigenschaften. 

Auf  die  naheliegende  Frage,  worin  denn,  wenn  alle  Körper  nur  vorgestellt 
sind,  der  Unterschied  zwischen  dem  „wirklichen"  und  dem  eingebildeten  oder  ge- 
träumten Körper  besteht,  antwortet  Berkeley  mit  einer  spiritualistischen 
Metaphysik.  Die  Ideen,  welche  das  Sein  der  Aussen  weit  ausmachen,  sind 
Thätigkeiten  der  Geister.  Von  den  beiden  cartesianischen  Welten  besteht  sub- 
stantiell nur  die  eine;  nur  die  res  cogitantes  sind  wirkliche  Substanzen,  die 
res  extensae  sind  ihre  Vorstellungen.  Allein  den  endlichen  Geistern  sind  die 
Ideen  gegeben,  und  der  Ursprung  aller  Vorstellungen  ist  nur  in  dem  unend- 
lichen Geiste,  in  Gott,  zu  suchen.  Die  Realität  der  Körper  besteht  also  darin, 
dass  ihre  Ideen  von  Gott  den  endlichen  Geistern  mitgetheilt  werden,  und  die 
Reihenfolge,  in  der  Gott  dies  zu  thun  pflegt,  nennen  wir  die  Naturgesetze: 
daher  findet  Bischof  Berkeley  keine  metaphysische  Schwierigkeit  darin,  dass 
Gott  unter  Umständen  zu  besonderem  Zweck  von  der  gewohnten  Reihenfolge 
abgeht,  wo  dann  der  Mensch  von  Wundem  redet.  Unwirklich  dagegen  ist  der- 
jenige Körper,  der  nach  dem  Mechanismus  der  Erinnerung  oder  Einbildung  nur 
in  dem  einzelnen  Geiste  vorgestellt  wird,  ohne  ihm  zugleich  von  Gott  mitgetheilt 
zu  sein.  Da  endlich  so  die  wirkliche  Körperwelt  in  ein  von  Gott  gewolltes  System 
von  Ideen  sich  verwandelt,  so  bereitet  auch  die  Zweckmässigkeit,  welche  ihre 
Einrichtung  und  die  Zeitfolge  ihrer  Veränderungen  aufweisen,  kein  Problem  mehr. 

Der  Parallelismus  zwischen  dieser  Folgerung  aus  Locke  und  derjenigen, 
welche  Malebranche  aus  Descartes  gezogen  hatte,  ist  unverkennbar;  und  auch 
darin  sind  Malebranche  und  Berkeley  einig,  dass  Gott  allein  die  in  der  Welt 
thätige  Kraft,  dass  kein  Einzelding  wirksam  sei  (vgl.  §  31,  8).  Es  ist  höchst 
interessant,  wie  der  extreme  Realismus  des  Franzosen  und  der  extreme  Nomi- 
nalismus des  Engländers  auf  dieselbe  Ansicht  hinauslaufen.  Die  Begründungen 
können  nicht  verschiedener  sein:  das  Resultat  ist  dasselbe.  Denn  was  beide 
Männer  noch  trennte ,  liess  sich  leicht  forträumen.  Dies  bewies  ein  Zeit-  und 
Landsgenosse  Berkeley's,  Arthur  Collier  (1680 — 1732)  in  seiner  interessanten 
Schrift  Clavis  universaHs  *).  Malebranche  ^  hatte  zwar  als  Cartesianer  die  Reahtät 

1)  Der  Nebentitel  des  Buchs  lautet:  A.  new  inquiry  after  truth  being  a  demonstration 
of  the  non-existence  or  impossibility  of  an  external  world  (London  1713).  Es  ist  zusammen 
mit  Berkeley 's  Treatise  in  der  deutseben  „Sammlung  der  vornehmsten  Schriften,  die  die 
Wirklichkeit  ihres  eigenen  Körpers  (! !)  und  der  ganzen  Körperwelt  leugnen**  von  Eschenbach 
(Rostock  1756)  herausgegeben.  —  2)  Dessen  Lehre  war  in  England  namentlich  durch  John 
Norris  (Essai  d'une  th^orie  du  monde  ideal,  Lond.  1704)  bekannt  geworden. 

24* 


372  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1,  Theoretische  Frageu. 

der  Körperwelt  nicht  direct  beanstandet,  aber  ihre  Erkenntniss  durch  den 
Menschen  nur  so  begreifen  zu  können  gemeint,  dass  die  Ideen  der  Körper  in 
Gott  das  gemeinsame  Original  seien,  nach  dem  Gott  einerseits  die  wirklichen 
Körper,  andrerseits  die  Ideen  davon  in  den  endlichen  Geistern  erzeuge. 
Collier  zeigte  nun,  dass  in  dieser  Lehre  die  Realität  der  Körperwelt  eine  vöUig 
überflüssige  Rolle  spiele :  da  doch  keine  wirkliche  Beziehung  zwischen  ihr  und 
der  menschlichen  Vorstellung  angenonmien  werde,  so  bleibe  der  Erkenntniss- 
werth  der  menschlichen  Ideen  ganz  derselbe,  wenn  man  nur  eine  ideale  Körper- 
welt in  Gott  statuire  und  diese  als  den  realen  Gegenstand  der  menschlichen  Er- 
kenntniss betrachte. 

Der  Idealismus,  welcher  in  dieser  Weise  auf  mehreren  Wegen  aus  dem 
Cogito  ergo  sum  hervorging,  erzeugte  noch  eine  paradoxe  Nebenerscheinung, 
welche  namenlos  und  unbestimmt  gelegentlich  in  der  Litteratur  des  18.  Jahr- 
hunderts erwähnt  wird.  Die  einzig  sichere  intuitive  Erkenntniss  hat  jeder  einzelne 
Geist  nur  von  sich  selbst  und  seinen  Zuständen :  auch  von  anderen  Geistern  weiss 
er  nur  etwas  durch  Ideen,  welche  sich  zunächst  auf  Körper  beziehen  und  nach 
Analogie  auf  Geister  gedeutet  werden.  Ist  aber  die  gesammte  Körperwelt 
nur  Vorstellung  im  Geiste,  so  ist  schliesslich  jeder  Einzelne  nur  seiner  eigenen 
Existenz  gewiss:  die  Realität  alles  üebrigen,  die  gesammten  anderen  Geister 
nicht  ausgeschlossen,  ist  problematisch  und  kann  nicht  demonstrirt  werden.  Man 
bezeichnete  diese  Lehre  damals  als  Egoismus;  jetzt  pflegt  man  sie  Solipsis- 
mus zu  nennen.  Es  ist  eine  metaphysische  Spielerei,  die  man  dem  Geschmack 
des  Einzelnen  überlassen  muss :  denn  der  Solipsist  \viderlegt  sich  ja  schon,  indem 
er  seine  Lehre  Anderen  zu  beweisen  anfangt. 

So  war  es  im  Gefolge  der  Meditationen,  worin  Descartes  das  Selbst- 
bewusstsein  als  den  rettenden  Felsen  im  Meere  des  Zweifels  erkannte,  schliesslich 
zu  dem  Resultat  gekommen,  welches  Kant  später  als  einen  Skandal  der  Philo- 
sophie bezeichnete:  dass  man  nämlich  einen  Beweis  fiir  die  Realität  der  Aussen- 
welt  forderte  und  keinen  zureichenden  zu  finden  vermochte.  Erklärten  doch 
französische  MateriaUsten,  Berkeley 's  Lehre  sei  zwar  Wahnsinn,  aber  un- 
widerleglich. 

3.  Die  Umbildung  der  Locke'schen  Lehre  durch  Berkeley  fuhrt  in  directer 
Linie  zu  Hume's  Erkenntnisstheorie  weiter.  An  die  nominalistische  Leugnung 
der  abstracten  Begriffie  knüpfte  der  tiefsinnige  Schotte  seine  Unterscheidung  aller 
intellectueUen  Functionen  in  Impressionen  und  Ideen,  welche  Copien  von  Im- 
pressionen sind:  damit  aber  deckt  sich  sogleich  der  Unterschied  intuitiver 
und  demonstrativer  Erkenntniss.  Jede  derselben  hat  ihre  eigene  Art  von  Ge- 
wissheit. Die  intuitive  Erkenntniss  besteht  einfach  in  der  Behauptung  der 
thatsächlichen  Impressionen.  Welche  Eindrücke  ich  habe,  kann  ich  mit  absoluter 
Sicherheit  aussagen:  darin  kann  ich  mich  nicht  irren,  sofern  ich  mich  in  den 
Grenzen  halte,  nur  einfach  festzustellen,  dass  ich  eine  WahrnehmungsvorsteUung 
von  diesem  oder  jenem  einfachen  oder  zusammengesetzten  Inhalt  habe,  ohne 
darüber  irgend  welche  deutenden  Begriffe  hinzuzufügen. 

Zu  diesen  Impressionen,  denen  unmittelbar  intuitive  Gewissheit  zukommt, 
rechnet  nun  Hume  hauptsächhch  auch  das  räumliche  und  zeitliche  Verhältniss 
der  Empfindungsinhalte,  die  Feststellung  der  Coexistenz  oder  Succession  der 
elementaren   Impressionen.   Die  räumliche  Ordnung,  in  der  sich  die  Wahr- 


§34.  Erkezmtniss  der  Aussenwelt.  (Hume.)  373 

Dehmungsinhalte  darstellen,  ist  unmittelbar  mit  ihnen  selbst  zweifellos  gegeben, 
und  ebenso  besitzen  wir  eine  sichere  Impression  davon,  ob  die  verschiedenen 
Inhalte  gleichzeitig  oder  nach  einander  wahrgenommen  sind.  Die  räumUche  und 
zeitliche  Contiguität  ist  also  mit  den  Impressionen  intuitiv  gegeben,  und  von 
diesen  Thatsachen  (faits)  besteht  im  menschlichen  Geiste  eine  vollkommen 
sichere  und  in  keiner  Weise  anzuzweifelnde  Erkenntniss.  Nur  darf  bei  der 
Charakteristik  der  Hume'schen  Lehre  nicht  vergessen  werden,  dass  diese  absolut 
gewisse  ThatsächUchkeit  der  Impressionen  lediglich  diejenige  ihres  Vorhandenseins 
als  Vorstellungen  ist.  In  dieser  Bedeutung  und  Beschränkung  umfasst  die  intuitive 
Erkenntniss  nicht  nur  die  Thatsachen  der  inneren,  sondern  auch  diejenigen  der 
äusseren  Erfahrung,  —  aber  um  den  Preis,  dass'  die  letzteren  eigenthch  auch  nur 
eine  Art  der  ersteren  sind,  ein  Wissen  nämlich  von  Vorstellungszuständen. 

Die  räumUche  und  zeithche  Contiguität  ist  aber  nur  die  elementarste  Form 
der  Vorstellungsassociation,  daneben  zählt  Hume  noch  zwei  andere  Gesetze  der 
letzteren  auf:  die  Aehnhchkeit  (bezw.  den  Contrast)  und  die  Causalität.  Was 
die  erstere  Beziehungsform  anlangt,  so  haben  wir  von  der  Gleichheit  oder  Un- 
gleichheit und  ihren  verschiedenen  Graden  hinsichtlich  der  Sensationen  eine 
klare  und  deutliche  Impression :  sie  besteht  in  dem  Wissen  von  dem  Masse  der 
AehnHchkeit  unseres  eigenen  (sensitiven)  Thuns  und  gehört  also  zu  den  Im- 
pressionen des  inneren  Sinnes,  welche  Locke  reflection  genannt  hat.  Darauf 
gründet  sich  in  Folge  dessen  eine  demonstrative  Erkenntniss  von  vollkommener 
Gewissheit :  sie  betriflft  die  Formen  der  Grössenvergleichung,  welche  wir  an  den 
gegebenen  Vorstellungsinhalten  vollziehen,  und  ist  nichts  als  eine  Analyse  der 
Gesetzmässigkeit,  mit  der  dies  geschieht.  Diese  demonstrative  Wissenschaft  ist 
die  Mathematik:  sie  entwickelt  die  Gesetze  der  Gleichsetzung  in  Bezug  auf 
Zahlen  und  Baumverhältnisse,  und  Hume  ist  geneigt,  der  Arithmetik  noch  einen 
höheren  erkenntnisstheoretischen  Werth  zuzuerkennen,  als  der  Geometrie  *). 

4.  Allein  die  Mathematik  ist  auch  die  einzige  demonstrative 
Wissenschaft;  und  zwar  eben  deshalb,  weil  sie  sich  auf  nichts  anderes  bezieht 
als  auf  die  möglichen  Verhältnisse  zwischen  Vorstellungsinhalten  und  weil  sie 
gar  nichts  über  eine  Beziehung  derselben  auf  eine  reale  Welt  behauptet.  In  dieser 
Weise  herrscht  bei  Hume  vollständig  das  terministische  Princip  von  Hobbes 
(vgl.  oben  §  30,  3),  nur  dass  der  erstere  mit  der  Beschränkung  dieser  Theorie 
auf  die  reine  Mathematik  noch  consequenter  verfahrt.  Denn  Hume  erklärt,  dass 
keine  Behauptung  über  die  Aussenwelt  demonstrirbar  sei.  All  unser  Wissen 
beschränkt  sich  auf  die  Constatirung  der  Impressionen  und  auf  die  Verhältnisse 
dieser  Vorstellungen  unter  einander. 

Daher  erscheint  es  fiir  Hume  als  ein  unberechtigter  Uebergrifif  des  Denkens, 
wenn  die  Gleichheit  der  Vorstellungen  auf  eine  metaphysische  Identität  gedeutet 
wird:  dies  aber  geschieht  bei  jeder  Anwendung  des  Begriffs  der  Substanz. 
Woher  dieser  Begriff?  Er  wird  nicht  wahrgenommen,  er  findet  sich  als  Inhalt 
weder  in  den  einzelnen  Empfindungen  noch  in  deren  Verhältnissen:  die  Substanz 
ist  der  unbekannte,  unaussagbare  Träger  der  bekannten  Vorstellungsinhalte. 
Woher  diese  Idee,  für  welche  im  ganzen  Umkreise  der  Sensationen  keine  Im- 
pression als  das  nothwendige  Original  aufzufinden  ist?  Ihr  Ursprung  ist  in  der 


1)  Treat.  I,  2, 1.  I,  3, 1. 


374  V.  Philosophie  der  Aufklärung.    1.  Theoretische  Fragen. 

Reflexion  zu  suchen :  sie  ist  das  Abbild  einer  mehrfach  wiederholten  Vorstellungs- 
verknüpfung. Durch  das  wiederholte  Zusammensein  der  Impressionen,  durch 
die  Gewohnheit  des  gleichen  Vorstellens  entsteht  vermöge  des  Gesetzes  der 
Ideenassociation  die  Nothwendigkeit  der  Vorstellung  ihrer  Coexistenz,  und 
das  Gefühl  dieser  associativen  Nothwendigkeit  des  Vorstellens  wird  als  reale 
Zusammengehörigkeit  der  Erapfindungselemente,  d.  h.  als  Substanz  gedacht. 

Die  Denkform  der  Inhärenz  wird  damit  psychologisch  erklärt  und  zugleich 
erkenntnisstheoretisch  verworfen:  es  entspricht  ihr  nichts  weiter  als  das  Gefühl 
einer  Gleichheit  der  Vorstellungsverbiudung,  und  da  wir  von  der  Existenz 
niemals  etwas  anderes  als  durch  unmittelbare  Sinneswahrnehmung  wissen  können, 
so  ist  die  Realität  des  Substanzbegriflfs  unbegründbar.  Es  ist  klar,  dass  Hume 
sich  damit,  soweit  es  die  körperiichen  Dinge  anlangt,  die  Lehre  Berkeley's  zu  eigen 
macht.  Aber  dieser  hat  die  Arbeit  am  Substanzbegriffe  nur  halb  gethan.  Er  hat 
gefunden,  dass  die  Körper  nur  Empfindungscomplexe  sind,  dass  ihr  Sein  mit  dem 
Percipirtwerden  identisch  ist,  dass  es  keinen  Sinn  hat,  deren  Zusammengehörig- 
keit als  eine  unbekannte  Substanz  zu  hypostasiren :  aber  er  hat  die  seelischen 
Substanzen,  die  Geister,  die  res  cogitantes  stehen  lassen ;  er  hat  sie  für  die  Träger 
angesehen,  denen  alle  diese  Vorstellungsthätigkeiten  inhäriren  sollten.  Hume's 
Argument  trifft  auch  diese.  Was  Berkeley  von  der  Kirsche  gezeigt  hat,  gilt  auch 
von  „Ich".  Auch  die  innere  Wahrnehmung  (so  gestaltete  es  sich  thatsächlich 
schon  bei  Locke,  vgl.  oben  Nr.  1)  zeigt  nur  Thätigkeiten,  Zustände,  Eigen- 
schaften. Nehmt  diese  fort,  und  auch  von  Descartes'  res  cogitans  bleibt  Nichts 
übrig :  nur  die  „Gewohnheit*^  constanter  Vorstellungsverbindung  liegt  dem  Begriff 
des  Geistes  zu  Grunde;  auch  das  Ich  ist  nur  ein  Bündel  von  Vorstellungen'). 

5.  Die  gleiche  Betrachtung  gilt  mutatis  mutandis  auch  für  die  Causalität, 
diejenige  Form ,  unter  welcher  die  Nothwendigkeit  der  Verknüpfung  von  Vor- 
stellungsinhalten gewöhnlich  gedacht  zu  werden  pflegt:  aber  auch  diese  ist  weder 
intuitiv  noch  demonstrativ  gewiss.  Das  Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung 
wird  nicht  wahrgenommen :  Gegenstand  der  sinnhchen  Erfahrung  ist  vielmehr  nur 
das  Zeitverhältniss,  wonach  das  Eine  regelmässig  auf  das  Andere  folgt.  Wenn 
nun  das  Denken  dies  Folgen  in  ein  Erfolgen,  wenn  es  das  post  hoc  in  ein  propter 
hoc  umdeutet  ^,  so  ist  dies  auch  in  dem  Inhalte  der  causal  auf  einander  bezogenen 
Ideen  nicht  begründet.  Aus  einer  „Ursache"  ist  nicht  logisch  ihre  „Wirkung" 
abzuleiten,  in  der  Vorstellung  einer  Wirkung  steckt  nicht  diejenige  ihrer  Ursache. 
Analytisch  ist  das  Causalverhältniss  nicht  zu  verstehen  ®).   Die  Erklärung  des- 


1)  Treat.  I,  4.  Die  bedenklichen  Folgerangen,  welche  sich  hieraus  für  die  religiöse 
Metaphysik  ergaben,  hat  Hume  wohl  veranlasst,  diese  einschneidendste  seiner  Untersuchungen 
bei  der  Umarbeitung  in  den  Essais  fallen  zu  lassen.  —  2)  In  dieser  Hinsicht  hatte  Hume  einen 
Vorgänger  in  seinem  Landsmann  Joseph  Ölanvil  (1636 — 1680),  der  in  seiner  Scepsis  scienti- 
fica  (1665)  die  mechanistische  Naturphilosophie  vom  Standpunkt  des  orthodoxen  Skepticismus 
aus  bekämpfte.  —  8)  Derselbe  Gedanke  lag  schon  der  occasionalistischen Metaphysik  zu  Grunde; 
vgl.  §  31,  7:  denn  sie  nahm  zu  der  Vermittlung  durch  den  Willen  Gottes  wesentlich  ihre 
Zuflucht  wegen  der  logischen  Unbegreiflichkeit  des  Causalverhältnisses.  Dasselbe  hat 
in  einer  wesentlich  mit  Hume  übereinkommenden  Weise  auch  Kant  in  seinem  „Versuch  den 
Begrifl'  der  negativen  Grössen  in  die  AVeltweisheit  einzuführen"  (vgl.  die  allg.  Anm.  am  Schluss) 
erkannt.  In  sehr  interessanter  Weise  hat  endlich  Thomas  Brown  (On  cause  and  efFect), 
der  auch  dem  Occasionalismus  nicht  abgeneigt  ist  (vgl.  a.  a.  0.  p.  108  ff.),  das  Verlangen  nach 
einem  „Erklären"  oder  „Verstehen"  der  thatsächliohen  Zeitfolge  zugleich  psychologisch  dedu- 
cirt  und  erkenntnisstheoretisch  abgelehnt  (ibid.  184ff.):  die  Wahrnehmung  zeigt  Ursachen 
und  Wirkungen  im  Groben;  dabei  besteht  dann  die  Erklärung  des  Vorganges  in  seiner  Zer- 


§84.  Erkenntnigs  der  Aussenwelt.    (Hume.)  375 

selben  ist  nach  Hume  wieder  durch  die  Ideenassociation  zu  gewinnen.  Durch 
die  Wiederholung  derselben  Succession  von  Vorstellungen  und  die  Gewohnheit, 
sie  auf  einander  folgen  zu  finden,  entsteht  eine  innere  Nöthigung,  nach  der  einen 
die  andere  vorzustellen  und  zu  erwarten :  und  das  Gefühl  dieser  inneren  Nöthigung, 
womit  eine  Idee  die  andere  hervorruft,  wird  als  eine  reale  Nöthigung  aufgefasst, 
als  ob  der  Gegenstand  der  einen  Vorstellung  denjenigen  der  anderen  in  natura 
rerum  zum  Wirklichsein  nöthige.  Die  Impression  ist  das  Nothwendigkeitsver- 
hältniss  zwischen  den  Vorstellungsthätigkeiten,  und  in  der  Idee  der  Causalität 
wird  daraus  ein  Nothwendigkeitsverhältniss  der  Vorstellungsinhalte. 

Auf  diese  Weise  zersetzt  Hume's  Erkenntnisstheorie  die  beiden  Grund- 
begrifife,  um  welche  sich  die  metaphysische  Bewegung  des  17.  Jahrhunderts  ge- 
dreht hatte.  Substanz  und  CausaUtät  sind  Ideenbeziehungen,  die  weder  durch 
Erfahrung  noch  durch  logisches  Denken  begründbar  sind :  sie  beruhen  auf  der 
Unterschiebung  von  Impressionen  der  Keflexion  unter  solche  der  Sensation. 
Damit  aber  ist  der  üblichen  Metaphysik  der  Boden  unter  den  Füssen  fortgezogen: 
an  die  Stelle  derselben  tritt  nur  noch  die  Erkenntnisstheorie,  Die  Metaphysik  der 
Dinge  weicht  einer  Metaphysik  des  Wissens. 

6.  Die  Zeitgenossen  haben  dies  Resultat  der  Hume'schen  Untersuchungen 
—  insbesondere  aus  Bücksicht  auf  die  Folgerungen  in  Betreff  der  reUgiösen 
Metaphysik,  vgl.  §  36,  6  —  als  Skepticismus  bezeichnet:  doch  ist  es  wesentlich 
von  denjenigen  Lehren  verschieden,  welchen  dieser  Name  historisch  zukommt. 
Die  Feststellung  von  Thatsachen  durch  sinnliche  Erfahrung  gilt  Hume  als  intui- 
tive, die  mathematischen  Verhältnisse  gelten  als  demonstrative  Gewissheit :  bei 
allem  aber,  was  durch  Begriffe  über  eine  von  den  Vorstellungen  verschiedene 
Realität  ausgesagt  werden  soll,  ruft  Hume:  „In's  Feuer  damit!"  Es  giebt  keine 
Erkenntniss  dessen,  was  die  Dinge  sind  und  wie  sie  wirken :  wir  können  nur  sagen, 
was  wir  empfinden,  welche  räumliche  und  zeitliche  Anordnung  und  welche  Aehn- 
lichkeits Verhältnisse  wir  zwischen  denselben  erfahren.  Diese  Lehre  ist  der  absolut 
consequente  und  ehrliche  Empirismus:  sie  verlangt,  dass,  wenn  die  einzige 
Quelle  des  Wissens  in  der  Wahrnehmung  fliesst,  in  diese  auch  nichts  weiter 
hineingemengt  wird,  als  sie  wirklich  enthält.  Damit  ist  jede  Theorie,  jede  Er- 
forschung der  Ursache,  jede  Lehre  vom  „wahren  Sein"  hinter  den  „Erscheinungen" 
ausgeschlossen  *).  Wenn  man,  wie  die  Terminologie  sich  in  unserem  Jahrhundert 
ausgebildet  hat,  diesen  Standpunkt  als  Positivismus  bezeichnet,  so  hat  derselbe 
durch  Hume  seine  systematische  Begründung  gefunden. 

Englands  tiefster  Denker  hat  aber  dieser  radicalen  Erkenntnisstheorie  eine 
charakteristische  Ergänzung  gegeben.  Den  Ideenassociationen,  welche  den  Be- 
griffen der  Substanz  und  der  Causahtät  zu  Grunde  liegen,  wohnt  zwar  weder 
intuitive  noch  demonstrative  Gewissheit  bei,  statt  dessen  aber  eine  gefühls- 
mässige  Ueberzeugungskraft,   ein  natürUcher  Glaube  (belief),  der, 


legung  in  einzelne  einfache  und  elementare  Causalverhältnisse.  Dadurch  entstehe  die  Illusion, 
als  müssten  auch  diese  noch  wieder  analytisch  begreiflich  gemacht  werden  können. 

1)  Darum  ist  Berkeley  nur  von  Hume  aus  richtig  zu  verstehen:  sein  „Idealismus''  ist 
halber  Positivismus.  Er  legt  besonderes  Gewicht  darauf,  dass  hinter  den  Ideen  der  Körper 
nicht  noch  etwas  Abstractes,  An-sich-Seiendes  gesucht  werden  soll.  Dehnt  man  dies  Princip 
auf  die  Geister  aus,  so  hat  man  die  Hume 'sehe  Lehre:  denn  mit  der  spiritualis  tischen  Meta- 
physik fällt  auch  die  von  Gott  gewollte  Ordnung  der  Erscheinungen,  worauf  Berkeley  die 
Causalität  reducirt  hatte. 


376  V.  Philosophie  der  Aufklärung.    1,  Theoretische  Fragen. 

von  allen  theoretischen  Ueberlegungen  unbeirrt,  sich  im  praktischen  Verhalten 
des  Menschen  siegreich  geltend  macht  und  der  auch  für  die  erreichbaren  Zwecke 
des  Lebens  und  die  darauf  bezüglichen  Kenntnisse  völlig  ausreicht.  Darauf 
beruht  die  Erfahrung  des  tägUchen  Lebens.  Diese  zu  beanstanden  ist  Hume 
nicht  in  den  Sinn  gekommen:  er  will  nur  verhüten,  dass  sie  sich  als  Erfahrungs- 
wissenschaft  aufspiele,  wozu  sie  nicht  ausreicht.  Mit  dem  ganzen  Ernst  philo- 
sophischer Vertiefung  verbindet  er  den  ofifenen  Blick  für  die  Bedürfnisse  des 
praktischen  Lebens. 

7.  Für  die  Aufnahme  dieses  Positivismus  war  die  Stimmung  in  England 
weniger  günstig  als  in  P  r  a  n  k  r  e  i  c  h.  Hier  lag  der  Verzicht  auf  eine  „Metaphysik 
der  Dinge"  schon  in  der  skeptischen  Grundrichtung,  welche  auch  aus  der 
cartesianischen  Philosophie  so  vielfach  wieder  hervorgebrochen  war:  und  die 
Herrschaft  dieser  Stinmiung  war  besonders  durch  Bayle  befördert  worden, 
dessen  Kritik  sich  zwar  principiell  hauptsächlich  gegen  die  rationale  Begründung 
der  religiösen  Wahrheiten  richtete,  damit  aber  doch  zugleich  alle  über  das 
Sinnliche  hinausgreifende  Erkenntniss,  also  jede  Metaphysik  traf.  Dazu  kam, 
ebenfalls  durch  Bayle  und  zugleich  durch  den  Einfluss  der  Engländer  gefordert, 
in  der  französischen  Litteratur  ein  freierer,  weltmännischer  Zug,  der  die  Fesseln 
des  Schidsystems  abstreifen  wollte  und  statt  abstracter  Begriffe  die  unmittelbare 
Wirklichkeit  des  Lebens  verlangte.  So  wurde  in  Frankreich,  mehr  als  in  seiner 
Heimath  Bacon's  Lehre  mit  ihrer  Einschränkung  der  Wissenschaft  auf  physi- 
calische  und  anthropologische  Erfahrung  wirksam.  Das  „Point  de  Systeme"  be- 
gegnet uns  hier  auf  Schritt  und  Tritt,  von  den  „Causes  premiöres"  will  Niemand 
mehr  etwas  wissen ,  und  diesen  Baconismus  mit  seiner  ganzen  encyclopädischen 
und  programmatischen  Ausbreitung  legte  d'Alembert  als  die  philosophische 
Grundlage  der  En cyclo pädie  fest*). 

Aus  Gründen  des  Geschmacks  wurde  mit  dem  „Point  de  Systeme"  auch 
das  Wolff 'sehe  System  in  Deutschland  von  Männern  wie  Crousaz  und  Maupertuis 
bekämpft,  und  in  der  That  bot  der  Pedantismus  dieser  Lehrbücherphilosophie 
dazu  mancherlei  Angriffspunkte.  Ihr  gegenüber  war  denn  auch  die  deutsche 
Popularphilosophie  auf  ihre  Systemlosigkeit  stolz:  auch  sie  wollte  sich,  wie 
es  Mendelssohn  ausführte,  aller  Grübeleien  über  das  Unerfahrbare  enthalten 
und  sich  dafür  desto  mehr  mit  dem  für  den  Menschen  Brauchbaren  beschäftigen. 
Einen  feinen  Anklang  dieser  Stimmung  findet  man  endhch  in  Kant's  „Träumen 
eines  Geistersehers",  wo  er  die  Baumeister  mancherlei  künstlicher  Gedanken- 
welten mit  scharfer  Ironie  geisselt  und  über  das  metaphysische  Bestreben  mit 
einem  Galgenhumor,  der  seine  eigene  Neigung  am  empfindlichsten  trifft,  die 
Schale  reicMichen  Spottes  ausgiesst.  Unter  den  deutschen  Dichtern  ist  in  diesem 
Sinne  Wieland  der  witzige  Anti-Metaphysiker. 

8.  Eine  sehr  eigenthümliche  Wendung  hat  endlich  der  Positivismus  in  der 
späteren  Lehre  von  Condillac  genommen.  In  ihm  laufen  damit  die  Linien  der 
französischen  und  der  enghschen  Aufklärung  zusammen,  und  er  findet  eine 
positivistische  Synthese  von  SensuaUsmus  und  Rationalismus,  welche  als  der  voll- 
kommenste Ausdruck  des  modernen  Terminismus  angesehen  werden  darf.  Seine 
„Logik"  ^  und  seine  posthume  „Langue  des  calculs"  entwickeln  diese  Lehre. 


1)  Im  Disoours  prelimiuaire.  —  2)  £i»  Lehrbuch  für  „pobusche  Professoren", 


§  84.  Erkenntniss  der  Aussen  weit.  (Condillac.)  377 

Sie  baut  sich  im  Wesentlichen  auf  einer  Theorie  der  „Zeichen"  (signes)  auf^). 
Die  menschlichen  Vorstellungen  sind  sämmtlich  Sensationen  oder  Umbildungen 
von  solchen,  wozu  es  keiner  besonderen  Kräfte  der  Seele  bedarf^).  Alle  Er- 
kenntniss nun  besteht  im  Bewusstsein  der  Verhältnisse  der  Ideen,  und  das 
Grundverhältniss  ist  dasjenige  der  Gleichheit.  Das  Denken  hat  es  nur  damit  zu 
thun,  die  Gleichheitsbeziehungen  zwischen  den  Ideen  herauszustellen  ®).  Dies  ge- 
schieht dadurch,  dass  die  Ideencomplexe  in  ihre  Bestandtheile  zerlegt  und  dann 
wieder  zusammengesetzt  werden:  decomposition  des  phenom^nes  und 
composition  des  idees.  Die  dazu  erforderliche  IsoUrung  der  Bestandtheile 
ist  aber  nur  mit  Bülfe  der  Zeichen,  beziehungsweise  der  Sprache  möglich.  Jede 
Sprache  ist  eine  Methode  zur  Analyse  oer  Erscheinungen,  und  jede  solche 
Methode  ist  eine  „Sprache".  Die  verschiedenen  Arten  der  Zeichen  geben  ver- 
schiedene „Dialekte"  der  menschlichen  Sprache:  als  solche  unterscheidet 
Condillac  fünf,  die  Finger  (Gebärden),  die  Lautsprache,  die  Ziffern,  die  Buch- 
staben und  die  Zeichen  der  Infinitesimalrechnung.  Die  Logik,  als  die  allgemeine 
Grammatik  aller  dieser  „Sprachen",  bestimmt  also  auch  die  Mathematik,  und 
zwar  die  höhere  ebenso  wie  die  elementare,  als  Specialfalle. 

Alle  Wissenschaft  enthält  damit  nur  Transformationen:  es  kommt  immer 
darauf  an  herauszubekommen,  dass  das  Unbekannte,  was  man  sucht,  eigent- 
lich ein  schon  Bekanntes  ist,  d.  h.  die  Gleichung  aufzufinden,  welche  das 
X  einer  Composition  von  Ideen  gleich  setzt:  eben  zu  diesem  Zwecke  müssen 
die  Wahrnehmungsgebilde  vorher  decomponirt  werden.  Es  ist  deutlich,  dass  dies 
nur  eine  neue,  verallgemeinernde  Ausdrucksweise  für  Galilei's  Lehre  von  der 
resolutiven  und  compositiven  Methode  ist :  aber  sie  erhebt  sich  hier  auf  rein 
sensualistischer  Grundlage,  sie  verleugnet  das  constructive  Element,  welches 
Hobbes  so  scharf  betont  hatte,  und  sie  macht  aas  dem  Denken  ein  Brcchnen  mit 
nur  gegebenen  Grössen.  Dabei  lehnt  sie  jeden  Gedanken  einer  Beziehung  dieser 
Daten  auf  die  metaphysische  Realität  ab,  und  in  der  wissenschaftlichen  Erkennt- 
niss sieht  sie  nur  einen  Aufbau  von  Gleichungen  unter  Vorstellungsinhalten 
nach  dem  Princip  Le  meme  est  le  meme.  Die  menschliche  Ideenwelt  wird  voll- 
ständig in  sich  isolirt,  und  Wahrheit  besteht  nur  in  den  innerhalb  derselben 
durch  die  „Zeichen"  ausdrückbaren  Gleichungen. 

9.  So  indifferent  diese  Ideologie  in  metaphysischer  Hinsicht  sein  wollte, 
so  involvirte  doch  ihre  sensualistische  Grundlage  eine  materialistische  Metaphysik. 
Mochte  auch  über  die  den  Sensationen  entsprechende  Wirklichkeit  nichts  aus- 
gesagt werden  sollen,  so  blieb  im  Hintergrunde  doch  immer  die  populäre  Vor- 
stellung bestehen,  dass  Sinnesempfindungen  eben  von  Körpern  hervorgerufen 
werden.  Deshalb  brauchte  nur  die  vorsichtige  ßestriction,  welche  diesen  posi- 
tivistischen Consequenzen  des  Sensualismus  eigen  war,  verabsäumt  werden,  um 
den  anthropologischen  Materiahsmus,  der  sich  in  den  psychologischen  Theorien 
entwickelt  hatte,  in  einen  metaphysischen  und  dogmatischen  zu  verwandeln.  So 


1)  Nach  Bekanntwerden  der  Langue  des  calculs  stellten  das  Pariser  Institut  und  die 
Berliner  Akademie  fast  gleichzeitig  die  Theorie  der  Zeichen  als  Preisaufgaben,  welche  an  beiden 
Stellen  eine  grosse  Anzahl  von  Bearbeitungen  meist  sehr  untergeordneten  Werthes  erfuhren.  — 
2)  Dies  führt  Condillac,  übrigens  schon  im  Trait^  des  sensations,  gegen  Locke,  seine  Schule 
gegen  die  Schotten  aus.  —  3)  In  diesen  Bestimmungen  stecken  Anregungen  von  Hobbea 
ebenso  wie  von  Hume.  — 


378  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

sp räch  Laniettrie  mit  koketter  Rücksichtslosigkeit  aus,  was  viele  Andere  sich  selbst 
nicht  einzugestehen,  geschweige  denn  zu  verkündigen  oder  zu  vertreten  wagten. 

Auf  den  Materialismus  trieben  aber,  unabhängig  von  der  Ideologie,  auch 
andere  Gedankengänge  der  Naturforschung  zu.  Lamettrie  hatte  sehr  richtig 
gesehen,  dass  das  Piincip  der  mechanischen  Natur-Erklärung  schliessUch  nichts 
neben  der  durch  ihre  eigenen  Kräfte  bewegten  Materie  dulden  werde :  schon  lange 
vorher,  ehe  Laplace  die  bekannte  Antwort  gab,  er  bedürfe  der  „Hypothese  der 
Gottheit"  nicht,  war  die  französische  Naturphilosophie  auf  diesem  Standpunkte 
angelangt.  Dass  die  Welt  der  Gravitation  in  sich  lebe,  war  auch  Newton's 
Meinung;  aber  er  glaubte,  den  Anstoss  ihrer  Bewegungen  in  einer  Wirkung 
Gottes  suchen  zu  müssen.  Einen  Schritt  weiter  ging  Kant,  als  er  in  seiner 
„Naturgeschichte  des  Himmels"  ausrief:  Gebt  mir  Materie  und  ich  will  Euch  eine 
Welt  bauen.  Er  machte  sich  anheischig,  das  ganze  Universum  der  Fixsterne  nach 
Analogie  des  Planetensystems  zu  erklären  *),  und  führte  die  Entstehung  der  ein- 
zelnen Weltkörper  aus  einem  feurig-flüssigen  Urzustände  lediglich  auf  die  gegen- 
sätzliche Wirkung  der  beiden  Grundkräfte  der  Materie,  Attraction  und  Repulsion 
zurück.  Allein  Kant  war  überzeugt,  dass  die  Erklärung,  welche  für  die  Sonnen- 
systeme ausreicht,  am  Grashalm  und  an  der  Raupe  scheitere:  der  Organismus 
erschien  ihm  als  ein  Wunder  in  der  Welt  der  Mechanik. 

Die  französische  Naturphilosophie  suchte  auch  diesen  Gegensatz  zu  über- 
winden und  das  Problem  der  Organisation  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Unter  den 
zahllosen  Atomcomplexen,  lehrte  sie,  sind  auch  solche,  welche  die  Fähigkeit  der 
Erhaltung  und  Fortpflanzung  besitzen.  Buffon,  der  diesen  vielfach  geäusserten 
Gedanken  mit  voller  Energie  ausgesprochen  und  durchgeführt  hat,  gab  solchen 
Atomcomplexen  den  Namen  der  organischen  Moleküle,  und  unter  Voraus- 
setzung dieses  Begriffs  Uess  sich  alles  organische  Leben  im  Princip  als  eine 
nach  mechanischen  Gesetzen  in  der  Berührung  mit  der  Aussenwelt  entwickelte 
Thätigkeit  solcher  Moleküle  betrachten^.  Das  hatte  schon  Spinoza  gethan,  an 
dessen  Naturlehre  Buffon  vielfach  erinnert:  auch  der  letztere  redet  von  Gott 
und  der  „Natur"  als  Synonymen.  Dieser  Naturalismus  fand  somit  in  der 
Mechanik  das  gemeinsame  Princip  für  alles  körperliche  Geschehen.  Wenn  nun 
aber  die  Ideologie  auch  die  Ideen  und  deren  Umbildung  als  Functionen  der  Or- 
ganismen betrachten  lehrte,  wenn  es  nicht  mehr  für  unmöghch,  sondern  immer 
mehr  für  wahrscheinlich  galt,  dass  das  Ding,  welches  denkt,  dasselbe  sei,  welches 
ausgedehnt  ist  und  sich  bewegt,  wenn  Hartley  undPriestley  in  England,  Lamettrie 
in  Frankreich  zeigten^  dass  die  Bewusstseinsveränderung  eine  Function  des 
Nervensystems  sei,  so  war  man  dicht  daran  zu  lehren,  dass  die  Ideen  mit  allen 
ihren  Transformationen  nur  einen  Specialfall  der  mechanischen  Thätigkeit  der 
Älaterie,  nur  eine  besondere  Art  ihrer  Bewegungsformen  bildeten.  Hatte 
Voltaire  gemeint,  Bewegung  und  Empfindung  könnten  wohl  Attribute  derselben 


1)  Den  Anlass  zu  dieser  genialen  astrophysischen  Hypothese,  der  auch  Lambert  in 
seinen  „Kosmolofrischen  Briefen**  sehr  nahe  war,  und  die  spater  in  ähnlicher  Weise  von 
Laplace  ausgeführt  wurde,  hat  vielleicht  eine  Bemerkung  von  Buffon  gegeben.  Vgl.  O.  Lieb- 
mann, Zur  Analysis  der  Wirklichkeit,  2.  Aufl.  S.  376.  —  2)  In  der  Weiterentwicklung  dieses 
Buffon'schen  Princips  hat  dann  später  Lamarck  (Philosophie  zoologique,  Paris  1809)  die 
Umwandlung  der  Organismen  aus  den  niederen  in  die  höheren  Formen  wesentlich  durch  den 
mechanischen  Einfluss  der  Aussenwelt,  durch  Anpassung  an  die  Umgebung  zu  erklären 
versucht. 


§  84.  Erkenntniss  der  Aussenwelt.  (Materialismus.)  379 

unbekanntea  Substanz  sein,  so  schlug  dieser  HylozoismuS;  sobald  man  die 
Abhängigkeit  des  Psychischen  vom  Physischen  in  eine  Gleichartigkeit  umdeutete, 
inentschiedenenMaterialismus  mn,  und  es  sind  oft  nur  leise  und  feine  Nuancen 
des  Ausdrucks,  wodurch  sich  das  eine  in  das  andere  verwandelt.  Diesen  üeber- 
gang  bieten  die  Schriften  von  Robin  et  dar.  Er  giebt  der  Naturphilosophie 
einen  metaphysischen  Flug.  Mit  Anlehnung  an  das  Entwicklungssystem  der 
Leibniz'schen  Monadologie  betrachtet  er  die  Stufenleiter  der  Dinge  als  eine  un- 
endliche Mannigfaltigkeit  von  Daseinsformen,  in  denen  die  beiden  Factor^n  der 
Körperlichkeit  und  der  psychischen  Function  in  allen  möglichen  verschiedenen  Ver- 
hältnissen gemischt  seien,  so  dass,  je  mehr  sich  das  Wesen  des  Einzeldinges  in 
der  einen  Richtung  entfalte ,  um  so  geringer  seine  Bethätigung  in  der  anderen 
sei.  Das  gilt  aber  nach  Robinet  auch  in  der  Lebensbewegung  der  Einzelwesen: 
die  Kraft,  welche  sie  geistig  verbrauchen  sollen,  geht  physisch  verloren  und  um- 
gekehrt. Im  Ganzen  betrachtet  erscheint  dann  aber  das  seelische  Leben  als  eine 
besondere  Form,  welche  die  materielle  Grundthätigkeit  der  Dinge  anzunehmen 
vermag,  um  sich  später  wieder  in  die  ursprünghche  Gestalt  zurückzuübersetzen. 
So  betrachtet  Robinet  Vorstellungen  und  Willensthätigkeiten  als  mechanische 
Transformationen  der  Nerventhätigkeit,  welche  sich  dann  wieder  in  solche  zu 
verwandeln  vermögen.  Seelisch  geschieht  dabei  nichts,  was  nicht  in  der  physischen 
Form  angelegt  war,  und  der  Leib  erfahrt  somit  in  den  psychischen  Lnpulsen  nur 
die  Rückwirkungen  seiner  eigenen  Bewegung. 

Unverhüllt  als  rein  dogmatische  Metaphysik  tritt  zum  Schluss  der  Materia- 
lismus imSyst^medelanature  auf.  Er  führt  sich  mit  dem  epikureischen  Motive 
ein,  den  Menschen  von  der  Furcht  vor  dem  Uebersinnlichen  befreien  zu  woUen: 
es  soll  gezeigt  werden,  dass  dies  nur  die  unsichtbare  Thätigkeitsform  des  Sinn- 
lichen sei.  Niemand  habe  je  etwas  anderes  Uebersinnliches  ausdenken  können,  als 
ein  abgeblasstes  Nachbild  des  Materiellen.  Wer  von  Idee  und  Wille,  von  Seele  und 
Gott  rede,  denke  Nerventhätigkeit,  Leib  und  Welt  noch  einmal  in  abstracter 
Form.  Im  übrigen  bietet  diese  „Bibel  des  Materialismus"  in  schwerfallig  lehr- 
hafter und  systematisch  langweiliger  Darstellung  keine  neuen  Lehren  oder  Ar- 
gumente :  doch  ist  eine  gewisse  Wucht  der  Gesammtauffassung,  ein  grosser  Zug 
in  der  Führung  der  Linien  der  Weltanschauung,  ein  herber  Ernst  des  Vortrags 
nicht  zu  verkennen.  Das  ist  nicht  mehr  ein  pikantes  Spiel  der  Gedanken,  son- 
dern ein  schwerer  Waffengang  gegen  jeden  Glauben  an  die  immaterielle  Welt. 

10.  Trotz  des  psychogenetischen  Gegensatzes  war  doch  das  Erkenntniss- 
problem bei  den  Vertretern  der  „eingeborenen  Ideen"  demjenigen  der  Sensualisten 
nicht  allzu  unähnlich.  Die  dualistische  Voraussetzung  beider  machte  es  den 
letzteren  schwer,  die  Conformität  zu  begreifen,  welche  die  von  den  Körpern  in 
den  Seelen  hervorgerufenen  Vorstellungen  mit  den  ersteren  beanspruchen:  aber 
schwieriger  fast  schien  es  noch  zu  verstehen,  dass  der  Geist  durch  die  Entwick- 
lung der  in  seiner  Natur  begründeten  Denkformen  eine  von  ihm  unabhängige 
Welt  erkennen  sollte.  Und  doch  ist  gerade  dies  eine  in  dem  menschlichen  Nach- 
denken so  tief  eingewurzelte  Annahme,  dass  sie  nicht  nur  dem  naiven  Bewusst- 
sein,  sondern  auch  der  philosophischen  Ueberlegung  meist  als  selbstverständlich 
gilt.  Es  war  die  Mission  des  in  der  neueren  Philosophie  nachwirkenden  Terminis- 
mus, diese  dogmatische  Grundüberzeugung  zu  erschüttern  und  die  Frage  nach 
dem  Grunde  jener  Conformität  zwischen  Denknothwendigkeit  und  Realität  her- 


380  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

vorzutreiben.  Schon  Descartes  hatte  es  für  nothwendig  gefunden,  die  Erkennt- 
nis8kraft  des  lumen  naturale  durch  die  veracitas  dei  zu  stützen  und  damit  den  Weg 
gewiesen,  welchen  die  metaphysische  Lösung  des  Problems  allein  einschlagen 
konnte. 

Wo  freilich  jener  philosophische  Trieb  fehlte,  der  sein  dao(idCeiy  gerade 
auf  das  scheinbar  Selbstverständliche  richtet,  da  wog  auch  jetzt  jene  Schwierig- 
keit gering.  Das  war  trotz  aller  Kraft  der  logischen  Klarheit  und  systematischen 
Sorgfalt  bei  Wolff,  trotz  aller  Feinheit  der  psychologischen  Analyse  bei  den 
Schotten  der  Fall.  Der  erstere  geht  daran^  aus  den  allgemeinsten  formalen 
Gesetzen  der  Logik,  aus  dem  Satze  des  Widerspruchs  und  dem  des  zureichenden 
Grundes  (wobei  sogar  der  zweite  noch  auf  den  ersten  zurückgeführt  werden  soll) 
eine  weitschichtige  Ontologie  und  eine  Metaphysik  mit  ihren  auf  Gott,  Welt  und 
Seele  bezüglichen  Theilen  more  geometrico  abzuleiten ,  und  er  steht  so  sehr  im 
Bann  dieses  logischen  Schematismus ,  dass  ihm  die  Frage  gar  nicht  zu  kommen 
scheint;  ob  sein  ganzes  Unternehmen;  eine  Lehre  von  allem  MögUcheU;  sofern 
es  möglich  ist;  aus  logischen  Sätzen  herauszuspinnen,  in  der  Sache  selbst  berech- 
tigt sei.  Dies  Problem  verdeckte  sich  für  ihn  um  so  mehr,  als  er  jede  rationale 
Wissenschaft  durch  eine  empirische  bestätigte,  —  eine  Uebereinstimmung,  die 
freilich  nur  möglich  war,  weil  die  apriorische  Construction  der  metaphysischen 
Disciplinen  unvermerkt  von  Schritt  zu  Schritt  Anleihen  bei  der  Erfahrung  machte. 
Trotzdem  hatte  dies  mit  reicher  Schülerschaft  gesegnete  System  den  grossen 
didaktischen  Werth,  Strenge  des  Denkens,  Harheit  der  Begriffe  und  Gründlich- 
keit des  Beweisverfahrens  als  oberste  Kegeln  für  die  Wissenschaft  aufzustellen 
und  einzubürgern,  und  gegen  die  Pedanterie,  die  sich  damit  unvermeidlich  ein- 
schlich; gaben  andere  geistige  Mächte  ein  ausreichendes  Gegengewicht  ab. 

Die  schottische  Philosophie  begnügte  sich  mit  dem  Aufsuchen  der  Grund- 
sätze des  gesunden  Menschenverstandes.  Jede  Empfindung  ist  das  Zeichen  — 
so  terministisch  denkt  auch  Reid  —  für  die  Anwesenheit  eines  Objects;  das 
Denken  garantirt  die  ReaUtät  des  Subjects ;  was  wirklich  wird,  muss  eine  Ursache 
haben  etc.  Solche  Sätze  sind  absolut  gewiss;  sie  zu  leugnen  oder  auch  nur  zu 
bezweifeln  ist  absurd.  Insbesondere  aber  gehört  dazu  der  SatZ;  dasS;  was  der 
Verstand  klar  und  deutlich  erkennt;  auch  nothwendig  so  ist.  Darin  ist  das  all- 
gemeine Princip  einer  philosophischen  Auffassung  formulirt,  welche  man  (nach 
Kant's  Vorgange)  Dogmatismus  nennt,  das  bedingungslose  Vertrauen  in  die 
Uebereinstimmung  des  Denkens  mit  der  Realität.  Dabei  zeigen  jene  Proben  der 
einzelnen  Sätze,  wie  eclectisch  dieser  Common-sense  seine  Grundwahrheiten 
aus  den  verschiedenen  Systemen  der  Philosophie  zusammensuchte.  Darin  war 
ihm  dann  der  „gesunde  Menschenverstand"  der  deutschen  Popularphilosophen 
durchaus  ähnhch.  Mendelssohn  war  wie  Reid  der  Ansicht,  dass  alle  extremen 
Gegensätze  in  der  Philosophie  Irrthümer  seien,  zwischen  denen  die  "Vy^brheit  in 
der  Mitte  liege :  jeder  radicalen  Ansicht  Hegt  ein  berechtigter  Keim  zu  Grunde; 
der  nur  künstlich  zu  einseitiger  und  krankhafter  Entwicklung  getrieben  ist.  Ein 
gesundes  Denken  (auf  dies  Prädicat  legt  namentlich  Nicolai  Gewicht)  wird  all 
den  verschiedenen  Motiven  gerecht  und  findet  so  als  seine  Philosophie  —  die 
Meinung  des  Durchschnittsmenschen. 

11.  Li  Leibniz'  Geiste  war  das  Problem  durch  die  Hypothese  der  prä- 
stabilirten  Harmonie  gelöst.  Die  Monade  erkennt  die  Welt,  weil  sie  die  Welt  ist: 


§  34.  Erkenntniss  der  Aussenwelt.  (Leibniz,  Baumgarten.)  381 

ihr  Vorstellungsinhalt  ist  von  vornherein  das  Universum ,  und  das  Gesetz  ihrer 
Thätigkeit  ist  das  Weltgesetz.  Sie  hat  ihrer  „Fensterlosigkeit"  wegen  eine  Er- 
fahrung im  eigentlichen  Sinne  überhaupt  nicht:  trotzdem  ist  die  Möglichkeit  der 
Welterkenntniss  in  ihrem  Begriffe  so  wesentlich  angelegt,  dass  als  solche 
geradezu  alle  ihre  Zustände  gelten  müssen.  Zwischen  Verstand  und  Sinnhchkeit 
war  danach  ein  Unterschied  weder  hinsichtlich  der  Gegenstände  noch  hinsichtUch 
der  Art  der  Beziehung  des  Bewusstseins  auf  dieselben:  nur  sollte  die  Sinnlich- 
keit die  undeutliche  Erscheimmgsform,  der  Verstand  das  wahre  Wesen  der 
Dinge  erkennen.  In  wissenschaftUcher  Hinsicht  wurde  deshalb  die  sinnUche  Er- 
kenntniss theils  als  die  unvollkommnere  Vorstufe  theils  als  das  undeutliche  Gegen- 
bild der  Verstandeseinsicht  behandelt:  die  „historischen'^  Wissenschaften  galten 
entweder  als  Vorbereitungen  oder  als  niedere  Seitenstücke  zu  den  philosophischen. 

Aus  diesem  Verhältniss  hat  sich  nun  eine  eigenthümhche  Consequenz  er- 
geben. Auch  der  sinnlichen  Vorstellungsweise  wohnt  eine  gewisse  eigenartige 
Vollkommenheit  bei,  welche,  von  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Verstandes- 
wissens unterschieden,  die  Erscheinungsform  ihres  Gegenstandes  ohne  Bewusst- 
sein  der  Gründe  auffasst:  und  in  diese  Vollkommenheit  der  sinnhchen  Erkennt- 
niss hatte  Leibniz^)  das  Gefühl  des  Schönen  gesetzt.  Als  nun  einer  von 
Wolff's  Schülern,  Alexander  Baumgarten,  bei  dem  der  architektonische  Trieb 
des  Systematiskens  besonders  stark  entwickelt  war,  der  Logik  als  der  Wissen- 
schaft vom  vollkommenen  Verstandesbrauch  eine  entsprechende  Wissenschaft 
von  der  Vollkommenheit  der  Empfindung,  eine  Aesthetik  an  die  Seite  stellen 
wollte,  da  gestaltete  sich  diese  DiscipUn  zu  einer  Lehre  vom  Schönen*).  So 
erwuchs  die  Aesthetik'')  als  philosophischer  Wissenszweig  nicht  aus  Interesse  an 
ihrem  Gegenstande,  sondern  mit  entschiedener  Geringschätzung  desselben, 
und  als  eine  „nachgeborene  Schwester"  der  Logik  behandelte  sie  ihn  auch  mit 
sehr  geringem  Verständniss  für  seine  Eigenart  und  mit  verstandeskühler  Pedan- 
terie; auch  vermochte  dieser  Rationalist,  dem  nach  Leibniz  die  wirkliche  Welt 
als  die  beste  und  darum  auch  als  die  schönste  unter  den  mögUchen  galt,  i^ 
die  Theorie  der  Kunst  kein  anderes  Princip  als  das  sensuaUstische  der  Natur- 
nachahmung aufzustellen  und  entwickelte  dasselbe  wesentlich  in  eine  langweiUge 
Poetik.  Allein  trotzdem  bleibt  es  Baumgarten's  grosses  Verdienst,  das  Schöne 
zum  ersten  Male  wieder  systematisch  aus  den  allgemeinsten  Begriffen  der  Philo- 
sophie behandelt  und  damit  eine  Disciplin  begründet  zu  haben,  der  in  der 
Weiterentwicklung  besonders  der  deutschen  Philosophie  eine  so  wichtige  Rolle 
bestimmt  war. 

12.  Die  Leibniz-Wolff'sche  Auffassung  von  dem  Verhältniss  der  Sinnhch- 
keit und  des  Verstandes,  insbesondere  aber  die  für  die  rationale  Erkenntniss 
eingeführte  geometrische  Methode  stiess  aber  in  der  deutschen  Philosophie 
des  18.  Jahrhunderts  auf  eine  zahlreiche  Gegnerschaft,  welche  nicht  nur  von  den 
Anregungen  des  englischen  und  französischen  SensuaUsmus  imd  Empirismus, 
sondern  von  selbständigen  Untersuchungen  über  das  methodische  und  erkennt- 


1)  Vgl.  bes.  Princ.  d.  1.  nat.  et  d.  1.  gr.  17.  —  2)  Vgl.  Hermann  Lotze,  Geschichte  der 
Aesthetik  in  Deutschland  (München  1868).  —  3)  Der  Name  ^Aesthetik"  ist  dann  später  von 
Kant  nach  anfanglichem  Sträuben  für  die  Bezeichnung  der  philosophischen  Lehre  vom 
Schönen  und  von  der  Kunst  adoptirt  worden,  von  ihm  auf  Schiller  und  durch  dessen  Schriften 
in  die  allgemeine  Sprache  übergegangen. 


382  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

nisstheoretische  Verhältniss    der   Mathematik  und   der  Philosophie 
ausging. 

In  letzterer  Hinsicht  haben  Rüdiger  und,  von  ihm  angeregt,  Crusius 
am  erfolgreichsten  gegen  die  Wolffsche  Lehre  gekämpft.  Jener  stellte  der 
WolfFschen  Definition  der  Philosophie  als  der  Wissenschaft  des  Möglichen  die 
Bestimmung  entgegen,  ihre  Aufgabe  sei,  das  Wirkliche  zu  erkennen.  Die  Mathe- 
matik und  deshalb  auch  eine  ihrer  Methode  nachgebildete  Philosophie  habe  es 
nur  mit  dem  Möglichen,  mit  der  widerspruchslosen  Uebereinstimmung  der  Vor- 
stellungen unter  einander  zu  thun:  eine  wahre  Philosophie  bedürfe  der  realen 
Beziehung  ihrer  Begriffe  auf  das  Wirkliche,  und  eine  solche  sei  nur  durch  die 
Wahrnehmung  zu  gewinnen.  Crusius  machte  sich  diese  Gesichtspunkte  zu  eigen, 
und  obwohl  er  weniger  sensualistisch  als  sein  Vorgänger  dachte,  so  kritisirte  er 
doch  von  da  aus  in  ganz  ähnlicher  Weise  das  Bestreben  der  geometrischen 
Methode,  nur  mit  Hufe  der  logischen  Formen  die  Wirklichkeit  erkennen  zu 
wollen.  Er  verwarf  den  ontologischen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  da  aus 
Begriffen  allein  niemals  auf  die  Existenz  geschlossen  werden,  die  Existenz  (wie 
es  Kant  ausdrückte)  nicht  herausgeklaubt  werden  könne.  In  der  gleichen  Rich- 
tung lag  es  auch,  dass  Crusius  bei  der  Behandlung  des  Satzes  vom  Grunde  auf 
die  genaue  Unterscheidung  zwischen  dem  realen  Verhältniss  von  Ursachen  und 
Wirkungen  und  der  logischen  Beziehung  von  Grund  und  Folge  drang.  Er  be- 
nutzte seinerseits  diese  Verschiedenheit  von  Real-  und  Idealgründen  zur  Be- 
streitung des  Leibniz-Wolff  sehen  Determinismus,  und  namentlich  dazu,  um  der 
thomistischen  Auffassung,  welche  die  Rationalisten  von  dem  Verhältniss  des  gött- 
lichen Willens  und  des  göttlichen  Verstandes  hatten,  die  scotistische  von  der 
unbeschränkten  WiUkür  des  Schöpfers  entgegenzustellen.  Die  in  allen  diesen 
Folgerungen  liegende  Abwendung  von  der  Naturreligion  stimmte  auch  die 
strengere  protestantische  Orthodoxie  günstig  fiir  die  Crusius'sche  Lehre. 

Am  einschneidendsten  und  folgereichsten  ist  in  dieser  Hinsicht  die  metho- 
dische Grundverschiedenheit  von  Philosophie  und  Mathematik  durch  Kant  unter- 
sucht worden,  dessen  Schriften  schon  früh  auf  Crusius  Rücksicht  nehmen.  In  seiner 
Preisschrift  jedoch  „über  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürUchen  Theo- 
logie und  Moral**  bringt  er  eine  entscheidende  Auseinandersetzung.  Die  beiden 
Wissenschaften  verhalten  sich  in  jedem  Betracht  als  Gegensätze.  Die  Philosophie 
ist  eine  analytische  Wissenschaft  der  Begriffe,  die  Mathematik  eine  synthetische 
Wissenschaft  der  Grössen:  jene  empfängt  ihre  Begriffe,  diese  construirt 
ihre  Grössen:  jene  sucht  Definitionen,  diese  geht  von  Definitionen  aus:  jene 
bedarf  der  Erfahrung,  diese  nicht:  jene  beruht  auf  der  Thätigkeit  des  Verstan- 
des, diese  auf  derjenigen  der  Sinnlichkeit.  Die  Philosophie  muss  deshalb,  um 
das  Wirkliche  zu  erkennen,  zetetisch  verfahren:  sie  darf  die  constructive  Me- 
thode der  Mathematik  nicht  nachahmen  wollen. 

Mit  dieser  fundamentalen  Einsicht  in  den  sinnlichen  Charakter  der  Er- 
kenntnissgrundlagen der  Mathematik  sprengte  Kant  das  System  der  geometrischen 
Methode.  Denn  danach  können  SinnUchkeit  und  Verstand  nicht  mehr  als  der 
niedere  und  der  höhere  Grad  von  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Erkennens 
unterschieden  werden.  Die  Mathematik  beweist,  dass  sinnliche  Erkenntniss  sehr 
klar  und  deutlich,  und  manches  System  der  Metaphysik  beweist,  dass  Verstandes- 
erkenntniss  recht  dunkel  und  verworren  sein  kann.   «Fene  Unterscheidung  muss 


§  35.  Natürliche  Religion.  (Leibniz,  Locke.)  383 

deshalb  mit  einer  anderen  vertauscht  werden,  und  Kant  versucht  es,  indem  er 
die  Sinnlichkeit  als  das  Vermögen  der  Receptivität,  den  Verstand  als  dasjenige 
der  Spontaneität  bestimmt.  Erthutdies  in  seiner  Inauguraldissertation 
und  baut  darauf,  in  Anlehnung  an  das  psychologische  Princip  des  virtuellen  An- 
geborenseins (vgl.  §  33,  12)  ein  neues  System  der  Erkenntnisstheorie*). 

Dessen  Grundzüge  sind  folgende:  die  Formen  der  Sinnlichkeit  sind 
Kaum  und  Zeit,  diejenigen  des  Verstandes  die  allgemeinsten  Begriffe.  Aus  der 
Reflexion  auf  die  einen  entspringt  die  Mathematik,  auf  die  anderen  die  Metaphysik, 
beides  apriorische  Wissenschaften  von  unbedingter  Gewissheit.  Aber  die  Formen 
der  (receptiven)  Sinnlichkeit  geben  nur  die  nothwendige  Erkenntniss  der  Er- 
scheinung der  Dinge  im  menschlichen  Geiste  (mundus  sensibihs  phaenomenon), 
die  Formen  des  Verstandes  dagegen  das  adäquate  Wissen  vom  wahren  Wesen 
der  Dinge  (mundus  intelligibilis  noumenon).  Dass  die  letzteren  dies  vermögen 
beruht  darauf,  dass  der  Verstand  wie  die  Dinge  selbst  ihren  Ursprung  im  gött- 
lichen Geiste  haben,  dass  wir  also  durch  ihn  die  Dinge  gewissermassen  ,,in 
Gott  sehen« «). 

§  35.  Die  natürliche  Religion. 

Im  Allgemeinen  waren  die  erkenntnisstheoretischen  Motive ,  welche  das 
18.  Jahrhundert  beherrschten,  der  Metaphysik  nicht  günstig:  wenn  sie  trotzdem 
ihre  skeptische  und  positivistische  Tendenz  nur  an  wenigen  Stellen  zum  vollen 
Ausdruck  brachten,  so  lag  dies  an  dem  religiösen  Interesse,  welches  von  der 
Philosophie  eine  Entscheidung  überfeine  Probleme  erwartete.  Schon  im  17.  Jahr- 
hundert war  auf  die  religiösen  Unruhen  und  Kriege,  unter  denen  Deutschland, 
Frankreich  und  England  geUtten  hatten,  und  auf  das  damit  zusammenhängende  dog- 
matische Gezänk  ein  Ueberdruss  an  den  ünterscheidungslehren  der  Confessionen 
gefolgt:  das  Jämmerliche  Streitjahrhundert'',  wie  es  Herder  genannt  hat,  sehnte 
sich  nach  Frieden.  InEngland  breitete  sich  die  Stimmung  der  Latitudinarier 
aus,  und  auf  dem  Continent  wurden  die  Unionsbestrebungen  trotz  mehr- 
fachen Scheiterns  immer  wieder  von  Neuem  aufgenommen.  Bossuet  und  Spinola 
auf  der  einen,  L  eibniz  auf  der  anderen  Seite  arbeiteten  lange  in  dieser  Richtung: 
letzterer  entwarf  ein  Systema  theologicum,  welches  die  allen  drei  Confessionen 
gemeinsamen  Grundlehren  des  Christenthums  enthalten  sollte,  und  als  die  Ver- 
handlungen mit  den  Katholiken  aussichtslos  wurden,  versuchte  er  wenigstens 
seine  Beziehungen  zum  Hannoverischen  und  Berliner  Hofe  zur  Herbeiführung 
einer  Eioigung  zwischen  Lutheranern  und  Reforrairten  zu  benutzen  —  auch  das 
freihch  ohne  unmittelbaren  Erfolg. 

Auf  der  anderen  Seite  fasste  Ijocke  in  seinen  drei  „Briefen  über  die  Tole- 
ranz" die  Gedanken  der  Toleranzbewegung  zu  der  Theorie  der  „freien 
Ejrche  im  freien  Staat",  zu  der  Forderung  zusammen,  dass  der  moderne,  aller 
kirchlichen  Bevormundung  enthobene  Staat  jede  religiöse  Ueberzeugung  als  per- 
sönliche Meinung  und  jede  religiöse  Genossenschaft  als  eine  freie  Association 


1)  Das  System  der  Inauguraldissertation  ist  nur  eine  Etappe  in  Eant's  Entwicklung; 
er  gab  es  sogleich  wieder  auf:  daher  gehört  es  in  seine  vorkritische  Zeit  und  in  diese  Periode. 
—  2)  Diese  mit  der  Berufung  auf  Malebranche  vorgetragene  Lehre  (Sectio  IV)  ist  somit  genau 
das  System  der  „praformirten  Harmonie"  zwischen  Erkenntniss  und  Realität,  welches  Kant 
später  (Brief  an  M.  Herz  vom  21.  Febr.  1772)  so  energisch  verwarf. 


384  V.  Philosophie  der  Auf klärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

SO  weit  zu  dulden  und  zu  schützen  habe,  als  sie  nicht  die  staatliche  Ordnung  zu 
stören  drohen. 

Je  mehr  aber  die  Union  an  dem  Widerstände  der  Theologen  scheiterte, 
um  so  mehr  Nahrung  erwuchs  dem  mystischen  Sektenwesen,  dessen  über- 
confessionelle  Tendenzen  mit  jenen  Bestrebungen  im  Einklang  waren  und  das 
sich  im  18.  Jahrhundert  mit  einer  Fülle  von  interessanten  Erscheinungen  aus- 
breitete. Dem  kirchlichen  Leben  am  nächsten  und  deshalb  am  erfolgreichsten 
hielt  sich  der  von  Spener  und  Francke  begründete  Pietismus,  welcher  gleich- 
wohl eine  gewisse  Gleichgiltigkeit  gegen  den  dogmatischen  Glauben  erkennen  lässt, 
dafür  aber  desto  mehr  Gewicht  auf  die  Steigerung  der  persönlichen  Frömmig- 
keit und  auf  die  Lauterkeit  und  rehgiöse  Färbung  des  Lebenswandels  legt, 

1.  Ln  Zusammenhange  mit  allen  diesen  Bewegungen  steht  die  Richtung  der 
Aufklärungsphilosophie  auf  eine  Begründung  des  allgemeinen,  „wahren" 
Christenthums  durch  die  Philosophie.  In  diesem  Sinne  wird  das  wahre 
Christenthum  mit  der  Vernunftreligion  oder  der  Naturreligion  iden- 
tificirt  und  soll  es  aus  den  verschiedenen  Formen  des  positiven,  historischen 
Christenthums  herausgelöst  werden.  Dabei  wird  anfangs  auch  solchem  all- 
gemeinen Christenthum  noch  der  Charakter  einer  geoffenbarten  Religion  gelassen, 
dafür  aber  die  volle  üebereinstimmung  dieser  Offenbarung  mit  der  Vernunft  be- 
hauptet. Diese  Stellung  nahmen  Locke  und  Leibniz,  sowie  des  letzteren  Schüler 
Wolff  ein.  Bei  ihnen  wird  das  Verhältniss  der  natürlichen  und  der  geoffenbarten 
Religion  ganz  nach  dem  Muster  von  Albert  und  Thomas  (vgl.  S.  263  f.)  auf- 
gefasst :  die  Offenbarung  ist  übervernünftig,  aber  mit  der  Vernunft  im  Einklang; 
sie  ist  die  nothwendige  Ergänzung  zur  natürlichen  Erkenntniss.  Offenbart  wird, 
was  die  Vernunft  nicht  von  sich  aus  finden,  nach  der  Offenbarung  aber  als  mit 
sich  übereinstimmend  verstehen  kann. 

Von  dieser  Vorstellung  her  hatten  dieSocinianer  schon  einen  Schritt 
weiter  gethan.  Die  Nothwendigkeit  der  Offenbarung  erkannten  auch  sie  sehr 
lebhaft  an:  aber  sie  betonten  andrerseits,  dass  nichts  offenbart  sein  könne,  was 
sich  nicht  der  Vemunfterkenntniss  zugänglich  erweise.  Daher  sei  in  den  religiösen 
Urkunden  nur  das  als  offenbarte  Wahrheit  anzusehen,  was  rational  ist :  d.  h.  die 
Vernunft  entscheidet,  was  als  Offenbarung  gelten  soll.  Von  diesem  Standpunkt 
schieden  die  Socinianer  die  Trinität  und  die  Gottmenschheit  Christi  aus  dem 
Inhalt  der  Offenbarung  aus  und  verlegten  überhaupt  die  Offenbarung  aus  dem 
Gebiete  theoretischer  Wahrheiten  auf  ein  ganz  anderes  Feld.  Sie  verstehen  die 
Religion  unter  dem  Merkmal  der  Gesetzlichkeit,  und  das  macht  ihre  eigen- 
thümUche  Stellung  aus.  Was  Gott  dem  Menschen  offenbart,  ist  nicht  eine  Meta- 
physik, sondern  ein  Gesetz.  So  that  er  es  in  Moses,  und  so  hat  er  in  Christus 
ein  neues  Gesetz  gegeben.  Ist  aber  die  Religion  objectiv  Gesetzgebung,  so  ist 
sie  subjectiv  Gesetzerfiillung,  —  nicht  Annahme  theoretischer  Lehren,  auch 
nicht  bloss  moralische  Gesinnung,  sondern  Unterwerfung  unter  das  von  Gott 
offenbarte  Gesetz  und  Einhaltung  aller  seiner  Vorschriften.  Dies  allein  hat  Gott 
zur  Bedingung  der  ewigen  Seligkeit  gemacht  —  eine  juridische  Auffassung  der 
Religion,  welche  mit  dem  Rückgriff  auf  die  schrankenlose  Autorität  göttlicher 
Machtbestimmungen  stark  scotistische  Elemente  zu  enthalten  scheint. 

2.  Wenn  aber  das  Kriterium  der  Offenbarung  schliesslich  doch  nur  in  ihrer 
Rationalität  Hegen  soll,  so  ist  die  volle  Consequenz  dieser  Ansicht  die,  dass  die 


§35.  NatorHche  Religion.    (Shafbesbury.)  385 

historische  0£Fenbarung  als  überflüssig  bei  Seite  geschoben  und  als  einzige 
Religion  die  natürliche  übrig  behalten  wird.  Dies  geschah  von  Seiten  der  eng- 
lischen Deisten,  und  insofern  ist  Toland  ihr  Führer,  als  er  zuerst  das  Christen- 
thum,  d.  h.  die  allgemeine  Yernunftreligion  aller  Mysterien  zu  entkleiden  und 
es  seinem  Erkenntnissinhalt  nach  auf  die  Wahrheiten  des  „natürlichen  Lichtes^, 
d.  h.  auf  eine  philosophische  Weltanschauung  zu  reduciren  unternahm.  Der 
Inhalt  aber,  welchen  die  Aufklärungsphilosophie  dieser  ihrer  Naturreligion  zu 
geben  suchte,  hatte  zwei  Quellen :  die  theoretische  und  die  praktische  Yernunfk. 
In  ersterer  Hinsicht  enthält  der  Deismus  eine  auf  die  Naturphilosophie  gegrün- 
dete Metaphysik,  in  der  zweiten  Richtung  involvirt  er  eine  moralphilosophische 
Weltanschauung.  Auf  diese  Weise  steht  die  NaturreUgion  der  Aufklärung 
ebenso  in  der  Bewegung  der  theoretischen  wie  der  praktischen  Probleme :  diese 
ihre  beiden  Elemente  standen  in  genauem  Zusanunenhange,  fanden  aber  je  eine 
besondere  Entwicklung,  so  dass  sie  auch  aus  einander  gehen  und  sich  gegen 
einander  isoliren  konnten.  Das  Yerhältniss  beider  Bestandtheile  zu  einander 
war  ftlr  die  Geschichte  der  Naturreligion  ebenso  bestimmend,  wie  ihre  gemein- 
same Beziehung  zu  den  positiven  Religionen. 

Die  volle  Vereinigung  beider  Elemente  findet  sich  bei  dem  bedeutendsten 
Denker  dieser  Richtung,  bei  Shaftesbury.  Den  Mittelpunkt  seiner  Lehre 
wie  seines  eigenen  Wesens  bildet  das,  was  er  selbst  den  Enthusiasmus  genannt 
hat:  die  Begeisterung  für  alles  Wahre,  Gute  und  Schöne,  die  Erhebung  der  Seele 
über  sich  selbst  hinaus  zu  allgemeineren  Werthen,  das  Ausleben  der  ganzen 
Eigenkraft  des  Individuums  durch  die  Hingabe  an  etwas  Höheres.  Nichts  anderes 
ist  auch  die  Religion :  ein  gesteigertes  Leben  der  Persönlichkeit,  ein  Sich-eins- 
wissen  mit  den  grossen  Zusammenhängen  der  Wirklichkeit.  Diese  edle  Leiden- 
schaft aber  wächst  wie  jede  aus  der  Bewunderung  und  Erschütterung  zur  Liebe 
heran.  Die  Quelle  der  Religion  ist  daher,  objectiv  wie  subjectiv,  die  Harmonie 
und  Schönheit,  die  Vollkommenheit  des  Weltalls :  ihr  unabweisbarer  Eindruck 
erweckt  die  Begeisterung.  Warmen  Herzens  schildert  Shaftesbury  die  Ordnung 
der  Dinge,  die  Zweckmässigkeit  ihres  Zusammenspiels,  die  Schönheit  ihrer  Ge- 
staltung, die  Harmonie  ihres  Lebens,  und  er  zeigt,  dass  es  nichts  an  sich  Böses, 
nichts  durchaus  Verfehltes  giebt.  Was  in  dem  einen  Systeme  von  Einzelwesen 
als  ein  üebel  .erscheint,  erweist  sich  an  einem  anderen  oder  in  einem  höheren 
Zusammenhange  doch  wieder  als  ein  Gutes,  als  ein  nothwendiges  Glied  im  zweck- 
vollen Bau  des  Ganzen.  Alle  Un Vollkommenheit  des  Einzelnen  verschwindet  in 
der  Vollkommenheit  des  Universums,  jeder  Missklang  löst  sich  in  der  Harmonie 
der  Welt. 

Dieser  universalistische  Optimismus,  dessen  Theodicee  ihrer  begriff- 
lichen Struktur  nach  völlig  neuplatonischen  Charakters  ist,  kennt  deshalb  nur 
einen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  den  physiko -theologischen.  Die  Natur 
trägt  überall  die  Züge  des  Künstlers  an  sich,  der  mit  höchster  Intelligenz  und 
Feinfuhligkeit  die  Liebenswürdigkeit  seines  eigenen  Wesens  in  dem  Reiz  der 
Erscheinungen  entfaltet  hat.  Schönheit  ist  der  Grundbegriff  dieser  Weltanschau- 
ung. Die  Bewunderung  des  Universums  ist  wesentlich  ästhetisch,  und  der  Ge- 
schmack des  gebildeten  Menschen  ist  für  Shaftesbury  die  Grundlage  des  religiösen 
wie  des  moralischen  Gefühls.  Deshalb  ist  auch  seine  Teleologie  die  geschmack- 
volle der  künstlerischen  Auffassung:  ähnlich  wie  Giordano  Bnmo  sucht  er  die 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  25 


386  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

Zweckmässigkeit  des  Universums  in  der  harmonischen  Schönheit  jedes  seiner 
einzelnen  Gebilde.  Alles  Kleinliche,  Utilistische  des  teleologischen  Denkens  ist 
hier  abgestreift,  und  ein  hinreissender  Schwung  poetischer  Weltverklärung  geht 
durch  Shaftesbury's  Schriften :  deshalb  haben  sie  so  mächtig  auf  die  deutschen 
Dichter,  auf  Herder*),  auf  Schiller  *)  gewirkt. 

3.  Auf  dieser  Höhe  stehen  nun  freilich  wenige  der  Aufklärungsphilosophen: 
Voltaire  und  Diderot^)  liessen  sich  anfangs  zu  so  begeisterter  Weltbetrachtung 
roitreissen,  auch  Maupertuis  und  Robinet  hatten  etwas  von  dem  universalistischen 
Zuge ;  in  Deutschland  zeigt  Reimarus  in  seinen  Betrachtungen  über  die  Kunst- 
triebe der  Thiere  wenigstens  eine  Empfänglichkeit  für  die  künstlerisch  feine 
Detailarbeit  der  Natur  und  ftir  den  Selbstzweck,  welchen  sie  in  ihren  organischen 
Gebilden  realisirt.  Die  grosse  Masse  aber  der  philosophischen  Schriftsteller  des 
18.  Jahrhunderts  ist  von  dem  anthropologischen  Interesse  und  von  den  prakti- 
schen Zielen  der  Weltweisheit  so  beherrscht,  dass  sie  vielmehr  dem  Nutzen 
nachforschen,  welchen  die  Einrichtung  des  Weltganzen  und  die  Thätigkeiten 
seiner  Theile  für  die  Bedürfnisse  des  Menschen  abwerfen:  und  wenn  dabei 
die  höher  Gestimmten  hauptsächlich  die  moralische  Förderung  und  Vervoll- 
kommnung im  Auge  haben,  so  verschmähen  doch  auch  sie  nicht  die  Gesichts- 
punkte des  Nutzens  und  der  alltäglichen  „Glückseligkeit^. 

So  wird  die  ästhetische  Teleologie  durch  die  stoische  Nützlichkeitslehre 
abgelöst,  und  die  technische  Analogie,  mit  welcher  Männer  wie  Leibniz,  Newton, 
Clarke  die  Unterordnung  des  Mechanismus  unter  die  Teleologie  gedacht  hatten^ 
konnte  dieser  Auffassung  nur  günstig  sein.  Denn  die  Zweckmässigkeit  der  Ma- 
schinen besteht  gerade  darin^  dass  sie  einen  Nutzen  abwerfen,  dass  ihre  Leistung 
noch  etwas  anderes  ist  als  ihr  eigenes  Getriebe.  Und  dieser  Analogie  gingen 
auch  die  Aufklärer,  welche  oft  die  Uebereinstimmung  ihrer  Philosophie  mit  der 
Naturwissenschaft  herausstrichen,  gerne  nach:  sie  benutzten  diese  Betrachtung 
gegen  den  Wunderbegriff  der  positiven  Religion ;  auch  Reimarus  meinte,  nur 
Stümper  brauchten  ihren  Maschinen  nachzuhelfen,  einer  vollkommenen  Intelligenz 
sei  es  unwürdig,  in  diese  Lage  zu  kommen.  Wenn  aber  nach  dem  Zweck  der 
Weltmaschine  gefragt  wurde,  so  war  die  Antwort  der  Aufklärer:  die  Glück- 
seligkeit des  Menschen,  höchstens  etwa  noch  diejenige  der  geschaffenen 
Wesen  überhaupt.  Am  geschmacklosesten  ist  diese  NützUchkeitskrämerei  in  der 
deutschen  Aufklärung  ausgeführt  worden:  schon  Wolff's  empirische  Teleologie 
(Von  den  Endabsichten  der  natürUchen  Dinge)  reizt  die  Lachmuskeln  durch  die 
kleinbürgerlichen  Gesichtspunkte,  welche  sie  der  schöpferischen  Intelligenz  unter- 
schiebt, und  die  Popularphilosophen  überboten  sich  in  der  breiten  und  wohl- 
gefaUigen  Ausmalung,  wie  nett  und  behagUch  doch  dies  Weltall  für  den  homo 
sapiens  ausgestattet  sei  und  wie  wohl  sich's  drin  leben  lasse,  wenn  man  sich  brav 
auiiuhrt. 

Edler  dachte  schon  damals  Kant,  als  er  in  der  „Naturgeschichte  des 
Himmels^  sich  die  Leibniz-Newton'sche  Auffassung  zu  eigen  machte,  aber  jenes 
Gerede  vom  Nutzen  der  Welt  für  den  Menschen  hinter  sich  liess  und  den  Blick 
auf  die  Vollkommenheit  richtete,  welche  sich  in  der  unendUchen  Mannigfaltigkeit 


1)  Hbroeb,  Vom  Erkennen  und  Empfinden.  —  2)  Schiller,  Philosophische  Briefe 
(Julius).  —  8)  Hauptsächlich  in  den  Pensöes  philosophiques  — 


§  35.  Natürliche  Religion.  (Leibniz.)  387 

der  Weltkörper  und  in  der  Harmonie  ihrer  systematischen  Verfassung  darstellt: 
und  bei  ihm  erscheint  neben  der  Glückseligkeit  der  Geschöpfe  immer  deren  sitt- 
liche Vervollkommnung  und  Erhebung.  Aber  auch  er  erachtet  den  physiko- 
theologischen^)  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  als  den  menschlich  ein- 
drucksvollsten^  wenn  er  ihm  auch  ebensowenig  strikte  Beweiskraft  zutraut  wie 
dem  kosmologischen  und  dem  ontologischen.  Die  Fopularphilosophie  dagegen 
hatte  gerade  in  diesem  Beweise  ihr  Lieblingsstück,  und  er  bildet  ein  durch- 
gängiges Merkmal  der  Naturreligion. 

4.  Die  Voraussetzung  dieses  Gedankenganges  war  die  Ueberzeugung;  dass 
die  Welt  wirklich  so  vollkommen  und  zweckmässig  sei,  um  jenen  Beweis  zu 
tragen.  Diese  Ueberzeugung  brachten  gläubige  Gemüther  mit;  und  die  Litteratur 
des  18.  Jahrhunderts  beweist,  dass  sie  in  weiten  Kreisen  als  gültige  Prämisse 
des  Beweises  unbeanstandet  angenommen  wurde:  skeptische  Geister  verlangten 
auch  dafür  den  Nachweis  und  riefen  so  die  Probleme  der  Theodicee  wach. 
In  den  meisten  Fällen  griff  dabei  die  Aufklärungsphilosophie  auf  dieselben  (an- 
tiken) Argumente  zurück,  welche  Shaftesbury  in's  Feld  führte:  auch  wurde  der 
skeptisch-orthodoxe  Hinweis  auf  die  Beschränktheit  der  menschlichen  Erkennt- 
niss  und  die  Dunkelheit  der  Wege  der  Vorsehung  nicht  verschmäht. 

Eine  neue  Wendung  erhielt  die  Theodicee  durch  Leibniz.  Dieser  war 
durch  Bayle's  einschneidende  Kritik  auf  die  Nothwendigkeit  geführt  worden, 
dem  System  der  Monadologie  durch  den  Nachweis  der  Vollkommenheit  des  Uni- 
versums die  Rechenprobe  hinzuzufügen.  Er  versuchte  es,  indem  er  die  höchsten 
Begriffe  seiner  Metaphysik  dafür  in  Bewegung  setzte,  um  zu  zeigen,  dass  die 
Thatsächlichkeit  der  üebel  in  der  Welt  keine  Instanz  gegen  ihren  Ursprung  aus 
allgütiger  und  allmächtiger  Schöpferthätigkeit  bilde.  Das  physische  Uebel  ist 
in  der  sittlichen  Weltordnung,  führt  er  aus,  eine  nothwendige  Folge  des  morali- 
schen Uebels:  es  ist  die  natürliche  Strafe  der  Sünde.  Das  moralische  Uebel  aber 
hat  seinen  Grund  in  der  Endlichkeit  und  Beschränktheit  der  Geschöpfe:  diese 
ist  das  metaphysische  Uebel.  Als  endliches  Ding  hat  die  Monade  dunkle 
und  verworrene,  sinnliche  Vorstellungen,  und  aus  ihnen  folgen  nothwendig  die 
dunklen  und  verworrenen  Sinnentriebe,  welche  die  Motive  der  Sünde  sind.  So 
reducirt  sich  das  Problem  der  Theodicee  auf  die  Frage:  weshalb  hat  Gott  das 
metaphysische  Uebel  geschaffen  oder  zugelassen? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  sehr  einfach.  Endhchkeit  gehört  zum 
Begriff  des  Geschöpfes,  Beschränktheit  ist  das  Wesen  aller  Creatur.  Es  ist  eine 
logische  Nothwendigkeit,  dass  eine  Welt  nur  aus  endlichen,  sich  gegenseitig  be- 
schränkenden und  durch  ihren  Schöpfer  selbst  determinirten  Wesen  bestehen 
kann.  Endliche  Wesen  aber  sind  unvollkommen.  Eine  Welt,  die  aus  lauter 
vollkommenen  Wesen  bestünde,  ist  eine  contradictio  in  adiecto.  Und  da  es  eine 
ebenso  „ewige**,  d.  h.  begriffliche  Wahrheit  ist,  dass  aus  dem  metaphysischen 
Uebel  das  moralische  imd  weiterhin  das  physische,  dass  aus  der  Endlichkeit  die 
Sünde  und  aus  der  Sünde  das  Leid  folgt,  so  ist  es  eine  logische  Nothwendigkeit, 
dass  eine  Welt  ohne  Uebel  undenkbar  ist.  Mochte  daher  die  Güte  Gottes  noch 
so  sehr  das  Vermeiden  des  Uebels  verlangen,  —  die  göttliche  Weisheit,  die 

1)  Diese  Bezeichnung  weist  in  das  17.  Jahrhundert  zurück  und  scheint  ans  den  neu- 
platonischen Kreisen  in  England  zu  stammen:  Samuel  Parker  gab  1669  Tentamina  physico- 
theologica  de  deo,  William  Derham  1713  eine  Physico-theology  heraus. 

25  • 


388  ^>  Philosophie  de]r  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

„Region  des  v6rites  6terneDes"  macht  eine  übellose  Welt  zur  Unmöglichkeit, 
Die  metaphysischen  Wahrheiten  sind  unabhängig  vom  göttlichen  Willen:  der 
letztere  ist  bei  seiner  schöpferischen  Thätigkeit  an  sie  gebunden. 

Andrerseits  "aber  bürgt  die  Güte,  welche  zum  Begriff  Gottes  ebenso  gehört 
wie  seine  Weisheit,  dafür,  dass  der  üebel  so  wenig  wie  möglich  sind.  Die  Welt 
ist  zufällig,  d.  h.  sie  könnte  auch  anders  gedacht  werden.  Es  giebt  eine  unend- 
liche Zahl  von  mögUchen  Welten,  —  keine  davon  ganz  ohne  Uebel,  aber  eine 
mit  zahlreicheren  und  schwereren  Uebeln  behaftet  als  die  andere.  Wenn  nun 
Gott  unter  allen  diesen  möglichen  Welten,  welche  seine  Weisheit  vor  ihm  aus- 
breitete, diese  wirkliche  Welt  geschaffen  hat,  so  kann  ihn  dabei  nur  die  Wahl 
des  Besten  geleitet  haben:  er  hat  diejenige  verwirklicht,  welche  die  wenigsten 
und  die  geringsten  Uebel  enthält.  Die  Contingenz  der  Welt  besteht  darin,  dass  sie 
nicht  mit  metaphysischer  Nothwendigkeit,  sondern  durch  eine  Auswahl  unter  vielen 
Möglichkeiten  existirt:  und  da  diese  Auswahl  von  dem  allgütigen  Willen  Gottes 
herrührt,  so  ist  es  undenkbar,  dass  die  Welt  eine  andere  als  die  beste  wäre.  Die 
Theodicee  kann  nicht  darauf  gehen,  das  Uebel  in  der  Welt  zu  leugnen;  denn  es 
gehört  zu  ihrem  Begriff:  aber  sie  kann  beweisen,  dass  diese  Welt  so  wenig  Uebel 
enthält,  als  es  nach  metaphysischem  Gesetz  irgend  möglich  war.  Gottes  Güte 
hätte  gern  eine  übellose  Welt  hervorgebracht,  aber  seine  Weisheit  erlaubte  ihm 
nur  die  beste  unter  den  möglichen  Welten. 

Daher  stammt  der  übhche  Ausdruck  Optimismus.  Ob  diese  Rechenprobe 
der  physiko-theologischen  Weltbetrachtung  stimmt,  bleibe  dahingestellt.  Das 
18.  Jahrhundert  fasste  die  Sache  so  auf,  als  habe  Leibniz  wesentlich  beweisen 
wollen,  dass  die  Welt  die  denkbar  vollkommenste  sei:  dass  er  dies  nur  unter  der 
Voraussetzung  der  metaphysischen  Nothwendigkeit  des  Uebels  that,  ist  charak- 
teristischer Weise  in  der  litteratur  jener  Zeit,  die  eben  selbst  durch  und  durch 
„optimistisch^  dachte,  kaum  beachtet  worden.  In  historischer  Beziehung  aber 
ist  Hi  dieser  Theodicee  das  Merkwürdigste  die  eigenthümliche  Mischung  tho- 
mistischer  und  scotistischer  Metaphysik.  Die  Welt  ist  so  wie  sie  ist  nur  deshalb, 
weil  Gott  sie  so  gewollt  hat;  er  hätte  kraft  seiner  Allmacht  auch  eine  andere 
wählen  können:  aber  in  der  Wahl  der  vorUegenden  Möglichkeiten  ist  der  göttliche 
Wille  an  den  göttlichen  Verstand  als  die  „ewigen  Wahrheiten"  gebunden.  Ueber 
aller  Wirklichkeit  schwebt  das  Fatum  der  Logik. 

5.  In  den  bisher  entwickelten  Formen  glaubten  die  Lehrer  der  natürhchen 
Religion  auf  dem  physiko-theologischen  Wege  zum  Begriffe  der  Gottheit  als  der 
schöpferischen  Intelligenz  zu  gelangen,  und  fiir  diese  Phase  der  Entwicklung 
pflegt  der  Name  Deismus  angewendet  zu  werden.  Die  Auffassung  Gottes  als 
Persönlichkeit,  welche  dabei  als  letzter  Rest  aus  der  positiven  Religion  übrig 
geblieben  ist,  bot  auch  für  die  moralische  Seite  der  Naturreligion  den  Anhalt 
und  fand  andrerseits  daran  ihren  Rückhalt.  Wo  aber  nur  das  theoretische  Ele- 
ment verfolgt  wurde,  da  sah  sich  die  Naturreligion  in  den  Entwicklungsgang  der 
naturalistischen  Metaphysik  verflochten  und  fand  darin  schliesslich  ihren  Untergang. 
Schon  Toland  gab  der  Naturbewunderung,  die  für  ihn  den  wesentlichen  Inhalt 
des  religiösen  Gefühls  ausmachte,  eine  durchaus  pantheistische  Wendung, 
und  mit  dem  Hylozoismus,  der  sich  bei  den  französischen  Naturforschern 
ausbildete  (vgl.  §  34,  9),  hörte  die  Transscendenz  Gottes  ebenso  wie  die  Persön- 
lichkeit auf:  und  als  dann  die  Alleinherrschaft  der  mechanischen  Naturerklärung 


§  86.  Natürliche  Religion.   (Voltaire,  Diderot,  Bayle.)  389 

verkündet  wurde,  als  auch  die  organische  Welt  im  Princip  als  Product  des  allge- 
meinen Naturmechanismus  erkannt  war^  da  verlor  der  physiko-theologische  Be- 
weis seine  Macht  über  die  Geister.  Dazu  kam^  dass  die  Prämissen  desselben 
in  Frage  gestellt  wurden.  Das  ganz  Buropa  erschütternde  Ereigniss  des  Erd- 
bebens in  Lissabon  (1755)  brachte  bei  Vielen  die  Vorstellung  von  der  Voll- 
kommenheit und  Zweckmässigkeit  der  Welteinrichtung  in's  Schwanken:  die 
Grleichgiltigkeit;  mit  der  die  Natur  das  Menschenleben  und  all  seinen  Zweck- 
und  Werthinhalt  zerstört,  schien  weit  eher  für  eine  blinde  Nothwendigkeit  alles 
Geschehens  als  für  eine  teleologische  Anlage  des  Weltprocesses  zu  sprechen. 
Voltaire,  in  dem  sich  dieser  Umschwung  der  Auffassung  auch  vollzog,  begann 
im  Candide  die  „beste  der  möglichen  Welten"  zu  verspotten,  und  das  natur- 
philosophische Element  der  Naturreligion  war  in  sich  zerfallen. 

Das  Systeme  de  la  nature  mit  seinem  Atheismus  und  Materialismus 
zog  die  letzte  Consequenz  daraus.  Alle  Zweckmässigkeit,  alle  Ordnung  iu  der 
Natur  ist  nur  ein  Phänomen  im  menschlichen  Geiste:  die  Natur  selbst  kennt  nur 
die  Nothwendigkeit  der  Atombewegung  und  in  ihr  giebt  es  keine  W-erth- 
bestimmungen,  welche  von  Zwecken  oder  Normen  abhängig  sind.  Die  Gesetz- 
mässigkeit der  Natur  ist  in  denjenigen  Dingen,  welche  uns  zwecklos  oder  unzweck- 
mässig, regellos  oder  anomal  erscheinen,  mit  derselben  Folgerichtigkeit  wirksam, 
wie  in  den  Dingen,  die  wir  hinsichtlich  ihrer  üebereinstimmung  mit  unseren  Ab- 
sichten oder  Gewohnheiten  beurtheilen  und  als  zweckvoll  bilUgen.  Der  Weise 
soU  diese  Indifferenz  der  Natur  sich  zu  eigen  machen:  er  soll  die  Relativität 
aller  Zweckauffassungen  durchschauen ;  es  giebt  keine  reale  Norm  oder  Ordnung. 
Dies  Princip  wendete  Diderot  auf  die  Aesthetik  an.  Die  Consequenz  der 
Natur  ist  danach  das  Einzige,  was  die  Kunst  darstellen,  was  sie  auffassen  und 
wiedergeben  soll:  die  Schönheit  gehört  zu  denjenigen  Werthungen,  welchen  keine 
objective  Geltung  zukommt.  Der  Materialismus  kennt  nur  eine  ideallose 
Kunst,  nur  die  gleichgfltige  Copie  irgend  eines  beliebigen  Wirklichen. 

6.  Während  so  die  naturphilosophischen  Grundlagen  des  Deismus  sich 
von  innen  heraus  zersetzten,  gerieth  auch  seine  erkenntnisstheoretische  Basis  in's 
Schwanken :  denn  alle  Angriffe  auf  die  Möglichkeit  einer  Metaphysik  trafen  auch 
diejenige  einer  Naturrehgion,  welche  ja  doch  inhaltlich  nur  einen  Best  religiöser 
Metaphysik  darstellte.  In  dieser  Hinsicht  war  der  Baconismus  der  gefährlichste 
Feind  der  deistischen  Lehre:  er  liess  die  Religion  nur  als  Offenbarung  gelten 
und  bestritt  die  Möglichkeit,  ihre  Lehren  mit  der  Vernunft  zu  erkennen  oder 
auch  nur  in  Einklang  zu  bringen.  Niemand  hat  diesen  Standpunkt  energischer 
vertreten  als  Pierre  Bayle.  Er  arbeitete  systematisch  daran,  die  Widerver- 
nünftigkeit  aller  dogmatischen  Lehren  aufisuzeigen,  er  legte  mit  eindringendem 
Scharfsinn  ihre  Widersprüche  bloss,  er  suchte  zu  beweisen,  dass  sie  für  die  natür- 
liche Vernunft  absurd  wären:  aber  er  deckte  auch  die  Blossen  des  Deismus  auf, 
er  leugnete  die  Beweiskraft  der  philosophischen  Argumente  für  das  Dasein 
Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  und  er  setzte  namentlich  bei  den  Pro- 
blemen der  Theodicee  ein,  um  die  Unzulänglichkeit  des  „natürlichen  Lichts^  zu 
erweisen :  selbst  im  Streit  mit  Leibniz  war  er  nicht  der  unterUegende  Theil. 
Religion  ist  deshalb  für  ihn  nur  als  positive  Offenbarung,  im  Widerspruch  mit 
der  philosophischen  Erkenntniss  möglich.  Er  vertritt  in  aller  Schärfe  die  zwei- 
fache Wahrheit.   Mochte  er  darum  vielleicht  auch  selbst  für  seine  Person  das 


390  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   1.  Theoretische  Fragen. 

Verdienst  des  widervernünftigen  Glaubens  haben;  —  seine  Schriften  und  ins- 
besondere die  Artikel  des  vielgelesenen  Dictionnaire  waren  den  theoretischen 
Lebren  der  positiven  Religion  nicht  weniger  gefahrlich  als  denen  des  Deismus. 

Aus  erkenntnisstheoretischen  Gründen  hat  endlich  auch  Hume  die  Ver- 
einigung aufgelöst,  welche  die  übrigen  englischen  Empiristen  und  Nominalisten, 
ja  selbst  die  Materialisten  wie  Hartley  und  Priestley  mit  der  natürlichen  Religion 
aufrechtzuerhalten  suchten.  Wenn  es  überhaupt  keine  Metaphysik  der  Dinge 
giebt;  so  fallt  auch  die  philosophische  Keligion  dahin.  Zwar  erkennt  Hume  (als 
Cleanthes  im  Dialog)  im  Sinne  seines  praktischen  Probabilismus  an,  dass  die 
Welt  im  Ganzen  den  unbestreitbaren  Eindruck  der  Zweckmässigkeit  und  ver- 
nünftigen Ordnung  mache,  und  findet  deshalb^  dass  jener  Glaube  (belief),  auf  dem 
alle  Lebenserfahrung  beruht;  auch  für  die  (physiko-theologische)  Annahme  einer 
einheitlichen  Schöpfung  und  Leitung  des  Ganzen  zutrifft.  Aber  vom  wissen- 
schaftlichen Standpunkte  aus  kann  er  (als  Philo)  diesen  Glauben  nicht  für 
begründbar  erachten.  Insbesondere  macht  er  nach  den  Principien  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung geltend;  es  erkläre  sich  auch  unter  Voraussetzung  rein  mechani- 
nischer  Lehren  recht  gut,  dass  unter  den  zahllosen  Combinationen  der  Atome 
schliesslich  eine  haltbare,  zweckmässige;  wohlgeordnete  zu  Stande  gekommen 
und  befestigt  sei.  So  bleibt  es  bei  einer  problematischen  Entscheidung.  Die 
Naturroligion  ist  eine  vernünftige  Betrachtungsweise  des  praktischen  Menschen; 
aber  sie  soll  keine  wissenschaftliche  Lehre  sein  wollen. 

7.  Je  mehr  aus  diesen  oder  anderen  Gründen  das  metaphysische  Moment 
des  Deismus  zurücktrat;  um  so  mehr  wurde  das  „wahre  Christenthum",  das  der- 
selbe sein  wollte;  auf  eine  moralische  üeberzeugung  beschränkt.  Das 
hatte  schon  Herbert  von  Cherbury,  welcher  der  Naturphilosophie  ferner  stand; 
nahe  gelegt;  und  ganz  bestimmt  war  es  von  Spinoza  ausgesprochen  worden.  Danach 
sollte  das  Wesen  der  Religion  im  sittlichen  Handeln  bestehen;  das  religiöse 
Leben  zu  seinem  wahren  Inhalte  die  Besinnung  auf  die  Pflicht  und  den  Ernst 
einer  danach  bestimmten  Lebensführung  haben.  Das  ergab  für  sich  allein  nur  sehr 
verschwommene  und  blasse  Linien  der  Weltanschauung.  Es  bheb  eine  un- 
bestinmite  Vorstellung  von  einem  allgütigen  Gotte  übrig;  der  den  Menschen  zur 
GlückseUgkeit  geschaffen  habC;  den  wir  durch  tugendhaftes  Leben  verehren  sollen; 
und  der  in  einem  ewigen  Leben  die  ausgleichende  Gerechtigkeit  üben  wird,  dass 
solcher  Tugend  der  Lohn  zu  Theil  werde,  der  ihr  hier  mangelt.  Niemand  wird 
den  reineu;  edlen  Sinn  verkennen,  der  in  diesem  moralisirenden  Deismus 
lebtC;  oder  den  hohen  Werth;  welcher  ihm  historisch  zukommt,  weü  er  der  Ein- 
seitigkeit und  dem  Streit  des  confessionellen  Eifei*s  gegenüber  die  Ideale  der 
Duldung  und  der  Menschenliebe,  die  Achtung  des  rein  MenschhcheU;  die  Werth- 
schätzung  der  sittlichen  Gesinnung  und  die  Bescheidung  des  persönlichen  Meinens 
in  der  Litteratur  und  im  Leben  der  Gesellschaft  zu  Ehren  gebracht  hat.  Aber 
andrerseits  ist  es  auch  wahr,  dass  es  nie  eine  magerere  Form  des  religiösen 
Lebens  gegeben  hat  als  diese :  es  fehlt  ihr  der  Erdgeschmack  der  KeligioU;  und 
mit  den  Mysterien,  welche  die  Aufklärung  nicht  duldete,  ist  ihr  das  Verständniss 
für  die  Tiefen  der  Religiosität  verloren  gegangen.  Nichts  ist  mehr  darin  von 
dem  Bangen  um  das  Heil  der  SeelC;  von  dem  Ringen  nach  Erlösung,  von  dem 
inbrünstigen  Gefühl  der  Errettung.  Darum  fehlte  dem  Deismus  die  religiöse 
Lebenskraft,  er  war  ein  Kunstproduct  der  gebildeten  Gesellschaft,  und  wenn  die 


§36.  Natürliche  Religion.  (Freidenkerthum.)  391 

deutschen  Aufklärer  Bücher  schriehen,  um  den  Landkindem  die  deistische 
Moral  zu  predigen,  so  bewiesen  sie  nur^  wie  wenig  sie  von  der  wirklichen 
Religion  verstanden. 

Bei  der  grossen  Menge  der  popularphilosophischen  Vertreter  dieses 
Standpunktes  bleibt  mit  allen  möglichen  Abstufungen  eine  üngewissheit  darüber, 
wieweit  jene  moralischen  Beste  der  religiösen  Weltanschauung  noch  einer  theo- 
retischen Begründung  fähig  sein  und  wieweit  sie  nur  als  Inhaltsbestimmungen 
des  ethischen  Bewusstseins  gelten  sollen.  Volle  Klarheit  herrscht  darüber  in 
Voltaire's  späterem  Denken.  Hier  ist  er  von  Bayle's  Skepsis  so  weit  ergriflFen, 
dass  er  die  metap^hysische  Berechtigung  nicht  mehr  anerkennt:  jetzt  gelten  ihm 
GottheitundUnsterblichkeitnur.nochalsPostulate  des  sittlichen  Gefühls, 
der  Glaube  daran  als  die  Bedingung  für  das  sittliche  Handeln.  Mit  diesem 
Glauben,  meint  er,  würden  die  Motive  für  einen  rechtschaffenen  Lebenswandel 
und  damit  die  Grundlagen  der  gesellschaftlichen  Ordnung  zusammenstürzen:  si 
Dieu  n'existait  pas,  il  faudrait  Tinventer. 

8.  So  verschieden  diese  einzelnen  Ausbildungsformen  der  Naturreligion 
sind,  in  Einem  Punkte  sind  sie  alle  einig:  in  der  abschätzigen  Ejitik  der  positiven 
Beligionen.  Als  wahr  gilt  in  diesen  nur  das,  worin  sie  alle  unter  einander  und 
mit  der  Naturreligion  übereinstimmen:  alles  aber,  was  darüber  hinaus  in  der 
positiven  Religion  mit  Berufimg  auf  eine  besondere  Offenbarung  gelehrt  wird, 
weisen  die  Deisten  a  limine  ab,  und  gerade  in  dieser  Hinsicht  nannten  sie  sich 
selbst  Freidenker.  Die  Ansprüche  der  Offenbarungslehre  fanden  daher  be- 
sonders lebhaften  Widerspruch.  Collins  widerlegte  den  Weissagungsbeweis, 
Woolston  den  Wunderbeweis,  beide  indem  sie  für  die  entsprechenden  Berichte 
der  religiösen  ürkimden  eine  möglichst  natürliche  Erklärung  zu  geben  suchten. 
Dieser  Versuch,  die  Glaubwürdigkeit  der  biblischen  Erzählungen  nicht  in  Zweifel 
zu  ziehen,  sie  aber  in  oft  sehr  wunderlicher  Weise  durch  rein  natürliche  Ur- 
sachen mit  Ausschluss  alles  Geheimnissvollen  und  Uebernatürlichen  zu  erklären, 
ist  in  Deutschland  hauptsächlich  als  die  rationalistische  Deutung  bezeichnet 
und  geübt  worden.  Hier  war  es  auch,  wo  Beimarus  in  seiner  ^ Schutzschrift" 
am  schärfsten  gegen  die  Möglichkeit  der  Offenbarung  vorging,  die  er  für  über- 
flüssig, für  undenkbar  und  für  unwahr  erklärte.  Andere  richteten  ihre  Kritik 
gegen  die  einzelnen  Lehren  der  Dogmatik:  Diderot  bekämpfte  die  moralischen 
Merkmale  des  christlichen  Gottesbegriffs,  und  Voltaire  übte  seinen  Witz  in  der 
schonungslosen  Verspottung  der  Dogmen  und  der  Ceremonien  aller  Religionen 
und  Confessionen. 

Auch  bei  ihm  aber  lag  der  ernste  Gedanke  zu  Grunde,  dass  alle  diese  Zu- 
thaten  der  positiven  Religionen  ebenso  viele  Verdunklungen  und  Verderbnisse  der 
wahren  Religion  seien,  für  die  er  sich  wie  die  anderen  Deisten  zu  streiten  berufen 
fühlte.  Sie  waren  von  der  üeberzeugung  erfüllt,  dass  die  Naturreligion  ein  Erbtheil 
aller  Menschen,  eine  im  Wesen  des  Menschen  selbst  angelegte  üeberzeugung  und 
dass  sie  daher  der  ursprüngliche  Zustand  des  religiösen  Lebens  gewesen  sei. 
Von  hier  aus  erschienen  alle  positiven  Religionen  als  Depravationen,  welche  im 
Lauf  der  Geschichte  eingetreten  seien,  und  ein  Fortschritt  der  Religions- 
geschichte besteht  deshalb  immer  nur  in  der  Rückkehr  zu  der  anfanglichen,  reinen 
und  unverfälschten  Rehgion.  Daher  ist  nach  T  in  dal  das  wahre  Christenthum,  das 
mit  dem  Deismus  zusammenfallen  soll,  so  alt  wie  die  Schöpfung:  Jesus  hat  nicht 


392  V.  Philosophie  der  Aufklärang. 

eine  Offenbarung  gebracht,  er  hat  nur  gegenüber  der  Verrottung  der  kntiken 
Beligionen  die  wahre  Gottesverehrung  wiederhergestellt:  aber  die  christlichen 
Kirchen  haben  sein  Werk  wieder  in  Verderbniss  gebracht,  und  das  Preidenker- 
thum  will  zu  ihm  zurückkehren.  So  unterschied  auch  Lessing  zwischen  der 
ReUgion  Christi  und  dem  Christenthum. 

Fragte  man  aber  nun  nach  den  Ursachen,  welche  diese  Entstellung  der 
wahren  Religion  herbeigeführt  hätten,  so  fehlte  es  den  Aufklärern  durchweg  an 
jedem  historischen  Yerständniss  dafür:  das,  was  sie  für  falsch  hielten,  schien 
ihnen  nur  durch  willkürliche  Erfindung  möglich.  Sie  waren  von  der  Evidenz  der 
alleinigen  Richtigkeit  ihres  Deismus  so  sehr  überzeugt,  dass  ihnen  andere  Lehren 
nur  durch  Lug  und  Trug  erklärbar,  dass  ihnen  die  Verkünder  derselben  nur  im 
eigenen  Literesse  gehandelt  zu  haben  schienen.  So  ist  denn  die  allgemeine  Lehre 
der  Deisten  die,  dass  der  historische  Grund  der  positiven  Religionen  Erfindung 
und  Betrug  sei.  Selbst  Shaftesbury  wusste  keine  andere  Erklärung  dafür,  dass 
der  Enthusiasmus,  der  die  reine  Religion  ausmacht,  bis  zum  Fanatismus  des  Aber- 
glaubens habe  entstellt  werden  können.  Am  schärfsten  spricht  auch  in  dieser 
Hinsicht  der  Priesterhass  der  Aufklärer  in  der  Schutzschrift  von  Reimarus. 

9.  Solche  Unfähigkeit,  dem  historischen  Wesen  der  positiven  Religionen 
gerecht  zu  werden,  hing  mit  dem  allgemeinen  Mangel  [an  geschichtlichem  Sinn 
und  Verständniss  zusammen,  welcher  der  gesammten  Aufklärungsphilosophie 
eigen  war  und  seinen  Grund  darin  hatte,  dass  das  moderne  Denken  an  der 
Hand  der  Naturwissenschaft  in  der  Aufsuchung  des  sei  es  zeitlos  sei  es  inmier 
Geltenden  gross  geworden  war.  Nur  an  wenigen  Stellen  wurde  dieser  Bann 
durchbrochen. 

Zuerst  und  mit  klarstem  Bewusstsein  von  David  Hume.  Hatte  er  ge- 
funden, dass  die  Religion  nicht  auf  demonstrative  Vemunfterkenntniss  begründet 
werden  kann,  so  zeigte  er,  dass  von  dieser  Untersuchung:  die  Frage  nach  der  Ent- 
stehung der  Religion  im  menschhchen  Geiste  völlig  gesondert  werden  müsse. 
Diese  behandelte  er  lediglich  nach  psychologischen  Principien  als  „Natur- 
geschichte der  Religion^.  Er  zeigt,  wie  in  der  primitiven  Auffassung  der 
Natur  und  in  den  Gefühlen  der  Furcht  und  Hoffnung,  der  Erschütterung  und 
Beglückung,  die  sich  daran  knüpfen,  in  der  Vergleichung  des  Naturlaufs  mit  den 
Wechselfallen  des  Menschenlebens  die  Anlässe  zur  Bildung  von  Vorstellimgen 
höherer  "Wesen  und  zu  ihrer  beschwichtigenden  oder  schmeichelnden  Verehrung 
lag.  Die  natürliche  Urform  der  Religion  ist  also  der  Polytheismus,  der  jene 
höheren  Mächte  durchaus  anthropomorphistisch  denkt  und  behandelt.  Allein 
die  mannigfachen  Gestalten  des  Mythos  verschmelzen  nach  den  Gesetzen  der 
Ideenassociation,  die  Mythen  gehen  in  einander  über,  und  schliesslich  verdichtet 
sich  die  ganze  religiöse  Vorstellungsmasse  zu  dem  Glauben  an  ein  einheitliches 
göttliches  Wesen,  dem  die  zweckvolle  Ordnung  des  Universums  zu  danken  ist,  — 
ein  Glaube  fireilich,  der  sich  nicht  rein  zu  erhalten  vermag,  sondern  sich  in 
mancherlei  Formen  mit  seinen  ursprünglichen  Voraussetzungen  verknüpft.  Die 
Geschichte  der  Religion  ist  die  allmähliche  Umwandlung  des  Polytheismus  in 
Monotheismus,  und  ihr  Resultat  trifft  mit  jener  teleologischen  Weltbetrachtung 
zusammen,  welche  Hume  als  die  zwar  nicht  wissenschaftUch  beweisbare,  aber  mit 
dem  natürlichen  Ueberzeugungsgefühl  verbundene  Ansicht  des  verständigen 
Menschen  entwickelt  hatte. 


2.  Praktische  Fragen.  393 

,  Dieser  psychologisch -calturhistorischen  Auffassungs weise  trat  die  philo- 
logisch-litterargeschichtliche  an  die  Seite,  welche  in  der  durch  Salomon  Semler 
begründeten  historischen  Bibelkritik  ihren  Ausdruck  fand.  Sie  begann  den 
von  Spinoza^)  formulirten  Gedanken  auszufuhren ,  dass  die  biblischen  Bücher 
ihrem  theoretischen  Inhalte ;  ihrer  Entstehung  und  Geschichte  nach  ebenso  wie 
andere  Schriften  behandelt,  aus  ihrer  Zeit  und  der  Eigenart  ihrer  Verfasser  ver- 
standen werden  müssten :  insbesondere  machte  Semler  auf  den  Gesichtspunkt 
aufmerksam,  dass  in  den  Büchern  des  Neuen  Testaments  die  verschiedenen  Par- 
teien der  ersten  Christengemeinden  zu  Worte  kommen.  Mögen  auch  die  Hypo- 
theseU;  zu  denen  er  in  dieser  Hinsicht  gelangte,  von  der  späteren  Wissenschaft 
überholt  worden  sein,  so  wurde  doch  darin  ein  wissenschaftlicher  Ausweg  aus 
dem  Badicalismus  gezeigt,  in  den  sich  die  deistische  Sichtung  verrannt  hatte, 
und  Sender  erhob  deshalb  seine  Stimme  gegen  die  Wortführer  der  Aufklärung. 
Von  noch  anderer  Seite  hat  L  e  s  s  i  n  g  in  diese  Fragen  eingegriffen.  Er  war 
gewiss  nicht  der  Mann,  seine  üeberzeugung  unter  eine  Satzung  zu  beugen;  er 
durchschaute  und  verwarf,  wie  nur  irgend  ein  anderer,  die  Beschränktheit,  welche 
in  dem  historisch  Ueberkommenen  das  einzig  Wahre  sehen  will:  aber  er  hütete  sich 
wohl,  selbst  den  Richter  zu  spielen,  der  erst  nach  tausend,  tausend  Jahren  über 
die  Echtheit  der  Ringe  entscheiden  soll.  Allein  es  ist  nicht  nur  dies,  was  ihn  von 
der  grossen  Masse  der  Aufklärer  trennt:  er  ist  selbst  eine  tiefe,  religiöse  Natur, 
und  wie  Herder  ^),  so  sieht  auch  er  in  der  Religion  ein  lebendiges  Verhältniss  des 
Menschen  zu  Gott  und  Gottes  zum  Menschen.  Daher  ist  Religion  nicht  ohne 
Offenbarung  möglich,  und  die  Geschichte  der  Religionen  ist  die  Reihenfolge 
der  Offenbarungen  Gottes,  ist  die  Erziehung  des  Menschengeschlechts 
durch  Gott.  Für  die  planvolle  Aufeinanderfolge  dieser  Offenbarungen  nimmt 
Lessing  das  Verhältniss  an,  dass  der  tiefere  Sinn  einer  jeden  in  der  folgenden 
klarer  und  deutlicher  enthüllt  wird.  So  lässt  auch  das  Neue  Testament,  dies  zweite 
Elementarbuch,  an  dem  der  fortgeschrittenere  Schüler  jetzt  „stampft  und  glüht'', 
den  Ausblick  auf  ein  ewiges  Evangelium  ahnen.  In  der  Ausführung^)  dieses 
origenistischen  Gedankens  deutet  Lessing  nur  tastend  unbestimmte  Linien  an, 
welche  in  der  Richtung  einer  mystisch -speculativen  ümdeutung  der  Dogmen 
liegen. 

2«  Kapitel  Die  praktisolieii  fragen. 

Wenn  die  Naturreligion  des  18.  Jahrhunderts  den  Halt,  welchen  ihr  die 
naturwissenschaftliche  Metaphysik  nicht  dauernd  gewähren  konnte,  bei  der  Moral 
suchte,  so  war  dies  dadurch  ermöglicht,  dass  inzwischen  auch  dieser  Zweig  der 
philosophischen  Untersuchungen  seine  völlige  Unabhängigkeit  von  der  positiven 
Religion  gewonnen  hatte.  Und  in  der  That  war  diese  Ablösung,  welche  schon 
im  Gefolge  der  religiös  indifferenten  Metaphysik  des  17.  Jahrhunderts  begonnen 

1)  In  welchem  Masse  Spinoza's  Schriften  den  religiösen  Aufklärern  in  Deutschland 
bekannt  waren,  erhellt  unter  Anderm  aus  der  interessanten  Thatsache,  dass  Lorenz  Schmidt, 
der  Leiter  der  Wertheimer  Bibelübersetzung,  der  anonyme  Herausgeber  eines  Buches  ist, 
worin  nnter  der  Maske  einer  „WiderleguDg  der  Lehre  Spinoza's  durch  den  berühmten  Philo- 
sophen Christian  Wolff"  eine  vorzügliche  Uebersetzung  von  Spinoza's  Ethik  geboten  und 
schliesslich  nur  ein  paar  Paragraphen  aus  Wolff's  Deutschen  Schriften  angehängt  werden. 
(Gedruckt  Frankfurt  u.  Leipzig  1744).  —  2)  Vgl.  Herdkr's  Schrift  über  die  „Aelteste  Urkunde 
des  Menschengeschlechts".  —  3)  Erziehung  des  Menschengeschlechts,  §  72 ff. 


394  ^'  Philosophie  der  Auf  klärung.  2.  Praktische  Fragen. 

hatte,  verhältnissmässig  schnell  und  einfach  vollzogen  worden:  dabei  aber  machte 
sich  die  Eigenthümlichkeit  des  neuen  Zeitalters  auch  darin  geltend,  dass  der 
Schwerpunkt  dieser  Untersuchungen  sehr  bald  auf  das  psychologische  Gebiet 
verlegt  wurde,  und  hierin  kam  der  Philosophie  die  litterarische  Neigung  des  Zeit- 
alters entgegen^  die  auf  eine  vertiefte  Beschäftigung  des  Menschen  mit  sich  selbst, 
auf  ein  Durchwühlen  seiner  Gefühle,  ein  Zergliedern  seiner  Motive,  auf  die 
„sentimentale"  Pflege  persönlicher  Beziehungen  gerichtet  war.  Das  in  seinem 
Innenleben  schwelgende  Individuum,  die  sich  selbst  geniessende  Monade 
ist  die  charakteristische  Erscheinung  der  Aufklärungszeit.  Der  Individualismus 
der  Renaissance,  welcher  im  17.  Jahrhundert  durch  die  äusseren  Mächte  zurück- 
gedrängt war,  brach  nun  aus  der  steifen  Grandezza  ceremoniösen  Formelwesens 
mit  verinnerlichter  Gewalt  wieder  hervor:  die  Schranken  sollten  durchbrochen, 
die  Aeusserlichkeiten  abgeworfen,  das  reine,  natürliche  Leben  des  Menschen 
herausgekehrt  werden. 

Je  wichtiger  aber  so  der  Einzelne  sich  selbst  wurde  und  je  vielseitiger  er 
die  Fragen  nach  dem  Inhalt  seiner  wahren  Glückseligkeit  erwog,  um  so  mehr 
wurden  ihm  Moralität,  Gesellschaft  und  Staat  zum  Problem.  Wie  kommt  —  so 
lautet  die  praktische  Grundfrage  der  Aufklärungsphilosophie  —  das  Individuum 
zu  einem  Lebenszusammenhange,  der  über  es  selbst  hinausgreift?  Durch  alle  die 
lebhaften  Discussionen  dieser  Probleme  geht  als  stiUschweigende  Voraussetzung 
die  Ansicht  hindurch,  dass  das  Einzelwesen  in  seiner  (wie  immer  aufgefassten) 
natürlichen  Bestimmtheit  das  Ursprüngliche,  Gegebene,  das  ein£Eich  Selbst- 
verständliche sei  und  dass  aus  ihm  erst  alle  jene  übergreifenden  Beziehungen 
zu  erklären  seien.  Insofern  bildet,  hier  mehr  nach  Analogie  des  Atomismus  dort 
mehr  nach  derjenigen  der  Monadologie  gedacht,  die  naturalistische  Metaphysik 
des  17.  Jahrhunderts  den  Hintergrund  für  die  Moral  des  achtzehnten. 

Die  stetig  fortschreitende  Verdeutlichung  dieser  Voraussetzungen  hat  es 
mit  sich  gebracht,  dass  die  Principien  der  Ethik  in  den  Verhandlungen  dieser 
Zeit  eine  werthvoUe  Klärung  fanden.  Denn  indem  das  sittliche  Leben  als  etwas 
zu  dem  natürlichen  Wesen  des  Individuums  Hinzutretendes,  erst  zu  Erklärendes 
angesehen  wurde,  musste  einerseits  durch  eine  genaue  Scheidung  festgestellt 
werden,  was  denn  eigentlich  dies  zu  Erklärende  sei,  und  andrerseits  die  Unter- 
suchung sich  darauf  richten,  worauf  sein  Werth  und  seine  Geltung  beruhe:  und 
je  mehr  dabei  die  Sittlichkeit  als  ein  dem  natürlichen  Wesen  des  Individuums 
Fremdes  erschien,  um  so  mehr  machte  sich  neben  der  Frage  nach  dem  Grunde 
der  Geltung  der  sittlichen  Gebote  diejenige  nach  den  Beweggründen  geltend, 
welche  den  Menschen  zu  ihrer  Befolgung  veranlassen.  So  treten,  Anfangs  noch 
viel  verschlungen  und  dann  sich  von  Neuem  verschlingend,  drei  Hauptfragen 
heraus:  was  ist  der  Inhalt  der  Sittlichkeit?  worauf  beruht  die  Geltung  der  sitt- 
lichen Gebote?  was  bringt  den  Menschen  zum  sittlichen  Handeln?  Die  Prin- 
cipien der  Moral  legen  sich  aus  einander  nach  den  drei  Gesichtspunkten  des 
Kriteriums,  der  Sanction  und  des  Motivs.  Diese  Auseinanderlegung  aber 
bestand  darin,  dass  sich  zeigte,  die  verschiedenen  Antworten  auf  diese  gesonderten 
Fragen  seien  in  der  mannigfachsten  Weise  mit  einander  combinirbar:  so  ergiebt 
sich  jene  Klärung  und  Sonderung  gerade  aus  der  bunten  Mannigfaltigkeit  und 
dem  schillernden  Ineinanderspielen  der  moralphilosophischen  Lehren  des  18.  Jahr- 
liunderts.    Als  der  allseitig  anregende,  vielfach  beherrschende  Geist  steht  hier 


§  36.  Principien  der  Moral.    (Locke.)  395 

Sliaftesbury  im  Mittelpunkte  der  Bewegung:  einen  Abschluss  dagegen  findet 
dieselbe  gerade  wegen  des  Auseinandergehens  der  FragesteUungen  in  diesem  Zeit- 
raum nicht  (ygl.  §  39). 

Typisch  für  den  individualistischen  Grundzug  dieser  Ethik  war  die  immer 
neu  gewendete  Abwägung  des  Verhältnisses  von  Tugend  und  Glück- 
seligkeit; ihr  mehr  oder  minder  scharf  ausgesprochenes  Endergebniss  war^  dass 
die  Triebbefiriedigung  des  Individuums  zum  Werthmass  der  ethischen  Functionen 
erhoben  wurde.  Das  auf  diesem  Princip  aufgebaute  System  der  praktischen 
Philosophie  ist  der  Utilitarismus,  dessen  vielspältige  Ausbildung  den  Dreh- 
punkt in  den  verschlungenen  Kreisläufen  dieser  Ueberlegungen  ausmacht. 

Daraus  aber  ergab  sich  die  in  Bezug  auf  die  politische  und  sociale  Wirk- 
lichkeit viel  brennendere  Frage  nach  dem  Glückseligkeitswerthe  des  ge- 
sellschaftlichen Zusammenhanges^  der  öffentlichen  Einrichtungen  und 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung.  Das  Bestehende  und  historisch  Gewordene 
verlor  wiederum  seine  unmittelbare  Geltung  und  seine  unbefangene  Würdigung: 
es  sollte  sich  vor  dem  kritischen  Bewusstsein  rechtfertigen  und  sein  Existenz- 
recht durch  die  Yortheile  bewähren^  die  es  für  die  GlückseUgkeit  der  Individuen 
abwarf.  Von  diesem  Gesichtspunkte  her  entwickelte  sich  die  Staats-  und  Gesell- 
schaftsphilosophie des  18.  Jahrhunderts^  von  hier  aus  nahm  sie  ihre  kritische 
Stellung  zu  der  historischen  Wirklichkeit,  und  nach  diesem  Massstabe  prüfte  sie 
schliesslich  auch  den  Ertrag  des  geschichtlichen  Fortschritts  der  menschlichen 
Civilisation.  Der  Werth  der  Cultur  selbst  und  das  Verhältniss  von  Natur 
und  Geschichte  wurden  so  zu  einem  Problem,  das,  am  eindrucksvollsten  von 
Rousseau  formulirt,  in  dem  Gegensatz  der  von  diesem  angeregten  Richtungen 
and  im  Verein  mit  den  erschütternden  Ereignissen  der  Revolution  die  Anfange 
der  Geschichtsphilosophie  bestimmte. 

§  86.  Die  Principien  der  Moral. 

Fr.  Schlbieruacheb,  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre  (1803),  W.  W. 

in.  Bd.  1. 

H.  SmowiCK,  The  methods  of  ethics,  3.  Aufl.  London  1884. 

Die  fruchtbarsten  Anregungen  zur  Discussion  der  ethischen  Probleme  sind 
in  positiver  wie  in  negativer  Richtung  von  Hobbes  ausgegangen.  Das  von  ihm 
aufgestellte  „selfish  System^  erstreckt  seine  Wirksamkeit  durch  das  ganze 
18.  Jahrhundert:  es  wird  in  aUe  seine  Consequenzen  durchgeführt,  und  es  ist  ein 
stets  mächtiger  Stachel  zum  Hervortreiben  der  gegensätzUchen  Ansichten,  die 
eben  dadurch  auch  von  ihm  abhängig  werden.  In  gewissem  Sinne  gilt  dies  schon 
von  Cumberland,  der  zwar  dem  psychologischen  Relativismus  gegenüber  die  Gel- 
tung der  sittlichen  Gebote  als  ewiger  Wahrheiten  verfocht,  dabei  aber  doch  als 
ihren  wesenthchen  und  bestimmenden  Zweckinhalt  die  allgemeine  Wohlfahrt 
betrachtet  wissen  wollte. 

1.  Die  Stellung  Locke's  ist  in  diesen  Fragen  noch  weniger  ausgeprägt 
als  in  den  theoretischen.  Allerdings  nimmt  bei  seiner  Bestreitung  der  „ein- 
geborenen Ideen  ^,  wie  es  sich  aus  deren  Frontbietung  gegen  den  Piatonismus 
der  Cambridger  Schule  erklärt,  die  Behandlung  der  praktischen  Principien  fast 
den  breiteren  Raum  ein:  aber  die  positiven  Andeutungen,  welche  sich  über 
ethische  Gegenstände  in  seinen  Schriften  verstreut  finden  (und  mehr  als  An- 


396  V.  Philosophie  der  Aufklämng.  2.  Praktische  Fragen. 

cleutungen  sind  es  freilich  nicht);  gehen  über  den  blossen  Psychologismus  be- 
trächtlich hinaus.  Locke  sieht  das  moralische  Urtheil  als  eine  demonstrative 
Erkenntniss  an,  weil  es  zu  seinem  Gegenstande  ein  Yerhältniss  hat;  nämlich  die 
Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung  einer  menschlichen  Handlungs- 
weise mit  einem  Gesetze  ').  Danach  erscheint  für  die  Ethik  der  imperative 
Charakter  als  wesentlich.  Das  Bestehen  solcher  Normen  setzt  aber  nicht  nur 
einen  Gesetzgeber  voraus,  sondern  auch  dessen  Macht,  ihre  Befolgung  mit 
Lohn,  ihre  Missachtung  mit  Strafe  zu  behaften:  denn  nur  durch  die  Erwartung 
dieser  Folgen  kann  nach  Locke's  Meinung  ein  Gesetz  auf  den  Willen  wirken. 

War  der  Philosoph  sicher,  mit  solchen  Sätzen  von  dem  common-sense  des 
Durchschnittsmenschen  nicht  abzuweichen,  so  gilt  das  ebenso  von  den  drei  In- 
stanzen, die  er  für  die  gesetzgeberische  Autorität  auffährt:  öffentliche  Meinung, 
Staat  und  Gott.  Bei  der  höchsten  dieser  Instanzen  aber  fand  er  wieder  einen 
Anknüpfungspunkt  an  die  Beste  der  cartesianischen  Metaphysik,  die  sein  Empiris- 
mus bewahrt  hatte.  Der  Wille  Gottes  nämUch  wird  (nach  Locke's  Religions- 
philosophie, vgl.  §  35,  1)  völlig  identisch  durch  die  Offenbarung  und  durch  das 
„natürUche  Licht^  erkannt.  Das  Gesetz  Gottes  ist  das  Gesetz  der  Natur.  Sein 
Inhalt  aber  ist  der,  dass  durch  die  von  Gott  bestimmte  Naturordnung  an 
gewisse  Handlungen  schädUche,  an  andere  nützliche  Folgen  geknüpft,  und  dass 
deshalb  jene  verboten,  diese  geboten  sind.  So  gewinnt  das  Moralgesetz  eine 
metaphysische  Wurzel,  ohne  seinen  utilistischen  Inhalt  einzubüssen. 

2.  Das  Bedürfniss  nach  einem  metaphysischen  Grunde  der  Moral 
machte  sich  auch  in  anderen  Formen  und  zum  Theil  noch  stärker  geltend :  war 
es  doch  der  gesammten  cartesianischen  Schule  in  der  Weise  geläujQg,  dass  der 
rechte  Wille  als  die  nothwendige  und  unausbleibliche  Folge  der  rechten  Einsicht 
betrachtet  wurde.  Hierin  secundirte  dem  Cartesianismus  die  ganze  Schaar  der 
ihm  in  der  Naturphilosophie  so  feindüchen  Platoniker,  —  schon  Henry  More  *) 
und  Cudworth*),  später  besonders  Richard  Price*).  Sie  aUe  gingen  von  dem 
Gedanken  aus,  dass  das  Sittengesetz  mit  der  innersten  Natur  der  aus  Gott  ge- 
flossenen Wirklichkeit  gegeben  und  deshalb  mit  ewigen  und  unveränderlichen 
Lettern  in  jedem  vernünftigen  Wesen  geschrieben  sei.  Mit  viel  Begeisterung, 
aber  mit  wenig  neuen  Argumenten  verfechten  sie  die  stoisch-platonische  Lehre 
in  ihrer  christlich-theistischen  Umbildung. 

Dabei  nahm  dieser  Intellectualismus  im  Zusammenhange  mit  der 
rationalistischen  Metaphysik  eine  Richtung,  welche  sich  von  dem  scotistischen, 
durch  Descartes  und  noch  mehr  durch  Locke  erneuerten  Recurs  auf  den  gött* 
liehen  Willen  weit  entfernte  und  statt  dessen  dai'auf  ausging,  den  Inhalt  des 
Sittengesetzes  ledigUch  durch  metaphysische  Verhältnisse  und  demgemäss  in 
letzter  Instanz  nach  logischen  Kriterien  zu  bestimmen :  und  darin  gerade  trat 
der  Gegensatz  gegen  alle  psychologistisch  beeinflussten  Theorien  hervor,  die  in 
irgend  einer  Form  immer  auf  Lust-  und  Unlustgefuhle  als  den  innersten  Nerv 
der  ethischen  Bestimmungen  zurückkamen.  Am  deutlichsten  ist  dies  beiClarke, 
welcher  das  objective  Princip  der  Moral  in  der  Angemessenheit  einer  Handlung 
zu  den  sie  bestimmenden  Verhältnissen  finden  wollte,  für  die  Erkenntniss  dieser 

1)  Vgl.  Essay  conc.  h.  u.  II,  28,  4  ff'.  —  2)  Encheiridion  elhicum  (1667).  —  8)  Dessen 
Treatise  conceniing  etemal  and  immutable  morality  wurde  erst  1731  von  Chandler  heraus- 
gegeben. —  4)  Questions  and  difficulties  in  morals  (London  17d8). 


§  36.  Principien  der  Moral.    (Clarke,  Bayle.)  397 

Angemessenheit  eine  der  mathematischen  analoge  Evidenz  in  Anspruch  nahm  und 
in  cartesianischem  Sinne  davon  überzeugt  war^  dass  aus  solcher  Einsicht  sich 
unausweichlich  das  Yerpflichtungsgefuhl  entwickle,  durch  welches  der  Wille  zu 
der  sachgemässen  Handlung  bestimmt  werde.  Ethische  Minderwerthigkeit  er- 
schien danach  wiederum  ganz  in  antiker  Weise  (vgl.  §  7,  6)  als  Ausfluss  der 
Unkenntniss  oder  der  sach widrigen  Meinung.  Demselben  Gedanken  gab^  von 
(Clarke  angeregt,  Wollaston  die  Wendung,  dass,  da  jede  Handlung  ein  (theo- 
retisches) Urtheil  über  die  zu  Grunde  liegenden  Verhältnisse  involvire,  es  an 
der  Bicbtigkeit  oder  Unrichtigkeit  dieses  Urtheils  sich  entscheide,  ob  die  Hand- 
lung auch  im  ethischen  Sinne  recht  oder  unrecht  sei. 

3.  Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt  in  diesen  Fragen  Pierre  Bayle  ein: 
er  vertritt  einen  Rationalismus  ohne  jeden  metaphysischen  Hinter- 
grund. Bei  ihm  war  das  Interesse,  die  Moral  gegen  alle  Abhängigkeit  von 
dogmatischen  Lehren  sicher  zu  stellen,  am  stärksten  und  radicalsten  wirksam. 
Wenn  er,  metaphysische  Erkenntniss  überhaupt  für  unmögUch  erklärend,  die 
rationale  Begründung  der  Naturreligion  ebenso  bestritt  wie  diejenige  des  positiven 
Dogmas,  so  gab  er  der  „Vernunft",  was  er  ihr  auf  theoretischem  Gebiete  ge- 
nommen, dafür  auf  dem  praktischen  mit  vollen  Händen  zurück.  Unfähig,  das 
Wesen  der  Dinge  zu  erkennen,  ist  die  menschliche  Vernunft  nach  ihm  vollauf 
mit  dem  Bewusstsein  ihrer  Pflicht  ausgerüstet:  ohnmächtig  nach  aussen,  ist  sie 
durchaus  Herrin  über  sich  selbst.  Was  ihr  am  Wissen  fehlt,  hat  sie  am  Gewissen : 
eine  Erkenntniss  ewiger  und  unwandelbarer  Wahrheit. 

Die  sittliche  Vernunft,  meint  daher  Bayle,  bleibt  überall  dieselbe,  so  ver- 
schieden die  Menschen,  die  Völker,  die  Zeiten  in  ihren  theoretischen  Einsichten 
sein  mögen.  Er  lehrt  zum  ersten  Mal  mit  deutlichem  Bewusstsein  die  völlige 
Unabhängigkeit  der  praktischen  Vernunft  von  der  theoretischen: 
aber  er  spitzt  auch  dies  gern  auf  das  theologische  Gebiet  zu.  Offenbarung  und 
Glaube  gelten  ihm  in  katholischer  Weise  wesentlich  als  theoretische  Erleuchtung: 
eben  darum  erscheinen  sie  ihm  für  die  Sittlichkeit  als  gleichgiltig.  Er  bewunderte 
die  ethische  Tüchtigkeit  des  antiken  Heidenthums,  und  er  glaubte  an  die  Mög- 
lichkeit einer  moralisch  wohl  geordneten  Lebensgemeinschaft  von  Atheisten. 
Wenn  deshalb  seine  theoretische  Skepsis  der  Kirche  günstig  scheinen  mochte, 
so  musste  diese  in  seiner  Moralphilosophie  den  gefahrlichsten  Gegner  bekämpfen. 

Wurden  dabei  die  sittlichen  Grundsätze  auch  von  Bayle  als  „ewige  Wahr- 
heiten^ proklamirt,  so  geschah  dies  in  dem  ursprünglich  cartesianischen  Sinne, 
wonach  es  sich  nicht  sowohl  um  die  psychologische  Frage  des  Eingeborenseins, 
als  vielmehr  um  den  erkenntnisstheoretischen  Gesichtspunkt  der  unmittelbaren, 
logisch  unvermittelten  Evidenz  handelte.  In  diesem  Sinne  galt  selbstverständhch 
das  virtuelle  Eingeborensein  der  sittlichen  Wahrheiten  auch  bei  Leib niz,  und  es 
geschah  in  beider  Geiste,  wenn  Voltaire,  der,  je  skeptischer  er  sich  zur  Meta- 
physik stellte  (vgl.  §  36,  5),  um  so  mehr  sich  Bayle's  Standpunkt  näherte,  von 
den  sittlichen  Grundsätzen  sagte,  sie  seien  dem  Menschen  angeboren  wie  seine 
Gliedmassen:  beide  müsse  er  erst  durch  die  Erfahrung  gebrauchen  lernen. 

4.  Bayle  mochte  wohl  die  allgemeine  Ansicht  hinter  sich  haben,  wenn  er 
den  sittlichen  Ueberzeugungen  eine  über  allen  Wechsel  und  alle  Verschiedenheit 
theoretischer  Meinungen  erhabenen  Werth  zuschrieb:  aber  er  hatte  damit  viel- 
leicht gerade  deshalb  Erfolg,  weil  er  jene  Ueberzeugungen  als  etwas  Allbekanntes 


398  V.  Philosophie  der  AufkläruDg.  2.  Praktische  Fragen. 

behandelte  und  sich  nicht  darauf  einliess,  ihren  Inhalt  in  ein  System  oder  auf 
einen  einheitlichen  Ausdruck  zu  bringen.  Wer  aber  dies  yersuchte,  der  schien 
schwer  eines  Princips  entrathen  zu  können;  das  nicht  entweder  der  Metaphysik 
oder  der  Psychologie  entnommen  werden  musste. 

Eine  derartige  principielle  Begriffsbestimmung  der  SittUchkeit  wurde  nun 
in  erster  Linie  durch  die  Metaphysik  von  Leibniz  ermöglicht,  von  diesem  jedoch 
nur  gelegentlich  und  andeutungsweise  angebahnt  und  erst  von  Wolff  in  systema- 
tischen, aber  auch  gröberen  Formen  ausgeführt.  Die  Monadologie  betrachtet  das 
Universum  als  ein  System  von  Lebewesen,  deren  rastlose  Thätigkeit  in  der  Ent- 
faltung und  Verwirklichung  ihres  ursprüngUchen  Lihalts  besteht.  Bei  dieser 
aristotelischen  Auffassung  verwandelt  sich  der  spinozistische  Grundbegriff  des 
„suum  esse  conservare^  (vgl.  §  32,  6)  in  eine  zweckvolle  Lebensbestimmung, 
welche  Leibniz  und  seine  deutschen  Schüler  als  Vollkommenheit  be- 
zeichneten*). Das  „Gesetz  der  Natur",  welches  somit  auch  dieser  Ontologie  zu- 
folge mit  dem  Sittengesetz  zusammenfällt,  ist  das  Streben  aller  Wesen  nach 
Vollkommenheit.  Da  nun  jede  Vervollkommnung  als  solche  mit  Lust,  jeder 
Rückschritt  aber  in  der  Lebensentfaltung  mit  Unlust  verbunden  ist,  so  ergiebt 
sich  daraus  die  (antike)  Identität  des  sittlich  Guten  mit  der  Eudämonie. 

Das  Naturgesetz  verlangt  also  vom  Menschen  alles  dasjenige  zu  thun,  was 
seiner  Vervollkommnung  dient,  und  verbietet  alles,  was  ihm  Verlust  an  seiner 
Vollkommenheit  zu  bringen  droht.  Aus  diesem  Gedanken  entwickelt  Wolff  das 
ganze  System  der  Pflichten,  wobei  er  namentlich  das  Princip  der  gegenseitigen 
Förderung  heranzieht :  der  Mensch  bedarf  zu  seiner  Vervollkommnung  der  anderen 
Menschen  und  arbeitet  an  seiner  eigenen  Vollkommenheit,  indem  er  diesen 
zur  Erfüllung  ihrer  Bestimmung  hilft.  Insbesondere  aber  ergab  sich  aus  solchen 
Prämissen,  dass  der  Mensch  wissen  muss,  was  ihm  wahrhaft  zur  Vervollkomm- 
nung gereicht:  denn  nicht  alles,  was  momentan  als  Lebensforderung  gefühlt 
wird,  erweist  sich  wahrhaft  und  dauernd  als  ein  Schritt  zur  Vollkommenheit. 
Daher  bedarf  die  Sittlichkeit  durchaus  der  sittUchen  Erkenntniss,  der  richtigen 
Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge  und  des  Menschen.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkte erscheint  die  Aufklärung  des  Verstandes  als  vornehmste  sitt- 
liche Aufgabe.  Bei  Leibniz  folgt  dies  unmittelbar  aus  dem  Begriff  der 
Monade^:  sie  ist  um  so  voUkommeuer  —  und  Vollkommenheit  definirt  Leibniz 
echt  scholastisch  als  grandeur  de  la  r^alite  positive  — ,  je  mehr  sie  ihre  Activität 
in  klaren  und  deutlichen  Vorstellungen  bethätigt;  das  natürliche  Gesetz  ihrer 
Entwicklung  ist  die  Aufklärung  ihres  ursprünghch  dunklen  Vorstellungsinhalts 
(vgl.  §  31,  11).  Wolff 's  umständUche  Deduction  läuft  vielmehr  auf  den  empiri- 
schen Nachweis  der  nützUchen  Folgen  des  Wissens  hinaus.  Sie  bleibt  damit 
ganz  im  Hahmen  der  hausbackenen  Absicht,  welche  der  deutsche  Katheder- 
philosoph seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  vorsetzte:  die  Philosophie  durch  Klar- 
heit der  Begriffe  und  Deutlichkeit  der  Beweise  brauchbar  und  praktisch  wirksam 
zu  machen. 

5.  Diese  Tendenz  hatte  Wolff  von  seinem  Lehrer  Thomasius,  dem  Vater 
der  Aufklärer,  übernommen,  einem  Manne,  dem  freilich  die  Vornehmheit  des 
Leibniz'schen  Geistes  abging,  desto  mehr  aber  das  Verständniss  ftir  die  Bedarf* 


1)  Leibniz,  Mouad  41  ff.  —  2)  Vgl.  ebenda  48  ff. 


§  36.  Principien  der  Moral.    (Thomasios,  Wolff,  Mendelssohn.)  399 

nisse  seiner  Zeit^  die  agitatorische  Beweglichkeit  und  der  Muth  gemeinnützigen 
Strebens  gegeben  waren.  Geistige  Itegungen  der  Renaissance,  die  im  17.  Jahr- 
hundert zurückgedämmt  worden  waren,  lebten  an  dessen  Schlüsse  wieder  auf. 
Thomasius  wollte  die  Philosophie  aus  dem  Hörsaal  in  das  Leben  verpflanzen,  sie 
in  den  Dienst  der  allgemeinen  Wohlfahrt  stellen:  und  da  er  von  der  Natur- 
wissenschaft wenig  verstand,  so  wandte  sich  sein  Interesse  der  Kritik  der  öffent- 
lichen Einrichtungen  zu.  Im  Leben  der  Gesammtheit  wie  in  dem  des  Individuums 
soll  nur  die  Vernunft  herrschen:  so  focht  er  ehrlich  und  siegreich  gegen  Aber- 
glauben und  Beschränktheit,  gegen  Tortur  und  Hexenprocesse.  Die  Aufklärung 
im  Sinne  des  Thomasius  ist  daher  weit  entfernt  von  der  metaphysischen  Würde, 
die  ihr  Leibniz  gab,  sondern  gewinnt  ihren  Werth  für  den  Einzelnen  wie  für  die 
Gesammtheit  erst  durch  den  Nutzen,  den  sie  abwirft  und  der  nur  von  ihr  erwartet 
werden  darf. 

Vollkommenheit  und  Utilität  sind  somit  die  beiden  Merkmale,  welche 
bei  Wolff  die  Aufklärung  zum  ethischen  Princip  machen:  jenes  tritt  bei  der 
allgemeinen  metaphysischen  Grundlage,  dies  in  dem  besonderen  Ausbau  des 
Systems  stärker  hervor.  Und  in  derselben  Weise  zieht  sich  diese  Dualität  der 
Kriterien  durch  Wolff's  Schule  und  die  gesammte  Popularphilosophie  hin,  — 
nur  dass,  je  flacher  die  Lehren  werden,  um  so  breiteren  Baum  die  Utilität  ein- 
nimmt. Selbst  Mendelssohn  begründet  die  Abwendung  von  aller  tieferen  und 
feineren  Grübelei  damit,  dass  die  Philosophie  nui*  gerade  soviel  zu  behandeln 
habe,  als  zur  Glückseligkeit  des  Menschen  nöthig  ist.  Weil  aber  dieser  auf- 
klärerische Eudämonismus  von  vornherein  keinen  höheren  Gesichtspunkt  hatte, 
als  die  Ausbildung  und  das  Wohlergehen  des  Durchschnittsmenschen,  so  verfiel 
er  einer  anderen  Beschränktheit:  dem  nüchternsten  Philisterthum  und  der  spiess- 
bürgerlichen  Verständigkeit.  Das  mochte  in  einer  gewissen  zwar  nicht  hohen, 
aber  breiten  Schicht  der  populären  Litteratur  am  Platze  und  von  segensreicher 
Wirkung  seb:  wenn  aber  solcher  Erfolg  den  Aufklärern  zu  Kopfe  stieg,  wenn 
sie  dieselben  Massstäbe  an  die  grossen  Erscheinungen  der  Gesellschaft  und  der 
Geschichte  legten,  wenn  dieser  Uebermuth  des  empirischen  Verstandes  nichts 
gelten  lassen  woUte,  als  was  er  „klar  und  deutlich^  erkannt  hatte,  dann  ver- 
zerrten sich  die  edlen  Züge  der  Aufklärung  zu  jener  wohlgemeinten  Verständniss- 
losigkeit,  als  deren  Typus  Friedrich  Nicolai  mit  all  seiner  rastlosen  Gemein- 
nützigkeit eine  komische  Figur  geworden  ist  ^). 

6.  Die  grosse  Masse  der  deutschen  Aufklärer  ahnte  nicht,  wieweit  sie  mit 
dieser  trockenen  Utilität  abstracter  Verstandesregeln  von  dem  lebendigen  Geiste 
des  grossen  Leibniz  abirrte:  schon  Wolff  hatte  ja  auch  metaphysisch  die  prästa- 
bilirte  Harmonie  fallen  lassen  und  damit  bewiesen,  dass  ihm  der  feinste  Sinn  der 
Monadologie  verborgen  geblieben  war.  Er  und  seine  Nachfolger  besassen  daher 
auch  kein  Verständniss  dafür,  dass  Leibniz'  Princip  der  Vollkommenheit  in  dem 
Masse,  wie  seine  Metaphysik  die  Eigenheit  jedes  Einzelwesens  allen  anderen 
gegenüber  zur  Geltung  brachte,  auch  für  das  sittliche  Leben  die  Entfaltung 
des  individuellen  Lebensinhaltes  und  die  Ausgestaltung  seiner  dunkel 
gefühlten  Ursprünglichkeit  zur  Aufgabe  machte.  Diese  Seite  der  Sache  kam  in 
Deutscfadand  erst  zur  Geltung,  als  in  der  Litteratur  die  Periode  der  GeniaUtät 


1)  Vgl.  Fichte,  Fr.  Nicolai's  Leben  uud  sonderbare  Meinungen  (1801),  W.  W.  VIII,  1  IT. 


400  V^*  Philosophie  der  Aufklärang.  2.  Praktische  Fragren. 

anbrach  und  das  leidenschafUiche  Gefühl  eigenartiger  Geister  seine  Theorie 
suchte.  Die  Form  aber,  welche  sie  dann  in  Herder's  Abhandlangen  und  ebenso 
in  Schiller's  ^philosophischen  Briefen^  fand,  war  weit  stärker  als  durch  Leibniz 
von  einer  anderen  Lehre  bestimmt,  die  trotz  der  Verschiedenheit  der  begriff- 
lichen Ausfuhrung  in  der  ethischen  Gesinnung  die  grösste  Yer^'andtschaft  mit 
der  des  deutschen  Metaphysikers  besass. 

Shaftesbury  hatte  der  Idee  der  Vollkommenheit  eine  weniger  systema- 
tische, aber  desto  anschaulichere  und  eindrucksvollere  Gestalt  gegeben.  Bei  ihm 
lag  mit  unmittelbar  lebendiger  Congenialität  die  antike  Lebensauffassung  zu 
Grunde,  wonach  Sittlichkeit  mit  der  ungestörten  Entfaltung  des  wahren  und 
natürlichen  Wesens  des  Menschen,  deshalb  aber  auch  mit  seinem  echten  Glücke 
zusammenfällt.  Das  Sittliche  erscheint  daher  bei  Shaftesbury  als  das  wahrhaft 
Menschliche,  als  die  Lebensblüthe  des  Menschen,  als  die  vollkommene  Entwick- 
lung seiner  natürlichen  Anlagen.  Hierin  bestimmt  sich  zunächst  Shaftesbury'» 
Stellung  zu  Cumberland  und  Hobbes:  er  kann  nicht  wie  dieser  den  Egoismus  als 
den  einzigen  Grundzug  des  natürlichen  Menschen  betrachten,  er  erkennt  viel- 
mehr wie  jener  die  altruistischen  Neigungen  für  eine  ursprüngliche,  angeborene 
Mitgift  an;  aber  er  kann  auch  nicht  nur  in  den  letzteren  die  Wurzel  der  Sittlich- 
keit erblicken,  sondern  da  ihm  Moralität  die  Vollendung  des  ganzen  Menschen 
ist,  so  sucht  er  das  Princip  derselben  in  der  gleichmässigen  Ausbildung  und  in 
dem  harmonischen  Lieinandergreifen  beider  Triebsysteme.  Diese  Moral  verlangt 
nicht  die  Unterdrückung  des  Eigenwohls  zu  Gunsten  des  fremden  Glücks,  eine 
solche  erscheint  ihr  nur  auf  den  niederen  Stufen  der  Entwicklung  nöthig:  der 
voll  ausgebildete  Mensch  lebt  ebenso  sich  selbst  wie  dem  Ganzen  ^),  und  gerade 
durch  die  Entfaltung  seiner  Eigenart  stellt  er  sich  als  vollkommenes  Glied  in 
den  Zusammenhang  des  Universums.  Darin  am  meisten  spricht  sich  Shaftes- 
bury's  Optimismus  aus,  dass  er  glaubte,  in  dem  reifen  Menschen  müsse  der 
Conflict  zwischen  den  egoistischen  und  den  altruistischen  Motiven,  der  in  den 
niederen  Schichten  der  Menschheit  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  vollkommen  aus- 
geglichen sein. 

Deshalb  aber  ist  bei  diesem  Denker  das  sittliche  Lebensideal  ein  durch- 
aus persönliches.  Moralität  besteht  ihm  nicht  in  der  Herrschaft  allgefheiner 
Maximen,  nicht  in  der  Unterordnung  des  Eigenwillens  unter  Normen,  sondern 
in  dem  reichen  und  vollen  Ausleben  einer  ganzen  Individualität.  Es  ist 
die  souveräne  Persönlichkeit,  welche  ihr  ethisches  Recht  geltend  macht,  und  die 
höchste  Erscheinung  im  Bereiche  des  Sittlichen  ist  die  Virtuosität,  welche 
keine  der  Kräfte  und  keine  der  Triebrichtungen  in  der  Anlage  des  Individuums 
verkümmern  lässt,  sondern  in  voUkcnnmener  Lebensführung  alle  die  mannigfachen 
Beziehungen  in  Einklang  bringt  und  damit  ebenso  das  Glück  des  Einzelnen  wie  seine 
kräftigste  Wirkung  für  die  Wohlfahrt  des  Ganzen  herbeifuhrt.  So  prägt  sich  in 
der  monadologischen  Weltanschauung  von  Neuem  das  griechische  Ideal  der  Kalo- 
kagathie  aus  (vgl.  §  7,  5). 


1)  Pope  verglich  dies  Verhältniss  (Essay  on  man  III,  814ff.)  mit  der  Doppelbewegungr 
der  Planeten  um  die  Sonne  und  um  die  eigene  Axe.  Durch  denselben  Dichter  hat  übrigens 
Shaftesbury 's  Lebensansicht  auf  Voltaire  gewirkt,  während  Diderot  (in  seiner  Bearbeituofr  des 
In<|uiry  concerning  virtuc  and  merit)  direct  an  Shailesbury  ankuüx)fte. 


§  86.  Principien  der  Moral.    (Shaftesbury,  HutchesoD,  Rousseau.)  401 

7.  Ist  hiernach  schon  inhaltlich  das  Moralprindp  bei  Shaftesbury  ästhe« 
tisch  gefärbt,  so  tritt  dies  folgerichtig  noch  mehr  bei  der  Frage  nach  der  Er- 
kenntnissqiielle  für  die  sittlichen  Aufgaben  hervor.  Diese  bestand  für  die 
Metaphysiker  ebenso  wie  fär  die  Sensualisten  in  der  vernünftigen  Erkenntniss 
sei  es  der  Natur  der  Dinge  sei  es  des  empirisch  Nützlichen:  in  beiden  Fällen 
ergaben  sich  demonstrirbare,  allgemeingiltige  Grundsätze.  Die  Moral  der  Vir- 
tuosität dagegen  musste  das  individuelle  Lebensideal  den  Tiefen  des  Einzelwesens 
entnehmen:  ihr  gründete  sich  die  Sittlichkeit  auf  das  Gefühl.  Die  sittUchen  Ur- 
theile,  durch  welche  der  Mensch  in  sich  selbst  die  Triebe  billigt,  welche  ihm  die 
Natur  zur  Förderung  des  eigenen  wie  des  fremden  Wohls  eingepflanzt  hat,  da- 
gegen die  „unnatürlichen^  Triebe  missbilligt,  welche  jenen  Zwecken  entgegen 
wirken,  —  diese  Urtheile  beruhen  auf  dem  Vermögen  des  Menschen,  seine  eigenen 
Functionen  sich  zum  Gegenstande  zu  machen,  d.h.  auf  der  „Reflexion^  (Locke); 
aber  sie  sind  nicht  bloss  ein  Wissen  der  eigenen  Zustände,  sondern  Affekte 
der  Reflexion,  und  als  solche  bilden  sie  innerhalb  des  „inneren  Sinnes^  den 
moral  sense. 

Damit  war  die  psychologische  Wurzel  des  Ethischen  aus  dem  Bereiche 
verstandesmässiger  Erkenntniss  auf  die  Gefiihlsseite  der  Seele  und  in  die  unmittel- 
bare Nähe  des  ästhetischen  Verhaltens  verpflanzt.  Das  Gute  erschien  als  das 
Schöne  in  der  Welt  des  WoUens  und  Handelns:  es  besteht  wie  das  Schöne  in 
einer  harmonischen  Einheit  des  Mannigfaltigen,  in  einer  vollkommenen  Ausbildung 
des  natürlich  Angelegten;  es  befriedigt  und  beseUgt  wie  das  Schöne,  es  ist  wie 
das  Schöne  der  Gegenstand  einer  ursprüngUchen,  im  tiefsten  Wesen  des  Menschen 
angelegten  Billigung.  Diese  Parallele  hat  von  Shaftesbury  an  die  Litteratur 
des  18.  Jahrhunderts  beherrscht:  der  „Geschmack^  ist  das  ethische  wie  das 
ästhetische  Grundvermögen.  Am  deutlichsten  ist  das  wohl  von  Hutcheson 
ausgesprochen  worden,  aber  mit  einer  Wendung,  welche  von  Shaftesbury's  Lidi- 
vidualismus  schon  wieder  einigermassen  abführte.  Denn  er  verstand  unter  dem 
„moralischen  Sinn"  —  in  der  rein  psychologischen  Bedeutung  des  „Eingeboren- 
seins" —  ein  allen  Menschen  wesentlich  gleiches,  ursprüngliches  Beuiiiheilungs- 
vermögen  fiir  das  sittlich  zuBilligende.  Das  metaphysische  Beiwerk  der  Platoniker 
und  Cartesianer  wurde  gern  über  Bord  geworfen,  dafür  aber  um  so  eiftiger  — 
namentlich  im  Gegensatz  gegen  das  selfish  System  —  daran  festgehalten,  dass 
der  Mensch  ein  natürliches  Gefühl  für  das  Gute  wie  für  das  Schöne 
besitze,  und  die  Analyse  dieses  Gefühls  fiir  die  Aufgabe  der  Philosophie  erklärt. 

Die  Uebertragung  dieses  Princips  auf  das  theoretische  Gebiet  führte  in  der 
schottischen  Schule  (vgl. §33,  8)  dazu,  auch  das  Wahre  in  Parallele  zu  dem 
Guten  und  Schönen  als  den  Gegenstand  ursprüngUcher  Billigung  zu  setzen  und 
so  in  dem  common  sense  eine  Art  von  „logischem  Sinn^  anzunehmen.  In  weit  aus* 
gesprochenerer  Weise  aber  wurde  das  Gefühl  als  Erkenntnissquelle  von 
Rousseau  proklamirt,  welcher  im  Gegensatz  zu  der  verstandeskühlen  Zerfaserung, 
womit  die  rein  theoretische  Aufklärung  das  religiöse  Leben  behandelte,  seinen 
Deismus  auf  das  unverdorbene,  natürliche  Gefühl  des  Menschen  gründete  ^).  In 
sehr  unbestimmt  eclectischer  Weise  wurde  diese  Gefühlsphilosophie  von 
dem  holländischen  Philosophen  Franz  Hemsterhuys  (aus  Groeningen,  1720— 


1)  Vgl.  das  Glaubensbekenutniss  des  savoyischen  Vicars  im  Emile,  IV,  201  if. 
Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  26 


402  V.  Philosophie  der  Aufklärung.  2.  Praktische  Fragen. 

1790),  mit  barocker  Wunderlichkeit  von  dem  geistreichen  Schwärmer  Hamann, 
dem  „Magus  des  Nordens '^  ^),  ausgeführt. 

8.  Am  meisten  aber  machte  sich  jene  von  Shaftesbury  und  Hutcheson  an- 
gebahnte Theorie  der  Gefühle  in  der  Verschmelzung  ethischer  und 
ästhetischer  Untersuchungen  geltend.  Der  eudämonistischen  Moral  war 
es,  je  gemeinfasslicher  sie  behandelt  wurde,  um  so  genehmer,  ihre  Gebote  als  den 
Gegenstand  eines  natürlichen  Wohlgefallens  in  das  Gewand  der  Anmuth  hüllen 
zu  können  und  das  Gute  als  etwas  dem  Schönen  Verwandtes  dem  Geschmack 
empfehlen  zu  dürfen.  Auch  die  schottischeSchule  stand  dieser  AufEassung 
nicht  fem,  und  Ferguson  entwickelte  in  dieser  Weise  die  Shaftesbury'schen 
Ideen  mit  ausdrücklicher  Beziehung  auf  den  Leibniz'schen  Grundbegriff  der  Voll- 
kommenheit. Für  die  Aesthetik  aber  hatte  diese  Gedankenverschlingung  die 
Wirkung,  dass  in  ihr  die  Ansätze  zu  einer  metaphysischen  Behandlung,  welche 
Shaftesbury  aus  dem  Ganzen  seiner  plotinischen  Weltauffassung  an  die  Probleme 
des  Schönen  herangebracht  hatte,  röllig  durch  die  psychologische  Methode  über- 
wuchert wurden.  Nicht  was  schön  ist,  fragte  man,  sondern  wie  das  Gefühl  der 
Schönheit  zu  Stande  kommt:  und  bei  der  Lösung  dieser  Frage  brachte  man  die  Er- 
klärung des  ästhetischen  Verhaltens  in  mehr  oder  minder  engen  Zusammenhang 
mit  ethischen  Beziehungen.  Dies  zeigt  sich  auch  bei  solchen  Aesthetikem,  welche 
der  sensualistischen  Psychologie  näher  standen,  als  etwa  die  Schotten.  So  fasst 
Henry  Home  den  Genuss  des  Schönen  als  einen  Uebergang  von  der  rein  sinn- 
heben  Begierdestillung  zu  den  moralischen  und  intellectuellen  Freuden  auf,  und 
meint,  zu  der  für  die  höhere  Bestimmung  des  Menschen  erforderUchen  Verfeine- 
rung seiner  sinnhchen  Anlage  seien  die  Künste  ^erfunden^  worden:  er  sucht  des- 
halb das  Gebiet  des  Schönen  in  den  höheren  Sinnen,  Gehör  und  namentlich 
Gesicht,  und  findet  dabei  als  Grundlage  einen  allen  Menschen  gemeinsamen 
Geschmack  für  Ordnung,  Regelmässigkeit,  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen  zur 
Einheit.  Wenn  er  dann  weiter  zwischen  der  „eigenen"  Schönheit  des  unmittelbar 
Sinnenfalligen  und  der  Schönheit  der  „Relation"  unterscheidet,  so  spitzen  sich 
diese  „Verhältnisse"  wesentlich  auf  das  ethisch  Gemeinnützige  zu,  in  dessen 
Dienst  damit  die  Schönheit  gestellt  wird^).  Selbst  Edmund  B  ur  ke  ist  in  seinem 
Bestreben,  das  ästhetische  Verhalten  nach  associationspsy  chologischcr 
Methode  aus  elementaren  Empfindungszuständen  herzuleiten,  von  der  Problem- 
bildung der  gleichzeitigen  Moralphilosophie  sehr  stark  abhängig.  Sein  Versuch, 
das  Verhältniss  des  Schönen  zum  Erhabenen  zu  bestimmen  —  eine 
Aufgabe,  an  der  auch  Home,  obwohl  mit  sehr  geringem  Erfolge,  gearbeitet  hatte ') 
—  geht  von  dem  Gegensatz  der  selbstischen  und  geselligen  Triebe  aus.  Erhaben 
soll  danach  das  sein,  was  in  wohlthuendem  Schauer  uns  mit  Schrecken  erfüllt, 
während  wir  selbst  so  fem  davon  sind,  dass  wir  der  Ge£ahr  unmittelbaren 
Schmerzes  uns  entrückt  fühlen:  schön  dagegen  alles,  was  die  Gefühle  sei  es  der 


1)  Johann  Geory^  Hamann  (aus  Königsberg,  1730 — 1788;  Ges.  Schriften  von  Gilde- 
ICETSTEB  hrsg.,  Gotha  1867 — 73)  Terknüpft  in  seiner  tiefsinnigen,  aber  sprunghaft  unklaren 
Ausdrucksweise  diese  Richtung  mit  einem  der  Orthodoxie  nicht  fem  stehenden  PietismuB.  — 
2)  Näheres  in  dem  Art.  über  Home  (Eames)  von  W.  WmoELBAND  in  Ersch  u.  Gruber^s  Ency- 
klopädie,  II,  32,  213  f.  —  8)  Nach  Home  ist  das  Schöne  erhaben,  wenn  es  gross  ist.  Seinen 
unklaren  und  schwankenden  Bestimmungen  scheint  etwa  der  Gegensatz  des  Qualitativ-  und 
des  Quantitativ-Gefalligen  zu  Grunde  zu  Hegen. 


§  36.  Principien  der  Moral.    (Sulzer,  Mendelssohn,  Tetens.)  403 

geschlechtlichen  sei  es  der  allgemein  menschlichen  Liebe  in  wohlgefälliger  Weise 
heryorzumfen  geeignet  ist. 

Aehnlich  wie  Home  hat  auch  Sulz  er  die  Empfindung  des  Schönen  mitten 
zwischen  diejenige  des  sinnlich  Angenehmen  und  die  des  Guten  als  eine  üeber- 
leitung  von  der  einen  zur  anderen  gesetzt.  Die  Möglichkeit  dieser  üeberleitung 
fand  er  in  dem  intellectuellen  Factor,  der  bei  der  Auffassung  des  Schönen  mit- 
wirke: sie  erschien  ihm  —  nach  Leibniz,  vgl.  oben  §34, 11  —  als  das  Gefühl  har- 
monischer Einheit  der  sinnlich  empfundenen  Mannigfaltigkeit.  Allein  eben  yermöge 
dieser  Voraussetzungen  galt  ihm  das  Schöne  nur  dann  als  werthvoU  und  als  voll- 
kommen, wenn  es  den  moralischen  Sinn  zu  fordern  vermag:  auch  die  Kunst  värd 
so  in  den  Dienst  der  Auf  klärungsmoral  gezogen,  und  der  in  Deutschland  so  lange 
gefeierte  Aesthetiker  erweist  sich  in  der  Auffassung  von  der  Kunst  und  ihrer 
Aufgabe  als  ein  Banause  des  phiUströsen  Moralisirens.  Wie  unendlich  viel 
geistreicher  und  freier  sind  da  die  „Beobachtungen^,  welche  Kant  „über  das 
Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen^  zu  der  Zeit  anstellte,  als  auch  er  vom  psycho- 
logischen Standpunkte  aus  den  feinen  Verzweigungen  des  ethischen  und  des 
ästhetischen  Lebens  in  den  Individuen,  den  Geschlechtem,  den  Völkern  mit 
liebenswürdiger  Weltkundigkeit  nachging ! 

Zu  einer  folgenreichen  Aenderung  der  psychologischen  Systematik  gaben 
endlich  diese  Gedankenzusammenhänge  in  Deutschland  Anlass.  War  man  von 
jeher  gewohnt  gewesen,  die  Seelenthätigkeiten  nach  aristotelischem  Muster  in 
theoretische  und  praktische  einzutheilen,  so  liessen  sich  die  so  in  ihrer  mannig- 
fachen Bedeutsamkeit  erkannten  Gefühle  weder  in  der  Gruppe  des  Erkennens 
noch  in  der  des  Wollens  ohne  ünzuträglichkeiten  unterbringen:  es  schien  viel- 
mehr, dass  beiden  Functionsarten  der  Seele  die  Gefühle  als  eine  eigenartige 
Aeusserungsweise  theils  zu  Grunde  lägen  theils  folgten.  Auch  hier  ging  die  An- 
regung von  der  Leibniz'schen  Monadologie  aus.  Zuerst  scheint  Sulz  er  in 
seinen  Berliner  Vorträgen  ^)  darauf  hingewiesen  zu  haben,  dass  die  dunklen  Ur- 
zustände der  Monade  von  den  entwickelten  Lebensformen  des  vollbewusst^i 
Erkennens  und  Wollens  zu  sondern  seien,  und  schon  er  fand  deren  Eigenthümlich- 
keit  in  den  damit  gegebenen  Lust-  und  Unlustzuständen.  Aehnlich  geschah  es 
von  Leibniz'schen  Voraussetzungen  her  bei  Jacob  Friedrich  Weis s^).  Diese 
Zustände  benannte  Mendelssohn  zuerst  (1765)  Empfindungen"),  und  später 
bezeichnete  derselbe  die  ihnen  gemeinsam  zu  Grunde  liegende  Seelenkraft  als  das 
Billignngsvermögen^).  Den  entscheidenden  Einfluss  aber  auf  die  Termino- 
logie haben  Tetens  und  Kant  ausgeübt.  Ersterer  schob  für  Empfindungen  den 
Ausdruck  Fühlungen  oder  Gefühle  ein  ^),  und  Kant  brauchte  fast  ausschUesslich 
den  letzteren.  Er  war  es  auch,  der  später  die  Dreitheilung  der  seelischen 
Functionen  in  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen  zur  systematischen  Grund- 
lage seiner  Philosophie  machte  %  und  seitdem  ist  dieselbe,  namentlich  für  die 
Psychologie,  massgebend  geblieben. 

1)  1751  f.,  gedruckt  in  den  „Vermischten  Schriften"  {Berlin  1773).  —  2)  J.  F.  Weiss, 
De  natura  auimi  et  potissimum  cordis  humani  (Stuttgart  1761).  —  8)  Dabei  bezieht  sich  auch 
Mendelssohn  mit  seinen  Briefen  über  die  Empfindungen  direct  auf  Shaftesbury  —  4)  Vgl. 
Mendelssohn,  Morgenstunden  (1785),  Kap.  VII  (W.  I,  352).  —  5)  Vgl.  Tetens,  Versuche,  a, 
S.  625  ff.  —  6)  In  der  zwischen  1780  und  1790  geschriebenen,  anfönglich  zur  Einleitung  in 
die  „Kritik  der  ürtheilskraft**  bestimmten  Abhandlung,  welche  unter  dem  Titel  „Ueber  Philo- 
sophie überhaupt  in  seine  Schriften  übergegangen  ist.  Vgl.  Th.  VI,  Kap.  1. 

26* 


404  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   9.  Praktische  Fragen. 

9.  Allen  diesen  Entwicklungen  gegenüber  erhielt  sich  die  von  H  o  b  b  es  aus- 
gehende Gegenströmung;  welche  den  Nutzen  oder  Schaden  des  Individuums  fiir 
den  einzig  möglichen  Inhalt  des  menschlichen  Wollens  erklärte.  Das  Kriterium 
der  sittlichen  Handlung  wurde  hiemach  lediglich  psychologisch  in  ihren  Folgen 
für  den  Nutzen  der  Nebenmenschen  gesucht.  Moralität  giebtes  nur  inner- 
halb des  socialen  Zusammenhanges.  Der  Einzelne  für  sich  aUein  kennt  nur  sein 
eigen  Wohl  und  Wehe:  in  der  Gesellschaft  aber  werden  seine  Handlungen  nach 
dem  Gesichtspunkte  beurtheilt;  ob  sie  den  Anderen  nützen  oder  schaden,  und 
dies  allein  gilt  als  der  Standpunkt  der  sittUchen  Beurtheilung.  Diese  Auffassung 
des  ethischen  Kriteriums  entsprach  nicht  nur  der  gemeinen  Ansicht;  sondern  auch 
demBedürfniss  einer  rein  empirisch-psychologischen^  metaphysiklosenBegründung 
der  Ethik:  ihr  waren  auch  Cumberland  und  Locke  in  letzter  Instanz  beigetreten; 
ihr  schlössen  sich  nicht  nur  die  theologischen  MoraUsten  wie  Butler  und  Paley 
an,  sondern  auch  die  Assooiationspsychologen  Priestley  und  HarÜey.  Dabei 
bildete  sich  allmählich  die  classische  Foimel  dieser  Richtung  heraus.  Eine  Hand- 
lung ist  sittlich  um  so  wohlgefälliger,  je  mehr  Glücksehgkeit  sie  hervorbringt 
und  je  grösser  die  Anzahl  von  Menschen  ist,  denen  sie  diese  Glückseligkeit  zu 
Theil  werden  lässt:  das  ethische  Ideal  ist  the  greatest  happiness  of  the 
greatest  number.  Dies  ist  das  Stichwort  des  Utilismus  oder  ütili- 
tarismus  (auch  wohl  Utilitarianismus)  geworden. 

Diese  Formel  aber  legte  den  Gedanken  nahe,  die  sittUchen  Werthe  für  die 
einzelnen  Fälle  und  Verhältnisse  quantitativzu  bestimmen.  Der  Gedanke  von 
Hobbes  und  Locke,  auf  das  utilistische  Princip  eine  streng  demonstrativ-ethische 
Erkenntniss  zu  gründen,  schien  damit  eine  bestimmte,  der  naturwissenschaft- 
lichen Denkart  willkommene  Gestalt  gefunden  zu  haben.  Dieser  Verlockung 
ging  Bentham  nach,  und  darin  besteht  das  Eigenthümliche  seiner  mit  warmem 
Gemeinnützigkeitssinn  vorgetragenen  und  später  viel  genannten  Ausfuhrung  des 
utilistischenGedankiens.  Sie  läuft  darauf  hinaus,  genau  bestimmte  Gesichtspunkte 
zu  finden,  nach  denen  der  Werth  jeder  Handlungsweise  für  das  Wohl  des  Handeln- 
den selbst  und  der  Gesammtheit,  welcher  er  angehört,  theils  an  sich  theils  im 
Verhältniss  zu  anderen  Verfahrensarten  ermittelt  werden  könne,  und  Bentham  ent- 
wirft in  dieser  Tabelle  der  Werthe  und  Un  werthe  mit  weitschichtiger  Betrachtung 
der  individuellen  wie  der  socialen  Verhältnisse  und  Bedürfnisse  ein  Schema  der 
Lust-  und  Unlust  -  Bilanz  für  die  Berechnung  der  nützlichen  und  schädlichen 
Foljgen  menschUcher  Thätigkeiten  und  Einrichtungen.  Aehnlich  wie  bei  Hume 
(vgl.  unten  No.  12)  fallt  auch  hier  die  Ausrechnung  des  sittlich  Werth  vollen  dem 
abmessenden  Verstände  zu :  aber  die  Factoren,  mit  denen  er  dabei  operirt,  sind 
lediglitih  Lust-  und  Unlustgefiihle. 

10.  Die  enge  Verbindung,  in  welcher  sich  historisch  seit  Hobbes  dieser 
Utilismus  mit  dem  selfish  System,  d.  h.  mit  der  Annahme  einer  wesentUch  egoisti- 
schen Bestinmitheit  der  menschlichen  Natur  befand,  führte  nothwendig  dazu,  die 
Frage  nach  dem  Ejiterium  der  Sittlichkeit  und  der  Art  seiner  Erkenntniss  von 
derjenigen  nach  der  Sanction  der  moralischen  Gebote  und  den  Motiven  ihrer 
Befolgung  zu  sondern.  Für  die  metaphysischen  Theorien  lag  die  Sanction  der 
ethischen  Gebote  in  den  ewigen  Wahrheiten  des  Naturgesetzes:  und  auch  psycho- 
logisch schien  es  für  das  Streben  nach  Vervollkommnung,  für  das  Ausleben  der 
Persönlichkeit,  für  die  Befolgung  angeborener  sittlicher  Neigungen  keines  weiteren 


§  86.   Principien  der  Moral.    (Paley,  Helv^tius.)  406 

und  besonderen  Motivs  zu  bedürfen:  die  Moralität  verstand  sich  unter  solchen 
Voraussetzungen  von  selbst.  Wer  aber  pessimistischer  vom  Menschen  dachte, 
wer  ihn  für  ein  ursprünglich  und  seiner  Natur  nach  nur  durch  die  Rücksicht  auf 
eigenes  Wohl  und  Wehe  bestimmtes  Wesen  hielt;  der  musste  fragen,  mit  welchem 
Recht  von  einem  solchen  Wesen  eine  altruistische  Handlungsweise  verlangt  werde, 
imd  wodurch  es  sich  zur  Befolgung  dieser  Anforderung  bestimmen  lasse.  War 
die  Sittlichkeit  nicht  in  der  Natur  des  Menschen  von  selbst  gelegen,  so  musste 
angegeben  werden,  wie  sie  von  aussen  in  ihn  hineinkommt. 

Hier  leistete  nun  das  schon  von  Hobbes  und  Locke  herbeigezogene  Princip 
der  Autorität  seinen  Dienst.  Seine  handgreiflichste  Form  war  die  theo- 
logische: in  feinerem  Begriffsgefüge  wurde  sie  von  Butler,  mit  grober  Ge- 
meinfassUchkeit  von  Paley  ausgeführt.  Die  ütilität  ist  für  beide  das  Kriterium 
der  sittlichen  Handlung,  und  das  göttliche  Gebot  ist  für  beide  der  Rechts- 
grund für  die  ethischen  Anforderungen.  Während  aber  Butler  noch  die  Erkennt- 
niss  dieses  götthchen  Willens  in  dem  natürlichen  Gewissen  sucht,  wozu  er  (auch 
mit  dem  Namen  „Reflexion^)  die  Shaftesbury'schen  Reflexionsaffekte  umdeutet, 
ist  für  Paley  weit  mehr  die  positive  Offenbarung  des  göttlichen  Willens  mass- 
gebend :  und  die  Befolgung  dieses  Gebotes  erscheint  ihm  deshalb  nur  dadurch 
erklärhch,  dass  die  autoritative  Macht  ihren  Befehl  mit  Lohnverheissung  und 
Strafandrohung  verbunden  hat.  Dies  ist  die  schärfste,  dem  common-sense  der 
christUchen  Welt  vielleicht  am  meisten  entsprechende  Sonderung  der  ethischen 
Principien:  das  Kriterium  des  Morahscben  ist  das  Wohl  des  Nächsten,  der 
Erkenntnissgrund  dafür  das  geoffenbarte  Gesetz  Gottes,  der  sanctionirende  Real- 
grund der  Wille  des  Höchsten,  und  das  sittliche  Motiv  im  Menschen  ist  die 
Hoffnung  auf  den  Lohn  und  die  Furcht  vor  der  Strafe,  welche  Gott  für  Gehorsam 
und  Ungehorsam  bestimmt  hat. 

11.  Wurde  somit  bei  Paley  die  Thatsächlichkeit  des  sitthchen  Handelns 
dadurch  erklärt,  dass  der  an  sich  egoistische  Mensch  auf  dem  Umwege  einer 
theologischen  Motivation  schliesslich  durch  ebenso  egoistische  Triebfedern  der 
Hofhung  und  Furcht  zu  der  von  Gott  befohlenen  altruistischen  Handlungsweise 
bestimmt  wird,  so  setzte  die  sensualistische  Psychologie  an  die  Stelle 
der  theologischen  Vermittlung  die  Autorität  des  Staats  und  die  Nöthigungen 
des  geselligen  Zusammenlebens.  Ist  der  Wüle  des  Menschen  in  letzter  Instanz 
immer  nur  durch  das  eigene  Wohl  und  Wehe  bestimmbar,  so  ist  sein  altruistisches 
Handeln  nur  dadurch  begreiflich,  dass  er  darin  das  unter  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen verständigste,  sicherste  und  einfachste  Mittel  zur  Herbeiführung  der 
eigenen  Glückseligkeit  sieht.  Während  deshalb  die  theologischen  ütiUtarier  den 
natürlichen  Egoismus  mit  den  Belohnungen  des  Himmels  und  den  Strafen  der 
Hölle  bändigen  zu  sollen  meinten,  schien  den  Empiristen  für  diesen  Zweck  die 
durch  den  Staat  und  den  gesellschaftUchen  Zusammenhang  gefugte  Lebens- 
ordnung zu  genügen.  Der  Mensch  findet  sich  in  solchen  Verhaltnissen,  dass  er 
bei  rechter  Ueberlegung  einsieht,  er  werde  seinen  Vortheil  am  besten  durch 
Unterordnung  unter  die  bestehenden  Sitten  und  Gesetze  finden.  Die  Sanction 
der  ethischen  Anforderungen  liegt  hiernach  in  der  durch  das  Princip  der  Utihtät 
dictirten  Gesetzgebung  des  Staats  und  der  öffentlichen  Sitte,  und  das  Motiv  des 
Gehorsams  besteht  darin,  dass  der  Einzelne  dabei  seine  Rechnung  findet.  So  haben 
Mandeville,  Lamettrie  und  Helvetius  das  selfish  System  ausgebaut,  wobei 


406  ^'  Philosophie  der  Aufklarang.   2.  Praktische  Fragen. 

namentlich  Lamettrie  mit  geschmacklos  kokettem  Oynismus  „Hunger  und  Liebe'' 
in  ihrer  gemeinsten  sinnlichen  Bedeutung  als  die  &rundtriebfedem  alles  Menschen- 
lebens darzuthun  suchte  —  eine  elende,  weil  gekünstelte  Imitation  des  antiken 
Hedonismus. 

Sittlichkeit  erscheint  danach  nur  als  eudämonistische  Klugheit^  als  gesell- 
schaftlich verfeinerter  Egoismus,  als  das  Raffinement  des  Lebenskundigen,  der 
eingesehen  hat,  dass  er,  um  glücklich  zu  werden,  keinen  besseren  Weg  einschlagen 
kann,  als  sittUch,  wenn  nicht  zu  sein,  so  doch  zu  thun.  Diese  Ansicht  kommt . 
als  Lebensprincip  der  „grossen  Welt^  jener  Tage  mehrfach  in  der  Aufklärungs- 
philosophie zu  Wort:  sei  es  als  naiv-cynisches  Bekenntniss  eigener  Gesinnung 
wie  in  Lord  Chesterfield's  bekannten  Briefen  an  seinen  Sohn,  —  sei  es  in  der 
Form  moralisirender  Betrachtungen  wie  in  Labruy^re's  „Oharact^res^  (1680) 
und  in  Larochefoucauld's  „B^flexions^  (1690),  wo  schonungslos  die  Maske 
von  dem  gesitteten  Betragen  der  Menschen  gerissen  und  als  das  überall  allein 
treibende  Moment  der  nackte  Egoismus  enthüllt  wird,  —  sei  es  endlich  als 
bittere  Satire,  wie  bei  Swift,  wo  zum  Schluss  die  wahre  Natur  der  Menschen- 
bestie von  Gulhver  bei  den  Yahoos  entdeckt  wird. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  trüben  Auffassung  von  der  natürlichen  Gemein- 
heit des  Menschen  geht  durch  das  Aufklärungszeitalter  die  Ansicht,  dass  die 
Erziehung  desselben  zu  ethischem  Handeln  durch  die  Macht  und  die  Autorität 
mit  Furcht  und  Ho£Enung  an  eben  dies  niedrige  Triebsystem  zu  appelliren  habe. 
Das  zeigt  sich  charakteristischer  Weise  selbst  bei  Solchen,  welche  für  den  reifen 
und  voll  entwickelten  Menschen  eine  reine,  über  allen  Egoismus  erhabene  Moralitat 
in  Anspruch  nahmen.  So  findet  z.  B.  Shaftesbury  für  die  Erziehung  der  grossen 
Masse  die  positive  ReUgion  mit  ihrer  Moralpredigt  des  Lohndienstes  und  der 
Strafenfurcht  gerade  gut  genug.  So  meinte  auch  Preussens  philosophischer 
König,  Friedrich  der  Grosse  ^),  der  für  sich  selbst  ein  so  strenges,  reines, 
aller  selbstischen  Nebenrücksichten  baares  Pflichtbewusstsein  besass  und  für  das 
höchste  sitthche  Gut  erklärte,  doch  hinsichthch  der  staathchen  Erziehung  der 
Menschen,  sie  habe  überall  an  deren  nächste,  wenn  auch  noch  so  niedrige  Inter- 
essen anzuknüpfen :  denn  er  gab  den  Encydopädisten  zu,  dass  der  Mensch  in 
genere  nie  durch  etwas  Anderes,  als  durch  seine  persönlichen  Literesseu  zu 
bestimmen  sei.  In  dieser  Hinsicht  haben  namentlich  die  französischen  Aufklärer 
die  Motive  zu  analysiren  gesucht,  durch  deren  Erweckung  der  Staat  die  Bürger 
für  seine  Gesammtinteressen  zu  gewinnen  vermag.  Montesquieu  zeigte  mit 
feiner  Psychologie,  wie  verschieden  sich  dies  Yerhältniss  bei  den  verschiedenen 
Yerfassungsformen  gestaltet.  Lamettrie  wies,  wie  schon  Mandeville,  auf  das 
Ehrgefühl  als  auf  den  kräftigsten  Factor  der  gesellschaftlichen  Gesinnung  bei 
civihsirten  Völkern  hin,  und  Helv6tius  führte  diesen  Gedanken  des  Breiteren  aus. 

Wenn  aber  so  die  sensuaUstische  Psychologie  vom  Staate  allein  die  sitt- 
liche Erziehung  des  Menschen  erwartete,  so  musste  der  Grad,  in  welchem  ihm 
diese  gelang,  als  Massstab  für  die  Werthbeurtheilung  der  öffentlichen  Einrich- 
tungen gelten.  Diese  Consequenz  hat  Holbach  im  Systeme  de  la  nature 
gezogen,  und  der  gewinnendste  Zug  dieses  trockenen  Buchs  ist  vielleicht  die 
Ehrlichkeit  und  die  Energie,  womit  es  zu  zeigen  bemüht  ist,  wie  wenig  die  ver- 

1)  Vgl.  besonders  das  bei  E.  Zsllkr,  F.  d.  G.  als  Phüosoph,  S.  67 ff.,  106ff.  Angefahrte, 
dazu  aber  namentlich  Friedrich's  „Anümacchiavelli". 


§36.  Prinoipien  der  Moral.    (Hmne,  Smith.)  407 

rotteten  Zustände  des  damaligen  öffentlichen  Lebens  geeignet  waren,  den  Bürger 
über  die  Niedrigkeit  selbstsüchtiger  Bestrebungen  hinauszuheben. 

12.  Als  der  allseitigste  Niederschlag  dieser  Bewegung  und  als  die  feinfbhligste 
Abwägung  der  in  ihr  streitenden  Denkmotive  darf  Hume's  Moralphilosophie 
gelten.  Auch  sie  steht  durchaus  auf  dem  Boden  der  psychologistischen  Methode: 
durch  eine  genetische  Untersuchung  der  Affekte^  der  Glefühle  und  Willens- 
entscheidungen soll  das  sittliche  Leben  des  Menschen  begriffen  werden.  Dabei 
ist  nun  das  Bedeutsamste  in  Hume's  Lehre  die  Trennung  des  ütilismus  vom 
selfish  System.  Das  Kriterium  der  sittlichen  Billigung  und  Missbilligung  bildet 
auch  für  ihn  die  Wirkung,  welche  die  zu  beurtheilende  Eigenschaft  oder  Hand- 
lung an  Lust-  und  UnlustgefUhlen  herbeizuführen  geeignet  ist;  und  er  fasst  dies 
wie  die  Alten  und  Shaftesbury  im  weitesten  Sinne^  indem  er  als  Oegenstände  des 
sittlichen  Wohlgefallens  nicht  nur  die  ^ socialen  Tugenden^,  wie  Gerechtigkeit, 
Wohlwollen  u.  a.^  sondern  auch  die  „natürlichen  Tüchtigkeiten^  ')  wie  Klugheit, 
Muth;  Energie  betrachtet.  Aber  wir  empfinden  diese  Billigung  dafür  auch 
dann,  wenn  sie  für  unser  eigenes  Wohl  völlig  gleichgiltig  oder  gar  wenn  sie  dem- 
selben schädlich  sind;  und  dies  kann  unmöglich  durch  blosse  associationspsycho- 
logische  Vermittlungen  auf  den  Egoismus  zurückgeführt  werden.  Ebenso  ver- 
bietet aber  die  Beziehung,  welche  diese  Beurtheilungen  zu  den  verwickelten 
Verhältnissen  der  Erfahrung  besitzen,  die  Annahme  ihres  Eingeborenseins.  Sie 
müssen  vielmehr  auf  eine  einfache  Grundform  zurückgeführt  werden,  und  dies 
ist  die  S  y  m  p  a  t  h  i  e '),  d.h.  zunächst  die  Fähigkeit  des  Menschen,  fremdes  Wohl 
und  Wehe  wenigstens  in  abgeschwächter  Form  wie  eigenes  mitzufühlen.  Solche 
sympathischen  Gefühle  sind  aber  nicht  nur  die  impulsiven  Gründe  der  morali- 
schen Urtheile,  sondern  auch  die  ursprünglichen  Motive  des  moralischen  Han- 
delns: denn  die  Gefühle  sind  die  Ursachen  der  Willensentscheidungen.  Diese 
ursprünglichen  Impulse  reichen  jedoch  allein  für  die  Erklärung  des  ethischen 
XJrtheilens  und  Handelns  noch  nicht  aus.  Für  die  verwickeiteren  Verhältnisse 
des  Lebens  bedarf  es  der  Klärung,  Ordnung  und  der  vergleichenden  Werthung 
der  Gefühlsmomente  und  dies  ist  die  Sache  der  Vernunft.  Aus  ihrer  üeber- 
legung  entspringen  daher  neben  den  natürUchen  und  ursprünglichen  auch  abgelei- 
tete, „künstliche^  Werthungen,  als  deren  Typus  Hume  —  hierin  offenbar  noch 
von  Hobbes  abhängig  —  die  Gerechtigkeit  und  das  ganze  System  rechtUcher 
Normen  behandelt.  In  letzter  Instanz  aber  verdanken  auch  diese  Bestimmungen 
ihre  Fähigkeit,  die  Beurtheilung  und  die  Willensentscheidung  zu  beeinflussen, 
nicht  der  vernünftigen  üeberlegung  als  solcher,  sondern  den  Gefühlen  der  Sym- 
pathie, an  welche  sie  appellirt. 

So  zerfasert  sich  die  grobe  Auffassung  des  „moral  sense^  durch  Hume's  Unter- 
suchung zu  einem  feinverzweigten  System  moralpsychologischer  Begriffsdifferenzen, 
als  dessen  Mittelpunkt  das  Princip  der  Sympathie  erscheint.  Ein  weiterer  Schritt 
in  der  Ausfuhrung  desselben  geschah  in  dem  ethischen  Werke  von  Adam  Smith. 
Schon  Hume  hatte  gegenüber  der  Aeusserlichkeit,  womit  der  gewöhnliche  Üti- 
lismus das  Kriterium  des  sittlichen  ürtheüs  in  die  Lust-  und  ünlustfolgen  der 
Handlung  verlegte,  energisch  daraufhingewiesen,  dass  die  ethische  Billigung  oder 


1)  Auch  hier  spielt  die  alte  Doppelbedeutimg  von  virtus  (virtue)  =  Tagend  und  = 
Tüohtigkeit  mit.  —  2)  Vgl.  Treat.  II,  1, 11  und  11,  2,  6. 


408  ^-  Philosophie  der  AufklÜnuig.   2.  Praktische  Fragen. 

Missbilligong  vielmehr  die  in  der  Handlung  sich  bethätigende  Gesinnung,  so- 
fern sie  auf  jene  Folgen  gerichtet  ist,  betreffe.  Smith  fand  daher  das  Wesen  der 
Sympathie  niclit  nur  in  der  Fähigkeit,  diese  Folgen  im  Sinne  der  Betroffenen 
mitzufühlen,  sondern  auch  in  dem  Vermögen,  sich  in  die  Gesinnung  desHandelnden 
zu  versetzen  und  auch  seine  Motive  mitzufühlen.  Und  mit  immer  weiterer  Aus- 
spinnung  des  Gedankens  der  sympathischen  Uebertragung  wird  dann  die  im 
Gewissen  sich  darstellende  Selbstbeurtheilung  des  Einzelnen  als  ein  durch 
Sympathiegefuhle  vermittelter  Reflex  der  Beurtheilung  begriffen,  welche  er  von 
Anderen  erfahrt  und  an  Anderen  ausübt. 

In  dem  geselligen  Zusammenleben,  dessen  psychologische  Grundlage 
die  Sympathie  ist,  wurzeln  somit  nach  Hume  und  Smith  alle  Erscheinungen  des 
ethischen  Lebens ,  und  der  Begründer  der  Nationalökonomie  sieht  mit  seinem 
grossen  philosophischen  Freunde  in  dem  Mechanismus  der  sympathischen  GefQhls- 
Übertragungen  eine  ähnliche  Ausgleichung  individueller  Lebensinteressen,  wie  er 
sie  auf  dem  Gebiete  des  Austausches  der  äusseren  Güter  mit  Rücksicht  auf  die 
Knappheit  der  Lebensbedingungen  in  dem  Mechanismus  von  Angebot  und  Nach- 
frage bei  dem  Wettbetriebe  der  Arbeit  gefunden  zu  haben  glaubte  ')•  Aber  mit 
diesen  Einsichten  in  die  durchgängige  Abhängigkeit  des  Individuums  von  einem 
gesellschaftlichen  Lebenszusammenhange,  den  es  nicht  erzeugt,  sondern  in  dem  es 
sich  vorfindet,  weist  die  Aufklärungsphilosophie  bereits  über  sich  selbst  hinaus. 

§  37.  Das  Chdturproblem. 

Für  die  grossen  Gebilde  der  menschlichen  Lebensgemeinschaft  und  ihrer 
geschichtlichen  Bewegung  war  der  Aufklärungsphilosophie  theils  durch  ihre 
Abhängigkeit  von  der  naturwissenschaftlichen  Metaphysik  theils  durch  ihre  eigene 
psychologistische  Richtung  der  Grundgedanke  vorgezeichnet,  darin  Gesammt- 
producte  individueller  Bethätigungen  zu  sehen,  und  daraus  ergab  sich  die  Neigung, 
diejenigen  Interessen,  deren  Befriedigung  der  Einzelne  von  derartigen  allgemeineren 
Zusammenhängen,  wie  sie  einmal  bestehen,  erwarten  kann,  in  genetischer  Er- 
klärung als  die  Motive  und  die  zureichenden  Ursachen  für  die  Entstehung,  zugleich 
aber  in  kritischer  Betrachtung  als  die  Massstäbe  der  Beurtheilung  dieser  Gebilde 
zu  behandeln.  Was  als  absichtsvoll  von  Menschen  erzeugt  galt,  sollte  auch  zeigen, 
ob  es  denn  nun  diese  Absichten  erfülle. 

1.  Diese  Auffassung  war  zunächst  durch  Hobbes  in  die  politische  und 
juristische  Bahn  gelenkt  worden.  Als  das  Kunstwerk  der  von  ihrer  Nothdurft 
bedrängten,  im  Kampf  mit  einander  um  Leben  und  Gut  bangenden  Individuen 
erschien  der  Staat:  er  sollte  mit  seinem  ganzen  Rechtssystem  auf  dem  Vertrage 
beruhen,  den  aus  solchen  Motiven  die  Bürger  mit  einander  eingegangen  sind. 
Dieselbe  epikureische  Yertragstheorie,  die  schon  im  späteren  Mittelalter  wieder 
auflebte,  ging  mit  dem  Nominalismus  in  die  neuere  Philosophie  über  und  er- 
streckte ihre  Wirkung  über  das  gesammte  18.  Jahrhundert.  Aber  die  künst- 
liche Construction  des  Absolutismus,  welche  Hobbes  darauf  errichtet  hatte, 
wich  im  Gefolge  der  politischen  Ereignisse  immer  mehr  der  Lehre  von  der 
Volkssouveränetät.  Sie  lag  wie  der  englischen  Verfassung  von  1688  so  der 
theoretischen  Gestaltung  zu  Grunde,  welche  derselben  Locke  in  der  Lehre  von 

1)  Inquiry  into  the  nature  and  the  causes  of  the  wealth  of  natioDS  (London  1776). 


§  87.  Cnltarproblem.   (Locke,  Rousseau,  Wolff,  Thomasius.)  409 

der  Trennung  und  dem  Gleichgewicht  der  drei  Staatsgewalten,  der  legislativen, 
executiven  und  föderativen  j  gab :  sie  beherrschte  als  ideale  Forderung  auch 
Montesquieu's  Schrift en^  der  im  Hinblick  auf  die  verrottete  Rechtsprechung 
semer  Zeit  der  richterlichen  Gewalt  volle  Selbständigkeit  gegeben  wissen  wollte, 
während  er  executive  und  föderative  (als  Verwaltung  nach  innen  und  aussen)  in 
der  Einen  monarchischen  Spitze  vereinigt  dachte :  sie  wurde  endlich  zum  vollen 
Demokratismus  inBousseau's  Contrat  social  durchgetührt,  wonach  das  Princip 
der  Uebertragung  und  der  Repräsentation  so  viel  wie  möglich  eingeschränkt  und 
auch  die  Ausübung  derSouveränetät  der  gesammten  Volksmasse  direct  zuerkannt 
werden  sollte.  Bei  allen  diesen  Umbildungen  der  Hobbes'schen  Doctrin  liegt  der 
Einfluss  der  historisch-politischen  Realitäten  auf  der  Hand :  aber  der  Gegensatz 
zwischen  Hobbes  und  Rousseau  hat  doch  auch  seinen  theoretischen  Hintergrund. 
Gilt  der  Mensch  als  von  Natur  wesentlich  egoistisch ,  so  muss  er  durch  die 
übergreifende  Staatsmacht  zur  Einhaltung  des  geselligen  Vertrages  gezwungen 
werden :  gilt  er  für  ursprünglich  gut  und  social  föhlend,  wie  bei  Rousseau^  so  ist 
von  ihm  zu  erwarten,  dass  er  sich  an  der  Ausführung  des  Vertragslebens  von 
selbst  immer  im  Interesse  des  Ganzen  betheiligt. 

Interessant  ist  es  nun^  dass  die  Vertragstheorie  im  18.  Jahrhundert  sich 
auch  denjenigen  rechtsphilosophischen  Lehren  mittheilte,  welche  nicht  bloss  psy- 
chologistische  Ghrundlagen  hatten.  Auch  das  ^Naturrecht^  dieser  Zeit  geht 
vom  Rechte  des  Individuums  aus  und  sucht  erst  daraus  das  Rechtsverhältniss  der 
Individuen  abzuleiten.  Doch  zeigen  sich  bei  der  Ausfuhrung  dieses  Princips  in 
der  deutschen  Philosophie  zwei  verschiedene  Richtungen,  die  zu  höchst  charakte- 
ristisch verschiedenen  Resultaten  führten.  Wenn  Leibniz  in  antiker  Weise  die 
Rechtsbegriffe  aus  den  allgemeinsten  Bestimmungen  der  praktischen  Philosophie 
abgeleitet  hatte  ^),  so  folgte  ihm  W  o  1  f f  auch  darin,  machte  aber  deshalb  zum 
Zwecke  des  Staatsvertrages  die  gegenseitige  Förderung  der  Individuen  zum  Be- 
hufe  ihrerVervollkommnungy  ihrer  Aufklärung  und  ihrer  Glückseligkeit:  nach  ihm 
hat  darum  der  Staat  nicht  bloss  für  die  äussere  Sicherheit,  sondern  auch  für  die 
allgemeine  Wohlfahrt  in  breitester  Ausdehnung  zu  sorgen»  Die  Oonsequenz 
davon  ist  die,  dass  Wolff  dem  Staat  das  Recht  und  die  Pflicht  zuspricht,  die 
grosse  Masse  der  unaufgeklärten,  von  Irrthum  und  Leidenschaft  beherrschten 
Menschen  gründlich  zu  bevormunden  und  bis  tief  in  ihre  Privatverhältnisse 
emeherisch  sich  einzumischen:  so  hat  Wolff  die  Theorie  für  jenen  ^väterlichen^ 
Despotismus  des  wohlwollenden  Polizeistaates  geliefert,  den  die  Deutschen  seiner 
Zeit  mit  sehr  gemischten  Gefühlen  besassen. 

Das  genau  entgegengesetzte  Resultat  knüpfte  sich  theoretisch  an  die  Ab- 
lösung der  Rechtsphflosophie  von  der  Moral,  wie  sie  schon  Thomasius  mit 
seiner  scharfen  Scheidung  des  justum  und  des  honestum  angebahnt  hatte.  In 
dieser  Richtung  behauptete  dessen  Schüler  Gundling  (1671 — 1729),  das  Recht 
sei  lediglich  als  Ordnung  der  äusseren  Beziehungen  der  Individuen 
zu  behandeln,  es  habe  die  Erhaltung  des  äusseren  Friedens  zum  Zweck,  seine 
Bestimmungen  seien  deshalb  nur  äusserlich  erzwingbar.  Diese  Beschränkung 
der  Thätigkeit  des  Staats  auf  den  äusseren  Rechtsschutz  entsprach  dem  indivi- 
dualistischen Sinne  der  Aufklärung  offenbar  am  meisten.  Wenn  das  Individuum 

1)  Vgl.  seine  Einleitung  zum  Codex  iuris  gentium  diplomaticus  (1693),  Werke 
(Erdm.)  118  ff. 


410  V.  Philosophie  der  Anfldfirang.   2.  Praktische  Fragen. 

sich  zum  Staatsvertrage  nur  aus  Noth  und  Bedürfniss  bequemt  hat^  so  wird  es 
dem  Staate  so  wenig  wie  möglich  Concessionen  zu  machen  geneigt  sein  und  ihm 
von  seinen  ursprünglichen  „Rechten^  nur  so  viel  opfern  wollen,  wie  für  den 
Zweck,  den  er  erfüllen  soll,  unbedingt  erforderlich  ist.  So  dachte  nicht  nur  der 
Spiessbürger,  der  zwar,  wenn's  irgendwo  fehlt,  gleich  bereit  ist,  nach  der  Polizei 
zu  rufen,  in  der  Stille  aber  die  Rechtsordnung  doch  als  einen  Feind  ansieht,  den 
man  sich  möglichst  vom  Halse  halten  muss;  sondern  so  fühlte  auch  der  geistig 
hochentwickelte  Aufklärer,  der  für  sein  reiches  Innenleben  nur  das  Interesse 
hatte,  unbehelligt  sich  den  Genüssen  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  widmen  zu 
können.  In  der  That  musste  die  ideallose  Wirklichkeit  der  deutschen  Klein- 
staaterei die  Gleichgiltigkeit  gegen  das  öffentliche  Leben  erzeugen,  welche  so  auch 
theoretisch  ihren  Ausdruck  fand.  Den  tie&ten  Stand,  welchen  in  dieser  Hinsicht 
die  Werthschätzung  des  Staates  gerade  bei  den  Gebildeten  erreicht  hat,  wird 
durch  Wilhelm  von  Humboldt's  „Ideen  zu  einem  Versuch,  die  Grenzen  der 
Wirksamkeit  des  Staates  zu  bestimmen^  ^)  wohl  am  besten  gekennzeichnet:  hier 
wird  jedes  höhere  Interesse  des  Menschen  sorgiältig  aus  dem  staatlichen  Macht- 
bereich ausgeschlossen  und  die  Aufgabe  der  öffentlichen  Gewalt  nur  auf  den 
niederen  Dienst  beschränkt,  Leben  und  Eigenthum  des  Bürgers  zu  schützen. 

2.  Blieb  in  dieser  Hinsicht  die  deutsche  Philosophie  der  politischen  Wirk- 
lichkeit gegenüber  immerhin  recht  zahm,  so  kam  andrerseits  doch  auch  in  ihr 
die  allgemeine  Tendenz  der  Aufklärung  zu  Tage,  das  Leben  der  Gesellschaft  wie 
des  Einzelnen  nach  den  Grundsätzen  der  Weltweisheit  einzurichten.  Wenn  es 
dieser  Zeit  zum  Ruhme  gereicht,  dass  sie  mit  manchem  historischen  Gerumpel^ 
das  sich  im  Haushalt  der  europäischen  Völker  angehäuft  hatte,  glücklich  auf- 
geräumt hat^  so  gebührt  daran  den  Thomasius  und  Wolff,  den  Mendelssohn  und 
Nicolai  gewiss  auch  ihr  Antheil  (vgl.  §  36, 6).  Allein  ungleich  kräftiger  und  wirk- 
samer ist  diese  Seit  e  d  er  Sache  bei  den  fr  a  n  z  ö  s  i  s  c  h  e  n  Aufklärern  hervorgetreten. 
Es  genügt  hier  schon  an  Voltaire  zu  erinnern,  der  als  eine  litterarische  Macht 
ersten  Ranges  unermüdUch  und  siegreich  für  Vernunft  und  Gerechtigkeit  ein- 
getreten ist.  Aber  den  Kampf,  welchen  er  gewissermassen  vor  den  Schranken 
der  öffentlichen  Meinung  von  ganz  Europa  führte,  nahmen  seine  Landesgenossen 
im  Einzelnen  durch  die  Kritik  der  Einrichtungen  und  die  Vorschläge  zu  ihrer 
Verbesserung  auf:  in  breiter,  vielfach  leidenschaftlicher  Discussion  geht  die  philo- 
sophische Ueberlegung  daran,  den  Staat  zu  reformiren.  Und  hier  kommt  sogleich 
neben  der  Stärke  der  Aufklärung  ihre  Schwäche  zu  Tage.  Aus  der  allgemeinen, 
ewigen  Natur  des  Menschen  oder  der  Dinge  entnimmt  sie,  wie  auch  immer,  die 
Massstäbe  ihrer  Kritik  des  Bestehenden  und  ihrer  Anforderung  an  dessen  Ver- 
änderung: damit  verliert  sie  die  Berechtigung  und  die  Lebenskraft  des  historisch 
Wirklichen  aus  den  Augen,  und  sie  glaubt,  man  brauche  nur  mit  dem  Bestehenden, 
wo  es  sich  als  vernunftwidrig  erweist,  tabula  rasa  zu  machen,  um  die  Gesellschaft  ex 
integro  nach  den  Principien  der  Philosophie  aufbauen  zu  können.  In  diesem  Sinne 
hat  die  Auf  klärungslitteratur,  zumal  in  Frankreich,  den  wirklichenBruch  mit  der 
Geschichte,  —  dieRe volutio  n  vorbereitet.  Typisch  war  darin  derVorgang  des 
Deismus,  der,  weil  vor  seiner  „rationalen^  Ejitik  keine  der  positiven  Religionen 
bestand,  sie  alle  aufheben  und  an  ihre  Stelle  die  Naturreligion  setzen  wollte. 


1)  1792  geschrieben,  1851  von  E.  Gausb  herausgegeben. 


§  37.  Ciiltnrproblem.    (Volney,  St.  Lambert,  Bentham,  Godwin.)  411 

So  versuchte  denn  auch  die  französische  Revolution  den  abstractenNatur- 
staat  der  ^jFreiheit^  Gleichheit  und  Brüderlichkeit^ ^  die  Verwirklichung  der 
„Menschenrechte^  nach  Bousseau's  Contrat  social  zu  decretiren:  und  zahlreiche 
Federn  recht  mittelmässiger  Qualität  beeilten  sich,  dieses  Geschäft  zu  recht- 
fertigen und  zu  glorificiren  ^).  Es  ist  meist  ein  flacher  Epikureismus^  der  auf  der 
Grundlage  Condillac'schen  Positinsmus  das  grosse  Wort  führt.  So  sucht  Volney 
mit  dem  Systeme  de  la  nature  die  Quelle  aller  gesellschaftlichen  Uebel  in  der 
Unwissenheit  und  der  Begehrlichkeit  des  Menschen,  dessen  Vervollkommnungs- 
föhigkeit  bisher  durch  die  Religionen  aufgehalten  sei.  Wenn  mit  diesen  erst  alle 
„Illusionen''  verscheucht  sein  werden,  dann  wird  die  neu  organisirte  Gesellschaft 
zur  obersten  Richtschnur  haben,  dass  „Gut"  nur  ist,  was  „den"  Menschen  fordert, 
und  der  Katechismus  für  den  Bürger  fasst  sich  in  die  Regel  zusammen  „  Conserve  toi 
— instruis  toi  —  modere  toi —  vis  pour  tes  semblables,  afin  qu'ils  vivent  pour  toi !"  *) 
Noch  materialistischer  erscheint  die  Theorie  der  Revolution  bei  St.  Lambert, 
von  dem  die  in  der  späteren  Litteratur  viel  besprochene  Definition  stammt: 
„L'homme  est  une  masse  organis^e  et  sensible;  il  regoit  Tintelligence  de  ce  qui 
Tenvironne  et  de  ses  besoins"*).  Mit  oberflächlichster  Geschichtsbetrachtung 
feiert  er  in  der  Revolution  den  endlichen  Sieg  der  Vernunft  in  der  Geschichte, 
und  dabei  deducirt  dieser  Epikureer,  dass  die  demokratischen  Anfänge  dieses 
grossen  Ereignisses  sich  im  Gäsarenthum  vollenden  werden!  Das  äusserste  an 
selbstgefälliger  Ueberhebung  hat  in  dieser  Hinsicht  der  parlamentarische  Dilet- 
tantismus bei  Gar at  und  Lancelin  geleistet^). 

Ausserordentlich  günstig  sticht  gegen  diese  phrasenhaften  Allgemeinheiten 
und  die  Deklamationen  über  Volkswohl  und  Vernunftherrschaft  die  ernste  Sach- 
lichkeit ab,  mit  welcher  Bentham  das  utilistische  Princip  für  die  Gesetzgebung 
brauchbar  zu  machen  suchte,  indem  er  die  quantitative  Bestimmung  der  Lust- 
und  Unlustwerthe  (vgl.  §  36, 9)  auf  die  Zweckerwägungen  der  einzelnen  gesetzlichen 
Massregeln  unter  sorgfaltiger  Berücksichtigung  der  jedesmal  vorliegenden  Ver- 
hältnisse anzuwenden  lehrte  ^).  Gerade  darin  bethätigte  er  die  Einsicht,  dass  es 
sich  in  der  staatlichen  Bewegung  nicht  nur  um  politische  Rechte,  sondern  vor 
allem  um  sociale  Interessen  handelt:  und  nach  eben  dieser  Richtung  erstand 
nicht  ohne  Einfluss  Bentham's  der  Revolution  ein  begeisterter  und  erfolgreicher 
Kämpe  in  Godwin*).  Aber  auch  sonst  kündigt  sich  in  der  Revolutionslitteratur 
wie  mit  dumpfem,  noch  fem  verhallendem  Donner  der  sociale  Sturm  an.  Immer 
umfangreicher  und  immer  selbständiger  auf  empirische  Prindpien  gegründet 
wurden  die  Untersuchungen  über  nationalökonomische  Probleme,  welche  in 

1)  Charakteristisch  ist  in  dieser  Litteratur  die  Vorliebe  für  die  der  kirchlichen  Er- 
ziehung abgesehene  Form  des  Katechismus.  —  2)  Yolmbt,  am  Schluss  des  Gatechisme,  Oeuvr. 
I,  310.  —  8)  St.  Lambert,  Cat6ch.  Indrod.  Oeuvr.  I,  53.  Es  bleibe  zur  Charakteristik  dieser 
Litteratur  nicht  unerwähnt,  dass  in  St.  Lambert^s  Katechismus  auf  die  Analyse  de  Thomme 
als  zweites  Buch  folgt  eine  Analyse  de  la  —  femme.  —  4)  Das  achtunffswcrtheste  Organ  dieser 
Richtung,  welche  in  der  Revolution  den  Triumph  der  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  sah 
und  vertheidigte,  ist  die  „Decade  philosophique".  Vgl.  Picayet,  Ideologues,  86  ff.  —  5)  Um 
so  bedauerlicher  ist  es,  dass  Bentham  später  in  seiner  Deontology  eine  Art  vonVolkskatechismus 
der  utilitarischen  Moral  zu  geben  versucht  hat,  der  an  radikaler  Einseitigkeit,  an  Gehässig- 
keit und  Verständnisslosigkeit  gegen  andere  Moralsysteme  den  schlimmsten  Erzeugnissen  der 
Revolutionszeit  gleichkon^mt.  —  6)  William  Godwin  (1756—1836)  veröffentlichte  1793 
seinen  Liquiry  conceming  political  justice  and  its  influence  on  general  virtue  and  happiness. 
Vgl.  C.  Eeoan  Paül,W.  G.,  his  firiends  and  contemporains  (London  1876)  und  Lesl.  Stephen, 
Engl,  thought  11,  264ff. 


412  V.  Philosophie  der  Aufklärung.   2.  Praktisohe  Fragen. 

Frankreich  hauptsächlich  durch  die  physiokratische  Schule  gefördert 
wurden :  während  aber  die  Theorie  vom  Staate  vor  Allem  die  Sicherung  des 
Besitzes  verlangte,  erhob  sich  aus  der  Tiefe  der  Gesellschaft  die  Frage  nach 
dem  Bechte  des  persönlichen  Eigenthums,  und  während  von  den 
Philosophen  immer  zwiespältiger  das  Problem  erwogen  wurde^  wie  mit  den  Inter- 
essen des  Individuums  diejenigen  der  Gesammtheit  vereinbar  seien  (vgl.  unten), 
kam  der  Gedanke  zum  Durchbruch;  daas  in  dem  Streben  nach  individuellem 
Besitz  der  Grund  aller  Uebel  des  Menschengeschlechts  liege  und  dass  erst  mit 
dem  Verzicht  auf  diese  Ursünde  eine  gesellschaftliche  Moral  und  eine  moralische 
Gesellschaft  beginne.  Solche  commun istischen  Ideen  warfen  M ab ly  und 
Morellyindie  Welt^  und  ein  Babeuf  machte  unter  dem  Directorium  zu  ihrer 
Realisirung  den  ersten  verfehlten  Yerschwörungsversucb. 

3.  Die  sociale  Frage  hatte  aber  von  ihrem  tiefsten  Grunde  her  schon 
früher  ihre  Wellen  geworfen.  Der  Klassengegensatz  von  üppigem  Beichthum  und 
elendester  Armuth,  welchem  unter  den  Gründen  der  Revolution  eine  so  grosse 
Bedeutung  zukam,  mochte  zwar  zunächst  fühlbarer  und  wirksamer  sein:  aber 
seine  ganze  Schärfe  erhält  er  erst  vermöge  des  damit  durch  die  ganze  Entwicklung 
des  europäischen  Lebens  verketteten  Gegensatzes  von  Bildung  und  Un- 
bildung, und  gerade  dieser  war  in  dem  Aufklärungszeitalter  am  tiefsten  und 
schroffsten  aufgeklafft.  Je  mehr  es  sich  seiner  „Cultur^  rühmte  ^  um  so  deut- 
licher wurde^  dass  diese  in  der  Hauptsache  ein  Privilegium  der  besitzenden  Klasse 
ist.  Auch  hierin  ist  mit  typischer  Offenheit  der  englische  Deismus  vorangegangen. 
Die  Yernunftreligion  sollte  für  den  gebildeten  Mann  ebenso  reservirt  sein^  wie  die 
freie  schöne  Sittlichkeit:  für  den  gemeinen  Mann  dagegen,  meinte  Shaftesbury, 
müssen  die  Yerheissungen  und  Drohungen  der  positiven  Rehgion  bestehen  bleiben 
wie  Bad  und  Galgen.  Auch  Toland  hatte  seinen  kosmopolitischen  Naturcultus 
ak  ^esoterische'^  Lehre  vorgetragen,  und  als  die  späteren  Deisten  in  popu- 
lären Schriften  diese  Vorstellungen  in  das  Volk  zu  tragen  begannen,  erklärte  sie 
Lord  ßolingbroke,  selbst  ein  Freidenker  ausgesprochenster  Art,  für  eine  Pest 
der  Gesellschaft,  gegen  welche  die  schärfsten  Mittel  die  besten  wären.  Auch 
unter  den  deutschen  Deisten  wollten  Männer  wie  Semler  sehr  sorgfiUtig  zwischen 
der  Religion  als  Privatsache  und  der  Religion  als  öffentlicher  Einrichtung  ge- 
schieden wissen. 

Die  französische  Aufklärung  war,  wie  das  Verhältniss  Voltaire 's  zu 
Bolingbroke  zeigt,  von  Anfang  an  entschieden  demokratischer:  ja,  sie  hatte 
die  agitatorische  Tendenz,  die  Aufklärung  der  Massen  gegen  die  exclusive  Selbst- 
sucht der  oberen  Zehntausend  auszuspielen.  Damit  aber  vollzog  sich  ein  Um- 
schwung, vermöge  dessen  die  Aufklärung  sich  nothwendig  gegen  sich  selber 
kehrte.  Denn  wenn  die  ^Cultur'^  in  denjenigen  Schichten,  welche  sie  zunächst 
ergriff,  derartige  Folgen  gehabt  hatte,  wie  sie  in  dem  Lebensgenuss  der  „höheren^ 
Blassen  zu  Tage  traten,  wenn  sie  so  wenig  vermocht  hatte,  auch  für  die  Bedürf- 
nisse der  Masse  brauchbare  Früchte  abzuwerfen,  so  musste  ihr  Werth  um  so 
zweifelhafter  erscheinen,  je  mehr  die  Philosophie  „das  grösste  Glück  der  grössten 
Anzahl"  als  Massstab  für  die  Beurtheilung  der  Dinge  und  der  Handlungen  oder 
Gesinnungen  betrachtete. 

In  diesem  Zusammenhange  hat  sich  das  Culturproblem  der  modernen 
Philosophie  herausgebildet:  die  Frage,  ob  und  wieweit  die  Civilisation,  d.  k 


§  d7.  Cultarproblem.   (Mandeville,  Ronssean.)  413 

die  inteUectuelle  Yeirollkommnung  (welche  eine  historische  Thatsache  ist)  und 
die  damit  zusammenhängende  Veränderung  des  menschUchen  Triebsystems  und 
der  menschlichen  LebensTerhältnisse,  —  ob  und  inwieweit  diese  Cultur  zur  För- 
derung der  Sittlichkeit  und  der  wahren  Glückseligkeit  des  Menschen  gedient  habe. 
Je  stolzer  und  selbstgefälliger  der  Durchschnittsaufklärer  die  Fortschritte  des 
Menschengeistes  pries^  die  in  ihm  ihren  Höhepunkt  klaren  und  deutlichen  Ver- 
nunftlebens  in  Theorie  und  Praxis  erreicht  haben  sollten,  um  so  brennender  und 
um  so  —  unbequemer  wurde  diese  Frage. 

Sie  regt  sich  zuerst^  obwohl  in  schiefer  Stellung,  bei  Mandeville.  In 
der  Psychologie  ein  extremer  Anhänger  des  selfish  System,  suchte  dieser  gegen 
Shaftesbury  zu  zeigen,  dass  die  ganze  reizvolle  Lebendigkeit  des  gesellschaftlichen 
Systems  nur  auf  dem  Interessenkampf  der  selbstsüchtigen  Individuen  beruht,  — 
ein  Princip,  das  auch  auf  Adam  Smith  bei  seiner  Lehre  von  Angebot  und  Nach- 
frage gewirkt  hat').  Dächte  man  sich  (das  ist  der  Sinn  der  Bienenfabel)  den 
Menschen  aller  egoistischen  Triebe  ledig  und  nur  noch  mit  den  „moralischen^ 
Eigenschaften  des  Altruismus  ausgestattet,  so  stünde  vor  lauter  Selbstlosigkeit 
der  sociale  Mechanismus  still.  Die  treibende  Kraft  in  der  Civilisation  ist  nur  der 
Egoismus,  und  darum  darf  man  sich  auch  nicht  wundem,  wenn  die  Cultur  sich 
nicht  durch  Erhöhung  der  sittlichen  Qualitäten,  sondern  eben  nur  durch  eine 
Verfeinerung  und  Verhüllung  des  Egoismus  bethätigt.  Und  ebensowenig  wie 
die  Moralität  wird  die  Glückseligkeit  des  Individuums  durch  die  Civilisation 
gesteigert.  Geschähe  es,  so  würde  damit  der  Egoismus  geschwächt,  auf  dem  ja 
ihr  Fortschritt  beruht.  In  Wahrheit  zeigt  sich  vielmehr,  dass  jede  durch  die 
inteUectuelle  Steigerung  herbeigeführte  Verbesserung  des  materiellen  Zustandes 
in  dem  Individuum  neue  und  stärkere  Bedürfnisse  hervorruft,  in  Folge  deren  es 
immer  unbefriedigter  wird,  und  so  erweist  sich,  dass  die  scheinbar  so  glänzende 
Entwicklung  des  Ganzen  sich  nur  vollzieht  auf  Kosten  der  Moralität  und  der 
GlückseUgkeit  des  Einzelnen. 

4.  Bei  Mandeville  erscheinen  diese  Gedanken  einerseits  erst  in  leiser  An- 
deutung andrerseits  in  der  hässlichen  Form  einer  cynischen  Empfehlung  des 
Egoismus,  dessen  „private  vices  public  benefits^  seien:  zu  einer  Bedeutung  für 
die  Weltlitteratur  sind  sie  durch  die  glänzende  Wendung  gelangt,  welche  ihnen 
Rousseau  gab.  Bei  ihm  betraf  die  Frage  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als 
den  Werth  der  gesammten  menschlichen  Geschichte, — ihren  Werth  für 
die  Sittlichkeit  und  das  Glück  der  Individuen.  Und  er  schleuderte  der  Aufklärung 
die  Schmach  in's  Gesicht,  dass  all  das  Wachsen  des  Wissens  und  all  die  Ver- 
feinerung des  Lebens  den  Menschen  seiner  wahren  Bestimmung  und  seinem  wahren 
Wesen  nur  immer  mehr  untreu  gemacht  habe.  Die  Geschichte  mit  ihrem  künst- 
lichen Aufbau  der  civilisirten  Gesellschaft  hat  den  Menschen  verschlechtert  ^) : 
gut  und  rein  ist  er  aus  der  Hand  der  Natur  hervorgegangen,  aber  seine  Ent- 
wicklung hat  ihn  von  Schritt  zu  Schritt  der  Natur  entfremdet.  Den  Anfang  zu 
dieser  „Degeneration*  fsind  Rousseau  —  nach  dem  zweiten  Discurs  —  in  der 
Schaffung  des  Eigenthums,  welche  die  Theilung  der  Arbeit  und  damit  die  Son- 
derung der  Stände,  schliesslich  die  Erweckung  aller  bösen  Leidenschaften  zur 

1)  Vgl.  A.  Längs,  Gesch.  d.  Mater.  I,  285.  — 8)  Die  Auffassung  der  englischen  Deisten 
von  der  Reugionsgeschichte  (vgl.  §  35,  8)  wird  von  Rousseau  auf  die  gesammte  Creschichte 
ausgedehnt. 


414  V.  Philosophie  der  Aufklärang.   2.  Praktische  Fragen. 

Folge  hatte:  dies  war  es^  was  die  Arbeit  des  Intellects  dauernd  in  den  Dienst  der 
Selbstsucht  stellte. 

Dieser  Unnatur  der  civilisirten  Barbarei  gegenüber  erscheint  zunächst  der 
Naturzustand  als  das  verlorene  Paradies,  und  in  diesem  Sinne  ÜEind  die  senti- 
mentale Sehnsucht  einer  intelluctuell  und  moralisch  blasirten  Zeit  ihre  Nahrung 
in  RouBseau^s  Schriften,  vor  Allem  in  der  „Neuen  Heloise".  Die  Damen  der 
Salons  schwärmten  für  das  Gessner'sche  Schäferidyll :  aber  sie  überhörten  deshalb 
den  Mahnruf  des  grossen  Genfers. 

Denn  nicht  zu  jenem  gesellschaftslosen  Naturzustande  wollte  er  zurück- 
führen. Er  war  überzeugt,  dass  der  Mensch  von  seinem  Schöpfer  mit  einer  Ver- 
Yollkommnungsfahigkeit  (perfectibilit6)  ausgerüstet  sei,  welche  ihm  die  Aus- 
bildung der  natürlichen  Anlage  wie  zur  Pflicht  so  zur  natürlichen  Nothwendigkdt 
mache.  Wenn  diese  Entwicklung  dm*ch  den  bisherigen  historischen  Process  in 
falsche  Wege  geleitet  worden  ist  und  deshalb  zur  Entsittlichung  und  zum  Elend 
geführt  hat,  so  muss  die  Geschichte  eben  von  Neuem  begonnen  werden, 
so  muss  der  Mensch  von  der  Unnatur  des  intellectuellen  Hochmuths  zu  dem  ein- 
fachen natürlichen  Gefühle,  aus  der  Verschränktheit  und  Verlogenheit  der  gesell- 
schaftlichen Verhältnisse  zu  seinem  reinen,  unverkümmerten  Selbst  zurückkehren, 
um  den  rechten  Weg  seiner  Entwicklung  zu  finden.  Dazu  bedarf  nach  Rousseau 
die  Menschheit  im  Ganzen  einer  Staatsverfassung,  welche  nach  dem  Princip 
der  rechtlichen  Gleichheit  dem  Einzelnen  die  volle  Freiheit  seiner  persönlichen  Be- 
thätigung  am  Gesammtleben  gewährleistet,  und  im  Einzelnen  einer  Erziehung^), 
welche  die  natürlichen  Anlagen  des  Individuums  sich  zwanglos  aus  eigener  Leben- 
digkeit entfalten  lässt.  Der  Optimismus,  den  Rousseau  in  der  Auffassung  von 
dem  natürlichen,  gottentstammten  Wesen  des  Menschen  geltend  macht,  lässt  ihn 
hoffen,  dass  es  um  uns  um  so  besser  bestellt  sein  wird,  je  freier  und  natürlicher 
wir  uns  entwickeln  können. 

5.  Finden  wir  so  Rousseau  im  lebhaften  Gegensatz  gegen  die  historische 
Entwicklung  und  im  eifrigen  Bestreben,  an  deren  Stelle  eine  neue,  „naturgemässe" 
zu  setzen,  so  ist  die  letzte,  versöhnende  Synthese  der  Auf  klärungsideen  das  Be- 
streben, den  bisherigen  Verlauf  der  menschlichen  Geschichte  selbst  als  die  natür- 
liche Entwicklung  des  menschlichen  Wesens  zu  begreifen:  in  diesem  Gedanken 
streift  die  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  alle  ihre  Einseitigkeiten  von  sich 
ab  und  gewinnt  ihre  höchste  Vollendung.  Die  erste  Regung  davon  findet  sich 
bei  einer  einsamen  Erscheinung  der  italienischen  Litteratur,  bei  Tico*).  Von 


1)  Im  Eiazelnen  benutzt  dabei  Ronsseau^s  Emile  vielfach  die  „Gedanken*',  welche  Locke 
mit  viel  beschränkterer  Absicht  fiir  die  Erziehung  eines  jungen  Mannes  aus  der  höheren 
Gesellschaft  aufgestellt  hatte :  auch  da  war  die  volle  Ausbildung  der  Individualität  die  Haupt- 
sache, aus  der  sich  die  Abwendung  von  gelehrter  Einseitigkeit,  der  Hinweis  auf  das  Reale  und 
Praktische,  die  Anschaulichkeit  und  Individualisirung  von  Unterricht  und  Erziehung  von  selbst 
verstanden.  Rousseau  übernimmt  diese  für  den  vornehmen  Engländer  gedachten  Bestim- 
mungen als  Momente  einer  Erziehung,  welche  im  Menschen  nicht  den  Angehörigen  eines 
bestimmten  Standes  oder  zukünftigen  Berufes,  sondern  nur  „den  Menschen"  ausbilden  wolle. 
In  diesem  Sinne  sind  seine  pädagogischen  Lehren  auf  die  Schule  des  deutschen  Philanthro- 
pismus übergegangen,  welche  unter  Führung  von  Basedow  (1723—1790)  das  Princip  der 
natürlichen  Ausbildung  mit  demjenigen  der  Utilität  verknüpften  und  danach  die  zweckmässigen 
Formen  einer  gemeinschaftlichen  Erziehung  erdachten,  wodurch  der  Einzelne  auf  natürlichem 
Wege  zu  einem  nützlichen  Mitgliede  der  menschlichen  Gesellschaft  herangebildet  werden 
sollte.  —  2|  Giov.  BattistaVico  (1668 — 1744)  ist  hauptsächlich  wirksam  geworden  durch 
seine  Principj  d^una  scienza  nuova  dHntomo  alla  commune  natura  delle  nazioni  (1725).    Vgl. 


§  37.  Culturproblem.  (Yico,  Bossuet,  Herder.)  415 

der  neuplatonischen  Metaphysik  der  Renaissance^  insbesondere  von  Campanella 
beeinflusst  und  an  Bodin  und  Grotius  gebildet,  hatte  er  die  Idee  eines  allgemeinen 
Naturgesetzes  der  Lebensentwicklung  erfasst^  welches  sich  in  der  Geschichte 
der  Völker  ebenso  wie  in  derjenigen  der  Individuen  darstelle,  und  er  hatte  dies 
Princip  der  Identität  aller  natürlichen  Entwicklung  mit  grosser  Gelehrsamkeit 
zu  erweisen  gesucht.  Wenn  ihm  aber  bei  solcher  Auffassung  der  natürUch  noth- 
wendigen  Correspondenzen  zwischen  den  verschiedenen  historischen  Systemen 
und  dem  biologischen  Gnmdschema,  der  Gedanke  an  ein  planvolles  Ineinander- 
greifen der  Völkergeschicke  fremd  geblieben  war,  so  hatte  dieser  vorher  in 
Bossuet^)  eine  um  so  kräftigere  Vertretung  gefunden.  Der  französische  Prälat 
fährte  die  patristische  Geschichtsphilosophie,  welche  die  Erlösung  in  den  Mittel- 
punkt des  Weltgeschehens  gerückt  hatte,  in  der  Weise  fort,  dass  er  die  Christia- 
nisirung  der  modernen  Völker  durch  das  Weltreich  Karl's  des  Grossen  als  die 
abschliessende  und  entscheidende  Epoche  der  Universalgeschichte  betrachtet 
wissen  wollte,  deren  ganzer  Verlauf  das  Werk  göttlicher  Vorsehung  und  deren 
Ziel  die  Herrschaft  der  Einen,  katholischen  Kirche  sei.  Solche  theologische 
Welt-  und  Geschichtsauffassung  hatte  nun  freilich  die  neuere  Philosophie  energisch 
abgewiesen:  aber  wie  mager  der  Ertrag  ihrer  individualpsychologischen  Behand- 
lung des  menschlichen  Gemeinlebens  für  die  Betrachtung  der  Geschichte  ausfiel, 
sieht  man  trotz  der  Anlehnung  an  Rousseau  bei  den  trivialen  ESucubrationen  von 
Iselin*), 

Erst  in  einem  Geiste  von  Herd  er 's  universeller  Empfänglichkeit  und 
Feinfuhligkeit  fielen  Rousseau's  Ideen  auch  nach  dieser  Hinsicht  auf  fruchtbaren 
Boden.  Aber  sein  an  Leibniz  und  Shafbesbury  grossgezogener  Optimismus  liess 
ihn  nicht  an  die  Möglichkeit  jener  Abirrung  glauben,  als  welche  der  Genfer  die 
bisherige  G^chichte  auffassen  wollte.  Er  war  vielmehr  überzeugt,  dass  die  natur- 
gemässe  Entwicklung  des  Menschen  eben  die  sei,  welche  sich  in  der  Geschichte 
vollzogen  hat.  Wenn  Bousseau's  Begriff  der  Perfectibilität  des  Menschen  von 
dessen  französischen  Anhängern  wie  St. Lambert  und  namentlich  Condorcet 
als  Gewähr  einer  besseren  Zukunft  und  als  eine  unendliche  Perspective  auf  die 
Vervollkommnung  der  Gattung  behandelt  wurde,  so  benutzte  ihn  Herder  — 
gegen  Rousseau —  auch  als  Erklärungsprincip  für  die  Vergangenheit  des  mensch- 
lichen Geschlechts.  Die  Geschichte  ist  nichts  als  die  ununterbrochene  Fort- 
setzung der  natürlichen  Entwicklung. 

Das  traf  vor  Allem  den  A  n  f  a  n  g  der  Geschichte.  Nicht  als  willkürlicher 
Act  sei  es  menschUcher  Ueberlegung  oder  göttlicher  Bestimmung,  sondern  als 
ein  allmählich  gestaltetes  Ergebniss  des  natürUchen  Zusammenhangs  ist  der 
Beginn  des  gesellschaftlichen  Lebens  zu  verstehen.  Er  ist  weder  erfunden  noch 
geboten,  sondern  geworden.  In  charakteristischer  Weise  kamen  diese  geschichts- 
phflosophischen  Gegensätze  am  frühesten  bei  der  Auffassung  der  Sprache  zur 


K.  Webneb,  Giambatiista  V.  als  Philosoph  und  gelehrter  Forscher  (Wien  1879).  R.  Flint,  V. 

SEdinb.  a  Lond.  1884)*,  und  ebenso  zum  Folgenden  Flint,  The  philosophy  of  history  in  Europe, 
:.  Bd.  (1874). 

1)  Jacques  B^niffne  Bossuet  (1627 — 1704),  der  gefeierte  geistliche  Rhetor,  schrieb 
orsprfinglich  nir  den  Unterricht  des  L)auphin  den  Discours  sur  Thistoire  universelle  (Paris 
1681).  —  2)  Der  Basler  Isaak  Iselin  (1728—1782)  veröffentlichte  1764  seine  „Philosophischen 
Muthmassungen  über  die  Geschichte  der  Menschheit**.  (2  Bde.) 


416  V*  Philosophie  der  Aufkläning. 

Geltung :  der  associationspsychologische  Individnalismus  sah  in  ihr^  wie  es  be- 
sonders bei  Condillac^)  zu  Tage  tritt,  eine  Erfindung  des  Menschen,  —  der 
Supranaturalismus,  in  Deutschland  durch  Süssmilch*)  vertreten ,  eine  gött- 
liche Eingebung:  hier  hatte  schon  Rousseau  das  erlösende  Wort  gesprochen, 
wenn  er  in  der  Sprache  eine  natürUche,  unwillkürliche  Entfaltung  des  mensch- 
lichen Wesens  gesehen  hatte  '). 

Herder  machte  sich  nicht  nur  diese  Auffassung  zu  eigen  (vgl.  oben  §  33, 11), 
sondern  er  dehnte  sie  auch  consequenter  Weise  auf  alle  Culturthätigkeiten  des 
Menschen  aus.  Er  geht  daher  in  seiner  Philosophie  der  Geschichte  von  der  Stel- 
lung des  Menschen  in  der  Natur,  von  den  Lebensbedingungen^  die  ihm  der  Planet 
gewährt,  und  seiner  eigenthiimlichen  Anlage  aus,  um  die  Anfange  und  die  Bichtung 
seiner  geschichtlichen  Entwicklung  daraus  zu  begreifen :  und  er  lässt  ebenso  im 
Fortgang  der  universalhistorischen  Darstellung  die  Eigenart  eines  jeden  Volks 
und  seiner  geschichtlichen  Bedeutung  aus  seinen  natürlichen  Anlagen  und  Ver- 
hältnissen hervorgehen.  Allein  dabei  fallen  ihm  die  Entwicklungen  der  ver- 
schiedenen Nationen  nicht  aus  einander,  wie  das  noch  bei  Vico  geschah:  sondern 
sie  alle  reihen  sich  als  eine  grosse  Kette  aufsteigender  Vervollkommnung  organisch 
an  einander.  Und  sie  alle  bilden  in  diesem  Zusammenhange  die  immer  reifere 
VerwirkUchung  der  allgemeinen  Anlage  des  menschlichen  Wesens.  Wie  der 
Mensch  selbst  die  Krone  der  Schöpfung,  so  ist  seine  Geschichte  die  Entfaltung 
der  Menschlichkeit.  Die  Idee  der  Humanität  erklärt  die  verwickelte  Bewe- 
gung der  Völkergeschicke. 

In  dieser  Betrachtung  war  die  unhistorische  Denkart  der  Aufklärung  über- 
wunden :  jede  Gestalt  dieses  grossen  Entwicklungsganges  wurde  als  das  natür- 
liche Product  ihrer  Bedingungen  gewürdigt,  und  die  „Stimmen  der  Völker^  ver- 
einigten sich  zur  Harmonie  der  Weltgeschichte,  deren  Thema  die  Humanität  ist. 
Und  daraus  entsprang  auch  die  Aufgabe  der  Zukunft:  immer  reicher  und  voller 
alle  Regungen  der  menschlichen  Natur  zur  Entfaltung  zu  bringen,  die  reifen 
Erträge  der  geschichtlichen  Entwicklung  zu  lebendiger  Einheit  zu  verwirldichen. 
Im  Bewusstsein  dieser  Aufgabe  der  „  WelÜitteratur^  durfte,  fem  von  allem  Hoch- 
muth  des  niederen  Auf klärens,  voll  von  der  Ahnung  einer  neuen  Epoche,  Schiller 
dem  „philosophischen  Jahrhundert'^  das  frohe  Wort  nachrufen: 

„Wie  schön,  o  Mensch,  mit  deinem  Palmenzweige 
Stehst  du  an  des  Jahrhunderts  Neige 
In  edler,  stolzer  Männlichkeit!" 

1)  Logique  und  Langue  des  calculs.  —  2)  Beweis,  dass  der  Ursprung  der  menschlichen 
Sprache  göttlich  sei  (Berlin  1766).  —  8)  Mit  seinen  Argumenten  bel^mpfte,  wenn  auch  xam 
Theil  anderer  Ansicht,  St.  Martin,  der  Mystiker,  die  plumpe  Darstellung  der  Gondülac'soheni 
Lehre  von  Garat:  vgl.  Seances  des  äcoles  normales,  III,  61  ff. 


417 


VITheiL 
Die  deutsche  PMosopMe. 

Zu  der  Litteratnr  auf  S.  275  und  845  kommen  hier  hinzu: 

H.  M.  Chaltbaetjs,  Historische  Entwicklung  der  speculativen  Philosophie  von  Kant 
bis  Hegel.  Dresden  1837. 

F.  £.  Biedermann,  Die  deutsche  Philosophie  von  Kant  bis  auf  unsere  Tage.  Leipz.  lä43L 
£.  L.  MiCHELET,  Entwickelungsgeschichte  derneuesten  deutschen  Philosophie.  Berl.  1849^ 
C.  FoRTLAOE,  Genetische  Geschichte  der  Philosophie  seit  Kant.  Leipzig  1852L 
0.  LiEBMANN,  Kant  und  die  Epigonen.  Stuttgart  1865. 
Fb.  Hakms,  Die  Philosophie  seit  Kant.  Berlin  1876. 

A.  S.  WiLLM,  Histoire  de  la  philosophie  allemande  depuis  Kant  jusqu^ä  Hegel.  Paris 
1846  ff. 

H.  LoTZE,  Geschichte  der  Aesthetik  in  Deutschland.    München  1868.' 

R.  Flint,  Philosophy  of  history  in  Europe  I.    Edinburgh  and  London  1874. 

B.  Fester,  Rousseau  und  die  deutsche  Geschichtsphilosophie.    Stuttgart  1890. 

Eine  glückliche  Veremigung  mehrfacher  geistiger  Bewegungen  hat  zu  Ende 
des  vorigen  und  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  in  Deutschland  eine  Blüthe  der 
Philosophie  hervorgebracht;  welche  in  der  Geschichte  des  europäischen  Denkens 
nur  mit  der  grossen  Entfaltung  der  griechischen  Philosophie  von  Sokrates  bis 
Aristoteles  zu  vergleichen  ist.  In  einer  intensiv  und  extensiv  gleich  mächtigen 
Entwicklung  hat  der  deutsche  Geist  während  der  kurzen  Spanne  von  vier  Jähr- 
zehnten (1780 — 1820)  eine  Fülle  grossartig  entworfener  und  allseitig  aus- 
gebildeter Systeme  der  philosophischen  Weltanschauung  erzeugt^  wie  sie  auf 
so  engem  Baume  nirgends  wieder  zusammengedrängt  sind:  und  in  allen  diesen 
schürzen  sich  die  gesammten  Gedanken  der  vorhergehenden  Philosophie  zu 
eigenartigen  und  eindrucksvollen  Gebilden  zusammen.  Sie  erscheinen  in  ihrer 
Gesammtheit  als  die  reife  Frucht  eines  langen  WachsthumS;  aus  der,  noch  bis 
heute  kaum  erkennbar;  die  Keimungen  einer  neuen  Entwicklung  spriessen  soUen. 

Diese  glänzende  Erscheinung  hatte  ihre  allgemeine  Ursache  in  der  un- 
vergleichUchen  Lebendigkeit  des  Geistes,  womit  die  deutsche  Nation  damals  die 
Culturbewegung  der  BenaissancC;  welche  in  ihr  durch  äussere  Gewalt  unter- 
brochen worden  war,  mit  neuer  Kraft  wieder  aufnahm  und  zur  Vollendung  führte. 
Sie  erlebte  —  ein  Vorgang  ohne  gleichen  in  der  Geschichte  —  den  Höhepunkt 
ihrer  innerlichen  Entwicklung  zu  derselben  Zeit;  wo  ihre  äussere  Geschichte 
den  niedersten  Stand  erreichte.  Als  sie  politisch  machtlos  damiederlag;  schuf 
sie  ihre  weltbezwingenden  Denker  und  Dichter.  Die  siegreiche  Kraft  aber  lag 
gerade  in  dem  Bunde  zwischen  Philosophie  und  Dichtung.  Die  Gleich- 
zeitigkeit von  Kant  und  Goethe,  und  die  Verknüpfung  ihrer  Ideen  durch  Schiller 
—  das  sind  die  entscheidenden  Züge  jener  Zeit. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  an  dieser  Stelle  auf  das  engste  mit  der- 
jenigen der  allgemeinen  Litteratur  verflochten,  und  die  Beziehungen  und  An- 

Windelband,  Qeschiohte  der  Philosophie.  27 


418  VI.  Deutsche  Philosophie. 

regungen  laufen  zwischen  beiden  fortwahrend  hin  und  her.  Dies  tritt  charakte- 
ristisch in  der  gesteigerten  und  schliesslich  entscheidenden  Bedeutung  hervor, 
welche  in  diesem  Zusammenhange  den  ästhetischen  Problemen  und  Be- 
griffen zufiel.  Für  die  Philosophie  eröifnete  sich  damit  eine  neue  Welt,  die  sie 
bisher  nur  mit  gelegentlichen  Ausblicken  gestreift  hatte  und  von  der  sie  nun  wie 
von  dem  gelobten  Lande  Besitz  nahm:  sachlich  wie  formell  gelangten  in  ihr  die 
ästhetischen  Principien  zur  Herrschaft;  und  die  Motive  des  wissenschaftlichen 
Denkens  verschlangen  sich  mit  denen  der  künstlerischen  Anschauung  zur  Er- 
zeugung grossartiger  begrifflicher  Weltdichtungen. 

Der  bestrickende  Zauber,  welchen  damit  die  Litteratur  auf  die  Philosophie 
ausübte,  beruhte  hauptsächlich  auf  der  historischen  Universalität.  Mit 
Herder  und  Goethe  beginnt,  was  wir  nach  ihnen  die  Weltlitteratur  nennen:  das 
bewusste  Herausarbeiten  der  eigenen  Bildung  aus  der  Aneignung  aller  grossen 
Gedankenschöpfungen  der  gesammten  menschlichen  Geschichte.  Als  Träger 
dieser  Aufgabe  erscheint  in  Deutschland  die  romantische  Schule,  und  in 
Analogie  dazu  entwickelte  sich  auch  die  Philosophie  aus  der  Fülle  der  histo- 
rischen Anregungen  heraus:  sie  griff  mit  bewusster  Vertieftmg  auf  die  Ideen  des 
Alterthums  und  der  Renaissance  zurück,  sie  versenkte  sich  verständnissvoll  auch 
in  das,  was  die  Auf  klärung  von  sich  gewiesen  hatte,  und  sie  endete  in  Hegel  damit, 
sich  selbst  als  die  systematisch  durchdringende  und  gestaltende  Zusammenfassung 
alles  Desjenigen  zu  begreifen,  was  der  Menschengeist  bisher  gedacht  hat. 

Für  diese  gewaltige  Arbeit  aber  bedurfte  es  einer  neuen  begrifSichen 
Grundlage,  ohne  welche  alle  jene  Anregungen  der  allgemeinen  Litteratur 
wirkungslos  geblieben  wären..  Diese  philosophische  Kraft,  den  Ideenstoff  der 
Geschichte  zu  bemeistem,  wohnte  der  Lehre  Kant's  inne,  und  das  ist  ihre  un* 
vergleichlich  hohe  historische  Bedeutung.  Kant  hat  durch  die  Neuheit  und  durch 
die  Grösse  seiner  Gesichtspunkte  der  folgenden  Philosophie  nicht  nur  die  Probleme, 
sondern  auch  die  Wege  zu  ihrer  Lösung  vorgeschrieben :  er  ist  der  allseitig  be- 
stimmende und  beherrschende  Geist.  Die  Arbeit  seiner  nächsten  Nachfolger, 
worin  sich  sein  neues  Princip  nach  allen  Seiten  auseinanderlegte  und  mit  Assimi- 
lation der  früheren  Systeme  historisch  auslebte,  wird  nach  ihrem  bedeutsamsten 
Merkmale  am  besten  unter  dem  Namen  des  Idealismus  zusammengefasst. 

Daher  behandeln  wir  die  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  in  zwei 
Kapiteln,  von  denen  das  erste  Kant  und  das  zweite  die  Entwicklung  des  Idealis* 
mus  umfasst.  In  der  Gedankensymphonie  jener  vierzig  Jahre  bildet  die  kantische 
Lehre  das  Thema  und  der  Idealismus  dessen  Ausfuhi'ung. 

1.  Kapitel.  Eant's  Kritik  der  Vernunft. 

G.  L.  Reinhold,  Briefe  über  die  Eantische  Philosophie  (Deutsch.  Merkur  1786  f.). 
Loipziff  1790  ff. 

V.  Cousin,  Legons  sur  la  philosophi^  de  Kaot.    Paris  1842. 

M.  Desdouits,  La  Philosophie  de  Kant,  d'apräs  les  trois  critiques.  Paris  1876. 

E.  Cairds,  The  philosophy  of  Kant.  London  1876. 

C.  Cantoni,  Em.  Kant  (3  Vol.).  Milano  1879—1884. 

W.  Wallace,  Kant.  Oxford,  Edinb.  a.  Lond.  1882. 

J.  B.  Mbteer,  Kant*8  Psychologie.  Berlin  1870. 

Die  hervorragende  SteUung  des  Königsberger  Philosophen  beruht  darauf, 
dass  er  die  verschiedenen  Denkmotive  der  Aufklärungslitteratur  allseitig  in  sich 


1.  Kant*8  Kritik  der  Vernunft.  419 

aufgenommen  und  durch  ihre  gegenseitige  Ergänzung  zu  einer  völlig  neuen  Auf- 
fassung von  der  Aufgabe  und  dem  Verfahren  der  Philosophie  ausgereift  hat.  Er 
ist  durch  die  Schule  der  Wolff'schen  Metaphysik  und  durch  die  Bekanntschaft 
mit  den  deutschen  Popularphilosophen  ebenso  hindurchgegangen,  wie  durch  die 
Versenkung  in  die  tiefgreifenden  Problemstellungen  Hume's  und  durch  die  Be- 
geisterung für  Rousseau's  Naturpredigt:  die  mathematische  Strenge  Newton- 
scher Naturphilosophie,  die  Feinheit  der  psychologischen  Analyse  vom  Ursprung 
menschlicher  Vorstellungen  und  Willensrichtungen  in  der  englischen  Litteratur, 
der  Deismus  in  seiner  Ausdehnung  von  Toland  und  Shaftesbury  bis  Voltaire^ 
der  ehrliche  Ereiheitssinn,  mit  dem  die  französische  Aufklärung  auf  die 
Besserung  der  politischen  und  socialen  Zustände  drang  —  all  dies  hatte  in  dem 
jungen  Kant  einen  treuen,  überzeugungsvollen  Mitarbeiter  gefunden^  der  mit 
reicher  Weltkenntniss  und  liebenswürdiger  Klugheit^  wo  es  am  Ort  war  auch 
mit  Geschmack  und  Witz^  dabei  fem  von  aller  Selbstgefälligkeit  und  Ueber- 
hebung  die  besten  Züge  des  Aufklärerthums  typisch  in  sich  vereinigte. 

Allein  zu  seiner  eigensten  [Bedeutung  hat  er  sich  von  allen  diesen  Grund- 
lagen aus  erst  an  den  Schwierigkeiten  des  Erkenntnissproblems  heraus- 
gearbeitet. Je  mehr  er  ursprünglich  die  Metaphysik  gerade  deshalb  geschätzt 
hatte,  weil  sie  den  moralischen  und  religiösen  Ueberzeugungen  wissenschaftliche 
Sicherheit  geben  sollte,  um  so  nachhaltiger  war  die  Wirkung  auf  ihn  selbst,  als 
er  durch  eigene,  in  stetigem  Wahrheitsbedürfniss  fortschreitende  Kritik  sich  davon 
überzeugen  musste,  wie  wenig  das  rationalistische  Schulsystem  jenen  Anspruch 
befriedigte,  —  um  so  mehr  war  aber  auch  sein  Blick  für  die  Erkenntnissgrenzen 
derjenigen  Philosophie  geschärft,  welche  ihren  Empirismus  an  der  Hand  der 
psychologischen  Methode  entwickelte.  An  dem  Studium  David  Hume's  kam  ihm 
dies  in  solchem  Masse  zum  Bewusstsein,  dass  er  begierig  nach  dem  Hilfsmittel 
griff,  welches  die  Nouveaux  essais  von  Leibniz  für  die  Ermöglichung  einer  meta- 
physischen Wissenschaft  darzubieten  schienen.  Aber  das  erkenntnisstheoretische 
System,  welches  er  über  dem  auf  die  Mathematik  ausgedehnten  Princip  des 
virtuellen  Angeborenseins  errichtete  (vgl.  S.  367  und  382  f.),  erwies  sich  ihm 
selbst  sehr  bald  als  unhaltbar,  und  dies  führte  ihn  auf  die  langwierigen  Unter- 
suchungen, welche  ihn  in  der  Zeit  von  1770  bis  1780  beschäftigt  und  ihren  Ab- 
schluss  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gefunden  haben. 

Das  wesentlich  Neue  und  Entscheidende  dabei  war,  dass  Kant  die  Un- 
zulänglichkeit der  psychologischen  Methode  für  die  Behandlung  der 
philosophischen  Probleme  erkannte')  und  die  Fragen,  welche  den  Ursprung 
und  die  thatsächliche  Entwicklung  der  menschlichen  Vernunftthätigkeiten  be- 
treffen, vollständig  von  denjenigen  sonderte,  welche  sich  auf  ihren  Werth  be- 
ziehen. Er  theilte  dauernd  mit  der  Aufklärung  die  Tendenz,  den  Ausgangspunkt 
aller  Untersuchungen  nicht  in  der  durch  die  mannigfachsten  Voraussetzungen 
beeinflussten  Auffassung  der  Dinge,  sondern  in  der  Betrachtung  der  Vernunft 
selbst  zu  nehmen:  aber  er  fand  in  dieser  allgemeine  und  über  alle  Erfahrung 
hinausreichende  Urtheile,  deren  Geltung  weder  von  dem  Ausweis  ihrer  that- 
sächlichen  Bewusstwerdung  abhängig  gemacht  noch  durch  irgend  eine  Form  des 


1)  Yd.  den  Anfang  der  transsc.  Deduction  der  reinen  Verstandesbegriffe  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft,  II,  118  ff. 


27' 


420  ^*  Deutsche  Philosophie. 

Eingeborenseins  begründet  werden  kann.  Diese  Urtheile  gilt  es  im  ganzen  Um- 
kreise der  menschlichen  Vemunftthätigkeit  festzustellen^  um  aus  ihrem  Inhalte 
selbst  und  ihren  Beziehungen  zu  dem  durch  sie  bestimmten  System  des  Yer- 
nunftlebens  ihre  Berechtigung  oder  die  Grenzen  ihres  Anspruchs  zu  verstehen. 

Diese  Aufgabe  bezeichnete  Kant  als  Kritik  der  Vernunft  und  diese 
Methode  als  die  kritische  oder  transscendentale  Methode:  und  als  Gegen- 
stand derselben  betrachtete  er  die  Untersuchung  über  die  Möglichkeit  syn- 
thetischer Urtheile  a  priori').  Das  beruht  auf  der  fundamentalen  Ein- 
sicht^ dass  die  Geltung  der  Vemunftprincipien  von  der  Art  und  Weise,  wie  sie 
im  empirischen  Bewusstsein  (sei  es  des  Einzelnen  oder  der  Gattung)  zu  Stande 
kommen,  völlig  unabhängig  ist.  Alle  Philosophie  ist  dogmatisch,  welche  diese 
Geltung  entweder  durch  Aufzeigung  ihrer  Genesis  aus  Empfindungselementeil 
oder  durch  das  Eingeborensein  nach  irgend  welchen  metaphysischen  Voraus- 
setzungen begründen  oder  auch  nur  beurtheilen  will:  die  kritische  Methode 
oder  die  Transscendentalphilosophie  prüft  die  Gestalt,  in  welcher  diese  Prin- 
cipien  thatsächlich  auftreten,  an  der  Fähigkeit,  welche  sie  in  sich  selbst  besitzen, 
um  allgemein  und  nothwendig  in  der  Erfahrung  angewendet  zu  werden. 

Hieraus  ergab  sich  für  Kant  die  Aufgabe  einer  systematischen  Durch- 
forschung der  Vemunftfunctionen,  um  ihre  Principien  festzustellen  und  deren 
Geltung  zu  prüfen:  denn  die  kritische  Methode,  welche  zuerst  in  der  Erkenntniss- 
theorie gewonnen  wurde,  erstreckte  von  selbst  ihre  Bedeutung  auch  auf  die 
anderen  Sphären  der  Vemunftbethätigung.  Hier  aber  erwies  sich  für  Kant  das 
neu  gewonnene  Schema  der  psychologischen  Eintheilung  (vgl.  oben  S.  403, 
Anm.  6)  als  massgebend  fiir  die  Gliederung  der  philosophischen  Pro- 
bleme. Wurden  im  Seelenleben  Denken,  Wollen  und  Fühlen  als  die  Grund- 
formen der  Aeusserungsweise  unterschieden,  so  musste  die  Kritik  der  Vernunft 
sich  an  die  so  gegebene  Eintheilung  halten:  sie  betraf  gesondert  die  Principien 
der  Erkenntniss,  der  Sittlichkeit  und  der  von  beiden  unabhängigen  Ge- 
fühlswirkung der  Dinge  auf  die  Vernunft.  • 

Danach  gUedert  sich  Kant's  Lehre  in  den  theoretischen,  den  prak- 
tischen und  den  ästhetischen  Theil,  und  seine  Hauptwerke  sind  die  drei 
Kritiken:  der  reinen  Vernunft,  der  praktischen  Vernunft  und  der  Urtheilskraft. 

Immanuel  Kant,  22.  April  1724  in  Königsberg  i.Pr.  als  Sohn  eines  Sattlers  geboren, 
wurde  auf  dem  pietistischen  Collegium  Fridericianum  gebildet  und  bezog  1740  die  Universität 
seiner  Vaterstadt,  um  Theologie  zu  studiren :  doch  zogen  ihn  allmählich  neben  den  philosophi- 
schen mehr  die  naturwissenschaftlichen  Gegenstände  an.  Nach  Abschluss  der  Studien  war  er 

1)  Dieser  Ausdruck  hat  sich  bei  der  Entstehung  der  Kr.  d.  r.  Yem.  allmählich  durch 
die  Bedeutung  gebildet,  welche  darin  der  Begriff  der  Synthesis  (vgl.  §  38)  gewann.  Kant 
entwickelt  jene  allgemeine  Formel  in  der  Einleitung  zur  Kritik  d.  r.  Vem.  folgendermassen : 
Urtheile  sind  analytisch,  wenn  die  darin  behauptete  Zugehörigkeit  des  Prädicats  zum  Subject 
im  Begriffe  des  Subjects  selbst  begründet  ist  („Erläuterungsurtheile"),  synthetisch,  wenn  dies 
nicht  der  Fall  ist,  sodass  die  Hinzufiigung  des  Prädicats  zum  Subject  noch  einen  von  beiden 
logisch  verschiedenen  Grund  haben  muss  (nErweiterungsurtheile").  Dieser  Grund  ist  bei 
synthetischen  Urtheilen  a  posteriori  („Wahmehmungsurtheile'*,  vgl.  Prolegomena  §  18,  III, 
215  £.)  der  Act  der  Wahrnehmung  selbst,  bei  den  synthetischen  Urtheilen  a  prio^  dagegen, 
d.  h.  den  allgemeinen  Principien  zur  Deutung  der  Erfahrung,  etwas  anderes,  was  eben  gesucht 
werden  soll.  Apriorität  ist  bei  Kant  kern  psychologisches,  sondern  ein  rein  erkenntniss- 
theoretisches  Merkmal:  es  bedeutet  nicht  ein  zeitliches  Vorhergehen  vor  der  Erfahrung, 
sondern  eine  sachlich  über  alle  Erfahrung  hinausgehende  und  durch  keine 
Erfahrung  begründbare  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  der  Geltung  von 
Vemunftprincipien.  "Wer  dies  nicht  sich  klar  macht,  hat  keine  Hoffnung,  Kant  zu  verstehen. 


1.  Kant's  Kritik  der  Yemunft.  42 1 

1746 — 56  Hauslehrer  bei  verschiedenen  Familien  in  der  Nähe  E^onigsbergs,  habilitirte  sich 
dann  im  Herbst  1755  als  Privatdocent  in  der  philosophischen  Facultat  der  heimischen  Uni- 
versität und  wurde  an  dieser  erst  1770  inmi  ordentlichen  Professor  ernannt.  Die  heitere, 
ffeistreiche  Beweglichkeit  seiner  mittleren  Jahre  wich  mit  der  Zeit  einer  ernsten,  rifforistischen 
Lebensauffassunff  und  der  Herrschaft  eines  strengen  Pflichtbewusstseins,  welches  in  der 
unablässigen  Arbeit  an  seiner  grossen  philosophischen  Aufgabe,  an  der  meisterhaften  Er- 
füllung des  akademischen  Berufs  und  an  der  starren  Rechtlichkeit  seiner  Lebensführung  sich, 
nicht  ohne  einen  Stich  ins  Pedantische,  bethati^.  Den  gleichmässigen  Ablauf  seines  ein- 
samen und  bescheidenen  Gelehrtenlebens  störte  nicht  der  wachsende  Glanz  des  Ruhmes,  der 
auf  seinen  Lebensabend  fiel,  und  auch  nur  vorübergehend  der  dunkle  Schatten,  welchen  der 
Hass  der  unter  Friedrich  Wilhelm  11.  zur  Herrschaft  gelangten  Orthodoxie  durch  das  Ver- 
bot seiner  Philosophie  auf  seinen  Weg  zu  werfen  drohte.  Er  starb  an  Alterssdiwache  am 
12.  Februar  1804. 

Kantus  Leben  und  Persönlichkeit  ist  nach  den  früheren  Arbeiten  am  vollendetsten  durch 
Kuno  Fischer  gezeichnet  worden  (Gesch.  d.  neueren  Phüos.  lU  u.  IV,  3.  Aufl.,  München 
1882);  über  seine  Jugend  und  die  erste  Zeit  seiner  Lehrthätigkeit  hat  E.  Abnoldt  (Königs- 
berg 1882)  gehandelt. 

Die  Umwandlung,  welche  mit  dem  Philosophen  gegen  Ende  des  siebenten  Jahrzehnts 
des  18.  Jahrhunderts  vorging,  tritt  namentlich  in  seiner  schriftstellerischen  Thätigkeit  hervor. 
Die  früheren,  „vorkritischen**  Werke  (von  denen  die  philosophisch  bedeutsamen  bereits  S.  351 
citirt  sind)  zeichnen  sich  durch  leichte,  flüssige,  anmuthige  Darstellung  aus  und  stellen  sich 
als  liebenswürdige  Gelegenheitsschriften  eines  feinsinnigen,  weltgewandten  Mannes  dar:  die 
späteren  Arbeiten  lassen  die  Schwierigkeit  der  Gedankenarbeit  und  das  Gedränge  einander 
widerstreitender  Denkmotive  an  der  umständlichen  Schwerfallif^keit  und  an  dem  architek- 
tonisch gekünstelten  Aufbau  der  Untersuchung  ebenso  erkennen  wie  an  der  schwieru^  geschach- 
telten, vielfach  durch  Restrictionen  unterbrochenen  SatzbÜdung«  Minerva  hat  £e  Grazien 
verscheucht:  dafür  aber  schwebt  über  den  späteren  Schriften  der  andächtige  Ton  eines  tiefen 
Denkens  und  einer  ernsten  Ueberzeugung,  der  sich  hie  und  da  zu  gewaltigem  Pathos  und  zu 
wuchtigem  Ausdruck  steigert. 

Für  Kantus  theoretische  Entwicklung  war  anfanglich  der  Gegensatz  zwischen  der  Leibniz- 
WolfTschen  Metaphysik  und  der  Newton *8chen  Naturphilosophie  massgebend.  Jene  war  ihm 
an  der  Universität  durch  Knutzen  (vgl.  oben  S.  351),  diese  durch  Teske  nahegetreten,  und  bei 
seiner  Entfremdung  gegen  das  philosophische  Schulsystem  wirkte  das  Interesse  für  die  Natur- 
wissenschaft, der  er  sich  eine  Zeit  lang  ganz  widmen  zu  wollen  schien,  sehr  stark  mit. 
Seine  erste  Schrift  (1747)  betraf  „Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  lebendiger  Kräfte**,  — 
eine  Streitfrage  zwischen  cartesianischen  und  leibnizianischen  Physikern;  sein  grosses  Werk 
über  die  „Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  war  eine  naturwissenschaft- 
liche Leistung  ersten  Ranges,  und  neben  kleineren  Aufsätzen  gehört  hierher  seine  Promotions- 
schrift De  igne  (1755),  welche  eine  Hypothese  über  Imponderabilien  aufstellte.  Auch  seine 
Lehrthätigkeit  bezog  sich  bis  in  die  spätere  Zeit  hinein  mit  Vorliebe  auf  naturwissenschaftliche 
Gegenstände,  insbesondere  auf  die  physische  Geographie  und  die  Anthropologie. 

In  der  theoretischen  Philosophie  hatte  Kant  „mancherlei  Umkippungen"  seines  Stand- 
punktes durchgemacht  (vgl.  §  33  u.  34).  Er  hatte  anfangs  (in  der  Physischen  Monadologrie) 
sich  den  Gegensatz  zwiscnen  Leibniz  und  Newton  in  der  Kaumlehre  durch  die  übliche  Unter- 
scheidung der  (metaphysisch  zu  erkennenden)  Dinge-an-sich  und  der  (physicalisch  zu  unter- 
suchenden) Erscheinungen  zurechtzulegen  gesucht;  er  war  dann  (in  den  Schriften  nach  1760) 
zu  der  Einsicht  gelangt,  dass  eine  Metaphysik  im  Sinne  des  Rationalismus  unmöglich  ist,  dass 
Philosophie  und  Mathematik  diametral  entgegengesetzte  Methoden  haben  müssen,  dass  die 
Philosophie  als  empirische  Erkenntniss  des  Gegebenen  den  Kreis  der  Erfahrung  nicht  zu  über- 
schreiten vermag.  Aber  während  er  sich  von  Voltaire  und  Rousseau  für  diesen  Ausfall  der 
metaphysischen  Einsicht  durch  das  „natürliche  Gefühl"  des  Rechten  und  Heiligen  trösten 
Hess,  arbeitete  er  doch  mit  Lambert  an  einer  Verbesserung  der  Methode  der  Metaphysik,  und 
als  er  dieselbe  an  der  Hand  von  Leibniz'  Nouveaux  essais  gefunden  zu  haben  hoflte,  construirte 
er  in  kühnen  Linien  das  mystisch-dogmatische  System  semer  Liaugnraldissertation. 

Der  Fortgang  von  da  bis  zum  System  des  Kriticismus  ist  dunkel  und  controvers. 
Vgl.  über  diese  Entwicklung,  bei  der  namentlich  die  Zeit  und  die  Richtuug  der  Einwirkung 
von  David  Hume  in  Frage  ist:  Fr.  Michblis,  Kant  vor  und  nach  1770  (Braunsberg  1871).  -— 
Fr.  Pa  OLSEN,  Versuch  einer  Entwicklungsgeschichte  der  kantischen  Erkenntnisstheorie  (Leipzig 
1875).  —  A.  RoraL,  Geschichte  und  Methode  des  philosophischen  Kriticismus  (Leipzig  1876).  — 
B.  Erdmamn,  Kant*s  Kriticismus  (Leipzig  1878).  —  W.  Windelbamd,  Die  verschiedenen  Phasen 
der  kantischen  Lehre  vom  Ding-an-sich  (Vierteljahrschr.  f.  wissensch.  Philos.  1876).  —  Vgl. 
auch  die  Schriften  von  K.  Dieterich  über  Kant's  Verhältniss  zu  Newton  und  Rousseau, 
zusammen  unter  dem  Titel  „Die  kantische  Philosophie  in  ihrer  inneren  Entwicklungsgeschichte^, 
Freiburg  i  B^  1885. 


422  VI.  Deutsche  Philosophie.   1.  Kant's  Kritik  der  Vernunft. 

Aus  der  Ausgleichung  der  verschiedenen  Richtungen  des  kantischen  Denkens  gingdas 
Grundbuch  der  deutschen  Philosophie  hervor,  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  (Biga 
1781).  Sie  erfuhr  bei  der  zweiten  Auflage  (1787)  eine  Reihe  von  Veränderungen,  welche, 
seitdem  Schelling  (W.  V,  196)  und  Jacobi  (W.  II,  291)  darauf  hingewiesen,  Gegenstand  sehr 
lebhafter  Gontroversen  gewesen  sind.  Vgl.  darüber  die  oben  citirten  Schriften ;  eine  fleissige 
Zusammenstellung  der  Litteratur  bietet  H.  Vaihinoer,  Gommentar  zu  K.  K.  d.  r.  V.  (I.  !Eä. 
Stuttgart  1887).  Separatausgaben  von  K.  Kehkbacu  (Zugrundelegung  der  ersten  Auflage)  und 
B.  Erdhann  (2.  Aufl.). 

Die  weiteren  Hauptschriften  Kant's  aus  der  Zeit  des  Kriticismus  sind:  Prolegomena 
zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  1788.  —  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  1785. 
Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft,  1785.  —  Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft, 1788.  —  Kritik  der  Urtheilskraft,  1790.  —  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der 
blossen  Vernunft,  1798.  —  Zum  ewigen  Frieden,  1795.  —  Metaphysische  Anfangsgründe  der 
Rechts-  und  Tugendlehre,  1797.  —  Der  Streit  der  Fakultäten,  1798. 

Gesammtausffaben  der  Werke  wurden  besorgt  durch  K.  Rosbnkbanz  und  Fr.  W. 
Schubert  (12  Bde.,  Leipzig  18d8ff.),  G.  Hartenstein  (lOBde ,  Leipzig  1838 f.  und  neuerdings 
8  Bde.,  Leipzig  1867  ff.)  und  J.  v.  Kirchicann  (in  der  Philos.  Biblioth.)  ^).  Sie  enthalten  ausser^ 
dem  die  kleineren  Aufsätze  etc.,  die  Vorlesungen  über  Logik,  Pädagogik  etc.  und  die  Briefe. 
Eine  Uebersicht  über  alles  von  Kant  Geschriebene  (darunter  au^  das  für  die  Anffassunff 
des  Kriticismus  belanglose  Manuskript  des  „Uebergangs  von  der  Metaphysik  zur  Physik") 
flndet  mau  bei  Ueberweo-Heinzk  LH '  §  24;  daselbst  ist  auch  die  massenhafte  Litteratur  mit 
grosser  Vollzähligkeit  aufgeführt.  Aus  dieser  kann  hier  nur  eine  Auswahl  des  Besten  und 
Lehrreichsten  gegeben  werden:  eine  sachlich  geordnete  Uebersicht  der  werth volleren  Litte- 
ratur bietet  der  Art.  Kant  von  W.  Windelband  in  Ersch  und  Gruber's  Encyklopädie. 

§  38.  Der  Gegenstand  der  ErkenntnisB. 

Ebh.  ScsMiD,  Kritik  der  reinen  Vernunft  im  Grundrisse.    Jena  1786. 

H.  Cohen,  Kant's  Theorie  der  Erfahrung.    Berlin  1871. 

A.  Holder,  Darstellung  der  Kantischen  Erkeuntnisstheorie.  Tübingen  1873. 

A.  Stadleb,  Die  Grundsätze  der  reinen  Erkenntnisstheorie  in  der  kantischen  Philosophie 
Leipzig  1876. 

JoH.  Volkelt,  J.  Kant's  Erkenntnisstheorie  nach  ihren  Grundprincipien  analysirt. 
Leipzig  1879. 

E.  Pfleidereb,  Kantischer  Kriticismus  und  englische  Philosophie.   Tübingen  1881. 

Hutchinson  Stibling,  Text-book  to  Kant.   Edinburgh  and  London  1881. 

Seb.  Tubbiglio,  Analisi,  storia,  critica  della  Gritica  della  ragione  pura.   Rom  1881. 

S.  MoBBis,  Kant's  critique  of  pure  reason.   Chigaco  1882. 

Fb.  Staudingeb,  Noumena.  Darmstadt  1884. 

Die  Erkenntnisstheorie  Kant's  hat  sich  mit  zäher  Folgerichtigkeit  aus  den 
Problemstellungen  des  modernen  Terminismus  ergeben  (vgl.  S.  368  und  379).  Auf- 
gewachsen war  der  Philosoph  in  dem  naiven  Realismus  der  WolfF'schen  Schule, 
welche  Denknothwendigkeit  und  Realität  unbesehen  für  identisch  hielt:  und  seine 
Selbstbefreiung  vom  Bann  dieser  Schule  bestand  darin,  dass  er  die  Unmöglichkeit 
einsah,  aus  „reiner  Vernunft,  d.  h.  durch  bloss  logisch-begrifiliche  Operationen 
irgend  etwas  über  die  Existenz  *)  oder  das  Oausalverhältniss  ')  wirklicher  Dinge 
auszumachen.  Die  Metaphysiker  sind  „Lufbbaumeister  mancherlei  Gedanken- 
welten" ^) ;  aber  ihre  Entwürfe  haben  keine  Beziehung  auf  die  Wirklichkeit.  Suchte 
nun  Kant  diese  Beziehung  zunächst  in  den  durch  die  Erfahrung  gegebenen  Be- 
griffen, deren  genetischer  Zusammenhang  mit  der  von  der  Wissenschaft  zu 
erkennenden  Wirklichkeit  unmittelbar  einzuleuchten  schien,  so  wurde  er  aus 
diesem  „dogmatischen  Schlummer'^  durch  Hume  aufgerüttelt^),  der  den  Nach- 

1)  Die  Citate  im  Folgenden  beziehen  sich  auf  die  ältere  Hartenstein'sche  Ausgabe.  Bei 
den  Hauptwerken  erlauben  die  bequemen  Ausgaben  von  K.  Eehrbach  (Reclam^sche  Bibliothek) 
leicht  die  Umsetzung  der  Citate  in  die  anderen  Ausflraben.  —  2)  Vgl.  Kant's  „Einzig  möglicher 
Beweisgrund  fiir  das  Dasein  Gottes**.  —  8)  Vgl.  den  Versuch  über  die  negativen  Grossen, 
namentlich  den  Sohluss,  W.  I,  59flf.  —  4)  Träume  eines  Geistersehers  I,  8.  W.  DI,  75.  — 
o)  Bei  diesem  vielerwahnten  Selbstbekenn tniss  Kant's  wird  meist  nicht  bedacht,  dass  er  für 


§  88.  Gegenstand  der  Erkenntnias.    (Synthesis.)  423 

weis  führte^  dass  gerade  die  constitutiven  Formen  einer  begrifflichen  Erkenntniss 
der  Wirklichkeit,  insbesondere  die  der  Causalität;  nicht  anschaulich  gegeben, 
sondern  Producte  des  Associationsmechanismus  ohne  demonstrirbare  Beziehung 
auf  das  Wirkliche  seien.  Auch  aus  den  ^gegebenen"  Begriffen  war  die  Realität 
nicht  zu  erkennen,  und  dann  hatte  Kant  an  der  Hand  von  Leibniz  noch  einmal 
erwogen,  ob  nicht  der  geläuterte  Begriff  des  virtuellen  Eingeborenseins  mit 
Hilfe  der  in  Gott  begründeten  „präformirten  Harmonie"  zwischen  der  erkennenden 
und  den  zu  erkennenden  Monaden  das  Räthsel  des  Verhältnisses  von  Denken  und 
Sein  löse,  und  er  hatte  sich  in  der  Inauguraldissertation  von  dieser  Lösung  der 
Frage  überzeugt.  Bald  aber  kam  die  kühle  Ueberlegung  nach,  dass  diese  prä- 
formirte  Harmonie  eine  unbegründbare  metaphysische  Annahme  sei,  unfähig,  ein 
wissenschaftUches  System  der  Philosophie  zu  tragen.  So  zeigte  sich,  dass  weder 
die  empiristische  noch  die  rationalistische  Lehre  die  Cardinalfirage  gelöst  hatte: 
worin  besteht  und  worauf  beruht  die  Beziehung  der  Erkenntniss  auf 
ihren  Gegenstand^)? 

1.  Kant's  eigene^  lang  erwogene  Antwort  auf  diese  Frage  ist  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft.  Sie  geht  in  ihrer  systematischen  Schlussredaction ,  die  eine 
analytische  Erläuterung  in  den  Prolegomena  fand ,  von  der  Thatsächlich- 
keit  synthetischer  ürtheile  a  priori  in  drei  theoretischen  Wissen- 
schaften aus:  in  der  Mathematik,  der  reinen  Naturwissenschaft  imd 
der  Metaphysik:  und  es  gilt,  deren  Ansprüche  auf  allgemeine  und  nothwendige 
Geltung  zu  prüfen. 

In  dieser  Formulirung  kam  die  Einsicht  zur  Geltung,  welche  Kant  im  Laufe 
seiner  kritischen  Entwicklung  von  dem  Wesen  der  Vemunftthätigkeit  gewonnen 
hatte:  sie  ist  Synthesis,  d.  h.  Vereinheitlichung  einer  Mannigfaltigkeit *).  Dieser 
Begriff  der  Synthesis^)  ist  etwas  Neues,  was  die  Kritik  von  der  Inaugural- 
dissertation trennt:  in  ihm  fand  Kant  das  Gemeinsame  zwischen  den  Formen  der 
Sinnlichkeit  und  denjenigen  des  Verstandes,  welche  in  der  Darstellung  von  1770 
nach  den  Merkmalen  der  Keceptivität  und  der  Spontaneität  sich  gänzlich  von 
einander  sondern  sollten  ^).  Es  zeigte  sich  nun,  dass  die  Synthesis  der  theo- 
retischen Vernunft  in  drei  Stufen  sich  vollzieht:  die  Verknüpfung  der 


^dogmatisch''  nicht  nur  den  Rationalismus,  sondern  ebenso  auch  den  Empirismus  der  früheren 
Erkenntnisstheorie  erklärte,  und  dass  die  classische  Stelle,  an  der  er  diesen  Ausspruch  thut 
(in  der  Vorrede  der  Prolegomena,  W.  III,  170 f.)  Hume  keineswegs  zu  Wolff,  sondern  durch- 
aus zu  Locke,  Beid  und  Beattie  in  Gegensatz  bringt.  Der  Dogmatismus,  von  dem  also  Kant 
durch  Hume  befreit  worden  zu  sein  erklärt,  war  der  empiristische. 

1)  Vgl.  Kant's  Brief  an  Marcus  Herz  vom  21.  Febr.  1772.  —  2)  Diese  mehrfach  wieder- 
holte Definition  lässt  den  Grundbegriff  der  kritischen  Erkenntnisslehre  in  nächster  Nähe  bei 
dem  metaphysischen  Grundbegriff  der  Monadologie  erscheinen:  vgl.  §  dl,  11.  —  8)  Er  wird 
eingeführt  in  der  transscendent.  Analytik  bei  der  Lehre  von  den  Kategorien;  §  10  und  15  (der 
ersten  Aufl.  der  K.  d.  r.  V.)  —  4)  Daher  kommt  auch  der  Begriff  der  Synthesis  in  der  vorliegenden 
Gestalt  der  Vemunftkritik  mit  den  psychologischen  Voraussetzungen  in  Gollision,  welche  aus 
der  die  transsc.  Aesthetik  und  den  Anfang  der  transsc.  Logik  bildenden  deutschen  Bearbeitung 
der  Inaugaraldissertation  (sie  sollte  ursprünglich  unter  dorn  Titel  „Grenzen  der  €innUchkeit 
und  des  Verstandes"  gleich  nach  1770  erschemen)  in  die  Krit.  d.  r.  V.  übergangen,  aber  schon 
in  den  Prolegomena  verwischt  sind.  Früher  waren  Sinnlichkeit  und  Verstand  als  Receptivität 
und  Spontaneität  gegenübergestellt  worden:  aber  Baum  und  Zeit,  die  reinen  Formen  der 
Sinnlichkeit,  waren  ja  die  Principien  einer  s3mthetischen  Ordnung  der  Empfindungen,  gehörten 
somit  unter  den  allgemeinen  Be^piff  der  Synthesis,  d.  h.  der  spontanen  Einheit  des  Mannig- 
faltigen. So  sprengte  der  Begriff  der  Synthesis  das  psychologische  Schema  der  Inaugural- 
dissertation. 


424  ^^'  Deutsche  Philosophie.  1.  Eant*8  Kritik  der  Vernunft. 

Empfindungen  zu  Anschauungen  geschieht  in  den  Formen  von  Baum  und  Zeit, 
die  Verknüpfung  der  Anschauungen  zur  Erfahrung  der  natürlichen  Wirklichkeit 
geschieht  durch  Yerstandesbegriffe,  die  Yerknüpfting  der  Erfahrungsuriheile  zu 
metaphysischen  Erkenntnissen  geschieht  durch  allgemeine  Principieh^  welche  Kant 
Ideen  nennt.  Diese  drei  Stufen  der  Erkenntnissthätigkeit  entwickeln  sich  also 
als  verschiedene  Formen  der  Synthesis,  von  denen  jede  höhere  die  niedere  zu  ihrem 
Inhalte  hat.  Die  Vernunftkritik  aber  hat  zu  untersuchen,  welches  auf  jeder  Stufe 
die  besonderen  Formen  dieser  Synthesis  sind  und  worin  ihre  allgemeine  und  noth- 
wendige  Geltung  besteht. 

2.  Hinsichtlich  der  Mathematik  fugt  sich  die  Auffassung  der  Inaugural- 
dissertation auoh  der  Yernunftkritik  in  der  Hauptsache  glücklich  ein.  Die  mathe- 
matischen Sätze  sind  synthetisch:  sie  beruhen  in  letzter  Instanz  auf  anschaulicher 
Construction,  nicht  auf  Begrifibentwicklung.  Ihre  durch  keine  Erfahrung  be- 
gründbare Nothwendigkeit  und  Allgemeingiltigkeit  ist  also  nur  dann  zu  erklären, 
wenn  ihnen  ein  anschauliches  Princip  a  priori  zu  Grunde  liegt.  Deshalb 
zeigt  Kant,  dass  die  allgemeinen  Vorstellungen  von  RaumundZeit,  aufweiche 
sich  alle  Einsichten  der  Geometrie  und  der  Arithmetik  beziehen,  die  „reinen 
Formen  der  Anschauung"  oder  ;,  Anschauungen  a  priori '^  sind«  Die  VorsteUnngen 
des  Einen  unendlichen  Raums  und  der  Einen  unendlichen  Zeit  beruhen  nicht  auf 
der  Oombination  von  Wahrnehmungen  endlicher  Räume  und  Zeiten^  sondern  es 
steckt  mit  den  Merkmalen  der  Grenze  im  Nebeneinander  und  Nacheinander  schon 
immer  der  ganze  Raum  und  die  ganze  Zeit  in  der  Wahrnehmung  einzelner  Raum- 
und  Zeit  grossen,  die  demnach  nur  als  Theile  des  Raums  überhaupt  und  der  Zeit 
überhaupt  Vorstellbar  sind.  Raum  und  Zeit  können  nicht  „Begriffe"  sein^  da  sie 
sich  ja  nur  auf  einen  einzigen  und  zwar  einen  nicht  fertig  gedachten,  sondern  in  un- 
endlicher Synthesis  begriffenen  Gegenstand  beziehen,  und  sie  verhalten  sich  zu  den 
Vorstellungen  endlicher  Grössen  nicht  wie  Gattungsbegriffe  zu  ihren  Exemplaren, 
sondern  wie  das  Ganze  zum  Theil.  Sind  sie  danach  reine,  d.  h.  nicht  auf  Wahr- 
nehmungen begründete,  sondern  selbst  allen  Wahrnehmungen  zu  Grunde  liegende 
Anschauungen  ^),  so  sind  sie  als  solche  nothwendig:  denn  es  lässt  sich  zwar  Alles 
aus  ihnen,  aber  nicht  sie  selbst  fortdenken.  Sie  sind  die  unentrinnbar  gegebenen 
Formen  der  Anschauung,  die  Gesetze  der  Beziehungen,  in  denen  wir  allein 
die  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  mit  synthetischer  Einheit  vorzustellen 
vermögen.  Und  zwar  ist  der  Raum  die  Form  des  äusseren,  die  Zeit  diejenige  des 
inneren  Sinnes:  d.  h.  alle  Gegenstände  der  einzelnen  Sinne  werden  als  räumlich, 
alle  Gegenstände  der  Selbstwahrnehmung  werden  als  zeitlich  angeschaut. 

Sind  demnach  Raum  und  Zeit  die  „beständige  Form  unserer  sinnlichen 
Receptivität^,  so  kommt  den  durch  beide  Anschauungsarten  ohne  jede  Rücksicht 
auf  den  einzelnen  erfahrungsmässigen  Inhalt  bestimmten  Erkenntnissen  allgemeine 
und  nothwendige  Geltung  für  den  ganzen  Umkreis  dessen,  was  wir  anschauen 
und  erfahren  können,  zu:  im  Gebiete  der  Sinnlichkeit  —  so  lehrt  die  „transscen- 
dentale  Aesthetik^  —  ist  ein  Gegenstand  apriorischer  Erkenntniss  nur  die 


1)  Es  mus8  hier  nochmals  daran  erinnert  werden,  dass  es  eine  schiefe  und  völlig  irre- 
führende Auffassung  Kant's  ist,  wenn  man  die»  MZugrundeUegen"  oder  „Vorhergehen*  zeitUoh 
auffasst.  Der  Nativismus,  welcher  Kaum  und  Zeit  für  angeborene  VorsteUnngen  halt,  ist 
durchaus  unkantisch  und  steht  im  Widerspruch  mit  ausdrücklichen  Erklärungen  des  Philo- 
sophen (vgl.  z.  B.  oben  S.  367). 


§  88.  Gegenstand  der  Erkenntniss.    (Raam  und  Zeit)  426 

Form  der  Synthesis  des  durch  die  Empfindung  gegebenen  Mannigfaltigen,  — 
das  Gesetz  räumlicher  und  zeitlicher  Anordnung.  Aber  die  Allgemeinheit  und 
Nothwendigkeit  dieser  Erkenntniss  ist  auch  nur  dann  begreiflich,  wenn  Raum 
und  Zeit  eben  nichts  weiter  sind  als  die  nothwendigen  Formen  der 
sinnlichen  Anschauung  des  Menschen.  Käme  ihnen  eine  Realität  unabhängig 
von  den  Functionen  der  Anschauung  zu^  so  wäre  die  Apriorität  der  mathe- 
matischen Erkenntniss  unmöglich.  Wären  Raum  und  Zeit  selbst  Dinge  oder 
reale  Eigenschaften  und  Verhältnisse  von  Dingen^  so  könnten  wir  von  ihnen  nur 
durch  Erfahrung^  also  niemals  in  allgemeiner  und  nothwendiger  Weise  wissen: 
dies  ist  nur  möglich;  wenn  sie  eben  nichts  weiter  als  die  Form  sind;  unter  der  alle 
Dinge  in  unserer  Anschauung  erscheinen  müssen^).  Nach  diesem  Princip 
werden  für  Kant  Apriorität  und  Phänomenalität  Wechselbegriffe.  All- 
gemein und  nothwendig  ist  in  der  menschlichen  Erkenntniss  nur 
die  Form,  unter  der  in  ihr  die  Dinge  erscheinen.  Der  Rationalismus 
beschränkt  sich  auf  die  Form  und  gilt  auch  für  diese  nur  um  den  Preis  ihrer 
^Subjectivität". 

3.  Wenn  Kant  so  die  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnisse  der  Wahr- 
nehmungsgegenstände lediglich  als  Vorstellungsweise  angesehen  haben  wollte,  die 
mit  der  Realität  der  Dinge  selbst  nicht  zusammenfalle^  so  unterschied  er  ^)  diesen 
Begriff  ihrer  Idealität  sehr  genau  von  jener  „Subjectivität  der  SinnesquaU- 
täten^;  welche  von  ihm  wie  von  der  ganzen  Philosophie  seit  Descartes  und  Locke 
für  selbstverständlich  gehalten  wurde.  Und  zwar  handelt  es  sich  dabei  wiederum 
lediglich  um  den  Grund  der  Phänomenalität.  HinsichtUch  der  Farbe;  des  Ge- 
schmacks etc.  war  sie  seit  Protagoras  und  Demokrit  durch  die  Verschiedenheit 
und  Relativität  der  Eindrücke  begründet  worden:  für  die  Raum-  und  Zeitformen 
leitet  Kant  sie  gerade  aus  der  absoluten  Beständigkeit  ab.  Für  ihn  gewähren  da- 
her die  sinnlichen  Qualitäten  nur  eine  individuelle  und  zufallige  Vorstellungsweise; 
die  räumlichen  und  zeitlichen  Formen  dagegen  eine  allgemeine  und  noth- 
wendige  Erscheinungsweise  der  Dinge.  AlleS;  was  die  Wahrnehmung  ent- 
hält; ist  nicht  das  wahre  Wesen  der  Dinge ;  sondern  Erscheinung:  aber  die 
Empfindungsinhalte  sind  in  ganz  anderem  Sinne  „Phänomene''  als  die  räumlichen 
und  zeitlichen  Formen:  jene  gelten  nur  als  Zustände  des  einzelnen  Subjects, 
diese  als  ;,objective''  Anschauungsformen  für  Alle.  Daher  sieht  schon  aus  diesem 
Grunde  auch  Kant  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft  in  der  demokritisch- 
galileischen  Reduction  des  Qualitativen  auf  Quantitatives,  worin  allein  auf  mathe- 
matischer Grundlage  Nothwendigkeit  und  Allgemeingiltigkeit  gefunden  werden 
kann:  aber  er  unterscheidet  sich  von  den  Vorgängern  dariu;  dass  erinphiloso- 
phischem  Betracht  auch  die  mathematische  Vorstellungsweise  der  Natur  nur 
für  Erscheinung;  wenn  auch  im  tieferen  Sinne  des  Worts  gelten  lassen  kann.  Die 
Empfindung  giebt  eine  individuelle  Vorstellung;  die  mathematische  Theorie  giebt 
eine  nothwendige,  allgemeingiltige  Anschauung  der  WirkUchkeit :  aber  beide  sind 
nur  verschiedene  Stufen  der  Erscheinung;  hinter  der  das  wahre  Ding-an-sich 
unbekannt  bleibt.  Raum  und  Zeit  gelten  ausnahmslos  für  alle  Gegenstände  der 
Wahrnehmung;  aber  nicht  darüber  hinaus:  sie  haben  ;,empiri8che  Realität^ 
imd  „transscendentale  Idealität^. 

1)  Besonders  deutlich  ist  dieser  Gedanke  in  den  Prolegomena  §  9  entwickelt.  —  2)  Vgl. 
Kr.  d.  r.  Vem.  §  3,  b.  W.  II,  68. 


426  VI.  Deutsche  Philosophie.   1.  Kant *8  Kritik  der  Vernunft. 

4.  Der  Hauptfortschritt  der  Yemunftkritik  über  die  Inauguraldissertation 
hinaus  besteht  nun  darin^  dass  dieselben  Principien  in  einer  völlig  parallelen 
Untersuchung  ^)  auf  die  Frage  nach  dem  erkenntnisstheoretischen  Werthe  aus- 
gedehnt wurde, « welcher  den  synthetischen  Formen  der  Verstandes- 
thätigkeit  zukommt. 

Die  Naturwissenschaft  bedarf  neben  ihrer  mathematischen  Grundlage 
einer  Anzahl  allgemeiner  Sätze  über  den  Zusammenhang  der  Dinge,  welche,  wie 
der  Satz  dass  alles  Geschehen  seine  Ursache  haben  müsse,  synthetischer  Natur 
sind,  dabei  aber  nicht  durch  Erfahrung  begründbar  sind,  wenn  sie  auch  dadurch 
zum  Bewusstsein  kommen,  darauf  angewendet  werden  und  darin  ihre  Bestätigung 
finden.  Von  solchen  Sätzen  sind  freilich  bisher  erst  einige  gelegentlich  aufgestellt 
und  behandelt  worden,  und  es  bleibt  der  Kritik  selbst  vorbehalten,  das  „System 
der  Grundsätze^  ausfindig  zu  machen :  aber  es  ist  klar,  dass  ohne  diese  Grund- 
lage die  Naturerkenntniss  der  nothwendigen  und  allgemeinen  Geltung  entrathen 
würde.  Denn  die  „Natur''  ist  nicht  bloss  ein  Aggregat  von  räumlichen  und 
zeitlichen  Formen,  von  Körpergestaltungen  und  Bewegungen,  sondern  ein  Z  u- 
sammenhang,  den  wir  zwar  auch  sinnlich  anschauen,  aber  zugleich  durch 
Begriffe  denken.  Verstand  nennt  Kant  das  Vermögen,  das  Mannigfaltige  der 
Anschauung  in  synthetischer  Einheit  zu  denken,  und  die  reinen  Verstandes- 
begriffe oder.  Kategorien  sind  die  Formen  der  Synthesis  des  Ver- 
standes, wie  Raum  und  Zeit  die  Formen  der  Synthesis  der  Anschauung  sind. 

Wäre  nun  die  „Na tur^  als  Gegenstand  unserer  Erkenntniss  ein  realer  Zu- 
sammenhang der  Dinge,  unabhängig  von  unseren  Vemunftfunctionen,  so  könnten 
wir  wiederum  von  ihr  nur  durch  die  Erfahrung  und  niemals  a  priori  wissen:  eine 
allgemeine  und  nothwendige  Erkenntniss  der  Natur  ist  nur  möglich,  wenn  unsere 
begrifflichen  Formen  der  Synthesis  die  Natur  selbst  bestimmen.  Schriebe  unserem 
Verstände  die  Natur  die  Gesetze  vor,  so  hätten  wir  davon  nur  eine  empirische, 
unzulängliche  Kenntniss:  eine  apriorische  Erkenntniss  der  Natur  ist 
also  nur  möglich,  wenn  es  umgekehrt  unser  Verstand  ist,  welcher 
der  Natur  die  Gesetze  vorschreibt.  Allein  unser  Verstand  kann  die 
Natur  nicht  bestimmen,  insofern  sie  als  Ding-an-sich  oder  als  System  von 
Dingen-an-sich  besteht,  sondern  nur  insofern  als  sie  in  unserem  Denken 
erscheint.  Apriorische  Naturerkenntniss  ist  also  nur  dann  möglich,  wenn  auch 
der  Zusammenhang,  den  wir  zwischen  den  Anschauungen  denken, 
nichts  weiter  ist  als  unsere  Vorstellungsweise:  auch  die  begrifflichen 
Beziehungen,  in  denen  die  Natur  Gegenstand  unserer  Erkenntniss  ist,  dürfen 
nur  „Erscheinung^  sein. 

5.  Um  zu  diesem  Resultate  zu  gelangen,  geht  die  Vernunftkritik  zunächst 
darauf  aus,  sich  dieser  synthetischen  Formen  des  Verstandes  in  systematischer 
Vollzähligkeit  zu  versichern.  Klar  ist  dabei  von  vornherein,  dass  es  sich  nicht 
um  jene  analytischen  Beziehungen  handeln  kann,  welche  in  der  formalen 
Logik  behandelt  und  aus  dem  Satze  des  Widerspruchs  begründet  werden. 
Denn  diese  enthalten  nur  die  Regeln,  um  die  Beziehungen  zwischen  Begriffen 
nach  Massgabe  des  darin  schon  gegebenen  Inhalts  zu  ermitteln.    Solche  Ver- 


1)  Dieser  Farallelismus  wird  am  deutlichsten  durch  eine  Vergleichung  der  §§  9  und  14 
der  Prolegomena. 


§  88.  Gegenstand  der  Erkeuntniss.    (Kategorien.)  427 

knüpfungsweisen  aber,  wie  sie  in  der  Statuirung  des  Verhältnisses  von  Ursache  und 
Wirkung  oder  von  Substanz  und  Accidens  vorliegen^  sind  in  jenen  analytischen 
Formen  —  das  hat  gerade  Hume  gezeigt  —  nicht  enthalten.  Eitnt  entdeckt 
hier  die  völlig  neue  Aufgabe  der  transscendentalen  Logik ^).  Neben  den 
(analytischen)  Verstandesformen;  nach  welchen  die  Verhältnisse  inhaltlich  ge- 
gebener Begriffe  festgestellt  werden,  zeigen  sich  die  synthetischen  Ver- 
standesformen, durch  welche  Anschauungen  zu  Gegenständen  der  begriff- 
lichen Erkenntniss  gemacht  werden.  Räumlich  coordinirte  und  zeitlich  wechselnde 
Empfindungsbilder  werden  z.  B.  erst  dadurch  „objectiv"  oder  ^gegenständlich ^^ 
dass  sie  als  Dinge  mit  bleibenden  Eigenschaften  und  wechselnden  Zuständen 
gedacht  werden:  aber  diese  durch  die  Kategorie  ausgedrückte  Beziehung 
steckt  analytisch  weder  in  den  Empfindungen  noch  in  deren  anschaulichen  Ver- 
haltnissen als  solchen.  In  den  analytischen  Beziehungen  der  formalen  Logik  ist 
das  Denken  von  den  Gegenständen  abhängig  und  erscheint  schliesslich  mit  Becht 
nur  als  ein  Bechnen  mit  gegebenen  Grössen.  Die  synthetischen  Formen  der 
transscendentalen  Logik  dagegen  lassen  den  Verstand  in  der  schöpferischen 
Function  erkennen,  aus  den  Anschauungen  die  Gegenstände  des  Denkens 
selbst  zu  erzeugen. 

An  dieser  Stelle  tritt  zuerst  in  dem  Unterschiede  der  formalen  und  der 
transscendentalen  Logik  der  fundamentale  Gegensatz  zwischen  Kant  und  den 
bis  auf  ihn  herrschenden  Auffassungen  der  griechischen  Erkenntnisslehre  zu  Tage. 
Die  letztere  nahm  die  „Gegenstände"  als  unabhängig  vom  Denken  „gegeben" 
an,  betrachtete  die  intellectuellen  Vorgänge  als  durchweg  davon  abhängig  und 
höchstens  berufen,  sie  abbildlich  zu  reproduciren  oder  sich  von  ihnen  leiten  zu 
lassen.  Kant  entdeckte,  dass  die  Gegenstände  des  Denkens  keine  anderen  sind 
als  die  Erzeugnisse  des  Denkens  selbst.  Diese  „Spontaneität"  der  Vernunft 
bildet  den  tiefsten  Kern  seines  transscendentalen  Idealismus. 

Wenn  er  aber  so  mit  völlig  klarem  Bewusstsein  neben  die  analytische 
Logik  des  Aristoteles,  welche  die  Subsumtionsverhältnisse  fertiger  Begriffe  zu 
ihrem  wesentlichen  Inhalt  hatte  (vgl.  §  12),  eine  neue  erkenntnisstheoretische 
Logik  der  Synthesis  setzte,  so  meinte  er  doch,  dass  beide  eine  Strecke 
gemeinsam  hätten :  die  Lehre  vom  Urtheil.  Im  Urtheil  wird  die  zwischen 
Subject  und  Prädicat  gedachte  Beziehung  als  gegenständlich  geltend  behauptet: 
alles  gegenständliche  Denken  ist  Urtheilen.  Wenn  daher  die  Kategorien  oder 
Stammbegriffe  des  Verstandes  als  die  Beziehungsformen  der  Synthesis 
zu  betrachten  sind,  wodurch  Gegenstände  zu  Staude  kommen,  so  muss  es  so  viel 
E^tegorien  geben,  als  sich  Arten  der  Urtheile  finden,  und  jede  Kategorie  ist 
die  in  einer  eigenen  Urtheilsart  wirksame  Verknüpfungsweise  von  Subject  und 
Prädicat. 

Hiemach  meinte  nun  Kant,  die  Tafel  der  Kategorien  aus  derjenigen 
der  Urtheile  ableiten  zu  können.  Er  unterschied  nach  den  vier  Gesichtspunkten 
der  Quantität,  Qualität,  Relation  und  Modalität  je  drei  Urtheilsarten:  allgemeine, 
besondere,  einzelne,  —  bejahende,  verneinende,  unendliche,  —  kategorische, 
hypothetische,  disjunctive,  —  problematische,  assertorische,  apodiktische-,  und 
diesen  sollten  die  zwölf  Kategorien  entsprechen:  Einheit,  Vielheit,  Allheit,  — 

1)  Vgl.  M.  Steckelmacher,  Die  formale  Logik  Kant's  in  ihren  Beziehungen  zur  trans- 
scendentalen. Breslau  1878. 


428  VI.  Deutsche  Philosophie.  1.  Eant's  Kritik  der  Yemunft. 

Realität,  Negation,  Limitation,  —  Inhärenz  und  Subsistenz,  Causalität  und 
Dependenz,  Gemeinschaft  oder  Wechselwirkung  —  Möglichkeit  und  Umnöglich- 
keit;  Dasein  und  Nichtsein;  Nothwendigkeit  und  Zufälligkeit.  —  Die  Künstlich- 
keit dieser  Construction,  die  Lockerheit  der  Beziehungen  zwischen  ürtheilsform 
und  Kategorie,  die  Ungleichwerthigkeit  der  Kategorien,  —  das  alles  liegt  auf 
der  Hand,  aber  Kant  fasste  unglücklicherweise  zu  diesem  System  so  viel  Zu- 
trauen, dass  er  es  als  architektonischen  Grundriss  fiir  eine  grosse  Anzahl  seiner 
späteren  Untersuchungen  behandelte. 

6.  Der  schwierigste  Theil  der  Aufgabe  jedoch  war,  in  der  ^^transscenden- 
talen  Deduction  der  reinen  Verstandesbegriffe  ^  den  Nachweis  zu  fuhren,  wie  die 
Kategorien  „die  Gegenstände  der  Erfahrung  machen^.  Die  Dunkelheit,  in  welche 
hier  die  tiefsinnige  Forschung  des  Philosophen  nothwendig  geräth,  wird  am 
besten  durch  einen  glücklichen  Einfall  der  Prolegomena  erhellt.  Kant  unter- 
scheidet hier  Wahrnehmungsurtheile,  d.h.  solche,  worin  nur  das  räumlich 
zeitliche  Yerhältniss  von  Empfindungen  fiir  das  individuelle  Bewusstsein  aus- 
gesprochen wird,  und  Erfahrungsurtheile,  d.h.  solche,  worin  ein  derartiges 
Verhältniss  als  objectiv  giltig,  als  im  Gegenstande  gegeben  behauptet  wird:  und 
er  findet  den  erkenntnisstheoretischen  Werthunterschied  zwischen  beiden  darin, 
dass  im  Erfahrungsurtheil  die  räumliche  oder  zeitliche  Beziehung  durch  eine 
Kategorie,  einen  begrifflichen  Zusammenhang  geregelt  und  begründet  wird, 
während  dies  im  blossen  Wahmehmungsurtheil  fehlt.  So  wird  z.  B.  die  Auf- 
einanderfolge zweier  Empfindungen  gegenständUch,  objectiv  und  aUgemeingiltig, 
wenn  sie  als  dadurch  begründet  gedacht  wird,  dass  die  eine  Erscheinung  die 
Ursache  der  anderen  ist.  Alle  einzelnen  Gebilde  der  räumUchen  und  zeitlichen 
Synthesis  von  Empfindungen  werden  nur  dadurch  zu  Gegenständen,  dass  sie  nach 
einer  Regel  des  Verstandes  verknüpft  werden.  Dem  individuellen  Vor- 
stellungsmechanismus gegenüber^  worin  sich  die  einzelnen  Empfindungen  beUebig 
ordnen,  trennen  und  verbinden,  ist  das  gegenständliche,  für  alle  gleichmässig 
geltende  Denken  an  bestimmte,  begrifflich  geregelte  Zusammenhänge  gebunden. 

Insbesondere  gilt  dies  hinsichtlich  der  zeitUchen  Verhältnisse.  Denn  da 
auch  die  Erscheinungen  des  äusseren  Sinnes  als  „Bestimmungen  unseres  Ge- 
müths^  dem  inneren  Sinn  angehören,  so  stehen  alle  Erscheinungen  ausnahmslos 
unter  der  Form  des  inneren  Sinnes,  der  Zeit.  Deshalb  suchte  Kant  zu  zeigen, 
dass  zwischen  den  Kategorien  und  den  einzelnen  Formen  der  Zeitanschauung 
ein  „Schematismus^  obwalte,  der  es  überhaupt  erst  möghch  mache,  die  Formen 
des  Verstandes  auf  die  Gebilde  der  Anschauung  anzuwenden,  und  der  darin 
bestehe,  dass  jede  einzelne  Kategorie  mit  einer  besonderen  Form  des  Zeit- 
verhältnisses eine  schematische  AehnUchkeit  besitze.  In  der  empirischen  Erkennt- 
niss  benutzen  mr  diesen  Schematismus,  um  das  wahrgenommene  Zeitverhaltniss 
durch  die  entsprechende  Kategorie  zu  deuten,  z.  B.  die  regelmässige  Succession 
als  Causalität  aufzufassen:  die  Transscendentalphilosophie  hat  umgekehrt  die 
Berechtigung  dieses  Verfahrens  darin  zu  suchen,  dass  die  Kategorie  als  Ver- 
standesregel das  entsprechende  Zeitverhaltniss  als  Gegenstand  der  Erfahrung 
begründet. 

In  der  That  findet  nun  das  individuelle  Bewusstsein  in  sich  den  Gegensatz 
einer  Vorstellungsbewegung  (etwa  der  Phantasie),  fiü'  welche  es  keine  über  seinen 
eigenen  Bereich  hinausgehende  Geltung  beansprucht,  u  nd  andrerseits  einer  T  h  äti  g  - 


§  88.  Gegenstand  der  Erkenntniss.  (Erfahrung.)  429 

keit  des  Erfahrens;  bei  der  es  sich  in  einer  für  alle  anderen  ebenso  geltenden 
Weise  gebunden  weiss.  Nur  in  dieser  Abhängigkeit  besteht  die  Beziehung  des 
Denkens  auf  einen  Gegenstand.  Wurde  nun  aber  erkannt;  dass  der  Grund  für 
di)3  gegenständliche  Geltung  des  Zeit-  (und  Baum-)  Verhältnisses  allein  in  seiner 
Bestimmung  durch  eine  Yerstandesregel  begründet  sein  kann^  so  ist  es  dagegen 
eine  Thatsache^  dass  von  dieser  Mitwirkung  der  Kategorien  in  der  Erfahrung 
das  Bewusstsein  des  Individuums  Nichts  weiss^  dass  es  vielmehr  das  Resultat 
derselben  als  die  gegenständliche  Nothwendigkeit  seiner  Auffassung  der  räum- 
lichen und  zeitlichen  Sjmthesis  der  Empfindungen  übernimmt. 

Die  Erzeugung  des  Gegenstandes  geht  also  nicht  in  dem  individuellen  Be- 
wusstsein von  Statten,  sondern  liegt  diesem  bereits  zu  Grunde :  für  sie  muss  also 
ein  höhereS;  gemeinsames  Bewusstsein  angenommen  werden;  das  nicht  mit  seinen 
Functionen,  sondern  nur  mit  dem  Resultate  derselben  in  das  empirische  Bewusst- 
sein des  Einzelnen  fällt.  Dasselbe  bezeichnete  Kant  in  den  Prolegomena  als 
;,das  Bewusstsein  überhaupt^;  in  der  Kritik  als  trän  sscendentale  Apper- 
ception  oder  als  Ich. 

Die  Erfahrung  ist  danach  das  System  der  Erscheinungen,  worin  die 
räumliche  und  zeitliche  Synthesis  der  Empfindungen  durch  die  Regeln  des  Ver- 
standes bestimmt  ist.  So  ist  die  „Natur  als  Erscheinung''  der  Gegenstand 
einer  apriorischen  Erkenntniss ;  denn  die  Kategorien  gelten  für  alle  Erfahrung, 
weil  diese  nur  durch  sie  begründet  ist. 

7.  Die  allgemeine  und  nothwendige  Geltung  der  Kategorien  drückt  sich 
nun  in  den  ^^Grundsätzen  des  reinen  Verstandes''  aus,  worin  sich  die 
BiegrifiGsfibrmen  vermittels  des  Schematismus  entwickeln.  Hierbei  aber  zeigt  sich 
sogleich, !  dass  der  Schwerpunkt  der  kantischen  Kategorienlehre  auf  die  dritte 
Gruppe:uhd  damit  auf  diejenigen  Probleme  fällt,  in  denen  er  „Hume's  Zweifel 
zu  lösen"  hoffte.  Aus  den  Kategorien  der  Quantität  und  Qualität  ergeben  sich 
nur  das  „Axiom  der  Anschauung",  dass  alle  Erscheinungen  extensive  Grössen 
sind,  unddie'„Anticipationen  der  Wahrnehmung",  wonach  der  Gegenstand  der 
Empfindung  eine  intensive  Grösse  ist;  bei  der  Modalität  erfolgen  gar  nur  Defini- 
tionen des  Möglichen,  Wirklichen  und  Nothwendigen  unter  dem  Namen  der 
„Postülate  des  empirischen  Denkens".  Dagegen  beweisen  die  „Analogien  der 
Erfahrung",  dass  das  Beharrende  in  der  Natur  die  Substanzen  sind,  der6n 
Quantum  nicht  vermehrt  noch  vermindert  werden  kann,  dass  alle  Veränderungen 
nach  dem  Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung  von  Statten  gehen,  und  dass  die 
sämmtlichen  Substanzen  in  durchgängiger  Wechselwirkung  unter  einander  stehen. 

Dies  sind  also  die  ohne  aUe  empirische  Begründung  allgemein  und  noth- 
wendig  geltenden  Grundsätze  und  die  obersten  Prämissen  aller  Naturforschung ; 
sie  enthalten  das,  was  Kant  die  Metaphysik  der  Natur  nennt.  Zu  ihrer  An- 
wendung jedoch  auf  die  sinnlich  gegebene  Natur  müssen  sie  durch  eine  mathe- 
matische Formulirung  hindurchgehen,  weil  die  Natur  das  nach  den  Kategorien 
geordnete  System  der  in  den  Formen  von  Raum  und  Zeit  angeschauten  Empfin- 
dungen ist.  Diese  Umsetzung  wird  durch  den  empirischen  Begriff  der  Bewegung 
bewirkt,  auf  welche  alles  Geschehen  in  der  Natur  theoretisch  zurückzufuhren  ist. 
Wenigstens  reicht  die  eigentliche  Wissenschaft  der  Natur  nur  so  weit,  wie  die 
Mathematik  sich  darin  anwenden  lässt:  daher  Kant  Psychologie  und  Chemie  als 
bloss  descriptive  Disciplinen  davon  ausschloss.   Die  „metaphysischen  Anfangs- 


430  VI.  Deutsche  Philosophie.   1 .  Kaufs  Kritik  der  Vernunft. 

gründe  der  Naturwissenschaft^  enthalten  somit  Alles^  was  auf  Grund  der  Kate- 
gorien und  der  Mathematik  allgemein  und  nothwendig  über  die  Gesetze  der 
Bewegung  gefolgert  werden  kann.  Das  Wichtigste  in  der  so  aufgebauten  Natur- 
philosophie Kant's  ist  seine  dynamische  Theorie  der  Materie,  woriner  jetzt 
aus  den  allgemeinsten  Grundsätzen  der  Kritik  die  schon  in  der  ^Naturgeschichte 
des  Himmels^  angelegte  Lehre  ableitete ,  dass  die  Substanz  des  im  Räume 
Beweglichen  das  Product  zweier  einander  in  verschiedenem  Masse  das  Gegen- 
gewicht haltenden  Kräfte,  der  Attraction  und  der  Repulsion,  sei. 

8.  Allein  jene  Metaphysik  der  Natur  kann  nach  Kant's  Voraussetzungen 
nur  eine  Metaphysik  der  Erscheinungen  sein:  und  eine  andere  ist  nicht 
möglich,  denn  die  Kategorien  sind  Beziehungsformen  und  als  solche  an  sich  leer; 
sie  können  sich  auf  einen  Gegenstand  nur  durch  Vermittlung  von  Anschauungen 
beziehen,  die  eine  mit  einander  zu  verknüpfende  Mannigfaltigkeit  von  Inhalten 
darbieten.  Diese  Anschauung  jedoch  ist  bei  uns  Menschen  nur  die  sinnliche  in 
den  Formen  von  Zeit  und  Raum,  und  für  deren  synthetische  Function  haben 
wir  wiederum  den  einzigen  Inhalt  in  den  Empfindungen.  Danach  istdereinzige 
Gegenstand  der  menschlichen  Erkenntniss  die  Erfahrung,  d.  h.  die 
Erscheinung:  und  die  seit  Piaton  übliche  Eintheilung  der  Gegenstände  der  Elr* 
kenntniss  in  Phaenomena  undNoumena  hat  keinen  Sinn.  Eine  über  die  Erfahrung 
hinausgreifende  Erkenntniss  der  Dinge-an-sich  durch  „blosse  Vernunft^  ist  ein 
Unding. 

Hat  denn  aber  dann  der  Begriff  des  Dinges-an-sich  überhaupt  noch  einen 
vernünftigen  Sinn?  und  wird  nicht  mit  ihm  auch  die  Bezeichnung  aller  Gegen- 
stände unserer  Erkenntniss  als  „Erscheinungen^  bedeutungslos?  Diese  Frage  ist 
der  Umkehrpunkt  der  kantischen  Ueberlegungen  gewesen.  Bis  hierher  ist  Alles, 
was  der  naiven  Weltauffassung  als  „Gegenstand^  dünkt,  theils  in  Ehnpfindungen, 
theils  in  synthetische  Formen  der  Anschauung  und  des  Verstandes  aufgelöst 
worden:  es  scheint  neben  dem  individuellen  Bewusstsein  nichts  wahrhaft  bestehen 
zu  bleiben  als  das  „Bewusstsein  überhaupt^,  die  transscendentale  Apperception. 
Wo  bleiben  dann  aber  die  „Dinge'^,  von  denen  Kant  erklärte,  dass  es  ihm  nie  in 
den  Sinn  gekommen  sei,  ihre  Realität  zu  leugnen? 

Der  Begriff  des  Dinges-an-sich  kann  freiUch  in  der  Vemunftkritik 
nicht  mehr  einen  positiven  Inhalt  haben,  wie  bei  Leibniz  oder  in  Kant's  Inau- 
guraldissertation: er  kann  nicht  der  Gegenstand  rein  rationaler  Erkenntniss,  er 
kann  überhaupt  kein  „Gegenstand^  mehr  sein.  Aber  es  ist  wenigstens  kein 
Widerspruch,  ihn  bloss  zu  denken.  Zunächst  rein  hypothetisch  und  als  etwas, 
dessen  Realität  weder  zu  bejahen  noch  zu  verneinen  ist,  —  ein  blosses  „Problem^. 
Die  menschliche  Erkenntniss  ist  auf  Gegenstände  der  Erfahrung  beschränkt,  weil 
die  zum  Gebrauch  der  Kategorien  erforderliche  Anschauung  bei  uns  nur  die 
receptiv-sinnliche  in  Raum  und  Zeit  ist.  Gesetzt,  es  gäbe  eine  andere  Art  der 
Anschauung,  so  würde  es  für  diese  ebenfalls  mit  Hilfe  der  Kategorien  auch 
andere  Gegenstände  geben.  Solche  Gegenstände  einer  nicht  menschlichen  An- 
schauimg  blieben  aber  doch  immer  nur  Erscheinungen,  wenn  diese  Anschauung 
auch  wieder  als  eine  solche  angenommen  würde,  die  gegebene  Empfindungs- 
inhalte in  irgend  einer  Weise  anordnete.  Dächte  man  sich  jedoch  eine  Anschau- 
ung  von  nicht  receptiver  Art,  eine  Anschauung,  welche  nicht  nur  die 
Formen,  sondern  auch  den  Inhalt  synthetisch  erzeugte,  eine  wahrhaft  „productive 


§  38.  Gegenstand  der  Erkenntniss.   (Ding-an-sich.)  43 1 

Einbildungskraft^;  so  müssten  deren  Gegenstände  nicht  mehr  Erscheinungen, 
sondern  Dinge-an-sich  sein.  Ein  solches  Vermögen  verdiente  den  Namen  einer 
intellectuellen  Anschauung  oder  eines  intuitiven  Verstandes:  es 
wäre  die  Einheit  der  beiden  Erkenntnisskräfte  der  Sinnhchkeit  und  des  Ver- 
Standes^  welche  im  Menschen  getrennt  auftreten^  obwohl  sie  durch  ihr  stetiges 
Aufeinanderaugewiesensein  auf  eine  verborgene  gemeinsame  Wurzel  hindeuten. 
Die  Möglichkeit  eines  solchen  Vermögens  ist  so  wenig  zu  verneinen^  wie  seine 
Realität  zu  bejahen:  doch  deutet  Kant  schon  hier  an^  dass  man  sich  ein  höchstes 
geistiges  Wesen  so  würde  vorzustellen  haben.  Denkbar  sind  also  Noumena  oder 
Dinge-an-sich  im  negativen  Sinne  als  Gegenstände  einer  nicht- 
sinnlichen Anschauung^  von  der  freilich  unsere  Erkenntniss  absolut  Nichts 
aussagen  kann^  —  als  Grenzbegriffe  der  Erfahrung. 

Und  sie  bleiben  schliesslich  nicht  einmal  so  vöUig  problematisch,  wie  es 
danach  zuerst  aussieht.  Denn  wollte  man  die  Realität  der  Dinge-an-sich  leugnen, 
so  würde  damit  „Alles  in  Erscheinungen  aufgelöst^,  und  man  wagte  damit  die 
Behauptung,  dass  nichts  wirklich  wäre,  als  was  dem  Menschen  oder  anderen 
sinnlich-receptiven  Wesen  erscheint.  Diese  Behauptung  aber  wäre  eine  völlig 
unbegründbare  Vermessenheit.  Der  transscendentale  Idealismus  darf  daher  die 
Realität  der  Noumena  nicht  leugnen,  er  muss  sich  nur  bewusst  bleiben,  dass  sie 
auf  keine  Weise  Gegenstände  der  menschlichen  Erkenntniss  werden  können. 
Dinge-an-sich  müssen  gedacht  werden,  sind  aber  nicht  erkennbar.  Auf  diese 
Weise  gewann  Kant  das  Recht,  die  Gegenstände  des  menschlichen  Wissens 
„nur  als  Erscheinungen''  zu  bezeichnen,  zurück. 

9.  Damit  war  dem  dritten  Theile  der  Vernunftkritik,  der  transscendentalen 
Dialektik*)  der  Weg  vorgeschrieben.  Eine  Metaphysik  des  ünerfahrbaren,  oder 
wie  Kant  lieber  sagt,  des  Uebersinnlichen  ist  unmöglich.  Das  musste  durch  eine 
Kritik  der  historisch  vorliegenden  Versuche  dazu  gezeigt  werden,  und  Kant 
wählte  als  actuelles  Beispiel  dafür  die  Leibniz-WoliTsche  Schulmetaphysik  mit 
ihrer  Behandlung  der  rationalen  Psychologie,  Kosmologie  und  Theologie.  Zu- 
gleich aber  musste  nachgewiesen  werden,  dass  das  Unerfahrbare,  welches  nicht 
erkannt  werden  kann,  doch  nothwendig  gedacht  werden  muss,  und  es  musste  der 
transscendentale  Schein  aufgedeckt  werden,  durchweichen  auch  die  grossen 
Denker  von  jeher  verführt  worden  sind,  dies  nothwendig  zu  Denkende  als  einen 
Gegenstand  möglicher  Erkenntniss  anzusehen. 

Zu  letzterem  Zwecke  geht  Kant  von  dem  Gegensatz  zwischen  der  Ver- 
standesthätigkeit  und  der  sinnlichen  Anschauung  aus,  mit  deren  Hilfe  sie  allein 
gegenständliche  Erkenntniss  liefert.  Das  durch  die  Kategorien  bestimmte  Denken 
setzt  die  Data  der  Sinnlichkeit  in  der  Weise  mit  einander  in  Beziehung,  dass 
jede  Erscheinung  durch  andere  Erscheinungen  bedingt  ist:  dabei  verlangt  aber 
der  Verstand,  um  die  einzelne  Erscheinung  vollständig  zu  denken,  die  Totalität 
der  Bedingungen  zu  erfassen,  durch  welche  dieselbe  im  Zusammenhange 
der  ganzen  Erfahrung  bestimmt  ist.  Allein  diese  Anforderung  ist  angesichts  der 


1)  Sachlich  bilden  transscendentale  Aesthetik,  Analytik  und  Dialektik,  wie  auch  die 
Einleitung  zeigt,  die  drei  coordinirten  Haupttheile  der  Er.  d.  r.  Y. :  der  formelle  Schematismus 
der  Eintheüung,  den  Kant  der  seiner  Zeit  üblichen  Einrichtung  logischer  Lehrbücher  nach- 
bildete, ist  dagegen  durchaus  irrelevant.  Die  „  Methodenlehre "  ist  thatsächlich  nur  ein  ar 
feinen  Bemerkungen  überaus  reicher  Nachtrag. 


432  ^-  Deutsche  Philosophie.   1.  Eant's  Kritik  der  V emanft 

räumlichen  und  zeitlichen  Unendlichkeit  der  Erscheinungswelt  unerfüllbar.  Denn 
die  Eittegorien  sind  Principien  der  Beziehung  zwischen  Erscheinungen:  sie 
erkennen  die  Bedingtheit  jeder  Erscheinung  immer  nur  wieder  durch  andere 
Erscheinungen  und  verlangen  für  diese  abermals  die  Einsicht  in  ihre  Bedingt- 
heit durch  andere,  u.  s.  f.  in  infinitum  ^).  Aus  diesem  Yerhältniss  von  Verstand  und 
Sinnlichkeit  ergeben  sich  für  die  menschliche  Erkenntniss  nothwendige  und 
doch  unlösbare  Aufgaben:  diese  nennt  Kant  Ideen,  und  das  zu  dieser 
höchsten  Synthesis  der  Verstandeseinsichten  erforderliche  Vermögt  bezeichnet 
er  im  engeren  Sinne  als  Vernunft. 

Will  nun  die  Vernunft  eine  so  gestellte  Aufgabe  als  gelöst  vorstellen,  so 
muss  die  gesuchte  Totalität  der  Bedingungen  als  etwas  Unbedingtes  gedacht 
werden,  welches  zwar  die  Bedingungen  für  die  unendliche  Reihe  der  Erscheinungen 
in  sich  enthalte,  selbst  aber  nicht  mehr  bedingt  sei.  Dieser  für  die  Verstandes- 
erkenntniss  in  sich  widerspruchsvolle  Abschluss  einer  u^endlichen  Reihe  muss 
gleichwohl  gedacht  werden,  wenn  die  auf  Totalität  gerichtete  Aufgabe  des  Ver- 
standes an  dem  unendlichen  Material  der  sinnlichen  Daten  als  gelöst  betrachtet 
werden  soll.  Die  Ideen  sind  daher  Vorstellungen  des  Unbedingten,  welche  noth- 
wendig  gedacht  werden  müssen,  ohne  je  Gegenstand  der  Erkenntniss  werden  zu 
können,  und  der  transscendentale  Schein,  dem  die  Metaphysik  verfällt,  besteht 
darin,  sie  für  gegeben  zu  erachten,  während  sie  nur  aufgegeben  sind.  In 
Wahrheit  sind  sie  nicht  constitutive  Principien,  durch  welche  wie  durch  die  Kate- 
gorien Gegenstände  der  Erkenntniss  erzeugt  werden,  sondern  nur  regulative 
Principien,  durchweiche  der  Verstand  genöthigt  wird,  immer  weitere  Zu- 
sammenhänge im  Bereiche  des  Bedingten  der  Erfahrung  aufzusuchen. 

Solcher  Ideen  findet  Kant  drei :  das  Unbedingte  für  die  Totalität  aller 
Erscheinungen  des  inneren  Sinnes,  aller  Data  des  äusseren  Sinnes,  alles  Bedingten 
überhaupt  wird  gedacht  als  Seele,  Welt  und  Gott. 

10.  Die  Kritik  der  rationalen  Psychologie  in  den  „Paralogismen  der  reinen 
Vernunft^  läuft  darauf  hinaus  in  den  üblichen  Beweisen  für  die  Substantialität 
der  Seele  die  quatemio  terminorum  einer  Verwechslung  des  logischen  Subjects 
mit  dem  realen  Substrat  nachzuweisen :  sie  zeigt,  dass  der  wissenschaftliche  Be- 
griff der  Substanz  an  die  Anschauung  des  im  Räume  Beharrlichen  gebunden  und 
deshalb  nur  auf  dem  Gebiete  des  äusseren  Sinnes  anwendbar  sei,  und  sie  führt 
aus,  dass  die  Idee  der  Seele  als  einer  unbedingten  realen  Einheit  alter  Erschei- 
nungen des  inneren  Sinnes  zwar  ebensowenig  beweisbar  wie  widerlegbar,  dabei 
aber  das  heuristische  Princip  für  die  Ihforschung  der  Zusammenh&ige  des  Seelen- 
lebens sei. 

In  ähnlicher  Weise  behandelt  der  Abschnitt  vom  „Ideal  der  Vernunft"  die 
Idee  Gottes'.  Mit  präciserer  Ausführung  seiner  früher  über  denselben  Gegen- 
stand geschriebenen  Abhandlung  zerstört  Kant  die  Beweiskraft  der  für  das  Dasein 
Gottes  vorgebrachten  Argumente.  Er  bestreitet  dem  ontologischen  Beweise 
das  Recht,  aus  dem  Begriffe  allein  auf  die  Existenz  zu  schliessen;  er  zeigt,  dass 
der  kosmologische  Beweis  eine  petitio  principii  involvirt,  wenn  er  die  „erste 
Ursache"  alles  ^Zufälligen"  in  einem  „absolut  noth wendigen"  Wesen  sucht;  er 


1)  Vgl.  die  ähnlichen,  aber  metaphysisch  gewendeten  Gedanken  bei  N'ic.  Cusanos  and 
Spinoza:  oben  S.  274  und  331. 


§  39.  Kategorisoher  Imperativ.  433 

beweist^  dass  das  teleologische  oder  physikotheologische  Argument  im  besten 
Falle  —  die  Schönheit,  Harmonie  und  Zweckmässigkeit  der  Welt  zugegeben  — 
auf  den  antiken  Begriff  eines  weisen  und  guten  „  Weltbaumeisters  ^  führt.  Aber 
er  betont,  dass  die  Leugnung  Gottes  eine  ebenso  unerweislich  das  Gebiet  der 
Erfahrungserkenntniss  überschreitende  Behauptung  ist  wie  das  Gegentheil^ 
und  dass  vielmehr  in  dem  Glauben  an  eine  lebendige,  reale  Einheit  aller  Wirk- 
lichkeit der  einzig  kräftige  Antrieb  zur  empirischen  Erforschung  der  einzelnen 
Zusammenhänge  der  Erscheinungen  besteht. 

Bei  weitem  am  charakteristischsten  jedoch  ist  Kantus  Behandlung  der  Idee 
der  Welt  in  den  „Antinomien  der  reinen  Vernunft".  Sie  prägenden  Grund- 
gedanken der  transscendentalen  Dialektik  am  schärfsten  aus,  indem  sie  zeigen, 
dass,  wenn  man  das  Universum  als  Gegenstand  der  Erkenntniss  behandelt,  man 
darüber  mit  gleichem  Rechte  contradictorisch  einander  gegenüberstehende  Sätze 
behaupten  kann,  sofern  man  einerseits  dem  Bedürfniss  des  Verstandes  nach 
Abschluss  der  Erscheinungsreihen,  andrerseits  dem  der  sinnlichen  Anschauung 
nach  unendlicher  Fortsetzung  derselben  Folge  giebt.  Kant  beweist  daher  in  den 
„Thesen",  dass  die  Welt  in  Baum  und  Zeit  Anfang  und  Ende  haben,  dass  sie 
hinsichtlich  ihrer  Substanz  eine  Grenze  der  Theilbarkeit  aufweisen,  dass  das 
G^chehen  in  ihr  freie,  d.h.  causal  nicht  mehr  bedingte  Anfange  haben  und  dass  zu 
ihr  ein  absolut  noth wendiges  Wesen,  Gott,  gehören  müsse:  und  er  beweist  in  den 
Antithesen  für  alle  vier  Fälle  das  contradictorische  Gegentheil.  Dabei  steigert  sich 
die  Verwirrung  dadurch,  dass  die  Beweise  (mit  einer  Ausnahme)  indirect  sind,  so- 
dass die  These  durch  Widerlegung  der  Antithese,  die  Antithese  durch  Widerlegung 
der  These  begründet,  jede  Behauptung  also  ebenso  bewiesen  wie  widerlegt  wird. 
Die  Auflösung  dieser  Antinomien  geht  aber  nur  für  die  beiden  ersten,  die 
„mathematischen",  darauf  aus,  dass  der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten  seine 
Geltung  verliert,  wo  etwas  zum  Gegenstand  der  Erkenntniss  gemacht  werden  soll, 
was  dies  niemals  werden  kann,  wie  das  Universum.  Bei  der  dritten  und  vierten 
Antinomie,  den  „dynamischen",  welche  die  Freiheit  und  Gott  betreffen,  sucht 
Kant  zu  zeigen  (was  rein  theoretisch  freilich  unmöglich  ist),  dass  es  wohl  denkbar 
wäre,  die  Antithesen  gälten  f&r  die  Erscheinungen,  die  Thesen  dagegen  für  die 
unerkennbare  Welt  der  Dinge-an-sich.  Für  diese  sei  es  wenigstens  kein  Wider- 
spruch, Freiheit  und  Gott  zu  denken,  während  beide  in  der  Erkenntniss  der 
Erscheinungen  allerdings  nicht  anzutreffen  seien. 

%  89.  Der  kategoHsohe  Imperativ. 

H.  Cohen»  Eant^s  Beffründong  der  Ethüc.  Berlin  1877. 

£.  Apnoldt,  Eant's  Idee  vom  höchsten  Gut.   Königsberg  1874. 

B.  PüNJKB,  Die  Religionsphilosophie  Kant's.  Jena  1874. 

Die  synthetische  Function  in  der  theoretischen  Vernunft  ist  die  Verknüpfung 
von  Vorstellungen  unter  einander  zu  Anschauungen,  Urtheilen  und  Ideen:  die 
praktische  Synthesis  ist  die  Beziehung  des  WoUens  auf  einen  vorgestellten 
Inhalt,  womit  dieser  zum  Zweck  wird.  Diese  Beziehungsform  hat  Kant  sorg* 
faltig  aus  den  Stammbegriffen  des  erkennenden  Verstandes  ausgeschlossen :  sie 
ist  dafür  die  Grundkategorie  des  praktischen  Vernunftgebrauchs. 
Sie  giebt  keine  Gegenstände  der  Erkenntniss,  aber  Gegenstände  des  WoUens. 

1,  Für  die  Vemunftkritik  erhebt  sich  daraus  das  Problem,  ob  es  eine 

WindAlband,  Opflrhiehto  dfir  Philonophie.  28 


434  Vi.  Deutsche  Philosophie.   1.  Kaiit*8  Kritik  der  Yemunft. 

praktische  Synthesis  a  priori  giebt,  d.  h.  ob  es  nothwendige  und  all- 
gemeingiltige  Gegenstände  desWoIlens  giebt:  oder  ob  etwas  anzatreffen 
ist^  was  die  Yemonft  ohne  alle  Sücksicht  auf  empirische  Beweggründe 
a  priori  verlangt.  Diesen  aUgemeinen  und  nothwendigen  Gegenstand  der  prakti- 
schen Vernunft  nennen  wir  das  Sitten  gesetz. 

Denn  es  ist  von  vornherein  für  Kant  klar,  dass  die  zwecksetzende  Thätigkeit 
der  rmen  Vernunft;  wenn  es  eine  solche  giebt,  den  empirischen  Triebfedern  des 
Wollens  und  Handelns  gegenüber  als  ein  Gebot,  in  der  Form  des  Imperativs 
auftreten  muss.  Der  auf  die  einzelnen  Gegenstände  und  Veriiältnisse  der  Erfahrung 
gerichtete  Wille  ist  durch  diese  bestimmt  und  von  ihnen  abhängig:  der  reine  Ver- 
nunftwille dagegen  kann  nur  durch  sich  selbst  bestimmt  sein.  Er  ist  daher  noth- 
wendig  auf  etwas  Anderes  gerichtet  ab  die  natürlichen  Triebe,  und  dies 
Andere,  was  das  Sittengesetz  den  Neigungen  gegenüber  verlangt,  heisst  Pflicht. 

Daher  betreffen  die  Prädicate  der  sittlichen  Beurtheilung  nur  diese  Art 
der  Bestimmtheit  des  Willens:  sie  beziehen  sich  auf  die  Gesinnung,  nicht  auf 
die  Handlung  oder  gar  deren  äussere  Folgen.  Nichts  in  der  Welt,  sagt  Kant^), 
kann  ohne  Einschränkung  gut  genannt  werden,  als  allein  der  gute  Wille:  und 
dieser  bleibt  gut,  auch  wenn  seine  Ausführung  durch  äussere  Ursachen  völlig 
gehemmt  worden  ist.  Sittlichkeit  als  Eigenschaft  des  Menschen  ist  pf  licht - 
massige  Gesinnung. 

2.  Um  so  nöthiger  aber  wird  die  Untersuchung,  ob  es  ein  solches  apriorisches 
Pflichtgebot  giebt  und  worin  es  besteht,  ein  Gesetz,  dessen  Befolgung  die  Ver- 
nunft ganz  unabhängig  von  allen  empirischen  Zwecken  verlangt.  Zur  Lösung 
dieser  Frage  geht  Kant  von  den  teleologischen  Verkettungen  des  wirkhchen 
Willenslebens  aus.  Die  Erfahrung  der  natürlichen  Oausalzusammenhänge  bringt 
es  mit  sich,  dass  wir  nach  dem  synthetischen  Verhältniss  von  Zweck  und 
Mittel  das  Eine  um  des  Anderen  willen  zu  wollen  genöthigt  sind.  Aus  der 
praktischen  Ueberlegung  derartiger  Beziehungen  erwachsen  (technische)  Regeln 
der  Geschicklichkeit  und  („praktische^)  Rathschläge  der  Klugheit.  Sie  alle 
besagen:  „wenn  du  das  und  das  ¥rill8t,  so  musst  du  so  und  so  verfahren.''  Sie  sind 
eben  deshalb  hypothetische  Imperative.  Sie  setzen  ein  Wollen  als  bereits 
thatsächlich  vorhanden  voraus  und  verlangen  auf  Grund  desselben  dasjenige 
weitere  Wollen,  welches  zur  Befriedigung  des  ersten  erforderlich  ist. 

Das  Sittengesetz  aber  kann  von  keinem  schon  empirisch  bestehenden  Wollen 
abhängig  sein,  und  das  sittliche  Handeln  darf  nicht  als  Mittel  in  den  Dienst  anderer 
Zwecke  treten.  Die  Anforderung  des  moralischen  Gebots  muss  lediglich  um 
seiner  selb  st  wiUen  aufgestellt  sein  und  erfüllt  werden.  Es  appellirt  nicht  an 
das,  was  der  Mensch  sonst  schon  wünscht,  sondern  es  verlangt  ein  Wollen,  welches 
seinen  Werth  nur  in  sich  selber  hat,  und  ein  wahrhaft  sittliches  Handeln  ist  nur 
dasjenige,  worin  ein  solches  Gebot  ohne  Rücksicht  auf  alle  sonstigen  Folgen  er- 
füllt wird.  Das  Sittengesetz  ist  ein  Gebot  schlechthin,  ein  kategorischer 
Imperativ.  Es  gilt  bedingungslos  und  absolut,  während  die  hypothetisdien 
Imperative  nur  relativ  sind. 

Fragt  man  nun  nach  dem  Inhalt  des  kategorischen  Imperativs,  so  ist  klar, 
dass  er  keine  empirische  Bestinmiung  enthalten  kann :  die  Forderung  des  Sitten- 


1)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  I;  W.  IV,  10  ff. 


§  89.  Kategorischer  Imperativ.  435 

gesetzes  bezieht  sich  nicht  auf  die  „Materie  des  WoUens^.  Darum  eignet  sich 
auch  die  Glückseligkeit  nicht  zum  Princip  der  Moral:  denn  das  Streben  nach 
Glückseligkeit  ist  empirisch  schon  vorhanden,  es  ist  nicht  erst  eine  Forderung  der 
Vernunft.  Die  eudämonistiscbe  Moral  führt  daher  zu  lauter  hypothetischen  Im- 
perativen :  für  sie  sind  die  sittlichen  Gesetze  nur  „ftathschläge  der  Klugheit^, 
wie  man  es  am  besten  anfange,  das  natürliche  Wollen  zu  befriedigen.  Aber  das 
Sittengesetz  verlangt  eben  ein  anderes  Wollen  als  das  natürliche:  es  ist  zu  Höherem 
da,  als  uns  glücklich  zu  machen.  Hätte  die  Natur  unsere  Bestimmung  in  die 
Glückseligkeit  legen  wollen,  so  würde  sie  besser  gethan  haben,  uns  mit  dem  un* 
fehlbaren  Instincte  auszurüsten,  als  mit  der  praktischen  Vernunft  des  Gewissens, 
welches  mit  unseren  Trieben  fortwährend  im  Conflicte  ist  ^).  Die  Glückseligkeits- 
Bsoral  ist  für  Elant  sogar  der  Tjpns  der  falschen  Moral :  denn  in  ihr  gilt  gerade 
überall,  dass  ich  etwas  thun  soU  deshalb,  weil  ich  ein  Anderes  will.  Jede  solche 
Moral  ist  he teronomisch :  sie  macht  die  praktische  Vernunft  von  etwas  ausser 
ihr  Gegebenem  abhängig,  und  dieser  Vorwurf  trifft  auch  alle  Versuche,  das  Princip 
der  Sittlichkeit  in  metaphysischen  Begriffen,  wie  der  Vollkommenheit,  zu  suchen. 
Die  theologische  Moral  vollends  weist  Kant  mit  der  grössten  Energie  von  sich : 
denn  sie  verquickt  alle  Arten  der  Heteronomie,  wenn  sie  die  Sanction  im  göttlichen 
Willen,  das  Ejiterium  in  der  Utilität  und  das  Motiv  in  der  Erwartung  von  Lohn 
und  Strafe  sieht. 

3.  Der  kategorische  Imperativ  muss  der  Ausdruck  der  Autonomie  der 
praktischen  Vernunft,  d.  h.  der  reinen  Selbstbestimmung  des  vernünftigen 
Willens  sein.  Er  betrifft  deshalb  lediglich  die  Form  des  WoUens  und  verlangt, 
dass  diese  ein  allgemeingiltiges  Gesetz  sei.  Der  Wille  ist  heteronom,  wenn 
er  einem  empirisch  gegebenen  Triebe  folgt;  er  ist  autonom  nur,  wo  er  ein  selbst- 
gegebenes Gesetz  ausführt.  Der  kategorische  Imperativ  verlangt  also,  statt  nach 
Triebimpulsen  vielmehr  nach  Maximen  zu  handeln,  und  zwar  nach  solchen, 
welche  sich  zu  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  für  alle  vernünftig  wollenden 
Wesen  eignen.  „Handle  so,  als  ob  die  Maxime  deines  Handelns  durch 
deinen  Willen  zum  allgemeinen  Naturgesetz  werden  sollte.'' 

Diese  rein  formale  Bestimmung  der  Gesetzmässigkeit  gewinnt  nun  eine 
sachliche  Bedeutung  durch  die  Reflexion  auf  die  verschiedenen  Arten  der  Werthe. 
Im  Beich  der  Zwecke  hat  dasjenige  einen  Preis,  was  zu  irgend  welchen  Zwecken 
dienUch  und  deshalb  durch  anderes  ersetzbar  ist,  aber  nur  das  hat  Würde, 
was  absolut  in  sich  selbst  werthvoU  und  die  Bedingimg  ist,  um  deren  willen  anderes 
werthvoll  werden  kann.  Diese  Würde  gebührt  in  erster  Linie  dem  Sittengesetz 
selbst,  und  deshalb  darf  das  Motiv,  welches  den  Menschen  zu  dessen  Befolgung 
veranlasst,  nur  die  Achtung  vor  demGesetze  selbst  sein:  es  wäre 
entwürdigt,  wenn  es  um  irgend  welcher  Vortheile  willen  äusserlich  erfüllt  würde. 
Die  Würde  des  Sittengesetzes  geht  nun  aber  auf  den  Menschen  über,  der  im 
ganzen  Umkreise  der  Erfahrung  allein  bestimmt  und  befähigt  ist,  sich  nach  diesem 
Gesetze  selbst  zu  bestinmien,  sein  Träger  zu  sein  und  sich  mit  ihm  zu  identi- 
ficiren.  Daher  ist  Achtung  vor  der  Wü rde  des  Menschen  für  Kant 
das  inhaltliche  Princip  der  Sittenlehre.  Der  Mensch  soll  seine  Pflicht  thun  nicht 
um  seines  Vortheils  willen,  sondern  aus  Achtung  vor  sich  selbst,  und 


1)  Ibid.  IV,  12f. 

28 


436  VI*  Deutsche  Philosophie.   1.  Kant*8  Kritik  der  Vernunft. 

er  soll  in  dem  Verkehr  mit  dem  Nebenmenschen  es  sich  zur  Richtschnur  machen^ 
diesen  niemals  zu  einem  blossen  Mittel  zur  Erreichung  der  eigenen  Zwecke  zu 
behandeln;  sondeni  in  ihm  stets  die  Würde  der  Personlichkeitzu  ehren. 

Hieraus  hat  Kant  ^)  eine  stolze  und  strenge  Moral  abgeleitet^  welche  in 
der  Darstellung  seines  Alters  die  Züge  des  Rigorismus  und  einer  gewissen  pedan- 
tischen Schroffheit  nicht  verkennen  lässt.  Aber  der  Grundzug  des  Gegensatzes 
zwischen  Pflicht  und  Neigung  liegt  tief  in  seinem  System  begründet. 
Das  Princip  der  Autonomie  erkennt  nur  das  päichtmässige  Wollen  aus  Maximen 
als  sittlich  an:  es  sieht  in  jeder  Motivirung  des  sittlichen  Handelns  durch  natür- 
liche Antriebe  eine  Fälschung  der  reinen  Moralität.  Nur  was  lediglich  aus  Pflicht 
geschieht,  ist  sittUch.  Die  empirischen  Triebfedern  der  menschlichen  Natur  sind 
deshalb  an  sich  ethisch  indifferent;  aber  sie  werden  böse,  sobald  sie  sich  gegen 
die  Forderung  des  Sittengesetzes  auflehnen,  und  das  moralische  Leben  des 
Menschen  besteht  darin,  das  Gebot  der  Pflicht  im  Kampfe  gegen  die  Neigungen 
zu  verwirklichen. 

4.  Die  Selbstbestimmung  des  vernünftigen  Willens  ist  also  die  oberste 
Forderung  und  Bedingung  aller  Sittlichkeit.  Allein  sie  ist  im  Bereiche  der 
durch  Kategorien  gedachten  und  erkannten  Erfahrung  unmöglich:  denn  diese 
kennt  nur  die  Bestimmung  jeder  einzelnen  Erscheinung  durch  andere ;  die  Selbst- 
bestimmung, als  Vermögen  eine  Reihe  des  Bedingten  anzufangen,  ist  nach 
den  Principien  der  Erkenntniss  unmögUch.  Dies  Vermögen  nennen  wir  in  Bezug 
auf  den  Willen  Freiheit,  als  eine  Handlung,  welche  nicht  nach  dem  Schema 
der  Caufialität  durch  andere  bedingt,  sondern  nur  durch  sich  selbst  bestimmt, 
ihrerseits  die  Ursache  einer  endlosen  Reihe  von  natürlichen  Vorgängen  ist. 
Hätte  daher  die  theoretische  Vernunft,  deren  Erkenntniss  auf  Erfahrung  be- 
schränkt ist,  über  die  Realität  der  Freiheit  zu  entscheiden,  so  müsste  sie  dieselbe 
leugnen,  damit  aber  auch  die  Möglichkeit  des  sittlichen  Lebens  verwerfen.  Nun 
hat  aber  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  gezeigt,  dass  die  theoretische  Vernunft 
über  die  Dinge-an-sich  gar  nichts  aussagen  kann,  und  dass  demgemäss  es  kein 
Widerspruch  ist,  die  Möglichkeit  der  Freiheit  für  das  Uebersinnhche  zu  denken. 
Zeigt  sich  aber,  dass  Freiheit  nothwendig  real  sein  muss,  wenn  Sittlichkeit 
möglich  sein  soll,  so  ist  eben  damit  die  Realität  der  Dinge-an-sich  und  des 
üebersinnlichen  gewährleistet,  welche  für  die  theoretische  Vernunft  immer 
nur  problematisch  bleiben  konnte. 

Diese  Gewährleistung  ist  freilich  nicht  diejenige  eines  Beweises,  sondern 
diejenige  des  Postulats.  Sie  beruht  auf  dem  Bewusstsein:  du  kannst,  denn 
du  sollst.  So  wahr  du  das  Sittengesetz  in  dir  fühlst,  so  wahr  du  an  die  Mög- 
lichkeit, ihm  zu  folgen,  glaubst,  so  wahr  musst  du  auch  an  die  Bedingungen  dafür, 
an  Autonomie  und  Freiheit,  glauben.  Die  Freiheit  ist  kein  Gegenstand  des 
Wissens,  sondern  ein  Gegenstand  des  Glaubens,  —  aber  eines  Glaubens,  der 
auf  dem  Gebiete  des  Üebersinnlichen  ebenso  allgemein  und  nothwendig  gilt, 
wie  im  Bereiche  der  Erfahrung  die  Grundsätze  des  Verstandes,  —  eines  aprio- 
rischen Glaubens. 

So  wird  die  praktische  Vernunft  vollkommen  unabhängig  von  der  theore- 
tischen.   In  der  früheren  Philosophie  herrschte  „der  Primat''  der  theoretischen 


1)  Metaphysische  Anfanj^sgründe  der  Tugendlehre,  W.  V,  221  ff. 


§  39.   Kategorischer  Imperativ.  (Freiheit.)  437 

über  die  praktische  Yernunft:  es  sollte  durch  das  Wissen  ausgemacht  werden^ 
ob  und  wie  es  Freiheit  giebt,  und  danach  über  die  Realität  der  Sittlichkeit  ent- 
schieden werden.  Nach  Kant  ist  die  Realität  der  SittUchkeit  die  Thatsache  der 
praktischen  Vernunft^  und  darum  muss  an  die  Freiheit  als  an  die  Bedingung 
ihrer  Möglichkeit  geglaubt  werden.  Aus  diesem  Yerhaltniss  ergiebt  sich  aber 
nun  für  Kant  der  Primat  der  praktischen  über  die  theoretische  Ver- 
nunft:  denn  die  erste  ist  nicht  nur  fähig,  zu  gewährleisten,  worauf  die  letztere 
verzichten  muss,  sondern  es  zeigt  sich  auch,  dass  die  theoretische  Yernunft  in 
jenen  Ideen  des  Unbedingten,  womit  sie  über  sich  selbst  hinausweist  (§  38,  9), 
durch  die  Bedürfiiisse  der  praktischen  bestimmt  ist. 

Damit  erscheint  bei  Kant  in  neuer,  völlig  origineller  Form  die  plato- 
nische Lehre  von  den  zwei  Welten  des  Sinnlichen  und  des  Uebersinnlidien, 
der  Erscheinungen  und  der  Dinge-an-sich.  Auf  jene  fuhrt  das  Wissen,  auf  diese 
das  Glauben;  jene  ist  das  Reich  der  Nothwendigkeit,  diese  das  Reich  der  Frei- 
heit. Das  gegensätzliche  und  doch  auf  einander  bezogene  Yerhaltniss  beider 
Welten  zeigt  sich  zumeist  am  Wesen  des  Menschen,  welches  allein  gleichmässig 
beiden  angehört.  Sofern  der  Mensch  ein  GUed  der  Naturordnung  ist,  erscheint 
er  als  empirischer  Charakter,  d.  h.  seinen  bleibenden  Eigenschaften  ebenso 
wie  seinen  einzelnen  Willensentscheidungen  nach  als  ein  nothwendiges  Product 
in  dem  causalen  Zusammenhange  der  Erscheinungen :  allein  als  Glied  der  über- 
sinnlichen Welt  ist  er  intelligibler  Charakter,  d.  h.  ein  durch  freie  Selbst- 
bestimmung in  sich  entschiedenes  Wesen.  Der  empirische  Charakter  ist  nur  die 
für  das  theoretische  Bewusstsein  an  die  Regel  der  Causalität  gebundene  Er- 
scheinung des  intelligiblen  Charakters,  dessen  Freiheit  allein  die  Verantwortlich- 
keit, wie  sie  im  Gewissen  hervortritt,  zu  erklären  vermag. 

5.  Freiheit  ist  aber  nicht  das  einzige  Postulat  des  apriorischen  Glaubens. 
Die  Beziehungen  zwischen  der  sinnlichen  und  der  sittlichen  Welt  erfordern  noch 
einen  allgemeineren  Zusammenhang,  den  Kant  im  Begriffe  des  höchsten  Gutes 
findet ').  Das  Ziel  des  sinnlichen  Willens  ist  die  Glückseligkeit,  das  Ziel  des 
sittlichen  Willens  ist  die  Tugend:  diese  beiden  können  nicht  zu  einander  in  das 
Yerhaltniss  des  Mittels  zum  Zweck  treten.  Das  Streben  nach  GlückseUgkeit 
macht  nicht  tugendhaft,  und  die  Tugend  darf  weder  glückselig  machen  wollen 
noch  thut  sie  es.  Zwischen  beiden  besteht  empirisch  kein  causaler  und  darf 
ethisch  kein  teleologischer  Zusammenhang  eintreten.  Allein  da  der  Mensch 
ebenso  der  sinnlichen  wie  der  sittlichen  Welt  angehört,  so  muss  das  „höchste 
Gut"  für  ihn  in  der  Yereinigung  von  Tugend  und  Glückseligkeit 
bestehen.  Diese  letzte  Synthesis  der  praktischen  Begriffe  kann  aber  moralisch 
nur  so  gedacht  werden,  dass  Tugend  allein  der  Glückseligkeit  würdig  sei. 

Der  damit  ausgesprochenen  Forderung  des  moralischen  Bewusstseins  wird 
jedoch  durch  die  causale  Nothwendigkeit  der  Erfahrung  nicht  Genüge  gethan. 
Das  Naturgesetz  ist  ethisch  indifferent  und  leistet  keine  Gewähr  dafür,  dass 
Tugend  nothwendig  zur  Glückseligkeit  führe:  umgekehrt  lehrt  vielmehr  die  Er- 
fahrung, dass  Tugend  den  Yerzicht  auf  empirisches  Glück  verlangt  und  dass 
Untugend  mit  zeitlicher  Glückseligkeit  vereinbar  ist.  Fordert  deshalb  das 
ethische  Bewusstsein  die  Realität  des  höchsten  Gutes,  so  muss  der  Glaube 


1)  Kr.  d.  prakt.  Vem.,  Dialektik,  W-  IX,  225 ff. 


438  ^*  Deutsche  Philosophie.  1.  Kant*8  Kritik  der  Vernunft. 

über  das  empirische  Menschenleben  und  über  die  Naturordnung  in  das  Ueber- 
sinnliche  hinübergreifen.  Er  postulirt  eine  über  die  zeitliche  Existenz  hinaus- 
reichende  Realität  der  Persönlichkeit,  —  das  unsterbliche  Leben  —  und 
eine  sittliche  Weltordnung,  welche  in  einer  höchsten  Vernunft  begründet 
ist,  in  Gott. 

Kant's  moralischer  Beweis  für  Freiheit,  Unsterblichkeit  und  Gottheit 
ist  also  kein  Beweis  des  Wissens,  sondern  der  des  Glaubens :  die  Postulate  sind 
die  Bedingungen  des  sittlichen  Lebens  und  ihre  Realität  muss  ebenso  geglaubt 
werden  wie  dieses.  Aber  sie  bleiben  damit  theoretisch  so  wenig  erkennbar, 
wie  zuvor. 

6.  Der  Dualismus  von  Natur  und  Sittlichkeit  kommt  bei  Kant  am 
schro£fsten  in  der  Religionsphilosophie  zu  Tage,  deren  Principien  er  seiner 
Erkenntnisstheorie  gemäss  nur  in  der  praktischen  Vernunft  suchen  konnte:  All- 
gemeinheit und  Nothwendigkeit  im  Verhältniss  zum  Uebersinnlichen  gewährt 
nur  das  sittliche  Bewusstsein.  A  priori  kann  in  der  Religion  nur  sein,  was  auf 
Moral  gegründet  ist.  Kant's  Vemunftreligion  ist  also  keine  Naturreligion,  son- 
dern „Moraltheologie ^.  Die  Religion  beruht  auf  der  Vorstellung  der  sitt- 
lichen Gesetze  als  göttlicher  Gebote. 

Diese  religiöse  Lebensform  der  Moralität  entwickelt  Kant  wiederum  aoB 
der  Doppelnatur  des  Menschen.  Es  bestehen  in  ihm  zwei  Triebsysteme;  das 
sinnliche  und  das  sittliche:  beide  können  wegen  der  Einheit  der  wollenden 
Persönlichkeit  nicht  ohne  Beziehung  zu  einander  sein.  Ihr  Verhältniss  sollte 
nun  nach  sittlicher  Anforderung  die  Unterordnung  der  sinnlichen  unter  die  sitt- 
lichen Triebfedern  sein:  thatsächlich  aber  findet  sich  nach  Kant  beim  Menschen 
von  Natur  das  umgekehrte  Verhältniss'),  und  da  die  sinnlichen  Triebe  böse  sind, 
sobald  sie  sich  gegen  die  sittlichen  auch  nur  auflehnen,  so  ist  im  Menschen  ein 
natürlicher  Hang  zum  Bösen.  Dies  „Radical-Böse"  ist  nicht  nothwendig; 
denn  sonst  gäbe  es  dafür  keine  Verantwortung.  Es  ist  unerklärlich,  aber  es  ist 
Thatsache,  es  ist  eine  That  der  inteUigiblen  Freiheit.  Die  Aufgabe,  die  daraus 
für  den  Menschen  folgt,  ist  die  Umkehrung  der  Triebfedern,  welche  durch 
den  Kampf  des  guten  und  bösen  Princips  in  ihm  herbeigeführt  werden  soll. 
Allein  in  jenem  verkehrten  Zustande  wirkt  die  eherne  Majestät  des  Sittengesetzes 
auf  den  Menschen  nur  mit  niederschmetterndem  Schrecken,  und  er  bedarf  daher 
zur  Unterstützung  seiner  moraUschen  Triebfedern  des  Glaubens  an  eine 
göttliche  Macht,  welche  ihm  das  Sittengesetz  als  ihr  Gebot  auferlegt,  aber 
auch  zur  Befolgung  desselben  die  Hilfe  der  erlösenden  Liebe  gewährt. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  deutet  Kant  die  wesentlichen  Stücke  der 
christUchen  Glaubenslehre  zu  einer  „reinen  Moralreligion^  um:  das  Ideal  der 
moraUschen  Vollkommenheit  des  Menschen  im  Logos,  die  Erlösung  durch  stell- 
vertretende Liebe,  das  Geheimniss  der  Wiedergeburt.  Er  setzt  damit,  obwohl 
frei  von  dem  historischen  Glauben  der  Orthodoxie,  die  wahrhaft  religiösen 
Motive,  die  im  Erlösungsbedürfniss  wurzeln,  wieder  in  die  Rechte  ein,  welche 
ihnen  durch  den  Rationalismus  der  Aufklärung  verkümmert  worden  waren. 

1)  Die  pessimistische  Auffassuiig  vom  natürlichen  Wesen  des  Mensohen  hat  ihre  Anlasse 
bei  Kant  zweifellos  in  seiner  religiösen  Erziehung:  doch  verwahrt  er  sich  ausdrücklich  gegen 
die  Identification  seiner  Lehre  vom  Radical-Bösen  mit  dem  theologischen  Begriff  der  Erb- 
sünde :  vgl.  Rel.  innerh.  d.  Grenze  d.  k.  V.  I,  4  W.  VI,  201  flf. 


§  89.  Kategorisoher  Imperativ.  (Rechtsphilosophie.)  439 

Aber  freilich  ist  auch  ihm  die  wahre  Kirche  nur  die  unsichtbare,  das  moralische 
Gottesreich,  die  sittliche  Gemeinschaft  der  Erlösten.  Die  historischen  Erschei- 
nungen der  moralischen  Gemeinschaft  der  Menschen  sind  die  Kirchen:  sie  be- 
dürfen des  Mittels  der  Offenbarung  und  des  „statutarischen"  Glaubens.  Aber  sie 
haben  die  Aufgabe,  diese  Mittel  in  den  Dienst  des  sittlichen  Lebens  zu  stellen, 
und  wenn  sie  statt  dessen  das  Hauptgewicht  auf  das  Statutarische  legen,  so  ver- 
fallen sie  der  Lohndienerei  und  der  Heuchelei. 

7.  Mit  der  Beschränkung  der  ethischen  Beurtheilung  auf  die  Gesinnung 
hängt  es  zusammen,  dass  Kant  in  der  Rechtsphilosophie  diejenige  Bichtung 
verfolgte,  welche  dieselbe  mögUchst  unabhängig  von  der  Moral  behandelte.  Kant 
unterschied  (schon  hinsichtlich  der  ethischen  Würdigung)  zwischen  der  Morali- 
tät  der  Gesinnung  und  der  Legalität  der  Handlung,  dem  freiwilligen  Ge- 
horsam gegen  das  Sittengesetz  und  der  äusserUchen  Conformität  der  Handlung 
mit  dem  vom  Gesetz  Verlangten.  Handlungen  sind  erzwingbar,  Gesinnungen  nie. 
Während  die  Moral  von  den  Pflichten  der  Gesinnung  redet,  beschäftigt  sich  das 
Recht  mit  den  erzwingbaren  äusseren  Pflichten  der  EEandlung  und  fragt  nicht 
nach  den  Gesinnungen,  aus  denen  sie  erfüllt  oder  verletzt  werden. 

und  doch  macht  Kant  den  Centralbegriff  seiner  gesammten  praktischen 
Philosophie,  die  Freiheit,  auch  zur  Grundlage  der  Rechtslehre.  Denn  auch 
das  Recht  ist  eine  Forderung  der  praktischen  Vernunft  und  hat  in  dieser  «ein 
a  priori  geltendes  Princip:  es  kann  daher  nicht  als  ein  Product  empirischer  Inter- 
essen abgeleitet  werden,  sondern  muss  aus  der  allgemeinen  vernünftigen  Be- 
stimmung des  Menschen  begriffen  werden.  Diese  ist  die  Bestimmung  zur  Freiheit. 
Die  Gemeinschaft  der  Menschen  besteht  aus  solchen  Wesen,  welche  zur  sittlichen 
Freiheit  bestimmt,  aber  noch  in  dem  natürlichen  Zustande  der  Willkür  begriffen 
sind,  wobei  sie  sich  gegenseitig  in  den  Sphären  ihrer  Wirksamkeit  stören  und 
hemjnen:  das  Recht  hat  die  Aufgabe,  die  Bedingimgen  festzustellen,  unter  denen 
die  Willkür  des  Einen  mit  der  Willkür  des  Anderen  nach  einem  allgemeinen 
Gesetze  der  Freiheit  vereinigt  werden  kann,  und  durch  Erzwingung  dieser 
Bedingungen  die  Freiheit  der  Persönlichkeit  sicher  zu  stellen. 

Aus  diesem  Princip  folgt  analytisch  nach  Kant's  Construction  das  ge- 
sammte  Privatrecht,  Staatsrecht  und  Völkerrecht.  Dabei  ist  es  jedoch  interessant 
zu  beobachten,  wie  überall  die  Principien  der  Sittenlehre  in  dieser  Construction 
massgebend  werden.  So  ist  es  im  Privatrecht  ein  weittragender  Grundsatz,  dass 
—  entsprechend  dem  kategorischen  Imperativ  —  der  Mensch  niemals  als  Sache 
gebraucht  werden  darf.  So  wird  das  Strafrecht  der  Staatsgewalt  nicht  durch  die 
Aufgabe  der  Aufrechterhaltung  des  Rechtszustandes,  sondern  durch  die  sittliche 
Noth wendigkeit  der  Vergeltung  begründet. 

Die  Geltung  des  Rechts  ist  im  Naturzustande  nur  provisorisch,  sie  ist  voll- 
ständig oder,  wie  Kant  sagt,  peremtorisch  erst,  wo  sie  sicher  erzwingbar  ist,  im 
Staat.  Die  Richtschnur  für  die  Gerechtigkeit  im  Staatswesen  findet  Kant  darin, 
dass  nichts  beschlossen  und  ausgeführt  wird,  was  nicht  hätte  beschlossen  werden 
können,  wenn  der  Staat  durch  einen  Vertrag  zu  Stande  gekommen  wäre.  Die 
Vertragstheorie  ist  hier  nicht  eine  Erklärung  für  das  empirische  Zustande- 
kommen, sondern  eine  Norm  für  die  Aufgabe  des  Staats.  Diese  Norm  ist  bei 
jeder  Art  der  Verfassung  erfüllbar,  wenn  nur  wirklich  nicht  die  Willkür,  sondern 
das   Gesetz  herrscht:    am  sichersten  ist  ihre  Verwirklichung,  wenn  die  drei 


440  ^^'  Deutsche  Philosophie.   1.  Kant's  Kritik  der  Yeruuuft. 

öffentlichen  Gewalten  der  Gesetzgebung,  Ausführung  und  Recht-sprechung  un- 
abhängig von  einander  sind  und  wenn  die  gesetzgebende  Gewalt  in  der  „republi- 
kanischen^ Form  des  repräsentativen  Systems  organisirt  ist;  was  eine  monarchische 
Executive  nicht  ausschliesst.  Erst  damit;  meint  Kant,  wird  die  Freiheit  des  Ein- 
zelnen so  weit  gesichert  seiu;  wie  sie  ohne  Beeinträchtigung  der  Freiheit  der 
Uebrigen  bestehen  kanu;  und  erst  wenn  alle  Staaten  diese  Verfassung  angenommen 
haben,  kann  der  Naturzustand;  in  dem  sie  sich  jetzt  noch  mit  einander  befinden^ 
einem  Bechtszustande  Platz  machen.  Dann  wird  auch  das  Völkerrecht;  das 
jetzt  nur  provisorisch  ist,  „peremtorisch«  werden. 

8.  Auf  religionsphilosophischen  und  rechtsphilosophischen  Grundlagen  baut 
sich  endlich  £[ant's  Ansicht  von  der  Geschichte  auf  ^) :  sie  hat  sich  an  Rousseau 
und  Herder  in  derjenigen  Abhängigkeit  entwickelt,  welche  aus  dem  Gegensatz 
folgt.  Kant  vermag  in  der  Geschichte  weder  den  Abweg  von  einem  ursprünglich 
guten  Zustande  des  Menschengeschlechts  zu  sehen  noch  die  natumothwendig 
selbstverständliche  Entwicklung  seiner  ursprünglichen  Anlage.  Hat  es  je  einen 
paradiesischen  Urzustand  der  Menschheit  gegeben,  so  war  es  der  Stand  der 
Unschuld,  in  welchem  sie  sich;  ganz  ihren  natürlichen  Trieben  lebend,  der  sitt- 
lichen Aufgabe  überhaupt  noch  nicht  bevmsst  war.  Der  Beginn  der  Cultur- 
arbeit  aber  war  nur  durch  einen  Bruch  mit  dem  Naturzustande  möglich;  indem 
das  -Sittengesetz  an  seiner  Uebeitretung  zum  Bewusstsein  kam.  Dieser  (theo- 
retisch unbegreifliche)  Sündenfall  ist  der  Anfang  der  Geschichte.  Der  früher 
ethisch  indifferente  Naturtrieb  ist  nun  böse  geworden  und  soll  bekämpft  werden. 

Seitdem  besteht  der  Fortschritt  der  Geschichte  nicht  in  einem 
Wachsen  der  menschlichen  Glückseligkeit;  sondern  in  der  Annäherung 
an  die  sittliche  Vollkommenheit  und  in  der  Ausbreitung  der  Herrschaft  sitt- 
licher Freiheit.  Mit  tiefem  Ernst  nimmt  Kant  den  Gedanken  auf,  dass  die 
Entwicklung  der  Civihsation  nur  auf  Kosten  der  individuellen  Glückseligkeit  er- 
folgt. Wer  diese  zum  Massstab  nimmt,  darf  nur  von  einem  Rückschritt  in  der 
Geschichte  reden.  Je  verwickelter  die  Verhältnisse  werden,  je  mehr  die  Lebens- 
cnergie  der  Cultur  wächst,  um  so  mehr  steigen  die  individuellen  Bedürfhisse,  und 
um  so  geringer  wird  die  Aussicht;  sie  zu  befriedigen.  Aber  gerade  dies  wider- 
legt die  Meinung  der  Aufklärer;  als  sei  Glückseligkeit  die  Bestimmung  des 
Menschen.  Im  umgekehrten  Verhältniss  mit  der  empirischen  Befriedigung  des 
Einzelnen  wächst  die  sittliche  Gestaltung  des  Ganzen,  die  Herrschaft  der  prak- 
tischen Vernunft.  Und  da  die  Geschichte  das  äussere  Zusammenleben  der  Mensch- 
heit darstellt,  so  ist  ihr  Ziel  die  Vollendung  des  RechtS;  die  Herstellung  der 
besten  Staatsverfassung  bei  allen  Völkern;  der  ewige  Friede,  —  ein  Ziel,  dessen 
Erreichung  wie  bei  allen  Idealen  im  UnendUchen  liegt. 

§.  40.  Die  natfirüche  Zweckmässigkeit. 

A.  Stadler,  Eant's  Teleologie.  Berlin  1874. 

H.  Cohen,  Kant's  Begründung  der  Aesthetik.   Berlin  1889. 

Durch  die  scharfe  Ausprägung  der  Gegensätze  von  Natur  und  Freiheit, 
Nothwendigkeit  und  Zweckmässigkeit  treten  bei  Kant  die  theoretische  und  die 

1)  Vgl.  ausser  dem  S.  417 — 422  Angeführten  die  Abhandlungen:  „Idee  zu  einer 
allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht"  (1784) ;  Recension  von  Herder^s  Ideen 
(1785)5  Muthmasslicher  Anfang  der  Weltgeschichte  (1786);  das  Ende  aller  Dinge  (1794). 


§  40.  Natürliche  Zweckmässigkeit.   (Gefahl  und  Urtheilskraft.)  44 1 

praktische  VemuDft  so  weit  aus  einander,  dass  die  Einheit  der  Vernunft  ge- 
fährdet erscheint.  Die  kritische  Philosophie  bedarf  daher  in  einer  fiir  die  metho- 
dische Entwicklung  ihres  Systems  vorbildlichen  Weise  ^)  eines  abschliessend 
vermittendeln  dritten  Princips,  worin  die  Synthesis  jener  Gegensätze 
vollzogen  wh-d. 

1.  Der  psychologischen  Bestimmung  nach  kann  die  Sphäre,  in  der  diese 
Aufgabe  zu  lösen  ist,  nach  der  von  Kant  (vgl.  §  36,  8)  adoptirten  Dreitheilung 
nur  das  Gefühls-  oder  ;,Billigungsvermögen'^  sein.  Dies  nimmt  in  der  That 
eine  Zwischenstellung  zwischen  Vorstellen  und  Begeliren  ein.  Auch  das  Gefühl 
oder  die  BiUigung  setzt  eine  im  theoretischen  Sinne  fertige  Vorstellung  des 
Gegenstandes  voraus  und  verhalt  sich  zu  denselben  synthetisch:  und  diese 
Synthesis  drückt  als  GefQhl  der  Lust  oder  Unlust,  bzw.  ab  BilUgung  oder  Miss- 
büligung  immer  irgendwie  aus,  dass  jener  Gegenstand  von  dem  Subject  als  zweck- 
mässig oder  zweckwidrig  empfunden  wird.  Dabei  kann  der  Massstab  dieser 
Werthung  als  bewusste  Absicht,  also  in  der  Form  des  Wollens  vorher  bestanden 
haben,  und  in  solchen  Fällen  werden  die  Gegenstände  als  nützlich  oder  schäd- 
Uch  bezeichnet:  es  giebt  aber  auch  Gefühle,  welche,  ohne  auf  irgend  welche  Ab- 
sichten bezogen  zu  sein,  ihre  Objecto  unmittelbar  als  angenehm  oder  unangenehm 
charakterisiren,  und  auch  in  diesen  muss  dann  doch  irgendwie  eine  Zweckbestim- 
mung massgebend  sein. 

Die  Vemunftkritik  hat  somit  zu  fragen:  giebt  es  Gefühle  a  priori  oder 
Billigungen  von  allgemeiner  und  nothwendiger  Geltung?  Und  es  ist 
klar,  dass  die  Entscheidung  dabei  von  der  Geltung  der  Zwecke  abhängig  sein 
wird,  welche  die  betreffenden  Gefühle  und  Billigungen  bestimmen.  Hinsichtlich 
der  Absichten  des  Willens  ist  nun  diese  Frage  bereits  durch  die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  entschieden:  der  einzige  Zweck  des  bewussten  Willens, 
welcher  a  priori  gelten  darf,  ist  die  Erfüllung  des  kategorischen  Imperativs,  und 
nach  dieser  Seite  hin  dürfen  also  nur  die  Gefühle  des  Beifalls  oder  Missfallens, 
mit  denen  wir  die  ethischen  Prädicate  7,gut^  und  „böse"  anwenden,  für  noth- 
wendig  und  allgemeingiltig  erachtet  werden.  Deshalb  beschränkt  sich  das  neue 
Problem  auf  die  Apriorität  solcher  Gefühle,  denen  keine  Zweckabsicht  vorhergeht. 
Dies  aber  sind,  wie  sich  von  vornherein  übersehen  lässt,  die  Gefühle  des  Schönen 
und  des  Erhabenen. 

2*  Nach  einer  anderen  Seite  aber  erweitert  sich  das  Problem,  wenn  man 
die  logischen  Functionen  in  Betracht  zieht,  um  welche  es  sich  bei  allen  Ge- 
ftihlen  und  Billigungen  handelt.  Die  Urtheile,  in  denen  dieselben  ausgesprochen 
werden,  sind  offenbar  alle  synthetisch.  Prädicate  wie  angenehm,  nützUch,  schön 
und  gut  sind  nicht  analytisch  im  Subject  enthalten,  sondern  drücken  den  Werth 
des  Gegenstandes  hinsichtUch  eines  Zwecks  aus:  sie  sind  Beurtheilungen  der 
Zweckmässigkeit  und  enthalten  in  allen  Fällen  die  Unterordnung  des  Gegen- 
standes unter  den  Zweck.  Nun  bezeichnet  Kant  in  dem  psychologischen 
Schema,  welches  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  zu  Grunde  hegt,  das  Ver- 
mögen der  Subsumtion  des  Besonderen  unter  das  Allgemeine,  mit  dem  Namen 
der  Urtheilskraft,  und  diese  sollte  auch  unter  den  theoretischen  Functionen 
die  vermittelnde  Bolle  zwischen  Vernunft  und  Verstand  derart  spielen,  dass 


1)  Vgl.  die  Anmerkmig  am  Schluss  der  Einleitung  in  die  Kr.  d.  Urth.  W.  VII,  38  f. 


•442  ^X  Deutsche  Philosophie.   1.  Kantus  Kritik  der  Vernunft. 

jene  die  Principien,  letzterer  die  Gegenstände  liefert;  die  ürtheilskraft  aber  die 
Anwendung  der  Principien  auf  die  Gegenstände  vollzieht. 

Im  theoretischen  Gebrauch  ist  nun  aber  die  Ürtheilskraft  analytisch,  indem 
sie  nach  formal  logischen  Regeln  die  Gegenstände  durch  allgemeine  Begriffe 
bestimmt:  es  kommt  nur  darauf  an,  dass  zum  Obersatz  der  passende  Untersatz 
oder  zum  Untersatz  der  passende  Obersatz  gefunden  wird,  damit  die  richtige 
Conclusion  erfolgt.  Dieser  bestimmenden  Ürtheilskraft,  welche  somit  keiner 
„Eiitik^  bedarf;  setzt  nun  Kant  die  reflectirende  gegenüber;  bei  der  die 
Synthesis  eben  in  der  Unterordnung  unter  einen  Zweck  besteht.  Und  danach 
formulirt  sich  das  Problem  der  Kritik  der  Ürtheilskraft  dahin:  ist  es  a  priori 
möglich;  die  Natur  als  zweckmässig  zu  beurtheilen?  Offenbar 
ist  dies  die  höchste  Synthesis  der  kritischen  Philosophie:  die  Anwendung 
der  Kategorie  der  praktischen  Vernunft  auf  den  Gegenstand 
der  theoretischen.  Es  ist  von  vornherein  klar,  dass  diese  Anwendung 
selbst  weder  theoretisch  noch  praktisch;  weder  ein  Erkennen  noch  ein 
Wollen  sein  kann:  sie  ist  nur  eine  Betrachtung  der  Natur  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Zweckmässigkeit. 

Wenn  die  reflectirende  Ürtheilskraft  dieser  Betrachtung  die  Richtung  giebt; 
die  Natur  hinsichtUch  ihrer  Zweckmässigkeit  ftir  das  betrachtende  Subject  als 
solches  zu  beurtheilen,  so  verfahrt  sie  ästhetisch;  d.h.  rücksichtlich  unserer 
Empfindungsweise  ^) :  wenn  sie  dagegen  die  Natur  so  betrachtet;  als  ob  dieselbe 
in  sich  selber  zweckmässig  sei,  so  verfährt  sie  im  engeren  Sinne  teleologisch, 
und  so  theilt  sich  die  Kritik  der  Ürtheilskraft  in  die  Untersuchung  der  ästheti- 
schen und  der  teleologischen  Probleme. 

3.  In  dem  ersten  Theil  ist  Kant  zunächst  bemüht,  das  ästhetische 
Urtheil  genau  von  den  nach  beiden  Seiten  angrenzenden  Arten  der  Gefühls- 
oder Billigungsurtheile  zu  scheiden  und  geht  dazu  vom  Gefühl  des  Schönen  aus. 
Mit  dem  Guten  theilt  das  Schöne  die  Apriorität ;  aber  das  Gute  ist  das,  was 
mit  der  im  Sittengesetz  vorgestellten  Zwecknorm  übereinstimmt;  das  Schöne 
dagegen  gefällt  ohneBegriff.  Deshalb  ist  es  auch  unmögUch;  ein  allgemeines 
inhaltliches  Kriterium  aufzustellen;  nach  welchem  die  Schönheit  mit  logischer 
Evidenz  beurtheilt  werden  sollte:  eine  ästhetische  Doctrin  ist  unmöghch;  es 
giebt  nur  eine  „Kritik  des  Geschmacks^,  d.h.  eine  Untersuchung  über 
die  MögUchkeit  der  apriorischen  Geltung  ästhetischer  Urtheile. 

Auf  der  anderen  Seite  theilt  das  Schöne  mit  dem  Angenehmen  die  Begriffs- 
losigkeit;  die  Abwesenheit  eines  bewussten  Massstabes  der  Beurtheilung;  also  die 
Unmittelbarkeit  des  Eindrucks.  Aber  der  Unterschied  hegt  hier  darin;  dass  das 
Angenehme  etwas  individuell  und  zufällig  Wohlgefalhges  ist;  während  das  Schöne 
den  Gegenstand  eines  allgemeinen  und  nothwendigen  Gefallens  bildet  ^).  Der 
Satz,  dass  sich  über  den  Geschmack  nicht  disputiren  lasse,  gilt  nur  in  dem  Sinne, 
dass  in  Sachen  des  Geschmacks  durch  begriffliche  Beweise  in  der  That  nichts 
auszurichten  ist :  was  aber  nicht  ausschliesst;  dass  darin  eine  Appellation  an  all- 
gemeingiltige  Gefühle  möglich  wäre. 


1)  So  rechtfertig  Kant  VIT,  28  ff.  seine  Aenderung  der  Terminologie,  vgl.  11,  60  f.  und 
oben  S.  381.  —  2)  Vgl.  F.  Blencke,  Kant's  Unterscheidung  des  Schönen  vom  Angenehmen 
(Strassburg  1889),  wo  die  Analogie  zu  Wahmehmungs-  und  Erfahrungsartheil  betont  ist. 


§  40.  Natürliche  Zweokmäsngkeit.   (Schönheit  und  Erhabenheit.)  443 

Von  beiden  endlich;  vom  Guten  und  vom  Angenehmen^  unterscheidet  sich 
das  Schöne  dadurch,  dass  es  der  Gegenstand  eines  völlig  uninteressirten 
Wohlgefallens  ist.  Dies  tritt  darin  zu  Tage,  dass  für  das  ästhetische  ürtheil 
die  empirische  Realität  seines  Gegenstandes  völlig  gleichgiltig  ist.  Die 
hedonischen  Gefühle  setzen  sämmtlich  die  materielle  Gegenwart  der  sie  erregen- 
den Erscheinimgen  voraus;  die  ethische  Billigung  oder  Missbilligung  betrifft 
gerade  die  Verwirklichung  des  moralischen  Zwecks  im  Wollen  und  Handeln : 
die  ästhetischen  Gefühle  dagegen  bedingen  ein  reines  Wohlgefallen  an 
dem  blossen  Yorstellungsbilde  des  Gegenstandes,  gleichviel  ob  der- 
selbe fär  die  Erkenntniss  objectiv  vorhanden  ist  oder  nicht.  Dem  ästhetischen 
Leben  fehlt  ebenso  die  GefLÄlsgewalt  des  persönUchen  Wohl  und  Wehe  wie  der 
Ernst  allgemeinwerthiger  Arbeit  für  sittliche  Zwecke,  es  ist  das  blosse  Spiel 
der  Vorstellungen  in  der  Einbildungskraft. 

Ein  derartiges  Wohlgefallen,  welches  sich  nicht  auf  den  Gegenstand, 
sondern  nur  auf  das  Bild  des  Gegenstandes  bezieht,  kann  nicht  die  objective 
Materie  desselben  —  denn  diese  steht  immer  in  Beziehungen  zum  Interesse  des 
Subjects  — ,  sondern  nurdieVorstellungsform  des  Gegenstandes  betreffen : 
und  in  dieser  wird  daher,  wenn  irgendwo,  der  Grund  der  apriorischen  Synthesis 
zu  suchen  sein,  welche  den  ästhetischen  Ürtheilen  innewohnt.  Die  Zweckmässig- 
keit ästhetischer  Gegenstände  kann  nicht  in  ihrer  Angemessenheit  zu  irgend 
welchen  Interessen,  sondern  nur  in  ihrer  Angemessenheit  zu  den  Erkenntniss- 
formen bestehen,  mit  denen  wir  sie  vorstellen.  Die  Kräfte  aber,  welche  bei  der 
Vorstellung  eines  jeden  Gegenstandes  mit  einander  thätig  sind,  bilden  Sinnlich- 
keit und  Verstand.  Das  Gefühl  der  Schönheit  entsteht  also  bei  solchen 
Gegenständen,  für  deren  Auffassung  in  der  Einbildungskraft  Sinnlichkeit  und 
Verstand  in  harmonischer  Weise  zusammenwirken.  Solche  Gegenstände  sind 
in  Ansehung  der  Wirkung  auf  unsere  Voratellungsthätigkeit  zweckmässig :  und 
darauf  bezieht  sich  das  interesselose  Wohlgefallen,  welches  in  dem  Gefühl  ihrer 
Schönheit  zu  Tage  tritt. 

Diese  Beziehung  aber  auf  die  formalen  Principien  des  gegenständhchen 
Vorstellens  hat  ihren  Grund  nicht  in  bloss  individuellen  Thätigkeiten,  sondern 
in  dem  „Bewusstsein  überhaupt^,  in  dem  „übersinnlichen  Substrat  der  Mensch- 
heit^. Darum  ist  das  Gefühl  einer  darauf  bezüglichen  Zweckmässigkeit  der 
Gegenstände  allgemein  mittheilbar,  wenn  auch  nicht  begrifflich  beweisbar, 
und  daraus  erklärt  sich  die  Apriorität  der  ästhetischen  Urtheile. 

4.  Wird  so  die  „absichtslose  Zweckmässigkeit  ^  des  Schönen  mit  der  Wirkung 
des  Gegenstandes  auf  die  Erkenntnissfiinctionen  in  Beziehung  gesetzt,  so  begreift 
Kant  das  Wesen  des  Erhabenen  aus  einer  Angemessenheit  der  Wirkung  der 
Gegenstände  zu  dem  Verhältniss  des  sinnlichen  und  des  übersinnlichen  Theils 
der  menschlichen  Natur. 

Während  das  Schöne  eine  wohlgefällige  Ruhe  im  Spiel  der  Erkenntniss- 
kräfte bedeutet,  geht  der  Eindruck  des  Erhabenen  durch  ein  Unlustgefühl  der 
Unzulänglichkeit  hindurch.  Der  unermessUchen  Grösse  oder  der  überwältigenden 
Kraft  der  Gegenstände  gegenüber  fühlen  wir  die  Unffihigkeit  unserer  sinnUchen 
Anschauung,  ihrer  Herr  zu  werden,  als  ein  Bedrücken  und  Niederwerfen:  allein 
über  diese  unsere  sinnliche  Unzulänglichkeit  erhebt  sich  die  übersinnliche  Kraft 
unserer  Vernunft.  Hat  es  die  Einbildungskraft  dabei  nur  mit  extensiven  Grössen- 


444  VI*  Deutsche  Philosophie.   1.  Kaut*s  Kritik  der  Venmnft. 

Verhältnissen  zu  thun^  —  das  mathematisch  Erhabene  — ,  so  siegt  die  fest  gestaltende 
Thätigkeit  der  theoretischen  Vernunft:  handelt  es  sich  dagegen  um  die  Verhält- 
nisse der  Kraft;  —  das  dynamisch  Erhabene  — ,  so  kommt  das  Uebergewicht 
unserer  moralischen  Würde  über  alle  Naturgewalt  zum  Bewusstsein.  In  beiden 
Fällen  wird  das  Missbehagen  über  unser  sinnliches  Unterliegen  reichlich  auf- 
gewogen und  überwunden  durch  den  Triumph  unserer  höheren,  vernünftigen 
Bestimmung.  Und  da  dies  das  angemessene  Verhaltniss  der  beiden  Seiten  unseres 
Wesens  ist,  so  wirken  diese  Gegenstände  erhebend,  und  erzeugen  das  Grefühl 
eines  Wohlgefallens  der  Vernunft;  welches  wiederum,  weil  es  sich  nur  auf  das 
Verhaltniss  der  Vorstellungsformen  gründet,  allgemein  ndttheilbar  und  von 
apriorischer  Wirkung  ist. 

5.  Kantus  ästhetische  Theorie  geht  somit  trotz  ihres  „subjectiven''  Aus- 
gangspunktes wesentlich  auf  eine  Erklärung  des  Schönen  und  des  Erhabenen  in 
der  Natur  aus;  und  sie  bestimmt  dasselbe  durch  das  Verhaltniss  der  Vor- 
stellungsformen. Daher  findet  der  Philosoph  die  reine  Schönheit  auch 
nur  da,  wo  das  ästhetische  Urtheil  sich  nur  auf  die  bedeutungslosen  Formen 
bezieht.  Wo  dem  Wohlgefallen  eine  Rücksicht  auf  die  Bedeutung  der  Formen 
für  irgend  eine,  wenn  auch  imbestimmt  vorschwebende  Norm  beigemischt  ist,  da 
haben  wir  schon  die  anhängende  Schönheit.  Diese  tritt  überall  da  ein,  wo 
das  ästhetische  Urtheil  sich  auf  Gegenstände  richtet,  denen  imsere  Vorstellung 
eine  Zweckbeziehung  unterlegt.  Solche  Normen  der  anhängenden  Schönheit 
treten  nothwendig  auf,  sobald  wir  in  der  individuellen  Erscheinimg  das  Verhalt- 
niss zu  der  Gattung  betrachten,  welche  sie  dai'stellt.  Es  giebt  keine  Schönheits- 
norm für  Landschaften,  Arabesken,  Blumen,  wohl  aber  für  die  höheren  Typen 
der  organischen  Welt.  Solche  Normen  sind  die  ästhetischen  Ideale,  und  das 
walire  Ideal  des  ästhetischen  Urtheils  ist  der  Mensch. 

Die  Darstellung  des  Ideals  ist  die  Kunst,  das  Vermögen  der  ästhetischen 
Production.  Wenn  aber  diese  eine  zweckthätige  Function  des  Menschen  ist,  so 
wird  ihr  Erzeugniss  den  Eindruck  des  Schönen  nur  dann  machen  können,  wenn 
es  so  absichtslos,  so  interesselos  und  so  begrifflos  erscheint,  wie  das  Naturschöne. 
Die  technische  Kunst  bringt  nach  Regeln  und  Absichten  zweckentsprechende 
Gebilde  hervor,  welche  geeignet  sind,  bestimmte  Interessen  zu  befriedigen.  Die 
schöne  Kunst  muss  auf  das  Gefühl  wirken  wie  ein  absichtsloses  Erzeugniss 
der  Natur:  sie  muss  „als  Natur  angesehen  werden  können^. 

Das  also  ist  das  Geheimniss  und  das  Charakteristische  am  künstlerischen 
Schaffen,  dass  der  zweckvoll  bildende  Geist  doch  in  derselben  Weise  arbeitet  wie 
die  absichtslos  und  interesselos  bildende  Natur.  Der  grosse  Künstler  schafft 
nicht  nach  allgemeinen  Regeln,  er  erzeugt  sie  selbst  in  der  unwillkürUchen  Arbeit: 
er  ist  originell  und  exemplarisch.  Das  Genie  ist  eine  Intelligenz,  welche 
wirkt  wie  die  Natur. 

Im  Bereiche  menschlicher  Vernunftthätigkeit  wird  also  die  gesuchte  Syn- 
thesis  von  Freiheit  und  Natur,  von  Zweckmässigkeit  und  Nothwendigkeit,  von 
praktischer  und  theoretischer  Function  durch  das  Genie  reprasentirt,  welches  in 
absichtsloser  Zweckmässigkeit  das  Werk  der  schönen  Kunst  erzeugt. 

6.  In  der  Kritik  der  teleologischen  Urtheilskraft  ist  es  die  vornehmste 
Aufgabe,  die  Beziehungen  festzustellen,  welche  nach  den  Gesichtspunkten  des 
transscendentalen  Idealismus   zwischen   der  wissenschaftlichen  Erklärung  der 


§  40.  Natürliche  Zweckmässigkeit.    (Organismus.)  445 

Natur  und  der  Betrachtung  der  ihr  innewohnenden  Zweckmässigkeit  bestehen. 
Die  natiirwissenschaftliche  Theorie  kann  in  alle  Wege  nur  mechanisch 
sein,  der  Zweck  ist  keine  Kategorie  und  kein  constitutives  Princip  gegenständ- 
licher Erkenntnisse  alle  Naturerklärung  besteht  in  dem  Aufweis  der  causalen 
Nothwendigkeit,  womit  eine  Erscheinung  die  andere  hervorbringt;  eine  Er- 
scheinung kann  nie  dadurch  begreiflich  gemacht  werden,  dass  ihre  Zweckmässig- 
keit hervorgehoben  wird.  Solche  „faule"  Teleologie  ist  der  Tod  aller  Natur- 
philosophie. Die  Auffassung  der  Zweckmässigkeit  kann  also  nie  ein  Erkennen 
sein  wollen. 

Andrerseits  aber  würde  man  auf  dem  Standpunkte  der  mechanischen 
Naturerklärung  nur  dann  ein  Recht  haben,  die  teleologische  Betrachtung  der 
Natur  völlig  zu  verwerfen,  wenn  man  mit  Hilfe  der  wissenschaftlichen  Begriffe 
das  gesammte  System  der  Erfahrung  wenigstens  principiell  bis  auf  den  letzten 
Rest  begreiflich  zu  machen  im  Stande  wäre.  Sollten  sich  aber  Punkte  finden,  wo 
die  wissenschaftliche  Theorie  nicht  etwa  wegen  der  extensiven  Beschränktheit 
des  Materials  der  bisherigen  menschlichen  Erfahrung,  sodern  wegen  der  bestän- 
digen Form  ihrer  principiellen  Bestimmtheit  zur  Erklärung  des  Gegebenen  nicht 
ausreicht,  so  würde  an  diesen  Punkten  die  Möglichkeit  einer  Ergänzung  des 
Wissens  durch  eine  teleologische  Betrachtung  zugestanden  werden  müssen,  wenn 
sich  zugleich  zeigte,  dass  das  mechanisch  Unerklärliche  den  unabweisbaren 
Eindruck  des  Zweckmässigen  macht.  Kritische  Teleologie  kann  also  nur  die 
Grenzbegriffe  der  mechanischen  Naturerklärung  betreffen. 

.Der  erste  derselben  ist  das  Leben.  Eine  mechanische  Erklärung  des 
Organismus  ist  nicht  nur  bisher  nicht  gelungen,  sondern  sie  ist  auch  nach  Kant 
principiell  unmöglich.  Jedes  Leben  ist  immer  nur  wieder  durch  anderes  Leben 
zu  erklären.  Man  soll  die  einzelnen  Functionen  der  Organismen  durch  den 
mechanischen  Zusammenhang  ihrer  Theile  unter  einander  und  mit  der  Umgebung 
begreifen :  aber  man  wird  immer  die  Eigenart  der  organisirten  Materie  und  ihre 
Reactionsfahigkeit  als  ein  nicht  weiter  reducirbares  Moment  in  Rechnung  ziehen 
müssen.  Ein  Archäologe  der  Natur  möge  die  Genealogie  des  Lebendigen,  die 
Entstehung  der  einen  Arten  aus  den  anderen  nach  mechanischen  Principien  so 
weit  wie  möglich  zurückverfolgen ') :  er  wird  immer  bei  einer  ursprünglichen 
Organisation  stehen  bleiben  müssen,  die  er  durch  den  blossen  Mechanismus 
der  unorganischen  Materie  nicht  erklären  kann. 

Diese  Erklärung  aber  ist  deshalb  unmöglich,  weil  das  Wesen  des  Organismus 
darin  besteht,  dass  das  Ganze  ebenso  durch  die  Theile,  wie  der  Theil  durch  das 
Ganze  bestimmt,  dass  jedes  Glied  ebenso  Ursache  wie  Wirkung  des  Ganzen  ist. 
Diese  wechselseitigeCausalitätist  mechanisch  unbegreiflich :  der  Orga- 
nismus ist  das  Wunder  in  der  Erfahrungswelt*).  Eben  dieses  auf  sich  selbst  be- 
zogene Spiel  der  Formen  und  Kräfte  ist  es  aber  auch,  welches  im  Organismus 
den  Eindruck  des  Zweckmässigen  macht.  Darum  ist  die  teleologische 
Betrachtung  der  Organismen  nothwendig  und  allgemeingiltig.  Aber 
sie  darf  auch  nie  etwas  anderes  sein  wollen,  als  eine  Betrachtungsweise.  Das 
Denken  darf  sich  im  Einzelnen  nie  dabei  beruhigen:  sondern  der  Einblick  in  diese 


1)  Die  Stellen,  in  denen  Kant  der  spateren  Descendenztheorie  vorgegriffen  hat,  sind 
gesammelt  bei  Fr.  Schultze,  Kant  und  Darwin  (Jena  1874).  —  2)  Vgl.  oben  S.  378. 


446  ^*  Deutsche  Philosophie. 

zweckvolle  Lebendigkeit  muss  vielmehr  alsheuristischesPrincipfiär  die 
Aufsuchung  der  mechanischen  Zusammenhänge  dienen^  mittels  deren  sie  sich  in 
jedem  einzelnen  Falle  realisirt. 

7.  Eine  zweite  Orenze  der  Naturerkenntniss  bezeichnet  Kant  mit  dem 
Namen  der  Specification  der  Natur.  Aus  reiner  Yemunft  ergeben  sich  die 
allgemeinen  Formen  der  Naturgesetzmässigkeit,  allein  auch  nur  diese.  Die 
besonderen  Naturgesetze  ordnen  sich  zwar  jenen  allgemeinen  unter,  aber 
sie  folgen  nicht  daraus.  Ihr  besonderer  Inhalt  ist  nur  empirisch,  d.  h.  in  Rücksicht 
der  reinen  Vernunft  zufällig,  von  nur  thatsächlicher  Geltung ').  Es  ist  niemals 
zu  begreifen,  weshalb  es  gerade  dieser  und  nicht  ein  anderer  Inhalt  ist.  Zugleich 
aber  erweist  sich  dieses  Besondere  der  Natur  als  durchaus  zweckmässig:  einer- 
seits in  Rücksicht  auf  unsere  Erkenntnisse  indem  sich  die  Fülle  des  Thatsach- 
lichen  der  Erfedu^ung  geeignet  zeigt,  unter  die  apriorischen  Formen  der  Elrfahm^ 
untergeordnet  zu  werden,  —  andrerseits  auch  zweckmässig  in  sich  selbst,  insofern 
sich  die  ganze  bunte  Mannigfaltigkeit  des  Gegebenen  zu  einer  objectiv  einheit- 
Uchen  WirkUchkeit  zusammenfügt. 

Hierin  liegen  die  Gründe  a  priori,  die  Natur  als  Ganzes  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Zweckmässigkeit  zu  betrachten  und  in  dem 
ungeheuren  Mechanismus  ihrer  Oausalzusammenhänge  die  Realisirung  eines 
höchsten  Vernunftzweckes  zu  sehen.  Dieser  Zweck  aber  kann  wiederum 
nach  dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  kein  anderer  sein  als  das  Sit t en- 
ge setz,  und  damit  mündet  die  teleologische  Betrachtung  in  den  moralischen 
Glauben  an  die  göttliche  Weltordnung. 

Betrachten  wir  endlich  so  die  Natur  als  in  dem  Sinne  zweckmässig,  dass 
in  ihr  die  allgemeinen  Formen  und  die  besonderen  Inhaltsbestimmungen  völlig 
mit  einander  übereinstimmen,  so  erscheint  der  göttliche  Geist  als  die  Vernunft, 
welche  mit  ihren  Formen  zugleich  den  Inhalt  erzeugt,  als  intellectuelle 
Anschauung  oder  intuitiver  Verstand^).  In  diesem  Begriffe  laufen  die  Ideen 
der  drei  Kritiken  zusammen. 

2.  Kapitel.  Die  Entwicklnng  des  Idealismus. 

R.  Hatm,  Die  romantische  Schule.  Berlin  1870. 

Die  Ausbildung  der  von  Kant  gewonnenen  Principien  zu  den  umfassenden 
Systemen  der  deutschen  Philosophie  vollzog  sich  unter  der  Zusaau&enwirkung 
sehr  verschiedenartiger  Umstände.  In  äusserer  Hinsicht  wurde  es  zunächst  von 
Bedeutung,  dass  der  KriticismuS;  nachdem  er  anfanglich  das  Geschick  der  Nicht- 
beachtung und  des  Missverständnisses  erlebt  hatte,  zuerst  von  den  führenden 
Geistern  der  Universität  Jena  auf  den  Schild  erhoben  und  zum  Mittelpunkt 
einer  glänzenden  akademischen  Lehrthätigkeit  gemacht  wurde:  darin  aber  lag 
der  Anlass  dazu,  die  Fundamente,  welche  Kant  durch  seine  sorgsame  Scheidung 
und  feine  Anordnung  der  philosophischen  Probleme  gelegt  hatte,  zu  einem  ein- 
heitlichen und  eindrucksvollen  Lehrsystem  auszubauen.  Der  Systemtrieb  hat 
das  philosophische  Denken  zu  keiner  Zeit  so  energisch  beherrscht,  wie  zu  dieser, 


1)  Hier  knüpft  Kant  in  höchst  interessanter  Weise  an  die  letzten  Specolationen  der 
Leibniz'sohen  Monadologie  an :  vgl.  oben  S.  336.  —  2)  Krit.  d.  Urth.  §  77.  Vgl.  G.  TmBX.E, 
Kant's  intellectuelle  Anschauung.  Halle  1876. 


2.  Entwicklung  des  Idealismus.  447 

und  ein  gut  Theil  der  Schuld  daran  hatte  das  Begehren  einer  in  hoher  und  viel- 
seitiger Erregung  begriffenen  Zuhörerschaft,  welche  von  dem  Lehrer  eine  ge- 
schlossene  wissenschaftliche  Weltanschauung  verlangte. 

In  Jena  aber  befand  sich  die  Philosophie  dicht  neben  Weimar,  der  Resi- 
denz Ooethe's  und  der  litterarischen  Hauptstadt  von  Deutschland.  In  stetiger 
persönlicher  Berührung  regten  sich  hier  Dichtung  und  Philosophie  gegen- 
seitig an,  und  seitdem  Schiller  die  gedankUche  Verbindung  zwischen  beiden 
hergestellt  hatte,  griffen  sie  mit  ihrer  rapiden  Vorwärtsbewegung  immer  inniger 
und  tiefer  in  einander. 

Ein  drittes  Moment  ist  rein  philosophischer  Natur.  Ein  folgenreiches  Zu- 
sammentreffen wollte  es,  dass  gerade  zu  der  Zeit,  wo  die  Vemunftkritik  des 
„Alles  zermalmenden^  Königsbergers  sich  Bahn  zu  brechen  anfing,  in  Deutsch- 
land das  festest  gefügte  und  wirkungsvollste  aller  metaphysischen  Systeme,  den 
Typus  des  „Dogmatismus^,  bekannt  wurde:  der  Spinozismus.  Durch  den 
Streit  zwischen  Jacobi  und  Mendelssohn,  der  sich  auf  Lessing's  Stellung  zu 
Spinoza  bezog,  war  des  letzteren  Lehre  eben  in  das  lebhafteste  Interesse  ge- 
rückt, und  so  wurden  bei  dem  tiefen  Gegensatz,  der  zwischen  beiden  waltet, 
Kant  und  Spinoza  die  beiden  Pole,  um  welche  sich  das  Denken  der  folgenden 
Generation  bewegte. 

Das  Vorwiegen  des  kantischen  Einflusses  lässt  sich  nun  aber  hauptsächlich 
darin  erkennen,  dass  der  gemeinsame  Charakter  aller  dieser  Systeme  der  Idealis- 
mus') ist:  sie  entwickeln  sich  sämmtlich  aus  den  antagonistischen  Gedanken- 
mächten, welche  in  Kant's  Behandlung  des  Ding- an -sich- Begriffes  mit 
einander  verschlungen  waren.  Nach  kurzer  Zeit  kritischen  Zögerns  übernahmen 
Fichte,  Schelling  und  Hegel  die  Führung,  um  die  Welt  restlos  als  ein 
System  der  Vernunft  zu  begreifen.  Der  kühnen  Energie  ihrer  metaphysischen 
Speculation,  welche  von  zahlreichen  Schülern  zu  bunter  Mannigfaltigkeit  aus- 
gebreitet wurde,  tritt  in  Männern  wie  Schleiermacher  und  Herbart  die 
kantische  Erinnerung  an  die  Grenzen  der  menschhchen  Erkenntniss  gegenüber: 
während  andrerseits  dasselbe  Motiv  sich  in  den  Bildungen  einer  Metaphysik 
des  Irrationalen  in  Schelling's  späterer  Lehre  und  bei  Schopenhauer  ent- 
faltete. 

Gemeinsam  aber  ist  allen  diesen  Systemen  die  Allseitigkeit  des  philosophi- 
schen Interesses,  der  Reichthum  an  schöpferischen  Gedanken,  die  Feinfühligkeit 
ftir  die  Bedürfiiisse  der  modernen  Bildung  und  die  siegreiche  Kraft  einer  prin- 
cipiellen  Durcharbeitung  des  historischen  Ideenstoffes. 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  fand  anfangs  wenig  Beachtung,  später  heftige  Gegner- 
schaft. Den  bedeutendsten  Anstoss  dazu  gab  Friedrich  Heinrich  Jacobi  (1743 — 1819,  zuletzt 

1)  Es  sei  hier  von  vornherein  bemerkt,  dass  nicht  nur  die  Hauptreihe  der  Entwicklung 
von  Reinhold  zu  Fichte,  Schelling,  Krause,  Schleiermacher  und  Hegel  idealistisch  ist,  sondern 
auch  die  ihr  gewöhnlich  gegenübergestellten  Herbart  und  Schopeimauer,  —  sofern  man  näm- 
lich als  „Idealismus^  die  Auflösung  der  Erfahrungswelt  im  Bewusstseinsprocesse  versteht. 
Herbart  und  Schopenhauer  sind  in  demselben  Masse  „Idealisten**  wie  Kant:  sie  statuiren 
Dinge-an-sich,  aber  die  sinnliche  Welt  ist  auch  ihnen  ein  „Bewusstseinsphänomen*'.  Bei 
Schopenhauer  pflegt  dies  auch  beachtet  zu  werden.  Bei  Herbart  dagegen  hat  der  Umstand, 
dass  er  die  Diiige-an-sich  Realen  nannte,  in  Verbindung  mit  der  Thatsache,  dass  er  aus  ganz 
anderen  Gründen  der  Fichte-Hegerschen  Richtung  Opposition  machte,  zu  der  durchaus 
schiefen  und  irreführenden,  durch  alle  bisherigen  Lenrbücher  der  Geschichte  der  Philosophie 
laufenden  Ausdrucksweise  geführt,  seine  Lehre  als  „Realismus**  und  ihn  im  Gegensätze  zu 
den  „Idealisten**  als  „Realisten**  zu  bezeichnen. 


448  VI*  Deutsche  Philosophie. 

Präsident  der  Münchner  Akademie).  Seine  Hauptschrift  führt  den  Titel :  „David  Hume  über 
den  Glauben,  oder  Idealismus  undllealisnius'*  (1787);  dazu  die  Abhandlung  „(Jeber  das  Unter- 
nehmen des  Kriticismus,  die  Vernunft  ssu  Verstände  zu  briiigen''  (1802).  Die  Schrift  „Von  den 
göttlichen  Dingen  und  ihrer  Offenbarung*^  (1811)  ist  gegen  ScheUing  gerichtet.  Vgl.  auch  seine 
Einleitung  in  seine  philosophischen  Schriften  im  zweiten  Bande  der  G-esammtausgabe  ifi  Bde., 
Leipzig  1812 — 25).  Sein  Hauptschüler  war  Fr.  Koppen  (1775 — 1858 ;  Darstellung  des  Wesens 
der  Philosophie,  Nürnberg  1810;  vgl.  über  ihn  den  Art.  K.  von  W.  Windblband  in  £rsch  u. 
Gruber 's  Encyklopädie). 

Femer  sind  als  Gegner  Kant's  zu  nennen  Gottlob  Ernst  Schulze  (1761 — 1823),  der 
Verfasser  der  anonymen  Schrift  „Aenesidemus  oder  über  die  Fundamente  der  Elementar- 
philosophie"  (1792)  und  einer  «Kritik  der  theoretischen  Philosophie"  (Hamburg  1801);  J.  G. 
Hamann  (vgl.  oben  S.  402),  dessen  „Recension"  der  Kritik  erst  1801  inBeinhold's  Beiträgen 
gedruckt  wurde,  und  G.  Herder  in  seiner  Schrift  „Verstand  und  Vernunft,  eine  Metakritik 
zur  Kritik  der  reinen  Vernunft"  (1799). 

Positiver  wirkten  in  der  Entwicklung  der  kantischen  Lehre  Jac.  Sig.  Beck  (1761 — 1842; 
Einzig  möglicher  Standpunkt,  aus  welchem  die  kritische  Philosophie  beurtheilt  werden  muss, 
Riga  1796),  und  Salomon  Maimon  (gest.  1800;  Versuch  einer  Transscendentalphilosophie, 
1790;  Versuch  einer  neuen  Logik,  1794;  Die  Kathegorien  des  Aristoteles,  1794;  vgl.  J.  WrrrE, 
S.  M.,  BerUn  1876). 

In  Jena  wurde  die  kantische  Philosophie  durch  den  Professor  Erh.  Schmid  eingeführt; 
ihr  Hauptorgan  war  die  seit  1785  unter  der  Redaction  von  Schütz  und  Hufeland  dort 
erscheinende  „Allgemeine  Litteraturzeitung".  Den  meisten  Erfolg  fiir  die  Verbreitung  des 
Kriticismus  hatten  K.  L.  Reinhold's  zuerst  in  Wieland's  „deutschem  Merkur*  (17B6) 
erschienenen  „Briefe  über  die  kantische  Philosophie". 

Derselbe  beginnt  auch  die  Reihe  der  Umbildungen.  Karl  Leonh.  Reinhold  (1758 — 1823; 
aus  dem  Bamabitenkloster  in  Wien  entflohen,  1788  Professor  in  Jena,  von  1794  an  in  Kid) 
schrieb  „Versuch  einer  neuen  Theorie  des  menschlichen  Vorstellungsvermögens"  (Jena  1789), 
und  „Das  Fundament  des  philosophischen  Wissens"  (1791).  Spater  gerieth  er  nach  mannig* 
fachem  Wechsel  seines  Standpunkts  in  Wunderlichkeit  und  Vergessenheit.  Die  in  der  Jenenser 
Zeit  vorgetragene  Lehre  gab  in  groben  Zügen  eine  oberflächlich  systematische  Darstellung, 
welche  alsbald  zum  Schulsystem  der  „Kantianer"  wurde.  Die  Namen  diesem  zahlreichen 
Männer  ihrer  Vergessenheit  zu  entreissen,  ist  nicht  dieses  Orts. 

Sehr  viel  feiner,  geistreicher  und  selbständiger  hat  Kant's  Ideen  Fr.  Schiller  ver- 
arbeitet. Von  seinen  philosophischen  Abhandlungen  sind  hauptsächlich  zu  nennen:  Ueber 
Anmutli  und  Würde,  1793;  Vom  Erhabenen,  1793;  Briefe  über  die  ästhetische  Erziehni^  des 
Menschengeschlechts,  1795;  üeber  naive  und  sentimentalische  Dichtung,  1796;  dazu  die  philo- 
sophischen Gedichte  wie  „Die  Künstler",  „Ideal  und  Leben"  und  der  Briefwechsel  mit  Körner, 
Goethe  und  W.  v.  Humboldt.  Vgl.  K.  Tomaschkk,  Seh.  in  seinem  Verhältniss  zur  Wissenschaft, 
Wien  1862;  K.  Twesten,  Seh.  in  seinem  Verhältniss  zur  Wissenschaft,  Berlin  1863;  Kuno 
Fischer,  Seh.  als  Philosoph,  2.  Aufl.,  1891;  Fr.  Ueberweo,  Seh.  als  Historiker  und  Philosoph, 
hrsg.  von  Brasch,  Leipzig  1884. 

Johann  Gottlieb  Fichte,  1762  zu  Rammenau  in  der  Lausitz  geboren,  in  Schulpforta 
und  an  der  Universität  Jena  gebildet,  erhielt,  nachdem  er  manchje  Schicksale  als  Hauslehrer 
durchgemacht  hatte  und  durch  seine,  zufallig  anonym  erschienene  und  allgemein  Kant  zu- 
geschriebene Erstlingsarbeit  „Kritik  aller  Offenbarung"  (1792)  berühmt  geworden  war,  1794 
in  Zürich  den  Ruf  als  Reinhold's  Nachfolger  in  die  Jenenser  Professur.  Nach  glänzender 
Wirksamkeit  wurde  er  1799  wegen  des  „Atheismusstreites"  (vgl.  seine  „Appellation  an  das 
Publicum"  und  die  „Gerichtliche  Verantwortungsschrift")  entlassen  und  ging  nach  Berlin,  wo 
er  mit  den  Romantikem  in  Verkehr  trat.  1805  war  er  zeitweilig  der  Universität  Erlangen 
zugewiesen,  1806  ging  er  nach  Königsberg,  und  kehrte  dann  nach  Berlin  zurück,  wo  er  im 
Winter  1807/8  die  „Heden  an  die  deutsche  Nation"  hielt.  An  der  neu  errichteten  Berliner 
Universität  fungirte  er  als  Professor  und  als  erster  Rector.  Er  starb  1814  am  Lazarethfieber. 
Die  Hauptschriften  sind:  Grundlage  der  gesammten  Wissenschaftslehre,  1794;  Gmndriss  des 
Eigenthümlichen  der  Wissenschaftslehre,  1795;  Naturrecht,  1796;  die  beiden  Einleitungen 
in  die  Wissenschaftslehre,  1797;  System  der  Sittenlehre,  1798;  Die  Bestimmung  des  Menschen, 
18(X);  Der  geschlossene  Handelsstaat,  1801;  Ueber  das  Wesen  des  Gelehrten,  1805;  Gnmdzüge 
des  gegenwärtigen  Zeitalters,  1806;  Anweisung  zum  seligen  Leben,  1806.  Werke,  8  Bde., 
Berlin  1845 f.;  Nachgel.  Werke,  8  Bde.,  Bonn  1884;  Leben  und  Briefwechsel,  Sulzbach  1830; 
Briefwechsel  mit  Schelling,  Leipzig  1856.  Vgl.  J.  H.  Löwe,  Die  Philos.  Fichte's,  Stuttgart 
1862.  R.  Adamson,  Fichte,  London  1881. 

Friedrich  Wilhelm  Joseph  Schelling,  1775  zu  Leonberg  (Württembeiig)  geboren» 
kam  nach  seiner  Ausbildung  in  Tübingen  1796  nach  Leipzig,  wurde  1798  Professor  in  Jena 
und  1803  in  Würzburg.  1806  an  die  Münchner  Akademie  berufen,  zeitweilig  (1820  -96)  an  der  ^ 


2.  Entwickluog  des  Idealismus.  449 

Erlam^r  Universität  thätig,  trat  er  1827  in  die  neu  begründete  Münchner  Universität  ein.  Von 
hier  wlffte  er  1840  dem  Rufe  nach  Berlin,  wo  er  seine  Lehrthätigkeit  bald  wa^h.  Er  starb 
1864  in  Kagaz.  Vgl.  Aus  Sch/s  Leben  in  Briefen,  hrsg.  von  Pütt,  Leipzig  1869  f.  Caroline, 
Briefe  etc.,  hrsg. ^  von  G.  Wattz,  Leipzig  1871.  —  Schelling's  philosophische  und  schrift- 
stellerische Entwicklung  zerfallt  in  fünf  Perioden:  1)  Die  Naturphilosophie:  Ideön  zu  einer 
Philos.  der  Natur,  1797;  Von  der  Weltseele,  1798;  Erster  Entwurf  eines  Systems  der  Natm*- 
philoBophie,  1799;  —  2)  Der  ästhetische  Idealismus:  Der  transscendentale  Idealismus,  1800; 
Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Kunst;  —  3)  Der  absolute  Idealismus:  Darstellung 
meines  Systems  der  Philosophie,  1801;  Bruno,  oder  über  das  natürliche  und  göttliche  Princip 
der  Dinge,  1802 ;  Vorlesungen  über  die  Methode  des  akademischen  Studiums,  1803;  —  4)  Die 
Freiheitslehre:  Philosophie  und  Religion,  1804;  Untersuchungen  über  das  Wesen  der  mensch- 
lichen Freiheit,  1809;  Denkmal  der  Schrift  Jacobi's  von  den  göttlichen  Dingen,  1812;  — 
5)  Philosophie  der  Mythologie  und  Offenbarung,  Vorlesungen  im  zweiten  Theil  der  Schriften. 
—  Ges.  Werke,  14  Bde.,  Stuttg.  und  Angsb.  1856—1861. 

Unter  den  Schelling  nahestehenden  Denkern  mögen  hervorgehoben  sein:  von  den 
Romantikem  Fr.  Schlegel  (1772—1829;  Charakteristiken  und  Kritiken  im  „Athenäum" 
1799 f.;  Lucinde,  1799;  Philosophische  Vorlesungen  aus  den  Jahren  1804 — 6,  hrsg.  von 
WiMPiBCHiUNN,  1836  f.  Sämmtliche  Schriften,  15  Bde.,  Wien  1846)  und  Novalis  (Fr.  v.  Harden- 
berg, 1772—1801),  auch  K.  W.  F.  Solger  (1780—1819;  Erwin,  1816;  Phüosophische  Ge- 
spräche, 1817;  Vorlesunffen  über  Aesthetik,  hrsg.  von  Hetsb,  1829);  femer  Lor.  Oken  (1779 
—1851,  Lehrbuch  der  Natun>hilosophie,  Jena  1809;  vgl  A.  Egkkb,  L.  0.,  Stuttgart  1880), 
H.  Steffens  (1773 — 1845,  ein  Norweger,  Grundzüge  der  philosophischen  Naturwissenschaft, 
1806),  G.  H.  Schubert  (1780—1860,  Ahndungen  einer  allg.  Geschichte  des  Lebens,  1806f.), 
Franz  Baader  (1765—1841;  Fermenta  cognitionis,  1822ff.;  Speculative  Dogmatik,  1827ff. 
Ges.  Schriften  mit  Biographie  von  Fb.  HoFrMANN  hrsg.,  Leipz.  1851  ff.);  endlich  K.  Chr.  Fr. 
Krause  (1781—1882;  Entwurf  des  Systems  der  Philosophie,  1804;  Urbild  der  Menschheit, 
1811;  AbrisB  des  Systems  der  Philosophie,  1825;  Vorlesunieen  über  das  System  der.Philo- 
sojihie  1828.  Seit  einigen  Jahren  erscheinen  aus  dem  Nachlass  unerschöpfliche  Massen, 
hrsg.  von  P.  Hohlfeld  und  A.  WOnsohb.  Vgl.  B.  Euckkn,  Zur  Erinnerung  an  £.,  Leipzig  1881). 
Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel,  Schelling's  älterer  Freund,  war  1770  in  Stuttgart 
geboren,  studirte  in  Tübingen,  war  Hauslehrer  in  Bern  und  Frankfurt  und  begann  1801  seine 
Lehrthätigkeit  in  Jena,  wo  er  1805  ausserordentlicher  Professor  wurde.  Nach  1806  wurde  er 
Zeitnngsredacteur  in  Bamberg  und  1808  Gymnasialdirector  in  Nümbexv.  1816  ging  er  als 
Professor  nach  Heidelbergs,  1818  von  da  nach  Berlin,  wo  er  bis  zu  seinem  Tode  1881  als  Haupt 
«iner  immer  glänzender  sich  ausbreitenden  Schule  wirkte.  £r  veröffentlichte  ausser  den  Ab- 
handlungen in  dem  mit  Schelling  zusammen  herausgegebenen  „kritischen  Journal  der  Philo- 
sophie **:  Phänomenologie  des  Geistes  (1807);  Wissenschaft  der  Logik,  1812 ff.;  Encyclopädie 
der  philosophischen  Wissenschaften,  1817;  (Grundlinien  der  Philosophie  des  Bechts,  1821.  Seit 
1827  waren  die  „Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik**  das  Organ  seiner  Schule.  Die  Werke 
mit  Einschluss  der  von  seinen  Schülern  redigirten  Vorlesungen  wurden  in  18  Bdn.,  Berlin  1832  ff. 
herausgegeben.  Aus  der  sehr  ausgebreiteten  Litteratur  seien  genannt:  C.  Rosenkranz,  H/s 
Leben  (Berlin  1844),  und  H.  als  deutscher  Nationalphilosoph  (Berlin  1870);  R.  Hayh,  H.  und 
seine  Zeit  (Berlin  1857);  E.  Köstun,  H.  (Tübingen  1870).  J.  Kuober,  Hölderlin,  Schelling 
und  Hegel  in  ihren  schwäbischen  Jugendjahren  (Stuttgart  1877). 

Friedrich  Ernst  Daniel  Schleiermacher,  1768  in  Breslau  geboren,  auf  den  Herrn- 
hutisohen  Erziehungsanstalten  zu  Niesky  und  Barby  und  auf  der  üniveraität  Halle  gebildet, 
nahm  nach  Privatstellungen  ein  Vicariat  in  Landsberg  a.  W.  und  1796  die  Function  als  Prediger 
an  der  Berliner  Charit^  an.  1802  ging  er  als  Hofprediger  nach  Stolpe,  1804  als  Extraordinarius 
nach  Halle,  1806  wieder  nach  Berlin,  wo  er  1809  Prediger  an  der  Dreifaltigkeitskirche  und 
1810  Professor  an  der  Universität  wurde.  Beide  Aemter  verwaltete  er,  erfolgreich  zugleich  in 
der  kirchenpolitischen  Bewegung  (Union)  stehend,  bis  zu  seinem  Tode  1834.  Seine  philosophi- 
schen Schriften  bilden  die  dritte  Abtheilung  der  nach  seinem  Tode  gesammelten  Werke 
(Berlin  1835  ff.).  Sie  enthält  die  Vorlesungen  über  Dialektik,  Aesthetik  etc. ;  unter  den  Schriften 
sind  zu  erwähnen:  Reden  über  die  Religion  an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern  (1799); 
Monologen  (1800);  Grundlinien  einer  lu*itik  der  bisheri^n  Sittenlehre  (1803).  Das  vrichtigste 
Werk,  Die  Ethik,  liegt  in  der  Sammlung  in  der  Redaction  von  Al.  Schweizer,  ausserdem  in 
einer  Ausgabe  von  A.  Twbstrn  (Berlin  1841)  vor.  —  Vgl.  Aus  Sch.^s  Leben  in  Briefen,  hrsg. 
von  L.  Jonas  und  W.  Dilthby,  4  Bde.,  Berlin  1858—63.  —  W.  Dilthey,  Leben  Schleiermacher's 
(Bd.  L  Berlin  1870). 

Johaim  Friedrich  Herbarf ,  1776  zu  Oldenburg  geboren,  dort  und  an  der  Jenenser 
Universität  gebildet,  eine  Zeit  lang  in  Bern  als  Hauslehrer  thätig  und  mit  Pestalozzi  bekannt, 
wurde  1802  rriv^tdocent  in  Göttingen,  war  1809 — 1833  Professor  in  Königsberg  und  kehrt« 
dann  als  solcher  nach  Göttingen  zurück,  wo  er  1841  starb.  Seine  Hauptschnftcn  sind :  Haupt- 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  29 


450  ^^'  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

punkte  der  Metaphysik,  1806;  Allffemeine  praktische  Philosophie,  1808;  Einleitung  in  die 
Philosophie,  1813;  Lehrbuch  zur  Psychologie,  1816;  Psychologie  als  Wissenschaft,  1824  f. 
Gesammtausgabe  von  G.  Hartenstein,  12  Bde.,  Leipzig  1860 ff.;  im  Erscheinen  begriffen  von 
E.  Kehrbach  seit  1882.  Die  päda^gischen  Schriften  hat  0.  Willmann  in  2  Bdn.,  Leipzig  1878 
und  75,  herausgegeben.  Vgl.  G.  Hartenstein,  Die  Probleme  und  Grundlehren  der  allgemeinen 
Metaphysik  (Leipzig  1836) ;  J.  Kaftan,  Sollen  und  Sein  (Leipzig  1872) ;  J.  Capesius,  Die  Meta- 
physik Herbart's  (Leipzig  1878). 

Arthur  Schopenhauer,  1778  in  Danzig  geboren,  ging  erst  spat  zum  wissensohaftlichen 
Leben  über,  studirte  in  Göttingen  und  Berlin,  promovirte  1813  in  Jena  mit  der  Schrift  über 
die  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde,  lebte  zeitweilig  in  Weimar  und 
Dresden,  habilitirte  sich  1820  in  Berlin,  zog  sich  aber,  nachdem  er  in  einer  mehrfach  durch 
Reisen  unterbrochenen  Lehrthätigkeit  keinen  Erfolg  gehabt,  1831  in  das  Privatleben  nach 
Prankfurt  a.  M.  zurück,  wo  er  1860  starb.  Das  Hauptwerk  ist  „Die  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung**, 1819.  Daran  schliessen  sicJi  „üeber  den  Willen  in  der  Natur",  1836.  „Die  beiden 
Grundprobleme  der  Ethik",  1841;  endlich  „ParergaundPanüipomena",  1851.  G^ammtausgabe 
in  6  Bdn.,  Leipzig  1873 f.,  seitdem  mehrfoch  aufgelegt.  Vgl.  W.  Gwinnxr,  Sch.'s  Leben,  2.  Aufl. 
(Leipzig  1878) ;  J.  Prauenstädt,  Briefe  über  die  Seh.  sehe  Philosophie  (Leipzig  1B54);  R.  Sbtdrl, 
Seh.  8  System  (Leipzig  1857);  A.  Hatm,  A.  Seh.  (Berlin  1864);  (t.  Jkllinrk,  Die  Weltanschau- 
ungen Leibniz^  und  Schopenhauer's  (Leipzig  1872). 

Neben  der  metaphysischen  Hauptentwicklung  läuft  eine  psycholop^ische  Neben- 
linie, eine  Reihe  solcher  Schulen,  welche  den  Lehren  der  ^ssen  Systeme  sich  auf  dem  Wege 
psychologischer  Methode  oft  edectisch  nähern.  So  verhält  sich  zu  Kant  und  Jacobi  J.  Fr.  Fri  es 
(1773—1843;  „Reinhold,  Fichte  und  Schelling",  1803;  Wissen,  Glaube  und  Ahndung,  1805; 
Neue  Kritik  der  Vernunft,  1807;  Psychische  Anthropologie,  1820f.  Vgl.  Küno  Fischer,  Die 
beiden  kantischen  Schulen  in  Jena,  Akad.  Reden,  Stuttg.  1862),  —  zu  Eant  aad  Fichte  Wilh. 
Traug.  Krug  (1770—1842;  Organen  der  Philosophie,  1801;  Handwörterbuch  der  philos. 
Wissenschaften,  1827 ff.),  —  zu  Fichte  und  Schelling  Fried.  Bouterwek  (1766—1828,  Apo- 
diktik,  1799;  Aesthetik,  1806),  —  zu  Herbart  endlich  Fr.  Beneke  (1798—1854,  Psychologische 
Skizzen,  1825  und  27;  Lehrbuch  der  Psychologrie  als  Naturwissenschaft,  1832;  Metaph>8ik  und 
Religionsphilosophie,  1840;  Die  neue  Psychologie,  1845). 

§  41.  Das  Ding-an-sich. 

Die  packende  Gewalt,  welche  Kantus  Philosophie  über  die  Gemüther  ge- 
wann, verdankte  sie  *)  hauptsächlich  dem  Ernst  und  der  Grösse  ihrer  sittlichen 
Weltauffassung:  der  Fortschritt  des  Denkens  jedoch  knüpfte  sich  zunächst  an 
die  neue  Gestaltung,  welche  die  Principien  der  Erkenntnisstheorie  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  erfahren  hatten.  Kant  übernahm  den  Gegensatz  der  Phaeno- 
mena  und  Noumena  aus  der  früheren  Philosophie:  aber  er  erweiterte  durch  die 
transscendentale  Analytik  das  Reich  der  Erscheinungen  zu  dem  ganzen  Dmfange 
menschUcher  Erkenntniss,  und  das  Ding-an-sich  blieb  nur  als  ein  problemati- 
scher Begriff  bestehen,  wie  ein  rudimentäres  Organ,  das  zwar  für  die  historische 
Genesis  dieser  Erkenntnisstheorie  charakteristisch  sein  mochte,  aber  keine  leben- 
dige Function  darin  ausübte. 

1.  Dies  hat  zuerst  Jacobi  gesehen,  wenn  er  bekannte,  dass  man  ohne  Vor- 
aussetzung des  Realismus  nicht  in  das  kantische  System  hinein  kommen  und  mit 
derselben  nicht  darin  bleiben  könne'):  denn  der  anfänglich  eingeführte  Begriff 
der  Sinnlichkeit  involvire  das  Causalverhältniss  des  Afficirtwerdens  durch  Dinge- 
an-sich,  welches  nach  der  Lehre  der  Analytik,  dass  Kategorien  nicht  auf  Dinge- 
an-sich  angewendet  werden  dürften,  zu  denken  verboten  sei.  In  diesem  Wider- 
spruch, Dinge -an -sich  denken  zu  wollen  und  doch  nicht  denken  zu  dürfen, 
bewegt  sich  die  ganze  Vemunftkritik:  und  dabei  hilft  diese  widerspruchsvolle 
Annahme  nicht  einmal  dazu,  der  Erkenntniss  der  Erscheinungen  auch  nur  die 

1)  Dies  ist  namentlich  aus  Rknhold^s  Briefen  über  die  kant.  Ph.  su  erkenneiL.  — 
2)  Jacobt,  W.  U,  804. 


§41.  Ding-an-sich.  (Jacobi.)  461 

geriDgste  Beziehung  auf  Wahrheit  zu  gewähren.  Denn  nach  Kant  stellt  die  ^eele 
vor  „nicht  sich  selbst  noch  andere  Dinge;  sondern  solches  einzig  und  allein^  was 
weder  sie  selbst  ist  noch  was  andere  Dinge  sind^  *).  Das  Erkenntnissvermögen 
schwebt  zwischen  einem  problematischen  X  des  Subjects  und  einem  gleich  proble- 
matischen X  des  Objects.  Die  Sinnlichkeit  hat  nichts  hinter  sich  und  der  Ver- 
stand nichts  vor  sich:  ;,in  einem  zwiefachen  Hexenrauche ;  Raum  und  Zeit 
genannt;  spuken  Erscheinungen^  in  denen  Nichts  erscheint^  ^).  Nimmt  man 
Dinge  aU;  so  lehrt  Kant;  dass  die  Erkenntniss  damit  nicht  das  geringste  zu  thun 
habe.  Die  kritische  Vernunft  ist  eine  um  lauter  NichtS;  d.  h.  nur  um  sich  selbst 
gßadMige  Vernunft.  Will  deshalb  der  Kriticismus  nicht  dem  NihiUsmus  oder 
absoluten  Skepticismus  verfallen;  so  muss  der  transscendentale  Idealist  den  Muth 
haben;  den  „stärksten"  Idealismus  zu  behaupten^):  er  muss  erklären;  dass  nur 
die  Erscheinungen  sind. 

In  der  Behauptung,  was  Kant  den  Gegenstand  der  Erkenntniss  nennt;  sei 
in  Wahrheit  „Nichts";  steckt  mm  eben  als  Voraussetzung  derselbe  naive  Eealis- 
muS;  dessen  Zerstörung  die  grosse  Leistung  der  transscendentalen  Analytik  war: 
und  ebenderselbe  Realismus  bestimmt  denn  auch  die  Erkenntnisstheorie  des 
G-laubenS;  welche  Jacobi  „der  transscendentalen  Unwissenheit";  nicht  ohne 
durchweg  von  ihr  abhängig  zu  seiu;  entgegenstellt.  Alle  Wahrheit  ist  Erkenntniss 
des  Wirklichen;  das  Wirkliche  aber  macht  sich  im  menschUchenBewusstsein  nicht 
durch  das  Denken;  sondern  durch  das  Oefühl  geltend :  gerade  Kant's  Experiment 
beweise;  dass  das  Denken  allein  sich  in  einem  Kreise  bewege;  aus  dem  es  keinen 
Zugang  zur  Wirklichkeit  giebt;  in  einer  endlosen  Reihe  des  Bedingten;  worin 
kein  Unbedingtes  zu  finden  ist.  Das  Grundgesetz  der  Causalität  lässt  sich  ja 
geradezu  formuliren:  es  giebt  nichts  Unbedingtes.  Das  Wissen  also  oder  das 
demonstrirbare  Denken  ist  seinem  Wesen  nach;  wie  Jacobi  sagt,  Spinozismus, 
Lehre  von  der  mechanischen  Noth wendigkeit  alles  Endlichen:  und  es  ist  das 
Interesse  der  Wissenschaft,  dass  kein  Gott  sei;  — ja,  ein  Gott  der  gewusst  werden 
könnte,  wäre  gar  kein  Gott  ^).  Auch  wer  im  Herzen  ein  Christ  ist,  muss  im  Kopf 
ein  Heide  sein:  sowie  er  das  Licht;  das  im  Herzen  ist;  in  den  Verstand  bringen 
will;  erlischt  es'^).  Aber  dies  Wissen  ist  eben  auch  nur  ein  mittelbares  Er- 
kennen; das  wahre;  unmittelbare  Erkennen  ist  das  Gefühl:  in  diesem  sind 
wir  mit  dem  Gegenstaude  wahrhaft  Eins  ^)  und  besitzen  ihn  wie  uns  selbst  in  der 
Gewissheit  beweislosen  Glaubens^).  Dies  Gefühl  ist  aber  seinen  Gegenständen 
nach  doppelter  Art:  die  Wirkhchkeit  des  Sinnlichen  offenbart  sich  uns  in  der 
Wahrnehmung,  die  des  UebersinnUchen  in  der  „Vernunft".  Für  diesen 
snpranaturalen  Sensualismus  bedeutet  also  „Vernunft"  das  unmittelbare 
Gefühl  von  der  Wirklichkeit  des  UebersinnlicheU;  von  Gott;  Freiheit;  Sittlichkeit 
und  Unsterblichkeit.  In  dieser  Verschränkung  kehren  Kant's  Dualismus  von 
theoretischer  und  praktischer  Vernunft  und  der  Primat  der  letzteren  bei  Jacobi  ^) 
wieder;  um  in  den  Dienst  einer  mystischen  Ueberschwenglichkeit  des  Gefühls 
gestellt  zu  werden,  die  sich  auch  in  der  Eigenart  einer  warmen,  geistreichen; 


1)  Allwill  XV;  w.  1, 121.  —  2)  w.  ni,  Ulf.  —  s)  w.  n,  310.  —  4)  w.  m,  384.  — 

5)  An  Hamank;  I,  367.  —  6)  W.  IE,  176.  —  7)  Hümb's  Begriff  des  belief  und  seine  ünter- 
Bcheidnng  von  Impressionen  und  Ideen  (hier  Vorstellungen  genannt)  erfieJiren  dabei  eine 
merkwürdige  Umbüdung.  —  8)  W.  III,  351  flF. 

29* 


45ä  ^«  Deutsche  Philosophie.   9.  Entwicklung  des  Idealismus. 

aber  rhapsodischen  und  mehr  behauptenden  als  begründenden  Schreibweise  zu 
erkennen  giebt. 

Noch  etwas  näher  an  Kant  gerückt  erscheint  dieselbe  Grundauffitssang 
bei  Fries.  Wenn  dieser  forderte,  dass  die  von  der  kritischen  Philosophie  an- 
gestrebte Erkenntniss  der  apriorischen  Formen  selbst  a  posteriori,  durch  innere 
Erfahrung  von  Statten  gehen  und  deshalb  Kantus  Resultate  durch  eine  „  anthropo- 
logische^ Kritik  begründet  oder  richtig  gestellt  werden  müssen,  so  beruhte  dies 
auf  der  Ueberzeugung,  dass  die  unmittelbaren,  eigenen  Erkenntnisse  der  Ver- 
nunft ursprünglich  dunkel  durch  das  Gefühl  gegeben  seiend)  und  erst  durch  die 
Reflexion  in  Yerstandeswissen  verwandelt  werden.  Dieser  Leibniz'sche  Rumpf 
endigt  jedoch  in  den  kriticistischen  Schwanz,  indem  die  Anschauungs-  und  Begrifl^- 
formen  dieser  Reflexion  nur  als  ein  Ausdruck  der  Erscheinungsweise  jenes  ur- 
sprünglichen Wahrheitsinhaltes  gelten  sollten:  andrerseits  erhielt  jener  Rumpf 
einen  Kant- Jacobi'schen  Kopf,  wenn  der  Beschränkung  des  Wissens  auf  diese 
Erscheinungsformen  die  unmittelbare  Beziehung  des  moralischen  Glaubens  axä 
Dinge-an-sich  gegenübergestellt,  zugleich  aber  —  mit  entschiedenem  Anschluss 
an  die  Kritik  der  Urtheilskraft  —  dem  ästhetischen  und  religiösen  Gefuht  die 
Bedeutung  einer  Ahnung  („Ahndung^)  dafUr  zugeschrieben  wurde,  das&rdas 
den  Erscheinungen  zu  Grunde  liegende  Sein  eben  dasjenige  ist,  worauf  sich  die 
praktische  Vernunft  bezieht. 

2.  Die  von  Jacobi  scharf  erkannte  Unhaltbarkeit  des  kantischen  Ding-an- 
sich-Begriffs  trat  gewisserm^^ssen  handgreiflich  hervor,  als  Reinhold  in  seiner 
Elementarphilosophie  den  Versuch  einer  einheitlich  systematischen  Dar- 
stellung der  kritischen  Lehre  machte.  Er  vermisste  an  dem  bewunderten  Kant, 
dessen  Lösungen  der  einzelnen  Probleme  er  sich  durchaus  zu  eigen  machte, 
nur  die  Formulirung  eines  einfachen  Grundprincips,  aus  dem  alle  besonderen 
Einsichten  abzuleiten  wären.  Durch  die  Erfüllung  dieser  (cartesianischen)  Forde- 
rung") würde  endKch  an  Stelle  der  widerstreitenden  Privatmeinungen  die  Philo- 
sophie, die  Philosophie  ohne  Beinamen  treten.  Er  selbst  glaubte  dies  Princip 
in  dem  vermeintlich  ganz  voraussetzungslosen  Grundsatz  gefunden  zu  haben, 
dass  im  Bewusstsein  jede  Vorstellung  durch  das  Bewusstsein  von  dem  Subject 
und  dem  Object  unterschieden  und  auf  beide  bezogen  wird  (Satz  des  Be  wussi- 
seins)  *).  Daher  steckt  in  jeder  Vorstellung  Etwas,  was  zum  Subject  und  Etwas, 
was  zum  Object  gehört.  Aus  dem  Object  stammt  die  Mannigfaltigkeit  des  Stoffs, 
aus  dem  Subject  die  syiiTlhetische  Einheit  der  Form.  Hieraus  folgt,  dass  weder 
das  Object  an  sich,  noch  das  Subject  an  sich,  sondern  nur  die  zwischen  beiden 
schwebende  Bewusstseinswelt  erkennbar  ist ;  hieraus  ergiebt  sich  weiter  der  Gegen- 
satz des  (sinnlichen)  Stofftriebes  und  des  (sittlichen) F o r m t r i e b e s :  im  ersteren 
ist  die  Heteronomie  der  Abhängigkeit  des  Willens  vom  Dinge,  im  zwdten  die 
Autonomie  des  auf  die  formale  Gesetzmässigkeit  gerichteten  Willens  zu  erkennen. 

In  dieser  plumpen  Gestalt  hat  die  kantische  Schule  die  Lehre  des 
Meisters  fortgepflanzt :  die  ganze  Feinheit  und  der  Tiefsina  der  Analytik  des 
„Gegenstandes'^  war  verloren  gegangen,  und  einen  Ersatz  dafür  bot  nur  Rein- 
hold's  Bestreben,  im  „Vorstellungsvermögen"  oder  „Bewusstsein"  die  tiefere  Ein- 


1)  Fribs,  Neue  Kritik,  I,  206.  —  2)  Reinhold,  Beiträge  I,  91ff.  —  8)  Neue  Theorie 
des  Vorst.  8.  201  ff. 


§41.  Ding-an-sich.  (Reinhold,  Schulze.)  453 

heit  aUer  der  verschiedenen  Erkenntnisskräfte  zu  finden,  welche  Kant  als  Sinn- 
lichkeit; Verstand;  ürtheilskraft,  Vernunft  von  einander  gesondert  hatte.  Insofern 
kam  die  „Fundamentalphiloeophie"  mit  einer  positiven  Hypothese  den  Einwürfen 
entgegen,  auf  welche  bei  vielen  Zeitgenossen  in  der  kantischen  Lehre  gerade  die 
scharfe  Trennung  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  stiess.  Diese  trat 
in  der  durch  die  Nachwirkung  der  Inauguraldissertation  bestunrnten  Darstellung 
(vgl.  S.  423;  Anm.  4)  noch  stärker  hervor,  als  es  der  Geist  der  Vemunftkritik  ver- 
langte, und  wurde  zugleich  durch  den  praktischen  Dualismus  noch  fühlbarer. 
So  wurde  die  Tendenz  wachgerufen;  die  Sinnlichkeit  Kant  gegenüber  wieder  in 
ihre  Rechte  einzusetzen;  und  die  Leibniz'sche  Lehre  von  dem  allmählichen  lieber- 
gange  aus  den  sinnlichen  in  die  vernünftigen  Functionen  erwies  sich  als  die 
Quelle  einer  kräftigen  Gegenströmung  gegen  Kant's  mehr  scheinbare  als  ernst- 
liche „Zerstückelung^  der  Seele.  Gegen  die  Eoitlk  der  reinen  Vernunft  machte 
dies  Hamann  in  seiner  Becension  und  im  Anschluss  an  ihn  Herder  in  der  Meta- 
kritik geltend.  Beide  nehmen  dabei  hauptsächlich  auf  die  Sprache  als  das  ein- 
heitliche sinnlich-geistige  Grundgebilde  der  Vernunft  Rücksicht  und  suchen  zu 
zeigen,  wie  aus  der  ersten  „  Spaltung'^  von  Sinnlichkeit  und  Vei*stand  alle  die 
anderen  Spaltungen  und  DuiEÜismen  der  kritischen  Philosophie  folgen  mussten  ^). 

3.  Die  Blossen  des  Reinhold 'sehen  Systems  konnten  den  Skeptikern  nicht 
entgehen;  aber  deren  Angriffe  trafen  zugleich  Kant  selbst.  Am  wirkungsvollsten 
sind  sie  in  Schulzens  Aenejsidemus  vereinigt.  Er  zeigt  die  Selbstverstrickung 
der  kritischen  Methode  dariU;  dass  sie  sich  eine  Angabe  stellt,  deren  Lösung 
ihren  eigenen  Resultaten  nach  unmöglich  ist.  Denn  wenn  die  Kritik  die  Be- 
dingungen sucht,  welche  der  Erfahrung  zu  Grunde  liegen,  so  sind  diese  Be- 
dingungen doch  nicht  selbst  Gegenstände  der  Erfahrung  (eine  Auffassung,  welche 
sicher  Eant's  Sinne  mehr  entsprach,  als  Fries'  Versuch  einer  psychologischen 
Aufsuchung  des  Apriori) :  die  kritische  Methode  verlangt  also,  die  philosophische 
Erkenntniss;  jedenfalls  ein  Denken  in  Kategorien,  soll  üb^  die  Erfiährung  hinaus- 
gehen ;  und  eben  dies  erklärt  die  Analytik  für  unerlaubt.  In  der  That  ist  die 
„Vernunft^  und  ist  jede  einzelne  der  Erkenntnisskräfte,  wie  Sinnlichkeit,  Ver- 
stand etc.  ein  Ding  an  sich,  ein  unwahmehmbarer  Grund  der  empirischen  Thätig- 
keiten  der  b6ti*effeDden  Erkenntnissart:  und  von  allen  diesen  Dingen -an -sich 
und  ihren  Verhältnissen  zu  einander  und  zur  Erfahrung  bietet  die  kritische 
Philosophie  —  die  Metaphysik  des  Wissens  —  eine  sehr  ausführliche  Kenntniss. 
Freilich  ist  diese  Kenntniss,  genau  besehen,  sehr  gering:  denn  solch  ein  7, Ver- 
mögen'^  ist  doch  schliesslich  nur  als  unbekannte  (jresammtursache  empirischer 
Functionen  gedacht  und  nur  durch  eben  diese  Wirkungen  zu  charakterisiren. 

Der  ^  Aenesidemud^  entwickelt  diese  Kritik  an  Reinhold's  Begriff  des  „ Vor- 
stellungsvermögens ^  ^):  er  zeigt;  dass  man  garnichts  erklärt,  wenn  man  den  Inhalt 
des  zu  Erklärenden  mit  der  problematischen  Marke  „Ejraft^  oder  „Vermögen^ 
versehen  noch  einmal  setzt.  Schulze  wendete  sich  damit  gegen  die  von  den 
empirischen  Psychologen   der  Aufklärung  ziemlich  gedankeiüos  angewendete 

^Vermögentheorie^.  Nur  descriptiv  kann  es  einen  Sinn  haben,  gleichartige  Er- 

.  • 

1)  Herder,  Metakritik  14,  III.  Werke  in  40  Bdn.  XXXVII,  dd3ff.  Uebrigens  war 
auch  dieser  Qedanke,  als  ihn  Herder  in  der  Metakritik,  einem  thörichten  Machwerk  persönlicher 
Gereiztheit,  vortrug,  längst  ein  positiv  treibendes  Moment  der  Entwicklung,  vgL  §  42.  — 
2)  Aenesid.  S.  98. 


454  ^^*  Deutsche  Philosophie.  9.  Entwicklung  des  Idealismus. 

scheinungen  des  Seelenlebens  unter  einem  Gattungsbegriffe  zusammenzufassen : 
diesen  Begriff  aber  zu  einem  metaphysischen  Kraftwesen  zu  hypostasiren^  das 
ist  eine  mythologische  Behandlung  der  Psychologie.  Unter  diesem  Stichwort 
hat  Herbart')  die  Kritik  Schulzens  auf  die  gesammte  frühere  psychologische 
Theorie  ausgedehnt,  und  auch  Beneke  ^  sah  in  der  Aufhebung  desselben  Begriffs 
den  wesentlichen  Fortschritt  zur  Naturwissenschaft  von  der  Seele ,  d.  h.  der 
Associationspsychologie. 

Für  Schulze  ist  dies  nur  eins  der  Momente,  um  zu  beweisen,  dass  die 
kritische  Philosophie,  während  sie  Hume  gegenüber  die  Berechtigung  des 
Causalbegriffs  darzuthun  beabsichtigt,  dieselbe  aber  auf  die  Erfahrung  be- 
schränken will,  doch  überall  die  Voraussetzung  eines  Causalrerhältnisses 
zwischen  der  Erfahrung  und  dem,  was  ihr  „zu  Orunde  liege^,  macht.  Dahin 
gehört  natürlich  auch  der  schön  von  Jacobi  dargelegte  Widerspruch  im  Begriffe 
des  Dinges- an-sich,  durch  welche  die  „Sinnlichkeit^  afficirt  werden  soll.  So 
ist  denn  jeder  Versuch  der  Ejritik  der  reinen  Vernunft,  über  den  Umkreis  der 
Er&hrung  auch  nur  problematisch  hinauszugehen,  durch  sie  selbst  von  vorn- 
herein gerichtet  *). 

4  Der  erste  Versuch  zur  Umbildung  des  in  seiner  kautischen  Fassung 
unhaltbaren  Ding -an -sich -Begriffes  ging  von  Salomon  Maimon  aus.  Er  sah 
ein,  dass  die  Annahme  einer  ausserhalb  des  Bewusstseins  zu  setzenden  Realität 
einen  Widerspruch  involvirt.  Was  gedacht  wird,  ist  im  Bewusstsein:  etwas 
ausserhalb  des  Bewusstseins  zu  denken,  ist  so  imaginär,  wie  mathematisch  das 
Verlangen  V— a  als  eine  reale  Grösse  zu  betrachten.  Das  Ding-an-sich  ist 
ein  unmöglicher  Begriff.  Aber  was  war  die  Veranlassung,  ihn  zu  bilden? 
Sie  lag  in  dem  Bedürfhiss,  das  Gegebene  im  Bewusstsein  zu  erklären^).  Es 
begegnet  uns  nämlich  in  unseren  Vorstellungen  der  Gegensatz  der  Form,  welche 
wir  selbst  erzeugen  und  zu  erzeugen  uns  bewusst  sind,  und  des  Stoffs,  den  wir  nur 
in  uns  vorfinden,  ohne  zu  wissen,  wie  wir  dazu  konunen.  Von  den  Formen  haben 
wir  also  ein  vollständiges,  von  dem  Stoffe  dagegen  nur  ein  unvollständiges 
Bewusstsein:  er  ist  etwas,  was  im  Bewusstsein  ist,  ohne  mit  Bewusstsein  her- 
vorgebracht zu  sein.  Da  aber  nichts  ausserhalb  des  Bewusstseins  denkbar  ist,  so 
kann  das  Gegebene  nur  durch  den  niedrigsten  Grad  der  Vollständigkeit  des  Be- 
wusstseins definirt  werden.  Das  Bewusstsein  kann  durch  unendlich  viele  Zwischen- 
stufen bis  zum  Nichts  abnehmend  gedacht  werden,  und  die  Vorstellung  der  Grenze 
dieser  unendlichen  Reihe  (vergleichbar  der  V7)  ist  diejenige  des  Nur-Gegebenen, 
des  Dinges -an -sich.  Dinge  -  an  -  sich  sind  deshalb,  wie  Maimon  mit  directer 
Erinnerung  an  Leibniz  —  petites  perceptions,  vgl.  S.  334f.  —  sagt,  Differen- 
tiale des  Bewusstseins^).  Das  Ding-an-sich  ist  der  Grenzbegriff  für  die 
unendliche  Reihe  der  Abnahme  des  vollständigen  Bewusstseins:  eine  irrationale 
Grösse.  —  Die  Consequenz  dieser  Grundannahme  ist  bei  Maimon  die,  dass  es 
vom  Gegebenen  wie  ein  unvollständiges  Bewusstsein,  so  auch  immer  nur  eine 


1)  Herbabt,  Lehrb.  z.  Psych.  §  3.  W.  V,  8  und  sonst.  —  2)  Bkmekv,  Neue  Psych.  S.  34  ff. 
—  8)  Mit  bündif^ter  ZusammenfassuDff  hat  der  Autor  des  AeDesidemus  in  seiner  „Kritik 
der  theoretischen  Philosophie''  (U,  549 n.)  die  Gedanken  seiner  Polemik  wiederholt  —  einem 
Werke  übrigens,  welches  nicht  nur  eine  der  bis  auf  den  heutigen  Tag  besten  Analysen  der 
Er.  d.  r.  Yem.  (1, 172 — 582),  sondern  auch  eine  von  tiefem  historischen  Verständniss  (vgl.  über 
das  Yerhfiltniss  zu  Leibniz  II,  176  ff.)  getragene  Kritik  derselben  (11,  126—722)  enthält.  — 
4)  Madcon,  Transscendentalphilos.  S.  41 9  f.  —  5)  Ibid.  27  ff. 


§  41.  Diog-an-sioh.  (Maimon,  Beck,  Fichte.)  465 

unvollständige  Erkenntniss  geben  kann ')  und  dass  die  vollständige  Erkenntniss 
auf  das  Wissen  von  den  autonomen  Formen  des  theoretischen  Bewusstseins  be- 
schränkt ist,  auf  Mathematik  und  Logik.  In  der  Achtung  vor  diesen  beiden 
demonstrativen  Wissenschaften  kommt  Maimon's  kritischer  Skepticismus  mit 
Hume  überein:  hinsichtlich  der  Erkenntniss  des  empirisch  Gegebenen  gehen  sie 
diametral  aus  einander. 

Damit  aber  war  klar  geworden,  dass  die  Untersuchungen  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  eine  neue  Fassung  des  Verhältnisses  von  Bewusstsein 
und  Sein  verlangen.  Sein  ist  nur  im  Bewusstsein,  nur  als  eine  Art  des 
Bewusstseins  zu  denken.  So  beginnt  sich  die  Prophezeihung  Jacobi's  zu  er« 
füllen:  Kant's  Lehre  drängt  zum  „stärksten  Idealismus^  hin. 

Man  sieht  das  an  einem  Schüler,  der  in  den  nächsten  Beziehungen  zu  Eant 
selbst  stand,  an  Sigismund  Beck.  Er  fand^  den  „einzig  möglichen  Standpunkt 
zur  Beurtheilung  der  kritischen  Philosophie^  darin,  dass  das  für  das  individuelle 
Bewusstsein  als  „Gegenstand^  Gegebene  zum  Inhalt  eines  „ursprünglichen^, 
überindividuellen')  und  deshalb  für  die  Wahrheit  des  empirischen  Erkennens 
massgebenden  Bewusstseins  erhoben  wurde.  An  Stelle  der  Dinge  -  an  -  sich 
setzte  er  Eant's  „Bewusstsein  überhaupt^.  Aber  er  erklärte  sich  auf  diese 
Weise  die  Apriorität  der  Anschauungen  und  Kategorien:  das  Gegebene  der 
sinnlichen  Mannigfaltigkeit  blieb  auch  für  ihn  der  ungelöste  Best  des  kantischen 
Problems. 

5*  Die  volle  idealistische  Zersetzung  des  Ding -an- sich -B^riffes  ist  das 
Werk  Fichte 's.  Man  versteht  es  nach  dieser  Seite  am  besten,  wenn  man  dem 
Gedankengange  seiner  Einleitungen  in  die  Wissenschaftslehre  ^)  folgt,  der  sich  in 
freier  Wiedergabe  direct  an  den  schwierigsten  Theil  der  kantischen  Lehre,  die 
transscendentale  Deduction,  anlehnt  und  in  vollendeter  lOarheit  den  Höhepunkt 
der  hier  betrachteten  Gedankenbewegung  beleuchtet. 

Das  Fundamentalproblem  der  Philosophie  —  oder  wie  Fichte  sie  eben 
deshalb  deutsch  benennt,  der  Wissenschaftslehre  —  ist  durch  dioThatsache 
gegeben,  dass  der  willkürlichen  und  zufiUligen  Beweglichkeit  der  Vorstellungen 
des  individuellen  Bewusstseins  gegenüber  ein  anderer  Theil  in  demselben  sich 
behauptet,  welcher  mit  einem  ganz  sicher  unterscheidbaren  Gefühl  der  Noth- 
wendigkeit  behaftet  ist.  Diese  Nothwendigkeit  begreiflich  zu  machen,  ist  die 
vornehmste  Aufgabe  der  Wissenschaftslehre.  Wir  nennen  das  System  jener  mit 
dem  Gefühl  der  Nothwendigkeit  auftretenden  Vorstellungen  die  Erfahrung;  das 
Problem  lautet  also:  was  ist  der  Grund  der  Erfahrung?  Zu  seiner  Lösung  giebt 
es  nur  zwei  Wege.  Die  Erfahrung  ist  eine  auf  Gegenstände  gerichtete  Thätig- 
keit  des  Bewusstseins:  sie  kann  daher  nur  entweder  von  den  Dingen  oder  vom 
Bevrusstsein  abgeleitet  werden.  In  dem  einen  FaUe  ist  die  Erklärung  dogma- 
tisch, in  dem  anderen  idealistisch.  Der  Dogmatismus  betrachtet  das  Bewusst- 
sein als  ein  Product  der  Dinge,  er  führt  auch  die  Thätigkeiten  der  Intelligenz 
auf  die  mechanische  Nothwendigkeit  der  Causalverhältnisse  zurück,  er  kann  des- 
halb, consequent  gedacht,  nicht  anders  als  fatalistisch  und  materialistisch  endigen. 
Der  Idealismus  umgekehrt  sieht  in  den  Dingen  einErzeugniss  des  Bewusstseins, 

1)  Man  vergleiche  die  Zutälligkeit  der  Welt  bei  Leibniz  und  die  Specißcation  der  Natur 
bei  Kant:  8.  315  und  446.  —  2)  3.  Bd.  seines  „Erläuternden  Auszugs''  aus  Kant's  Schriften, 
Leipzig  1796.  —  8)  Ibid.  S.  120ff.  —  4)  Fichtk's  W.  I,  419ff. 


466  ^*  Deutsche  Philosophie.  2.  Entvrioklang  des  Idealismus. 

der  freien  nur  durch  sich  selbst  bestinimteii  Function^  er  ist  das  System  der 
Freiheit  und  der  That.  Diese  beiden  Erklarungsweisen,  yon  denen  jede  in  sich 
folgerichtig  ist,  sind  so  sehr  im  durchgängigen  Widerspruch  zu  einander  und  so 
unvereinbar,  dass  Fichte  den  Versuch  des  Synkretismus,  die  Erfahrung  durch 
eine  Abhängigkeit  sowohl  von  den  Dingen-an-sich  als  auch  von  der  Vernunft 
begreiflich  zu  machen,  von  vornherein  für  verfehlt  halt.  Zwischen  ihnen  muss, 
wenn  man  nicht  der  skeptischen  Verzweiflung  anheimfallen  will,  gewählt  werden. 

Diese  Wahl  wird  nun,  da  beide  sich  logisch  als  gleich  folgerichtige  Systeme 
darstellen,  zunächst  davon  abhängen,  ^was  f&r  ein  Mensch  man  ist^^);  aber 
wenn  so  schon  das  sittliche  Interesse  für  den  Idealismus  spricht,  so  kommt  ihm 
noch  eine  theoretische  Ueberlegung  zu  Hilfe.  Die  Thatsache  der  Erfahrung 
besteht  in  dem  stetigen  Aufeinanderbezogensein  des  „Seins^  und  des  n^e- 
wusstseins^,  darin  dass  die  ^^reelle  Reihe^  der  Gegenstände  in  der 
„idealen^  Reihe  der  Vorstellungen  angeschaut  wird*).  Diese  Doppelheit 
kann  der  Dogmatismus  nicht  erklären:  denn  die  Causalität  der  Dinge  ist  nur 
eine  einfache  Reihe  (des  „blossen  G^etztseins^).  Die  Wiederholung  des  Seins 
im  Bewusstsein  ist  unbegreiflich,  wenn  das  Sein  als  Erklämngsgrund  Skr  das 
Bewusstsein  gelten  soll.  Dagegen  gehört  es  gerade  zum  Wesen  der  Intelli- 
genz „sich  selbst  zuzusehen^.  Indem  das  Bewusstsein  handelt,  weiss  es 
auch,  dass  und  was  es  thut:  es  erzeugt  mit  der  reellen  (primären)  Reihe  seiner 
Functionen  immer  zugleich  die  ideale  (secundäre)  Reihe  des  Wissens  von  diesen 
Functionen.  Wenn,  aber  deshalb  das  Bewusstsein  den  einzigen  Erklärungsgrund 
fiii*  die  Erfahrung  abgiebt,  so  leistet  es  dies  nur  insofern,  als  es  die  sich  selbst 
anschauende,  in  sich  selbst  reflectirte  Thätigkeit  ist,  d.  h.  als  Selbstbewusst- 
sein.  Die  Wissenschaftslehre  hat  zu  zeigen,  dass  alles  auf  etwas  Anderes,  auf 
ein  Sein,  auf  Gegenstände,  auf  Dinge  gerichtete  Bewusstsein  (der  Erfahrung)  in 
der  ursprünglichen  Beziehung  des  Bewusstseins  auf  sich  selbst  wurzelt. 

Das  Princip  des  Idealismus  ist  das  Selbstbewusstsein;  in  subjectiver,  metho- 
discher Hinsicht  insofern,  als  die  Wissenschaftslehre  alle  ihre  Einsichten  nur  aus 
der  intellectuellen  Anschauung  entwickeln  will,  womit  das  Bewusstsein 
seine  eigenen  Thätigkeiten  begleitet,  aus  der  Reflexion  auf  das,  was  das  Be- 
wusstsein von  seinem  eigenen  Thun  weiss,  —  in  objectiver,  systematischer  Hin- 
sicht insofern,  als  auf  solchem  Wege  diejenigen  Functionen  der  Intelligenz  auf- 
gewiesen werden  sollen,  wodurch  das  erzeugt  wird,  was  im  gemeinen  Leben  Ding 
und  Gegenstand  und  in  der  dogmatischen  Philosophie  Ding -an -sich  genannt 
wird.  Der  letztere,  in  sich  durchaus  widerspruchsvolle  Begriff  ist  damit  bis  auf 
den  letzten  Rest  aufgelöst,  alles  Sein  ist  nur  begreiflich  als  Product  der  Vernunft, 
und  der  Gegenstand  der  philosophischen  Erkenntniss  ist  das  System  der  Ver- 
nunft (vgl.  §  42). 

Für  Fichte  und  seine  Nachfolger  wurde  so  der  Begriff  des  Dinges-an- 
sich  gleichgiltig,  und  der  alte  Gegensatz  zwischen  Sein  und  Bewusstsein  sank  zu 
der  secundären  Bedeutung  einer  immanenten  Beziehung  innerhalb  der  Ver- 


1)  Ibid.  I,  484.  —  2)  Wenn  der  Gegensatz  von  Dogmatismus  und  Idealifmus  auf  den 
kantischen  von  Natur  und  Freiheit  zurückweist,  wobei  übrigens  auch  schon  das  System  der 
Nothwendigkeit  der  Dinge  stark  spinozistisoh  gezeichnet  erscheint,  so  macht  sich  in  diesem 
Verhältniss  der  beiden  Reihen  zuerst  die  systematische  Einwirkung  von  Spinoza's  Lehre  fiber 
die  beiden  Attribute  geltend. 


§  41.  Ding-an-sich.  (Krug,  Schleieimaoher.)  457 

nunftthätigkeit^  herab.  Ein  Object  giebt  es  nur  für  ein  Subject:  und  der 
gemeinsame  Gmnd  für  beide  ist  die  Yemunft,  das  sich  selbst  und  sein  Thun 
anschauende  Ich^). 

6.  Während  die  Hauptentwicklung  der  deutschen  Metaphysik  diesem  Fichte'- 
sehen  Zuge  folgte,  blieb  doch  auch  jener  „Synkretismus"  nicht  ohne  Vertreter, 
welchen  die  Wissenschaftdehre  a  limine  von  sich  gewiesen  hatte.  Seinen  meta- 
physischen Typus  hatte  ja  Beinhold  ausgeprägt;  ebenso  nahe  aber  lag  er  allen, 
die  psychologistisch  ron  dem  individuellen  Bewusstsein  ausgingen  und  dieses  in 
gleicher  Abhängigkeit  von  dem  Realen  wie  von  dem  allgemeinen  Wesen  des 
Intellects  zu  finden  glaubten.  Als  ein  Beispiel  dieser  Auffassung  kann  der 
„transscendentale  Synthetismus"  aufgefasst  werden,  den  Krug  lehrte. 
Ihm  ist  die  Philosophie  eine  Selbstverständigung  vermöge  der  Reflexion  des  Ich 
auf  die  „Thatsachen  des  Bewu^stseins".  Dabei  aber  zeigt  sich  als  ürthatsache 
die  transscendentale  Synthesis,  dass  Reales  und  Ideales  als  gleich  ursprünglich 
im  Bewusstsein  gesetzt  und  auf  einander  bezogen  sind').  Wir  kennen  das  Sein 
nur,  insofern  es  im  Bewusstsein  erscheint,  und  das  Bewusstsein  nur,  insofern  es 
auf  das  Sein  sich  bezieht:  aber  beide  sind  Gegenstände  eines  unmittelbaren 
Wissens  ebenso  wie  die  zwischen  ihnen  in  unserer  Yorstellungswelt  bestehende 
Gemeinschaft. 

Eine  feinere  Wendung  haben  diese  Gedanken  in  Schleiermacher' s 
Dialektik  gefunden.  Alles  Wissen  ist  darauf  gerichtet,  die  Identität  von 
Sein  und  Denken  herzustellen:  denn  beide  treten  im  menschlichen  Bewusstsein 
getrennt  auf,  als  dessen  realer  und  idealer  Factor,  Anschauung  und  Begriff, 
organische  und  intellectuelle  Function.  Nur  ihre  völlige  Ausgleichung  gäbe 
Erkenntniss,  aber  sie  bleiben  immer  in  Differenz.  In  Folge  dessen  ist  die  Wissen- 
schaft ihren  Gegenständen  nach  in  Physik  und  Ethik,  ihren  Methoden  nach  in 
empirische  und  theoretische  Disciplinen  getheilt:  Naturgeschichte  und  Natur- 
wissenschaft, Weltgeschichte  und  Sittenlehre.  In  allen  diesen  besonderen  Dis- 
cipUnen  überwiegt^),  materiell  oder  formell,  der  eine  oder  der  andere  von 
beiden  Factoren,  obwohl  darin  die  Gegensätze  auf  einander  zustreben :  die  em- 
pirischen Wissenszweige  auf  rationale  Gliederung,  die  theoretischen  auf  Yer- 
standniss  der  Thatsachen,  die  Physik  auf  die  Genesis  des  Organismus  und  des 
Bewusstseins  aus  der  Eörperwelt,  die  Ethik  auf  die  Beherrschung  und  Durch- 
dringung des  Sinnlichen  durch  den  zweckvoU  thätigen  Willen.  Aber  nirgends 
im  wirklichen  Erkennen  ist  die  Ausgleichung  des  Realen  und  des  Idealen  voll- 
kommen erreicht:  sie  bildet  vielmehr  den  absoluten,  unbedingten,  im  Unend- 
Uchen  liegenden  Zielpunkt  des  Denk^s,  welches  Wissen  werden  will,  aber 
niemals  vöUig  wird^).  Daher  ist  die  Philosophie  Lehre  vom  ewig  werdenden 
Wissen,  —  Dialektik. 

Aber  sie  setzt  eben  deshalb  die  Realität  dieses  im  menschlichen  Wissen 
nianals  zu  erreichenden  Zieles  voraus:  die  Identität  von  Denken  und  Sein. 
Diese  nennt  Schleiermacher  mit  Spinoza  (und  Schelling)  Gott.  Sie  kann  kein 
Gegenstand  der  theoretischen  und  ebensowenig  dner  der  praktischen  Vernunft 


1)  Vgl.  auch  ScBXLLniG'&  Jugendschrift  „vom  Ich  als  Frinoip  der  Philosophie'',  W.  I, 
151  ff.  —  2)  KBüa,  Fandamentalphilosophie  S.  106  ff.  —  9)  Dies  Yerhältniss  erscheint  in  der 
Schleiermacher'schen  Dialektik  der  jcnetaphysischen  Form  von  Schelling^s  Identitätssystem 
nachgebüdet:  vgl.  §  42,  8.  —  4)  Dialektik  (W.  lU,  4  b,  68  f.). 


458  ^I*  Deutsche  Philosophie.  2.  EntwickluDg  des  Idealismus. 

sein.  Wir  wissen  Gott  nicht,  und  wir  können  darum  auch  nicht  mit  Bücksicht 
auf  ihn  unser  sittliches  Leben  einrichten.  ReUgion  ist  mehr  als  Wissen  und. 
Rechthandehi ;  ist  die  Lebensgemeinschaft  mit  der  höchsten  Wirklichkeit,  in 
der  Sein  und  Bewusstsein  identisch  sind.  Diese  Gemeinschaft  aber  tritt  des- 
halb nur  im  Gefühl  auf,  in  dem  „frommen"  Gefiihl  einer  absoluten  „schlecht- 
hinnigen"  Abhängigkeit  von  jenem  unendlichen,  unausdenkbaren  Weltgnmde 
(vgl.  §  42,  6).  Spinoza's  Gott  und  Kant's  Ding- an -sich  fallen,  im  Unend- 
lichen zusammen,  werden  aber  damit  über  alles  menschliche  Wissen  und 
Wollen  hinausgehoben  und  zu  Gegenständen  eines  mystischen  Gefühls 
gemacht,  dessen  feine  Schwingungen  bei  Schleiermacher  (wie  in  etwas  anderer 
Form  auch  bei  Fries)  an  die  Herrnhutische  Verinnerlichung  des  religiösen 
Lebens  anklingen. 

Durch  den  Pietismus  hindurch,  dessen  nach  Spener  und  Francke  inuner 
stärker  hervortretende  orthodoxe  Yergröberung  den  Gegensatz  der  Brüder- 
gemeine hervorrief,  ziehen  sich  so  die  Traditionen  der  Mystik  bis  auf  die  Höhen 
der  idealistischen  Entwicklung,  und  in  dem  Geiste,  der  alles  Aeusserliche  in 
Innerliches  umsetzen  will,  berührten  sich  in  der  That  die  Lehre  Eckhart's  und 
die  Transscendentalphilosophie:  sie  haben  beide  einen  echt  germanischen  Erd- 
geschmack; sie  suchen  die  Welt  im  „Gemüthe". 

7.  Mit  der  Ablehnung  einer  wissenschaftlichen  Erkennbarkeit  des  Welt- 
grundes blieb  Schleiermacher  näher  bei  Kant;  aber  die  religiöse  GefiUüs- 
anschauung,  welche  er  an  deren  Stelle  setzte,  war  dafür  desto  mehr  von  Spinoza 
und  von  den  Einwirkungen  abhängig,  welche  dieser  seit  Fichte's  Wissenschafts- 
lehre auf  die  idealistische  Metaphysik  ausgeübt  hatte.  Diesen  Monismus  der 
Vernunft  (vgl.  die  Entwicklung  im  §  42)  bekämpfte  Herbart  durch  eine  ganz 
andersartige  Umbildung  des  kantischen  Ding-an-sich-Begriffes.  Er  wollte  der 
Auflösung  desselben  entgegentreten  und  sah  sich  dadurch  zu  der  Paradoxie  einer 
Metaphysik  der  Dinge-an-sich  gedrängt,  welche  doch  deren  ünerkennbarkeit 
festhalten  sollte.  Die  Widersprüche  der  transscendentalen  Analytik  erscheinen 
hier  in  grotesker  Yergrösserung. 

Das  ist  um  so  merkwürdiger,  als  die  rückläufige  Tendenz,  welche  man  der 
Herbart'schen  Lehre  wohl  im  Gegensatze  zu  den  idealistischen  Neuerungen 
nachgesagt  hat,  sich  eben  in  der  Bekämpfung  von  Kant's  transscendentaler  Logik 
(vgl.  §  38,  5)  entwickelt  hat.  Herbart  sah  mit  Recht  in  dieser  die  Wurzeln  des 
IdeaUsmus:  sie  lehrte  ja  die  Formen,  mit  denen  der  „Verstand^  die  Welt  der 
Gegenstände  erzeugt,  undinFichte's  »Ich^  war  nur  ausgewachsen,  was  in  Kant's 
„Bewusstsein  überhaupt"  oder  „transscendentaler  Apperception"  keimte.  Her- 
bart's  Neigung  zur  früheren  Philosophie  besteht  nun  gerade  darin ,  dass  er  die 
schöpferische  Spontaneität  des  Bewusstseins  leugnet  und  dasselbe  wie  die  Associa- 
tionspsychologen  nach  Form  und  Inhalt  von  aussen  bestimmt  und  abhängig  findet. 
Er  bestreitet  auch  das  virtuelle  Angeborensein,  das  sich  ja  von  Leibniz  her  durch 
die  Inauguraldissertation  in  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  fortgepflanzt  hatte : 
wie  Raum  und  Zeit,  so  gelten  ihm  auch  die  in  den  Kategorien  ausgedrückten 
Beziehungsformen  als  Producte  des  Yorstellungsmechanismus.  In  Betreff  der 
psychogenetischen  Fragen  steht  er  durchweg  auf  dem  Boden  der  Auf  klärungs- 
philosophie.  Deshalb  kennt  er  auch  keine  andere  Logik  als  die  formale,  deren 
Princip  der  Satz  des  Widerspruchs  ist,  —  nämlich  das  Verbot  ihn  zu  begehen. 


§  41.  Ding-an-sich.  (Herbart)  459 

Der  oberste  G-rundsatz  alles  Denkens  ist :  was  sich  widerspricht,  kann  nicht  wahr- 
haft wirklich  sein^). 

Nun  zeigt  sich  aber,  dass  die  Begriffe,  in  denen  wir  die  Erfahrung  denken, 
in  cdph  widerspruchsvoll  sind :  wir  nehmen  Di  n  ge  an,  die  mit  sich  selbst  identisch, 
doch  einer  Mannigfaltigkeit  von  Merkmalen  gleichgesetzt  werden  sollen ;  wir  reden 
von  Veränderungen, in  denen  das  mit  sich  Gleiche  successive  Verschiedenes 
sei;  wir  fiLhren  alle  innere  Erfahrung  auf  ein  Ich  zurück,  welches  als  das  „sich 
selbst  Vorstellende"  in  der  Bichiung  des  Subjects  wie  in  der  des  Objects  eine 
unendliche  Reihe  involvirt,  —  alle  äussere  Erfahrung  auf  eine  Materie,  in  deren 
Vorstellung  die  Merkmale  des  Diskreten  und  des  Continuirlichen  sich  streiten. 
Diese  ErfEihrung  kann  nur  Erscheinung  sein :  aber  der  Erscheinung  muss  etwas 
widerspruchslos  Wirkliches  zu  Grunde  liegen,  den  scheinbaren  Dingen  absolute 
'„Reale",  dem  scheinbaren  Geschehen  ein  wirkliches  Geschehen.  So  viel 
Schein,  so  viel  Hindeutung  auf  das  Sein.  Dies  auszumitteln,  ist  die  Aufgabe  der 
Philosophie:  sie  ist  eine  Bearbeitung  der  Erfahrungsbegriffe,  welche 
gegeben  und  nun  nach  den  Regeln  der  formalen  Logik  so  lange  umzubilden  sind, 
bis  die  in  sich  widerspruchslose  Realität  erkannt  ist. 

Das  allgemeine  Mittel  dazu  ist  die  Methode  der  Beziehungen.  Die 
Grundform  des  Widerspruchs  ist  überall  die,  dass  etwas  Einfaches  als  verschieden 
gedacht  werden  soll  (die  synthetische  Einheit  des  Mannigfaltigen  bei  Kant).  Diese 
Schwierigkeit  ist  nur  zu  heben,  wenn  man  eine  Mehrheit  von  einfachen  Wesen 
annimmt,  durch  deren  Beziehung  auf  einander  an  jedem  einzelnen  der  „Schein" 
des  Mannigfaltigen  bzw.  Veränderlichen  hervorgebracht  wird.  So  ist  der  Begriff 
der  Substanz  nur  aufrechtzuerhalten,  wenn  man  annimmt,  dass  die  mehrfachen 
Eigenschaften  und  die  wechselnden  Zustände,  welche  dieselbe  vereinigen  soll, 
nicht  sie  selbst,  sondern  nur  die  Beziehung  treffen,  worin  sie  zu  anderen  Substanzen 
abwechselnd  steht.  DieDinge-an-sich  müssen  viele  sein :  aus  einem  einzigen  wäre 
die  Mannigfaltigkeit  der  Eigenschaften  und  Zustände  nie  begreiflich.  Jedes 
einzelne  aber  dieser  metaphysischen  Dinge  muss  als  durchaus  einfach  und  un- 
veränderlich gedacht  werden:  sie  heissen  bei  Herbart  Realen.  Alle  Eigen- 
schaften nun,  welche  in  der  Erfahrung  die  Merkmale  der  Dinge  bilden,  sind  relativ 
und  lassen  dieselben  nur  im  Verhältniss  zu  anderen  Dingen  erscheinen :  die  ab- 
soluten Qualitäten  also  jener  Realen  sind  unerkennbar. 

8.  Allein  sie  müssen  als  der  bestimmende  Seinsgrund  der  erscheinenden 
Qualitäten  gedacht  werden,  und  ebenso  muss  als  Grund  der  scheinbaren  Ver- 
änderungen, welche  der  Wechsel  der  Qualitäten  an  den  empirischen  Dingen  zeigt, 
ein  wirkliches  Geschehen,  ein  Beziehungswechsel,  zwischen  den  Realen 
angenommen  werden.  Hier  geräth  nun  aber  diese  ganze  künstliche  Construction 
des  Unerfahrbaren  ins  Schwanken.  Denn  die  eleatische  Starrheit  dieser  Realen 
erlaubt  auf  keine  Weise,  eine  Vorstellung  von  der  Art  der  „wirklichen  Beziehungen" 


1)  VgL  Einleitung  in  die  Philos.  W.  I,  72—82.  Den  historischen  Anlass  zu  dieser 
scharfen  Hervoricehrnng  des  Satzes  vom  Widerspruch  bot  für  Herbart  allerdinffs  die  Herab- 
setzung, welche  derselbe  in  der  dialektischen  Methode  (vgl.  %42,1)  fand;  sachlich  aber  ist 
Herbart's  Lehre  (mit  Ausnahme  der  Behandlung  des  Ich-BegrifTs)  davon  durchaus  unabhängig. 
Mit  dem  Postulat  des  widerspruchslosen  Seins  ist  das  eleatische  Moment  der  Her- 
bart^schen  Philosophie  (vgl.  I,  236)  g^ben,  und  diesem  Umstände  verdankte  der  sonst  wenig 
historisch  veranlagte  Philosoph  seine  Feinfühligkeit  für  das  metaphysische  Motiv  der  platoni- 
schen Ideenlehre,  vgl.  I,  237  ff.  und  XU,  61  ff. 


460  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  EntwiokluDg  des  Idealismus. 

zu  Ulden,  welche  doch  zwischen  ihnen  stattfinden  sollen.  BÄumlich  zunächst  können 
.  dieselben  nicht  sein  ^).  Raum  und  Zeit  sind  Producte  der  B^ihenbüdung  der 
Vorstellungen,  des  seelischen  Mechanismus  imd  daher  für  Herbart  in  fast  noch 
stärkerem  Grade  phänomenal  als  für  Kant.  Nur  in  übertragenem  Sinne  können 
die  wechselnden  Beziehungen  der  Substanzen  als  ein  „Eonunen  und  Gehen  im 
intelligiblen  Baimie^  bezeichnet  werden :  was  sie  aber  selbst  sind,  dafUr  fehlt  der 
Herbart'schen  Lehre  jeder  Ausdruck.  Nur  in  negativer  Bichtung  muss  de  eine 
bedenkliche  Concession  machen.  Jedes  Reale  ist  nur  in  sich  einfach  und  wandele 
los  bestimmt :  die  Beziehung  also,  welche  zwischen  zwei  Realen  besteht  oder  zu 
Stande  kommt,  ist  keinem  von  beiden  wesentlich  und  in  keinem  von  beiden  be- 
gründet.  Ein  drittes  aber,  das  diese  Beziehung  setzte,  ist  in  dieser  Metaphysik 
nicht  aufzufinden ').  Daher  werden  die  Beziehungen,  in  denen  die  Realen  sich 
befinden  und  aus  denen  die  Erscheinungen  der  Dinge  und  ihrer  Verhältnisse 
folgen  sollen,  „zufällige  Ansichten'^  der  Realen  genannt:  und  Herbarts  Mei- 
nung ist  an  manchen  Stellen  kaum  anders  zu  verstehen,  als  dass  das  Bewusst- 
sein  der  intelligible  Raum  sei,  in  welchem  jene  Beziehungen  stattfinden,  dass 
auch  das  wirkliche  Geschehen  etwas  sei,  was  selbst  als  „objectiver  Schein*^  nur 
,,dem  Zuschauer  passirt^  *).  Nimmt  man  hinzu,  dass  auch  das  „Sein^  der  Realen 
oder  absoluten  Qualitäten  von  Herbart  als  „absolute  Position^,  d.  h.  als 
eine  „Setzung^  definirt  wird^),  bei  der  es  sein  Bewenden  haben  und  die  nicht 
zurückgenommen  werden  soll,  so  eröffnetsich  die  Perspektive  auf  einen  „absoluten^ 
Idealismus. 

Diesen  hat  nun  freilich  Herbart  noch  weniger  ausgeführt  als  Kant :  es  hätte 
auch  hier  zum  absoluten  Widerspruch  geführt.  Denn  die  Theorie  der  Realen 
müht  sich  ja  gerade  ab,  auch  das  Bewusstsein  als  eine  in  der  Erscheinung  auf- 
tretende Folge  des  „Zusammenseins  der  Realen^  zu  deduciren.  Die  letzteren 
nämlich  sollen  sich  dabei  gegenseitig  „stören^  und  als  Reactionen  gegen  diese 
Störungen  die  eine  in  der  anderen  innerliche  Zustände  hervorrufen,  welche 
die  Bedeutung  von  „  Selbsterhalt  ungeu  ^  haben  ^).  Solche  Selbsterhaltungen 
sind  uns  unmittelbar  bekannt  als  diejenigen,  mit  welchen  das  unbekannte  Reale 
unserer  Seele  gegen  die  Störung  durch  andere  Reale  sich  aufrechterhält:  es 
sind  die  Vorstellungen.  Die  Seele  als  einfache  Substanz  ist  natürlich  unerkenn- 
bar: Psychologie  ist  nur  die  Lehre  von  ihren  Selbsterhaltungen.    Diese,  die 

• 

1)  Nicht  nur  hierdurch  unterscheiden  sich  auf  dem  gemeinsamen  Grunde  einer  plura- 
listischen Umbildung  des  eleatischen  Seinsbegriffs  Herbart's  Realen  Ton  Demo- 
krit's  Atomen,  sondern  auch  durch  die  Verschiedenheit  der  (unerkennbaren)  Qualität,  an 
deren  Stelle  der  Atomismus  nur  quantitative  Differenzen  zulässt.  Ebensowenig  sind  die  Realen 
mit  Leibniz'  Monaden  zu  verwechseln,  mit  denen  sie  allerdings  die  Fetisterlosigkeit^  aber  nicht 
die  Einheit  des  Mannigfaltigen  theilen.  Mit  den  platonischen  Ideen  haben  sie  die  Merkmale 
des  eleatischen  Seins,  aber  nicht  den  Charakter  der  Gattungsbegriffe  gemein.  —  2)  In  diese 
Lücke  der  Metaphysik  hat  Her  hart  seine  Religionsphilosophie  eingeschoben:  denn  da 
es  keine  Erkenntniss  des  realen  Grundes  der  Beziehungen  zwischen  den  Realen  giebt,  aus 
denen  die  Erscheinungswelt  hervorgeht,  so  erlaubt  der  Eindruck  der  Zweokmässü^ei^  welchen 
die  letztere  macht,  in  theoretisch  unanfechtbarer  Weise  an  eine  höchste  IntdBgenz  ab  den 
Grund  dieser  Beziehungen  zu  glauben,  —  eine  sehr  blasse  Emeuemnff .  des  alten  phyaiko- 
theologischen  Beweises.  —  8)  Vgl.  W.  lY,  9dff.,  127—132,  233,  240?.,  246ff.;  dazu  anoh 
E.  Zellxr,  Gesoh.  d.  deutsch.  Philos.  844.  ~  4)  Vgl.  W.  IV,  71  ff.  —  5)  Das  „Saum  esse  oon- 
servare",  bei  Hobbes  und  Spinoza  der  Grundtrieb  der  Einzelwesen,  erscheint  bei  Herbart  ak 
die  metaphysische  Bethätigung  der  Realen,  vermöge  deren  sie  die  Welt  des  Scheins,  die 
Erfahrung,  hervorbringen. 


§  41.  Bing-an-sich.  (Herbart,  Bouterwek.)  461 

VoratelkingeD,  verhalten  sich  nun  innerhalb  der  Seele,  welche  lediglich  den  in- 
differenten Boden  für  ihr  Zusammensein  abgiebt,  wiederum  zu  einander  wie 
Realen :  sie  stören  und  hemmen  einander,  und  aus  dieser  gegenseitigen  Spannung 
der  Vorstellungen  ist  der  ganze  Ablauf  des  seelischen  Lebens  zu  erklären. 
Durch  die  Spannung  verlieren  die  Vorstellungen  an  Intensität:  und  am  Grrade 
der  Intensität  hängt  ihr  Bewusstsein.  Der  niederste  Grad  von  Stärke,  bei  dem 
die  Vorstellungen  noch  ak  wirklich  gelten  können ,  ist  dieBewusstseins- 
schwelle.  Werden  die  Vorstellungen  durch  andere  unter  diese  Schwelle  hinab- 
gedrückt, so  verwandeln  sie  sich  in  den  Trieb.  In  den  Hemmungs Verhältnissen 
der  Vorstellung  ist  daher  das  Wesen  derjenigen  seehschen  Zustände  zu  suchen, 
welche  Gefühl  und  Wille heissen.  Alle  diese  Verhältnisse  aber  müssen  als  „Statik 
undMechanik  der  Vorstellungen"  entwickelt  werden  ^),  und  da  es  sich  dabei  wesent- 
lich um  die  Bestimmung  von  Kraftdifferenzen  handelt,  so  muss  diese  metaphysische 
Psychologie  sich  zu  einer  mathematischen  Theorie  des  Vorstellun^s- 
mechanismus  gestalten^).  Insbesondere  legte  Herbart  dabei  Gewicht  auf  die 
Untersuchung  des  Vorganges,  durch  welchen  neu  eintretende  Vorstellungen  von 
den  schon  vorhandenen  „assimilirt^,  eingeordnet,  geformt  und  zum Theil  verändert 
werden:  er  verwendet  dafür  den  (zuerst  von  Leibniz,  vgl.  S.  366,  geprägten)  Aus- 
druck Apperception,  und  seine  Theorie  derselben  lief  auf  eine  associations- 
psychologische  Erklärung  des  7,Ich"  hinaus,  welches  als  der  wandernde  Punkt 
gedacht  wurde,  an  dem  jeweils  die  appercipirenden  und  die  appercipirten  Vor- 
stellungen zusammenlaufen. 

Während  so  die  Selbsterhaltung  des  Seelen-Bealen  gegen  die  Störung 
durch  die  übrigen  die  Erscheinung  des  Vorstellungslebens  hervorbringt,  so  ergiebt 
die  gegenseitige  Selbsterhaltung  und  „partielle  Durchdringung"  mehrerer  Realen 
für  das  zuschauende  Bewusstsein  den  „objectiven  Schein"  der  Materie.  Mit 
einer  unsäglich  mühseligen  Construction  wird  hier")  die  Mannigfaltigkeit  physi- 
calischer  und  chemischer  Phänomene  aus  den  metaphysischen  Voraussetzungen 
herausgequält,  —  ein  heute  vergessener  Versuch,  der  in  der  Naturforschung 
ebenso  wirkungslos  gewesen  ist  wie  in  der  Philosophie. 

9.  Ein  anderer  Göttinger  Professor,  Bouterwek,  ging  dem  Ding-an-sich 


1)  Auf  dieser  metaphysischen  Basis  errichtete  Herbart  das  Gebäude  einer  immanenten 
Associationspsychologie.  Die  Voraosseti^ang  einer  mechanischen  Nothwendiffkeit  des 
Vorstellungsproc^sses  und  die  Ansicht,  dass  daraus  auch  die  Willensthätigkeiten  als  ebenso 
npthwendige  Verhältnisse  folgen,  erwies  sich  als  glückliche  Grundlage  für  eine  wissen- 
schaftliche Theorie  der  Pädagogik,  welche  Disciplin  Herbart  ausserdem  von  der  Ethik 
abhängig  machte,  indem  diese  das  Ziel  der  Erziehung  (sittliche  Charakterbildung  und  die 
Psychologie  den  Mechanismus  von  dessen  Verwirklichunff  lehre.  In  ähnlicher  Weise  liat 
Beneke,  welcher  den  Standpunkt  der  Associationspsychologie  ohne  Herbart's  Metaphysik 
einnahm,  den  Weg  zu  einer  systematischen  Pädi^^  gefunden.  —  2)  Bei  der  Ausführung 
dieses  Gedankens  setzte  Herbart  voraus,  dass  VorsteUun^en  bei  ihrer  gegenseitigen  Hemmung 
so  viel  an  Intensität  verlieren,  als  die  schwächste  von  ihnen  daran  besitzt,  und  dass  diese 
Hemmu Uff s summe  sich  auf  die  einzelnen  Vorstellungen  in  umgekehrtem  Verhältniss  ihrer 
nrsprüngHohen  Stärke  vertheilt,  sodass,  wenn  im  einfadisten  Falle  a  >  b  ist,  durch  die  Hem- 

mung  a  auf  —  '     ,  . und  b  auf — r-r-  reducirt  wird.    Vgl.  über  diese  willkürlich  axio- 

a-j-b  a-f-b 

matische  Annahme  und  die  Verfehltheit  des  granzen  „psychologischen  Galcüls''  A.  Lanqe,  Die 

Grundlegung  der  mathematischen  Psychologie,  Duisburg  1^5.  —  8)  AUgem.  Metaphysik 

§  240ff.,  331  ft  W.  IV,  147 ff.,  3ä7ff,  In  der  Metaphysik  Herbart's  wird  die  Auszweigung  der 

allgemeinen  Ontologie  in  die  Anfönge  der  Psychologie  und  der  Naturphilosophie  mit  den 

Namen  Eidologie  und  Synechologie  bezeichnet. 


462  ^I*  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

mit  anderen  Waffen  zu  Leibe.  Er  zeigte  in  seiner  „Apodiktik^;  dass,  wenn  mit 
den  Lehren  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  Ernst  gemacht  werden  solle,  als  das 
^Objecty  worauf  sich  das  Subject  nothwendig  bezieht^;  lediglich  ein  röllig  unvor- 
stellbares X  übrig  bleibt.  Man  kann  nicht  vom  Dmg-an-sich  oder  von  Dingen-an- 
sich  reden-,  denn  darin  stecken  die  Kategorien  der  Lihärenz,  der  Einheit  und 
Vielheit  ^),  der  Realität^  welche  ja  nur  für  Erscheinungen  gelten.  Die  Trans- 
scendentalphilosophie  muss  ^^negativer  Spinozismus^  werden^).  Sie  kann  nur 
lehren,  dass  dem  „Bewusstsein  überhaupt^  ein  „Etwas  überhaupt^  entspricht^ 
irarliber  im  absohiten  Wissen  gar  nichts  anssusageo  isl.  (Y gL  in  B^soff  Spinoza's 
oben  S.  322f.)  Dagegen  macht  sich  dies  absolut  Beale  in  allem  relatirea 
Wissen  durch  das  Bewusstsein  des  Wollens  geltend^),  i^ies  zeigt 
nämlich  überall  die  lebendige  Kraft  der  Individualität.  Wir  wissen 
vom  Subject,  weil  es  etwas  will,  und  vom  Object,  weil  es  diesem  Willen  Wider- 
stand leistet.  Der  Gegensatz  von  KraftundWiderstand  begründet  gemein- 
sam das  Wissen  von  der  Realität  unser  selbst  und  anderer  Dinge,  —  des  Ich 
und  des  Nicht-Ich^).  Diese  Lehre  will  Bouterwek  absoluten  Virtualismus 
genannt  wissen.  Wir  erkennen  unsere  eigene  Realität  daran,  dass  wir  wollen, 
und  die  Realität  anderer  Dinge  daran,  dass  unser  Wille  an  ihnen  eine  entgegen- 
strebende Kraft  findet.  Das  Gefühl  des  Widerstandes  widerlegt  den  reinen  Sub- 
jectivismus  oder  Solipsismus,  aber  dies  relative  Wissen  von  den  besonderen 
Kräften  des  Wirldichen  ergänzt  sich  mit  dem  Bewusstsein  unseres  eigenen 
Wollens  nur  zur  empirischen  Wissenschaft  ^). 

Diesen  Gedanken  seines  Göttinger  Lehrers  hat  Schopenhauer  unter  der 
Einwirkung  Fichte's  zu  einer  Metaphysik  ausgebildet.  Mit  einem  kühnen  Sprunge 
schwingt  er  sich  von  jenem  Virtualismus  zur  Erkenntniss  des  Wesens  aller  Dinge 
auf.  Als  die  wahre  Realität  erkennen  wir  in  uns  den  Willen,  und  der  Wider- 
stand, aus  dem  wir  die  Realität  anderer  Dinge  erkennen,  muss  deshalb  ebenfalls 
Wille  sein.  So  verlangt  es  das  „metaphysische  Bedürfnisse  nach  einer 
einheitlichen  Erklärung  der  gesammten  Erfahrung.  Die  Welt  „als  Vorstellung^ 
kann  nur  Erscheinung  sein:  ein  Object  ist  nur  im  Subject  mogUch  und  durch 
dessen  Formen  bestimmt.  Daher  erscheint  die  Welt  in  der  menschlichen  Vor- 
stellung (als  „Gehimphänomen",  wie  Schopenhauer  mit  bedenklich  widerspruchs- 
voller Laxheit  des  Ausdrucks  auch  manchmal  gesagt  hat)  als  eine  in  Raum  und 
Zeit  angeordnete  Mannig&ltigkeit,  deren  Verbindung  lediglich  nach  danr  Satze 
der  Causalität  gedacht  werden  kann,  —  der  einzigen  unter  den  kantischen 
Kategorien,  welcher  Schopenhauer  eine  den  reinen  Anschauungen  ebenbürtige 
Ursprünglichkeit  zuerkennen  kann.  An  diese  Formen  gebunden,  kann  die  begriff- 
liche Erkenntniss  immer  nur  die  Nothwendigkeit,  welche  zwischen  den  einzelnen 
Erscheinungen  obwaltet,  zu  ihrem  Gegenstande  haben:  denn  Causalität  ist  ein 
Verhältniss  von  Erscheinungen  unter  einander;  die  Wissenschaft  kennt  nichts 
Absolutes,  Unbedingtes ;  der  Leitfetden  der  Causalität,  welcher  von  einem  Be- 
dingten zum  anderen  führt,  reisst  nie  ab  und  darf  nicht  willkürlich  abgerissen 


1)  y^l.  bes.  Apodiktik  I,  261,  dOaff.  —  2)  Ibid.  385ff.  —  8)  Nach  kantisch-fichte*8ehem 
Vorgänge  endet  bei  Bouterwek  die  theoretische  Apodiktik  in  Skepticismus  oder  in  das  völlig 
abstracMormale  absolute  Wissen:  erst  die  npraktische"  Apodiktik  gewinnt  eine  inhalUiohe 
Beziehung  zur  Realität.  —  4)  Apodiktik  ü,  62  ff.  —  6)  Ibid.  11,  67  f. 


§  41.  Ding-an-sich.  (Schopenhauer.)  463 

werden  ^).  Ueber  diese  unendliche  Reihe  der  Erscheinungen  kann  sich  also  die 
begriffliche  Arbeit  der  Wissenschaft  in  keiner  Weise  erheben:  nur  eine  intuitive 
Deutung  des  Ganzen  derVorstellungswelt;  ein  genialer  Blick  über  die  Erfahrung^ 
ein  unmittelbares  Erfassen  kann  zu  dem  wahren  Wesen  dringen,  welches  in  den 
Vorstellungen  als  räumlich^  zeitlich  und  causal  bestnnmte  Welt  erscheint.  Diese 
Intuition  aber  ist  diejenige,  durch  welche  das  erkennende  Subject  sich  selbst 
unmittelbar  sis  Wille  gegeben  ist.  Dies  Wort  löst  also  auch  das  Räthsel 
der  Aussenwelt.  Denn  nach  dieser  Analogie  des  einzig  unmittelbar  Gegebenen 
mfissen  wir  auch  die  Bedeutung  alles  mittelbar,  in  Baum  und  Zeit  als  Vorstellung 
Gegebenen  auffassen').    Das  Ding-an-sich  ist  der  Wille. 

Freilich  muss  dabei  das  Wort  in  einer  erweiterten  Bedeutung  genonunoi 
werden.  In  uns  Menschen  und  in  den  animalischen  Wesen  erscheint  dar  Wille 
als  die  durch  Vorstellungen  bestimmte  Motivation,  in  dem  instinctiven  und 
vegetativen  Leben  des  Organismus  alsReizemp  f  üb  gliehkeit,in  den  übrigen 
Gebilden  der  Erfahrungswelt  als  mechanisches  Geschehen.  Diejenige 
Gesammtbedeutung,  welche  diesen  versdnedenen,  innerlichen  oder  äusserlichen 
Arten  der  Causalität  gemeinsam  ist,  soll  a  potiori  als  Wille  bezeichnet  werden 
nach  deijenigen  Form,  in  welcher  sie  allein  uns  unmittelbar  bekannt  ist.  Demnach 
betont  der  Philosoph  MndrückUch,  dass  von  dem  Willen  als  Ding-an-sich  die 
besonderen  Eigentümlichkeiten,  mit  denen  er  in  der  menschUchen  Selbstanschau- 
ung gegeben  ist,  die  Motivation  durch  Vorstellungen  und  Begriffe,  durchaus 
femzuhatten  sei,  —  ein  Verlangen,  dem  nachzukommen  ihm  selbst  freilich  schwer 
genug  geworden  ist. 

Dabei  darf  jedoch  das  Verhaltniss  zwischen  Ding-an-sich  und  Erscheinung 
nicht  nach  der  Regel  des  Verstandes,  d.  h.  nicht  causal  gedacht  werden.  Das 
Ding-an-sich  ist  nicht  die  Ursache  der^Erscheinungen.  Schon  beim 
Menschen  ist  der  Wille  nicht  die  Ursache  des  Leibes  oder  der  Leibesthätigkeiten : 
sondern  dasselbe  Wirkliche,  welches  uns  mittelbar  durch  Vorstellung  in  der 
räumlichen  und  zeitlichen  Anschauung  als  Leib  gegeben  ist  und  in  der  Erkennt- 
niss  als  etwas  causal  Nothwendiges  und  von  anderen  Erscheinungen  Abhängiges 
begriffen  wird,  dasselbe  ist  unmittelbar  als  Wille  gegeben.  Weil  nun  das  Ding- 
an-sich  dem  Satz  vom  Grunde  nicht  unterworfen  ist,  so  kommt  das  Paradoxon 
heraus,  dass  der  Mensch  sich  als  WiUe  unmittelbar  frei  fühlt,  und  sich  doch  in 
der  Vorstellung  als  nothwendig  determinirt  weiss.  So  übernimmt  Schopenhauer 
Kant's  Lehre  vom  inteUigiblen  und  empirischen  Charakter.  In  derselben  Weise 
aber  muss  überall  die  Erscheinungswelt  als  Objectivation,  d.  h.  als  die  an- 
schauliche und  begriffliche  Vorstellungsweise  des  Willens  oder  des  unmittelbar 
Wirklichen,  und  darf  nicht  als  dessen  Erzeugniss  betrachtet  werden.  Das 
Verhaltniss  von  Wesen  und  Erscheinung  ist  nicht  dasjenige  von  Ursache  und 
Wirkung. 

Femer  kann  der  Wille  als  Ding-an-sich  nur  der  Eine,  allgemeine  Welt- 
wille sein.  Alle  Vielhdt  und  MannigfEdtigkeit  gehört  der  Anschauung  in  Raum 
und  Zeit  an;  diese  sind  das  principium  individuationis.  Daher  sind  die  Dinge  nur 
als  Erscheinungen,  in  der  Vorstellung  und  Erkenntniss,  von  einander  verschieden 


1)  Hierin  iat  Schopenhaaer  völlig  mit  Jacobi  (vgl.  oben  S.  451)  einvorstanden.  — 
2)  Vgl.  Welt  als  W.  u.  Vorst  11,  §  18^23. 


464  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwioklung  des  Idealismus. 

und  getrennt:  ihrem  wahren  Wesen  nach  sind  sie  alle  dasselbe.  Der  Wille  ist 
das  §v  xal  ffäv.  Hier  liegt  für  Schopenhauer  die  metaphysische  Wurzel  der  Moral. 
Es  ist  die  Täuschung  der  Erscheinung,  welche  das  Individuum  eigenes  Wohl  und 
Wehe  von  demjenigen  anderer  Individuen  unterscheiden  und  beide  in  Gegensatz 
zu  einander  gerathen  lässt :  im  moralischen  Grundgefühl,  welches  das  fremde  Leiden 
als  eigenes  empfindet,  im  Mitleid  kommt  die  transscendentale  Willenseinheit  aller 
Wirklichkeit  zum  Vorschein.  • 

Der  Wille  kann  endlich  auf  keinen  besonderen,  empirisch  vorstellbaren 
Inhalt  als  auf  seinen  Gegenstand  gerichtet  sein ;  denn  jeder  solche  Inhalt  gebort 
bereits  zu  seiner  „Objectität^.  Der  Weltwille  bat  nur  sich  selbst  zum  Gegen- 
stande ;  er  will  nur  wollen.  Er  will  nur  wirklich  sein ;  denn  alle  Wirklichkeit  ist 
selbst  wieder  nur  wollen.  In  diesem  Sinne  nennt  ihn  Schopenhauer  den  Willen 
zum  Leben.  Er  ist  das  sich  zeitlos  ewig  selbst  gebärende  Ding^an-sich,  und 
als  solcher  wird  er  vorgestellt  in  dem  rastlosen  Wechsel  der  Erschdnungen. 

§  42.    Das  System  der  Vernunft. 

Der  Hauptlinie  der  idealistischen  Entwicklung  war  ihre  Richtung  durch  das 
Princip  vorgezeichnet,  woraus  Fichte  den  Muth  schöpfte,  den  Begriff  des  D|nges- 
an-sich  über  Bord  zu  werfen.  Die  Beziehung  von  Sein  und  Bewusstsein  lämt  sich 
nur  aus  dem  Bewusstsein  erklären,  und  zwar  dadurch,  dass  dieses  „seinem  eigenen 
Thun  zusieht"  und  damit  zugleich  die  reelle  und  die  ideelle  Beihe  der  Erfahrung, 
die  Gegenstände  und  das  Wissen  von  ihnen  erzeugt.  Die  Aufgabe  der  Wissen- 
schaftslehre ist  also,  die  Welt  als  einen  nothwendigen  Zusammenhang  von  Ver- 
nunftthätigkeiten  zu  begreifen,  und  die  Lösung  kann  nur  so  von  Statten  gehen, 
dass  die  Reflexion  der  philosophirendeu  Vernunft  sich  auf  ihr  eigenes  Thun  und 
das,  was  dazu  erforderlich  ist,  besinnt.  Die  Nothwendigkeit  also,  wdche  in 
diesem  System  der  Vernunft  waltet,  ist  nicht  ca'usal,  sondern  teleo- 
logisch. Das  dogmatische  System  versteht  die  Intelligenz  als  ein  Produet  der 
Dinge,  das  idealistische  entwickelt  die  Intelligenz  als  einen  in  sich  zweckvollen 
Zusammenhang  von  Handlungen,  unter  denen  einige  dazu  dienen,  Gegenstände 
hervorzubringen.  Der  Fortschritt  des  philosophischen  Denkens  soll  nicht  derart 
sein,  dass,  weil  etwas  ist,  darum  auch  ein  Anderes  sei,  sondern  sich  nach  dem 
Leitfaden  gestalten,  dass,  damit  etwas  geschehe,  auch  ein  Anderes  ge- 
schehenmüsse. Jede  Handlung  der  Vernunft  hat  eine  Aufgabe ;  diese  zu  lösen, 
bedarf  sie  anderer  Handlungen  und  damit  anderer  Aufgaben:  der  einheitliche 
Zweckzusammenhang  aller  Thätigkeiten  ftir  die  Erfüllung  der  Aufgaben  ist  das 
System  der  Vernunft,  die  „Geschichte  des  Bewusstseins^.  Der  Grund  alles  Seins 
liegt  im  Sollen,  d.  h.  in  der  Zweckthätigkeit  des  Selbstbewusstseins« 

1.  Das  Schema  für  die  Ausführung  dieses  Gedankens  ist  die  dialektische 
Metho  de.  Soll  die  Welt  als  Vernunft  begriffen  werden,  so  muss  deren  System 
aus  einer  ursprünglichen  Aufgabe  herausentwickelt  werden :  alle  einzelnen  Hand- 
lungen der  Intelligenz  mitasen  als  Mittel  zu  ihrer  Lösung  deducirt  werden.  Diese 
Thathandlung  ist  das  Selb stbewussts ein.  Ein  voraussetzungsloser  Anfang 
wie  ihn  die  Philosophie  braucht,  ist  nicht  durch  eine  Behauptung  oder  einen  Satz 
zu  finden,  sondern  durch  eine  Forderung,  welche  Jedermann  zu  erfiUlen  im 
Stande  sein  muss:  „  Denke  dich  selbst!  ^  Und  das  ganze  Geschäft  der  Philo- 
sophie besteht  nun  darin,  sich  klar  zu  machen,  was  dabei  geschieht  und  was  dazu 


^ 


§42.  System  der  Vernutifb.  (Dialektik.)  465 

erforderlich  ist.  Dies  Princip  kann  aber  nur  so  lange  weiterführen,  als  sich  zeigt, 
dass  zwischen  dem  was  geschehen  soll;  und  dem  was  dazu  geschieht,  noch  ein 
Widerspruch  besteht,  woraus  sich  die  neue  Aufgabe  ergiebt,  u.  s.  f.  Die  dialektische 
Methode  ist  ein  System,  worin  jede  Aufgabe  eine  neue  erzeugt.  Dem,  was  die 
Vernunft  leisten  wül,  steht  in  ihr  selbst  ein  Widerstand  gegenüber,  und  um  diesen 
zu  überwinden,  entfaltet  sie  eine  neue  Function.  Diese  drei  Momente  werden 
als  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  bezeichnet. 

Wenn  Kant  zur  Erklärung  und  Kritik  der  Metaphysik  die  Nothwendigkeit 
unlösbarer  Yemunftaufgaben  behauptet  hatte,  so  macht  nun  die  idealistische 
Metaphysik  diesen  Gredanken  zu  einem  positiven  Princip.  Dadurch  wird  ihr  die 
Yernunftwelt  zu  einer  Unendlichkeit  des  Selbsterzeugens,  und  dadurch  wird  der 
Widerspruch  zwischen  der  Aufgabe  und  dem  Thun  ßir  das  reale  Wesen  der 
Vernunft  selbst  erklärt.  Dieser  Widerspruch  ist  nothwendig  und  unauf hebbar! 
Er  gehört  zum  Wesen  der  Vernunft,  und  da  nur  die  Vernunft  real  ist,  so  ist  damit 
der  Widerspruch  für  real  erklärt.  So  gerieth  die  dialektische  Methode,  diese 
metaphysische  Umbildung  von  Kant's  transscendentaler  Logik,  in  einen  immer 
stärkeren  Gegensatz  zu  der  formalen  Logik.  Die  Regeln  des  Verstandes,  welche 
ifi  dem  Satz  des  Widerspruchs  ihr  allgemeines  Princip  haben ,  reichen  für  die 
gewöhnliche  Verarbeitung  der  Wahrnehmungen  zu  Begriffen,  Urtheilen  und 
Schlüssen  wohl  aus :  für  die  intellectuelle  Anschauung  der  philosophirenden  Ver- 
nunft genügen  sie  nicht,  vor  den  Aufgaben  der  „speculativen  Construction^  sinken 
sie  zu  relativer  Bedeutung  herab. 

Dies  macht  sich  schon  in  der  ersten  Darstellung  geltend,  welche  Eichte 
der  Wissenschaftslehre  gab  ');  es  wurde  dann  von  Schülern  und  Genossen  wie 
Fr.  Schlegel  immer  kecker  ausgesprochen ,  und  schliesslich  that  die  speculative 
Vernunft  gar  vornehm  gegen  die  im  Satze  des  Widerspruchs  befangene  „Reflexions- 
philosophie des  Verstandes^.  Schelling  ^  berief  sich  auf  die  coincidentia  opposi- 
torum  von  Nicolaus  Cusanus  und  Giordano  Bruno,  und  Hegel ^)  sieht  in  dem 
Triumph  des  „bomirten  Verstandes^  über  die  Vernunft  den  Erbfehler  aller 
früheren  Philosophie^).  Die  Metaphysik,  von  der  Kant  gezeigt  hat,  dass  sie  ßlr 
den  Verstand  nicht  möglich  ist,  sucht  ein  eigenes  Organ  in  der  intellectuellen 
Anschauung  und  eine  eigene  Form  in  der  dialektischen  Methode.  Die  pro- 
dttctive  Synthesis  des  Mannigfaltigen  muss  ihre  Einheit  über  den  Gegensätzen 
bewahren,  in  die  sie  sich  selbst  auseinanderlegt.  Es  ist  das  Wesen  des  Geistes, 
sich  in  sich  selbst  zu  entzweien  und  aus  dieser  Zerrissenheit  zu  seiner  ursprüng- 
lichen Einheit  zurückzukehren. 

Diese  T  r  i  pl  icität  beruht  ganz  auf  jener  (Fichte'schen)  Grundbestimmung 
des  Geistes  als  des  sich  selbst  Zusehenden.  Die  Vernunft  ist  nicht  nur  „an  sich^ 
als  einfache  ideelle  Realität,  sondern  auch  „für  sich^ :  sie  erscheint  sich  selbst  als 
etwas  Anderes,  Fremdes;  sie  wird  sich  zu  einem  vom  Subject  verschiedenen  Ob- 
ject,  und  dies  Anderssein  ist  das  Princip  der  Negation.  Die  Aufhebung  dieser 
Verschiedenheit,  die  Negation  der  Negation,  ist  die  Synthesis  jener  beiden  Mo- 


1)  Grundlage  der  ges.  W.-L.  §  1.  W.  I,  92  ff.  —  2)  6.  Vorl.  über  Meth.  d.  ak.  St.  W.  V. 
267  ff.  —  a)  Vgl.  bes.  seine  Abhandlung  über  „Glauben  und  Wissen«  W.  I,  21  ff.  —  4)  Man 
versteht  hieraus  am  besten  Herbart's  Polemik  gegen  den  absoluten  Idealismus.  Auch  Jener 
findet  Widersprüche  in  den  Grundbegriffen  der  Erfahrung:  aber  eben  deshalb  sollen  diese  so 
lange  bearbeitet  werden,  bis  die  widerspruchslose  Realität  erkannt  ist,  vgl.  oben  §  41,  7. 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  80 


466  ^I-  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

mente:  diese  sind  in  ihr  „aufgehoben '^  in  der  dreifachen  Hinsicht,  dass  ihre- ein- 
seitige Geltungüberwundcn,  ihre  relative  Bedeutungbewahrt  und  ihr  ursprünglicher 
Sinn  in  eine  höhereWahrheit  verwandelt  wird.  Nach  diesem  Schemades  „An-sich^, 
yf  Für-sich^  und ,,  An-und-fUr-sich  ^  hat  H  e  g  e  1  die  dialektische  Methode  mit  grosser 
Virtuosität  ausgebildet;  indem  er  jeden  Begriff  „in  sein  Gregentheil  umschlagen^  und 
aus  dem  Widerspruch  beider  den  höheren  Begriff  hervorgehen  liess,  welcher  dann 
dasselbe  Schicksal  erlebte ,  eine  Antithesis  zu  finden ,  die  eine  noch  höhere  Sjn- 
thesis  verlangte;  u.  s.  f.  Der  Meister  selbst  hat  in  die  Anwendung  dieser  Methode, 
besonders  in  der  Phänomenologie  und  in  der  Logik;  eine  staunenswerthe  Fülle 
des  WissenS;  eine  ganz  einzige  Feinfühligkeit  für  begriffliche  Zusammenhänge 
und  eine  siegreiche  Kraft  des  combinativen  Denkens  hineingearbeitet;  wobei  auch 
schon  der  Tiefsinn  gelegentlich  in  Dunkelheit  und  schematische  Wortbildung 
überging :  bei  den  Jüngeren  hat  sich  daraus  ein  philosophischer  Jargon  gebildet; 
der  alles  Denken  in  jene  Triplicität  presste  und  durch  die  gedankenlose  Aeusser- 
lichkeit  seines  eine  Zeit  lang  sehr  ausgedehnten  Gebrauchs  die  Philosophie  als 
leeren  Wortschwall  zu  discreditiren  nur  allzu  geeignet  war  ^). 

2.  In  völligem  Einklang  mit  dieser  Methode  steht  nun  auch  inhaltlich  das 
System  der  Vernunft  bei  Fichte  in  dem  ersten  Zeitraum  seiner  philosophischen 
Wirksamkeit  (etwa  bis  1800).  Die  ursprüngliche,  durch  nichts  als  sich  selbst  be- 
stimmte ;,Thathandlung^  des  Selbstbewusstseins  ist;  dass  das  j^lch  ^  nur  ^gesetzt'' 
werden  kann,  indem  es  von  einem  „Nicht-Ich^  unterschieden  wird.  Da  jedoch 
dabei  auch  das  Nicht-Ich  nur  im  Ich  —  d.  h.  historisch  ausgedrückt;  auch  der 
Gegenstand  nur  im  Bewusstsein  —  gesetzt  ist;  so  müssen  innerhalb  des  Ich  sich 
dJas  Ich  unddas  Nicht-Ich  (d.h.  Subjectund Object)  gegenseitig  bestimmen.  Daraus 
ergiebt  sich  die  theoretische  und  die  praktische  Reihe  des  SelbstbewusstseinS;  je 
nachdem  ob  das  Nicht-Ich  oder  das  Ich  der  bestimmende  Theil  ist. 

Die  Functionen  der  theoretischen  Vernunft  werden  nun  von  Fichte  in 
der  Weise  entwickelt;  dass  die  einzelnen  Stufen  derselben  aus  der  Reflexion  des 
Bewusstseins  auf  sein  eigenes  vorher  bestimmtes  Thun  sich  ergeben,  üeber  jede 
Schranke,  die  das  Ich  sich  im  Nicht*Ich  als  Gegenstand  gesetzt  hat;  dringt  es 
vermöge  seiner  durch  nichts  Aeusseres  begrenzten  Thätigkeit  hinaus,  um  jene 
Schranke  zu  seinen  Gegenstande  zu  machen.  Als  die  Formen  dieser  Selbst- 
bestimmung werden  die  reinen  Anschauungen  Raum  und  Zeit;  die  kategorialen 
Regeln  des  Verstandes  und  die  Principien  der  Vernunft  behandelt :  an  Stelle  der 
Gegensätze;  welche  Kant  zwischen  diesen  einzelnen  Schichten  aufgerichtet  hatte; 
setzt  Fichte  das  Princip;  dass  auf  jeder  höheren  Stufe  die  Vernunft  reiner  eriasst; 
was  sie  auf  der  vorigen  ausgeführt  hat:  das  Erkennen  ist  ein  von  der  sinnlichen 
Anschauung  her  aufsteigender  Process  der  Selbsterkenntniss  der  Vernunft'). 
Aber  diese  ganze  Reihe  der  theoretischen  Vernunft  setzt  eine  ursprüngliche 
„ Selbstbeschränkung ^  des  Ich  voraus:  ist  diese  gegeben;  so  ist  die  ganze  Reihe 
nach  dem  Princip  der  Selbstanschauung  begreiflich.    Denn  jede  Thätigkeit  hat 

1)  Vgl.  die  humorvolle  Schilderung  bei  G.  Rümeun,  Reden  und  Aufsätze,  S.  47 — 50,  Prei- 
burg  1888.  —  2)  Ohne  direct  sichtbare  Einflüsse  von  Leibniz  kommt  dabei  dessen  Auflassung 
von  dem  Verhaltniss  der  verschiedenen  Erkenntnisskräfte  ge^nüber  der  kantischen  Scheidung 
derselben  wieder  zur  Geltunff.  Nur  ist  zu  beachten,  dass  diese  „Entwicklungsgeschichte  der 
Yemui^''  bei  Leibniz  causal,  bei  Fichte  teleoloffisch  bestimmt  ist.  Was  Hamann  und  Herder 
(vgl.  oben  S.  458)  als  Forderung  der  Einheit  der  Intelligenz  im  Leibniz'schen  Sinne  verlangten, 
das  hatten  inzwischen  Fichte  und  Schelling  in  ganz  anderem  Sinne  geleistet. 


§43.  System  der  Vernunft.  (Fichte.)  467 

an  der  yörhergehendeii  ihren  Oegenstand  und  darin  ihren  Grund:  jene  erste 
Selbstbeschränkung  dagegen  hat  an  keiner  vorhergehenden;  also  theoretisch  über- 
haupt keinen  Grund;  sie  ist  eine  grundlos  freie  Thätigkeit ,  als  solche  aber 
der  Grund  aller  anderen  Thätigkeiten.  Diese  grundlos  freie  Handlung  ist  die 
Empfindung.  Sie  fallt  deshalb  nur  ihrem  in  die  Anschauung  aufzunehmenden 
Inhalte  nach  in  dasBewusstsein,  als  Handlung  ist  sie^  wie  alles^  was  keinen  Grund 
hat;  bewusstlos^).  Hierin  besteht  ihr  Gegebensein ;  vermöge  dessen  sie  als 
fremd  und  ;,von  aussen^  kommend  erscheint.  An  Stelle  des  Dinges-an-sich  tritt 
also  die  bewusstlose  Selbstbeschränkung  des  Ich.  Fichte  nennt  die^e 
Thätigkeit  die  productive  Einbildungskraft:  es  ist  die  welterzeugende 
Thätigkeit  der  Yemunft. 

Für  die  Empfindung  giebt  es  also  keinen  Grund;  der  sie  bestimmte:  sie 
ist  da  mit  absoluter  Freiheit  und  bestimmt  ihrerseits  alle  Erkenntniss  dem  Inhalte 
nach.  Darum  kann  sie  nur  durch  ihren  Zweck  begriffen  werden,  —  in  der  prak- 
tischen Wissenschaftslehre;  welche  zu  untersuchen  hat;  wozu  das  Ich  sich  selbst 
beschrankt.  Dies  ist  nur  zu  verstehen,  wenn  man  das  Ich  nicht  als  ruhendes 
Sein,  sondern  seinem  Wesen  nach  als  unendliche  Thätigkeit  oder  als  Trieb 
betrachtet.  Denn  da  alles  Thun  auf  einen  Gegenstand  gerichtet  ist;  an  dem  es 
sich  entfaltet,  so  muss  das  Ich;  welches  seinen  Gegenstand  nicht  wie  der  em- 
pirische Wille  als  gegeben  vorfindet;  seinerseits,  um  Trieb  und  Thun  zu  bleiben, 
sich  Gegenstände  setzen.  Dies  geschieht  in  der  Empfindung;  welche  keinen 
Grund;  wohl  aber  nur  den  Zweck  hat;  für  den  Trieb  des  Ich  eine  Grenze  zu 
schaffen;  über  die  es  hinausgeht;  um  sich  selbst  Gegenstand  zu  werden.  Die 
empirische  Wirklichkeit  mit  allen  ihren  Dingen  und  mit  der  ,, Realität^;  welche 
sie  für  das  theoretische  Bewusstsein  hat,  ist  nur  das  Material  für  die  Thätig- 
keit der  praktischen  Vernunft. 

Das  innerste  Wesen  des  Ich  also  ist  das  nur  auf  sich  selbst  gerichtete;  nur 
durch  sich  selbst  bestimmte  ThuU;  die  Autonomie  der  sittlichen  Vernunft. 
Das  System  der  Vernunft  gipfelt  im  kategorischen  Imperativ.  Das  Ich  ist  der 
sittliche  WillC;  und  die  Welt  ist  das  versinnlichte  Material  der  Pflicht. 
Sie  ist  dazu  da,  dass  wir  in  ihr  thätig  sein  können.  Nicht  das  Sein  ist  die  Ursache 
des  ThunS;  sondern  um  des  Thuns  willen  ist  das  Sein  hervorgebracht.  AUeS;  was 
ist;  ist  nur  zu  begreifen  aus  dem,  was  es  soll. 

Die  für  das  gemeine  Öewusstsein  paradoxe  Zumuthung  der  Wissenschafts- 
lehre^  läuft  somit  darauf  hinaus,  der  Kategorie  der  Substantialität  die 
fundamentale  Bedeutung  zu  rauben,  welche  sie  in  der  naiven,  sinnlichen  Welt- 
anschauung hat.  Darin  denkt  man  überall  ein  „Seiendes^  als  Trägerund  Ursache 


1)  Die  Paradoxie  der  „bewusstloiren  Thätigkeiten  des  Bewnsstseins"  liegt  irii  Ausdrucke, 
nicht  in  der  Sache.  Die  deutschen  Philosophen  sind  mit  ihrer  Terminologie  häufig  sehr  unglück- 
lich gewesen,  am  unglücklichsten  gerade  da,  wo  sie  deutschen  Wörtern  eine  neue  Bedeutung 
geben  wollten.  Fichte  braucht  nicht  nur  Bewusstsein  und  Selbstbewussten  promiscue,  sondern 
er  versteht  auch  unter  Bewusstsein  einerseits  die  wirkliche  Vorstellung  des  Individuums  oder 
des  empirischen  Ich  (daher  in  diesem  Sinne  „bewusstlos**),  andrerseits  die  Functionen  des 
„Bewusstseins  überhaupt'',  der  transscendentalen  Apperception  oder  des  „allgemeinen  Ich** 
(in  diesem  Sinne  „Geschichte  des  Bewusstseins").  In  diesen  Wortverhältnissen  beruht  schon 
ein  gut  Theü  der  Schwierigkeit  von  Fichte's  Darstellung  und  der  Missverständnisse,  die  sie 
hervorgerufen  hat  —  2)  In  diesem  Sinne  protestirte  Fr.  H.  Jacobi  gegen  dies  Stricken  nicht 
etwa  des  Strumpfs,  sondern  des  Strickens  (W.  III,  24 ff.).  Vgl.  dagegen  0.  Fortläöb,  Beiträge 
zur  Psychologie  (Leipzig  1875)  S.  40  f. 

30* 


468  VI.  Deutsche  Philpsophie.  2.  Entwicklunf^  des  IdealismoB. 

der  Thätigkeiten :  hier  soll  als  das  Ursprüngliche  das  „Thun"  begriffen  werden 
und  das  Sein  nur  als  das  zweckgesetzte  Mittel  dafür  gelten.  Dieser  Gegensatz 
kam  ganz  scharf  in  dem  für  Fichte  persönlich  so  folgenreichen  Atheismiisstreit 
zu  Tage.  Die  Wissenschaftslehre  konnte  Gott  nicht  als  „Substanz^  gelten  lassen; 
er  hätte  ihr  ja  dann  etwas  Abgeleitetes  sein  müssen :  sie  konnte  den  metaphy- 
sischen Gottesbegriff  nur  in  dem  ^allgemeinen  Ich'^,  in  dem  absolut  freien^  welt- 
-  erzeugenden  Thun  suchen/  und  in  deutlichem  Gegensatz  zu  der  Natura  naturans 
des  Dogmatismus  nannte  sie  Gott  die  sittliche  Weltordnung'),  den  Ordo 
ordinans. 

Danach  ist  die  vornehmste  philosophische  Disciplin  für  Fichte  die  Sitten- 
lehre. Vor  Kant's  Metaphysik  der  Sitten  entworfen^  nimmt  Fichte's  System 
derselben  den  kategorischen  Imperativ  in  der  Formel  ^Handle  nach  deinem  Ge- 
wissen^ zum  Ausgangspunkte  einer  streng  durchgeführten  Pflichtenlehre;  welche 
aus  dem  im  empirischen  Ich  aus  einander  tretenden  Gegensatz  des  Naturtriebes 
und  des  sittlichen  Triebes  die  allgemeinen  und  die  besonderen  Aufgaben  des 
Menschen  entwickelt.  Dabei  mildert  sich  der  kantische  Rigorismus  hier  dadurch, 
dass  auch  die  Sinnlichkeit  des  Menschen  als  Vernunftproduct  ihre  Rechte  geltend 
machen  darf.  Der  Dualismus  bleibt  noch  bestehen,  aber  er  geht  schon  seiner 
Ueberwindung  entgegen;  und  in  dem  Gedanken,  dass  der  zweckvolle  Zusammen- 
hang des  Yemunftganzen  jedem  einzelnen  seiner  Glieder  eine  durch  seine  natür- 
liche Erscheinung  vorgezeichnete  Bestimmung  zuweise,  wird  die  ethische  Theorie 
zu  einer  viel  eingehenderen  und  das  Gegebene  tiefer  werthenden  Durcharbeitung 
des  ,,Materials  der  Pflichterfüllung^  geführt.  Das  zeigt  sich  an  Fichte's  Dar- 
stellung der  Beruftpflichten,  an  seiner  edleren  Auffassung  von  Ehe  und  Familien- 
leben, an  dem  feineren  Eingehen  seiner  ethischen  Untersuchungen  in  die  Mannig- 
faltigkeit menschlicher  Lebensverhältnisse. 

Aehnliches  gilt  auch  von  Fichte's  Behandlung  der  Probleme  des  öffent- 
lichen Lebens.  Eine  jugendliche  Energie  bemächtigt  sich  in  ihnen  der  kantischen 
Grundgedanken  und  prägt  sie  viel  eindrucksvoller  aus,  als  es  von  Kant  selbst,  der 
die  systematische  Ausführung  erst  in  spätem  Alter  unternahm,  geschehen  konnte. 
Die  gegenseitige  Einschränkung  der  Freiheitssphären  ind«m  äusseren  Zusammen- 
leben der  Individuen  ist  auch  für  Fichte  das  Princip  des  Naturredits.  Als  „ Ur- 
rechte ^  galten  ihm  die  Ansprüche  des  Individuums  auf  Freiheit  seines  Leibes 
als  des  Organs  der  Pflichtbethätigung ,  seines  Eigenthums  als  der  äusseren 
Wirkungssphäre  dazu,  seiner  Selbsterhaltung  endlich  als  Persönlichkeit.  Wirk- 
sam aber  werden  diese  Urrechte  erst  als  Zwangsrechte  durch  die  Herrschaft  der 
Gesetze  im  Staat.  Die  Idee  des  den  Staat  begründenden  Vertrages  zerlegt  Fichte' 
in  den  Staatsbürger-,  den  Eigenthums-  und  den  Schutzvertrag.  Interessant  dabei 
ist,  wie  er  diese  Gedanken  in  seiner  Politik  auf  das  Princip  zuspitzt,  der  Staat 
habe  dafür  zu  sorgen,  dass  Jeder  von  seiner  Arbeit  leben  könne,  auf  das  nach 
ihm  sog.  Recht  auf  Arbeit^).  Arbeit  ist  Pflicht  der  sittlichen,  ist  Existenz- 
bedingung der  physischen  Persönlichkeit:  sie  muss  unbedingt  vom  Staate  ge- 
währleistet werden.  Daher  darf  die  Regelung  der  Arbeitsverhältnisse  nicht  dem 
natürlichen  Getriebe  von  Angebot  und  Nachfrage  (nach  Adam  Smith)  und  der 


1)  FicHTB,  W.  V,  189ff.,  210ff..—  2)  Natiirrecht,  §  18.  W.  III,  210ff.  Geschl.  Handelast 
I,  1.  W.  ni,  400ff. 


§  42.   System  der  Vernunft.   (Fichte,  SchelliDg^)  469 

Ertrag  der  Arbeit  nicht  dem  Mechanismus  des  gesellschaftlichen  Interessen- 
kampfes Überlassen  werden,  sondern  es  muss  hier  das  Vemunftgesetz  des  Staates 
eintreten.  Von  diesem  Gedanken  aus  entwarf  Fichte  mit  sorgfaltiger  Abwägung 
der  empirisch  gegebenen  Zustände  *)  sein  Ideal  des  socialistischen  Staates 
als  des  ^geschlossenen  Handelsstaates^,  der  alle  Production  und  Fabrikation 
und  allen  Handel  mit  dem  Auslande  selbst  in  die  Hand  nimmt,  um  dem  einzelnen 
Bürger  seine  Arbeit,  aber  auch  den  vollen  Ertrag  seiner  Arbeit  zuzuweisen.  Der 
gewaltthätige  Idealismus  des  Philosophen  schreckte  nicht  vor  einem  tief  ein- 
schneidenden  Zwangssystem  zurück,  wenn  er  hoffen  konnte,  damit  jedem  Einzelnen 
einen  Umkreis  freier  Pflichterfüllung  zu  sichern. 

3*  Die  Aufgabe,  das  Universum  als  Syistem  der  Vernunft  zu  begreifen,  war 
in  der  Wissenschaftslehre  der  Hauptsache  nach  so  gelöst,  dass  die  sinnliche 
Aussenwelt  als  ein  im  empirischen  Ich  erscheinendes  Product  des  „Bewusstseins 
überhaupt^  dedudrt  wurde :  in  diesem  Sinne  ist  Fichte's  Lehre  später  wie  Kant's 
als  „subjectiver  Idealismus^  charakterisirt  worden.  Dabei  war  jedoch  Fichte's 
Meinung  durchaus  die,  dass  der  „Natur  ^,  die  er  als  ein  organisches  Ganze  gesetzt 
wissen  wollte^),  den  Vorstellungen  der  Individuen  gegenüber  die  volle  Bedeu- 
tung eines  objectiven  Vemunftproductes  zukommen  sollte:  dies  darzusteUen, 
fehlte  es  ihm  an  der  eindringenden  Kenntniss  der  Sache,  welche  er  für  die 
Lebensverhältnisse  der  menschUchen  Vernunft  besass.  So  war  es  eine  auch 
Fichte  willkommene  Ergänzung,  alsSchelling  jenen  anderen  Theil  der  Aufgabe 
zu  lösen  übernahm  und  mit  dem  Gedanken  Ernst  machte,  die  Natur  als  das 
objective  System  der  Vernunft  zu  construiren.  Das  war  nach  der  Wissefi- 
schaftslehre  und  Kantus  Naturphilosophie  nur  dann  möglich,  wenn  es  gelang,  die 
Natur  als  ein  zusammenhängendes  Ganze  von  Kraftwirkungen  zu  begreifen, 
welche  ihre  letzte  Zweckbestimmung  in  einer  Leistung  für  die  Bealisirung  des 
Vendunftgebotes  hätten.  Den  Ausgangspunkt  dieser  Construction  musste  Kant's 
dynamische  Theorie  bilden,  welche  das  Sein  der  Materie  aus  dem  Verhält- 
niss  der  Attractions-  und  der  Repulsionskraft  ableitete  (vgl.  §  38,  7),  und  ihren 
Zielpunkt  gab  diejenige  Naturerscheinung  ab,  in  welcher  sich  die  praktische 
Vernunft  allein  bethätigt:  der  menschliche  Organismus.  Zwischen  beiden 
musste  die  ganze  Fülle  der  Gestalten  und  Functionen  der  Natur  al^  ein  ein- 
heitliches Leben  ausgebreitet  werden,  dessen  vernünftiger  Sinn  in  dem  organi- 
schen Herauswachsen  des  Endziels  aus  den  materiellen  Anfangen  zu  suchen  war. 
Die  Natur  ist  das  werdende  Ich  —  das  ist  das  Thema  der  Schelling'schen 
Naturphilosophie*  Diese  in  den  philosophischen  Prämissen  begründete  Auf- 
gabe erschien  zugleich  geradezu  gefordert  durch  den  Zustand  der  Natur- 
wissenschaft, welche  wieder  einmal  auf  dem  Punkte  angelangt  war,  wo  die 
zerstreute  Einzelarbeit  nach  einer  lebendigen  Gesammtauffassung  der  Natur  be- 
gehrte. Und  dies  Verlangen  machte  sich  um  so  lebhafter  geltend,  als  gerade  der 
Fortschritt  des  empirischen  Wissens  die  hoch  geschraubten  Erwartungen,  welche 
man  seit  dem  17.  Jahrhundert  auf  das  Princip  der  mechamschen  Naturerklärung 
setzte,  wenig  befriedigte.  Die  Ableitung  des  Organischen  aus  dem  Unorganischen 
blieb,  wie  es  Kant  constatirte,  zum  mindesten  problematisch,  eine  genetische 

1)  Vffi  G.  Sgbholler,  Studie  über  J.  G.  Fichte  in  flildebrand's  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat. 
1865:  auch  W.  Wuidelband,  Fichte^s  Idee  des  deutschen  Staates  (FreibuTjr  1890).  —  2)  Ficbte, 
W.  iV,  115. 


470  ^^*  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

Entwickong  der  Organismen  auf  dieser  Grundlage  streitig;  für  die  in  grosser 
Bewegung  begriffene  Theorie  der  Medidn  fehlte  es  noch  an  jeder  Handhabe  zu 
ihrer  Einfligung  in  die  mechanische  Weltauffassung;  nun  kamen  die  Entdeckungen 
elektrischer  und  magnetischer  Erscheinungen  hinzu,  deren  zunächst  räthselhafte 
Eigenart  eine  Subsumtion  unter  die  Gesichtspunkte  galilei'scher  Mechanik  damals 
noch  nicht  ahnen  liessen.  Dem  gegenüber  hatte  Spinoza  den  mäx^htigen Eindruck 
auf  die  Geister  gerade  dadurch  gemacht,  dass  er  die  ganze  Natur,  den  Menschen 
nicht  ausgeschlossen,  als  einen  einheitlichen  Zusammenhang  dachte,  in  welchem 
sich  das  göttliche  Wesen  in  seiner  ganzen  Fülle  darstelle,  und  fiir  die  Entwick- 
lung des  deutschen  Denkens  ist  es  von  entscheidender  Bedeutung  geworden,  dass 
Goethe  diese  Auffiassung  zu  der  seinigen  machte.  Freilich  deutete  der  Dichter, 
wie  man  es  am  besten  in  den  herrlichen  Aphorismen  „Die  Natur"  ausgesprochen 
findet,  sich  diese  Ansicht  in  seiner  Weise  um:  an  die  Stelle  der  „mathematischeil 
Folge"  und  ihrer  mechanischen  Nothwendigkeit  setzte  er  die  Anschauung  einer 
Lebenseinheit  der  Natur,  worin  ohne  begriffliche  Formulirung  die  Welt- 
ansicht der  Benaissance  sich  erneuerte.  Dieser  poetische  Spinozismus^)  ist 
ein  wesentliches  Glied  in  der  Entwicklungskette  der  idealistischen  Systeme 
geworden.  , 

Alle  diese  Motive  spielen  in  Schelling's  Naturphilosophie  hinein:  sie  führen 
dazu,  dass  der  Centralbegriff  derselben  das  Leben  ist,  und  dass  sie  den  Versuch 
macht,  die  Natur  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Organismus  zu  betrachten 
und  den  Zusammenhang  ihrer  Kraftwirkungen  aus  dem  Gesammtzweck  der  Er- 
zeugung des  organischen  Lebens  zu  begreifen.  Es  soll  die  Natur  nicht  beschrieben 
und  gemessen  werden,  sondern  es  soll  der  Sinn  und  die  Bedeutung  verstanden 
werden,  welche  ihren  einzelnen  Erscheinungen  in  dem  zweckvoUen  System  des 
Gänzen  zukommt.  Die  „Kategorien  der  Natur^  sind  die  Gestalten,  in  denen 
die  Vernunft  sich  selbst  als  objectiv  setzt,  sie  bilden  ein  Entwicklungssystem, 
worin  jede  besondere  Erscheinung  ihren  b^rifflich  bestimmten  Platz  findet.  In 
der  Ausführung 'dieser  Idee  war  Schelling  natürlich  von  dem  Stande  der  natur- 
wissenschaftlichen Kenntnisse  seiner  Zeit  abhängig.  Von  dem  Zusammenhange 
der  Kräfte,  von  ihrer  Umsetzung  in  einander,  worauf  es  ja  für  dies  Interesse 
hauptsächlich  ankam,  hatte  man  damals  nur  noch  sehr  unvollkommene  Vor- 
stellungen, und  der  Philosoph  zögerte  nicht,  die  Lücken  des  Wissens  durch 
Hypothesen  auszufüllen,  welche  er  der  apriorischen  Construction  des  teleo- 
logischen Systems  entnahm.  In  manchen  Fällen  haben  sich  diese  Ansichten 
als  werthvolle  heuristische  Principien  (vgl.  oben  S.  446),  in  anderen  als  Irrwege 
erwiesen,  auf  welchen  die  Forschung  zu  brauchbaren  Resultaten  nicht  gelangte« 

Das  historisch  Bedeutsame  an  der  Naturphilosophie  ist  ihr  Gegensatz 
gegen  die  Herrschaft  des  demokritisch-galilei'schen  Princips  rein  mechanischer 
Naturerklärung.  Die  quantitative  Bestimmung  gilt  hier  wieder  nur  als  äussere 
Form  und  Erscheinung,  der  causal-mechanische  Zusammenhang  nur  als  die  ver- 
standesmässige  Vorstellungsweise.  Der  Sinn  der  Naturgebilde  ist  die  Bedeutung, 
welche  sie  im  Entwicklungssystem  des  Ganzen  haben.  Wenn  deshalb  Schelling 
seinen  Blick  auf  die  Formenverwandtschaft  der  organischen  Welt  richtete,  wenn 

1)  Er  nahm  auch  Herder  geÜBingen,  wie  desBen  Gespräche  über  das  System  SpinoM^a 
unter  dem  Titel  „Gott"  (1787)  beweisen. 


§42.   System  der  Vernunft.  (Schelling,  Goethe.)  471 

er  die  Anfiinge  der  vergleichenden  Morphologie,  in  denen  Goethe  eine  so  be- 
deutende Bolle  spielte^  dazu  benutzte,  um  die  Einheit  des  Plans  au&uzeigen, 
welchen  die  Natur  in  der  Reihenfolge  der  Lebewesen  rerfolgt,  so  galt  ihm  und 
auch  seinen  Schülern  wie  Oken  dieser  Zusammenhang  nicht  eigenthch  im  Sinne 
zeitlich- causaler  Genesis,  sondern  als  der  Ausdruck  einer  stufenweise  gelingenden 
Erlbllung  des  Zwecks.  In  den  yerschiedenen  Ordnungen  der  animalen  Wesen 
kommt  nach  Oken  gesondert  zu  Tage,  was  die  Natur  mit  dem  Organismus  ¥äll, 
und  was  ihr  vollständig  erst  im  Menschen  gelingt.  Diese  teleologische  Deutung 
schliesst  ein  zeitliches  Causalverhältniss  nicht  aus,  aber  bei  Schelling  und  Oken 
wenigstens. nicht  ein.  Es  liegt  ihnen  nicht  daran  zu  fragen,  ob  die  eine  Art  aus 
der  anderen  entstanden  ist :  sie  wollen  nur  zeigen,  dass  die  eine  die  Vorstufe  für 
die  Leistung  der  anderen  sei^). 

Es  ist  danach  begreiflich,  dass  die  mechanische  Naturerklärung,  welche  im 
19.  Jahrhundert  wieder  zum  Siege  gelangt  ist,  in  der  Zeit  der  Naturphilosophie 
nur  einen  jetzt  glücklich  überwundenen  Bausch  teleologischer  Ueberhebung  zu 
sehen  pflegt,  der  die  ruhige  Arbeit  der  Forschung  aufgehalten  habe.  Allein  die 
Akten  über  den  Streit,  der  seit  Demokrit  und  Piaton  die  Greschichte  der  Natur- 
auffassung erfüllt,  sind  auch  heute  noch  nicht  geschlossen.  Der  Beduction  des 
Qualitativen  auf  das  Quantitative,  welche  unter  der  Fahne  der  Mathematik  sieg- 
reich vordringt,  ist  immer  wieder  jenes  Bedürfniss  entgegengetreten,  welches 
hinter  den  Bewegungen  im  Baume  eine  sinnvoll  vernünftige  Wirklichkeit  sucht. 
Diesem  Bedüifniss  nach  lebendigem  Lihalt  der  Natur  ging  Schelling's  Lehre 
nach,  und  darum  fühlte  sich  auch  zu  ihr  der  grosse  Dichter  hingezogen,  der  äch 
bemühte,  in  dem  reizenden  Spiel  der  Farben  als  das  wahrhaft  Wirkliche  nicht 
eine  Atomschwingung,  sondern  ein  ursprünglich  qualitativ  Bestimmtes  nach- 
zuweisen. Das  ist  der  philosophische  Sinn  von  Goethe's  „Farbenlehre ''. 

Bei  ScheUing  ist  das  System  der  Natur  von  dem  Gedanken  beherrscht, 
dass  sich  in  ihr  die  objective  Vernunft  von  der  materiellen  Erscheinungsweise 
durch  die  Fülle  der  Gestaltungen  und  Eräfteverwandlungen  hindurch  zu  dem 
Organismus  aufringt,  in  dem  sie  zumBewusstsein  kommt').  Das  empfindende 
Wesen  ist  der  Schlusspunkt  des  Naturlebeus :  mit  der  Empfindung  beginnt  das 
System  der  Wissenschaftslehre.  Der  viel  verschlungene  Weg,  welchen  die  Natur 
bis  zu  diesem  Ziele  einhält,  ist  in  den  Umarbeitungen  der  Naturphilosophie  im 
Einzelnen  mehrfach  abgeändert,  in  den  Grundzügen  aber  derselbe  geblieben. 
Insbesondere  war  es  die  aus  der  Wissenschaftslehre  stammende  Auffassung  von 
der  Dualität,  von  dem  Widerstr^  der  Kräfte,  die  in  höherer  Einheit  sich 
aufheben,  welche  das  Grundschema  der  „Construction  der  Natur  ^  ausmachte, 
und  von  hier  wurde  für  Schelling  besonders  die  Polarität  bedeutsam,  welche  in 
den  elektrischen  und  magnetischen  Erscheinungen  als  neu  gefundenes  Bäthsel 
die  Zeitgenossen  beschäftigte. 


1)  Die  „Deutiuiff''  der  Erscheinungen  war  freilich  ein  in  wissenschaftlicher  Hinsicht 

gefährliches  Frincip:  sie  öfinete  der  poetischen  Phantasie  und  den  geistreichelnden  Einfällen 
ie  Thore  der  Naturphilosophie.  Diese  Gäste  drängen  sich  schon  bei  Schelling,  noch  mehr  aber 
bei  seinen ^hülem,  wie  Novalis,  Steffens,  Schubert  herein.  Eine  magische,  traumhafte 
Natursymbolik  treibt  insbesondere  bei  Novalis  ihr  poetisch  liebenswürdiges,  aber  philosophisch 
bedenkliches  Spiel.  —  2)  Die  Poesie  dieses  Grundgedankens  hat  Schelling  selbst  am  charakte- 
ristischsten in  den  schonen  Versen  ausgesprochen,  welche  in  Sch.'s  Leben  in  Brie£^  I,  282  ff. 
abgedruckt  sind. 


47^  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

4.  Als  Schelling  neben  die  Naturphilosophie  eine  eigene  Bearbeitung  der 
Wissenschafbslehre  unter  dem  Namen  des  ^transscendentalen  Idealismus^  stellen 
wollte,  hatte  sich  in  dem  gemeinsamen  Denken  der  Jenenser  Idealisten  eine  be- 
deutsame Aenderung  vollzogen,  welcher  er  nun  den  ersten  systematischen  Aus- 
druck gab.  Der  Anstoss  dazu  stammte  von  Schiller  und  der  Ausbildung, 
welche  dieser  den  Gedanken  der  Kritik  der  ürtheilskraft  gegeben  hatte.  Schritt 
für  Schritt  war  dabei  deutlicher  geworden,  dass  fUr  den  Idealismus  sich  das 
System  der  Vernunft  in  der  ästhetischen  Function  vollenden  müsse,  und  an  Stelle 
des  ethischen  Idealismus,  den  die  Wissenschaftslehre,  und  des  physischen,  den 
die  Naturphilosophie  lehrte,  trat  nun  der  ästhetische  Idealismus. 

Die  folgenreiche  Umbildung,  welche  Kant's  Gedanken  durch  Schüler 
erfuhren,  betraf  keineswegs  nur  die  dem  Dichter  zunächst  liegenden  ästhe- 
tischen, sondern  ebenso  die  ethischen  und  die  geschichtsphilosophischen  Fragen 
und  damit  das  ganze  Sjrstem  der  Vernunft.  Denn  Schiller's  Gedanken  waren, 
wie  u.  A.  das  Gedicht  die  „Künstler"  zeigt,  schon  vor  der  Bekanntschaft  mit 
Kant  auf  das  Problem  gerichtet  gewesen,  welche  Bedeutung  das  Schöne  und  die 
Kunst  in  dem  ganzen  Zusammenhange  des  menschlichen  Vemunftlebens  und  in 
dessen  geschichtlicher  Entwicklung  hat,  und  indem  er  sich  dies  Problem  mit 
kantischen  Begriffen  löste,  gab  er  dem  Idealismus  nach  der  Wissenschaftslehre 
die  entscheidende  Wendung. 

Sie  begann  mit  den  neuen  Formen,  welche  er  filr  Kant's  Begriff  der  Schön- 
heit fand.  Die  Synthesis  der  theoretischen  und  der  praktischen  in  der  ästhe- 
tischen Vernunft  (vgl.  §  40,  2)  konnte  vielleicht  keinen  glücklicheren  Ausdruck 
finden,  als  in  Schiller's  Definition  der  Schönheit  als  Freiheit  in  der  Er- 
scheinung^). Sie  besagt,  dass  die  ästhetische  Anschauung  ihr  Object  auffasst, 
ohne  es  den  Regeln  des  erkennenden  Verstandes  zu  unterwerfen:  es  wird  nicht 
unter  Begriffe  subsumirt,  und  wir  fragen  nicht  nach  den  Bedingungen,  die  es 
in  anderen  Erscheinungen  hat.  Es  wird  angeschaut,  als  ob  es  frei  wäre. 
Schopenhauer  hat  das  nachher  so  ausgedrückt,  der  Genuss  des  Schönen  sei 
die  Betrachtung  des  Gegenstands  unabhängig  vom  Satz  des  Grundes.  Noch  mehr 
Gewicht  hat  Schiller  später  darauf  gelegt,  dass  das  ästhetische  Verhalten  der 
praktischen  Vernunft  gegenüber  ebenso  unabhängig  ist  wie  der  theoretischen. 
Das  Schöne  ist  (vom  Angenehmen  und  Guten  geschieden)  so  wenig  Gegenstand 
■des  sinnlichen  wie  des  sittlichen  Triebes:  ihm  fehlt  ebenso  die  Bedürftigkeit  des 
empirischen  Trieblebens  wie  der  Ernst  der  praktischen  Vernunft.  Im  ästhe» 
tischen  Leben  entfaltet  sich  der  Spieltri^b*);  in  der  interesselosen  Betrach- 
tung schweigt  jede  Biegung  des  Willens.  Auch  hierin  ist  Schopenhauer  gefolgt, 
wenn  er  das  Glück  des  ästhetischen  Zustandes  in  der  Ueberwindung  des  un- 
seligen Willens  zum  Leben,  in  der  Thätigkeit  des  reinen,  willenlosen  Subjects 
der  Erkenntniss  fand*). 


1)  Vgl.  hauptsäohlioh  die  Briefe  an  Kömer  vom  Februar  1793,  dazu  die  bei  dem  Briefe 
vom  20.  Jnni  dess.  J.  gedruckte  Skizze  über  ^das  Schöne  in  der  Kunst**,  —  alles  Fragmente  des 
nicht  ausgeführten  Dialogs  >,Kallias''.  —  2)  Die  transscendcntal-psychologisohe  Begründung, 
welche  Schiller  hierfür  in  den  ^»Briefen  über  die  asthet.  Erziehung^  (H^-)  versucht,^  erinnert 
stark  an  die  reinhold-fichte'sche  Zeit,  wo  es  „in  Jena  von  Form  tmd  Stoff  sohwirAe**.  — 
8)  Welt  als  W.  u.  Y.  I,  §  36—38.  Dabei  nimmt  Schopenhauer  allerdings  denselben  Werth  liir 
die  wissenschaftliche  Erkenntniss  in  Anspruch.  Vgl.  §  43,  4. 


§  42.  System  der  Vernunft.  (Schiller.)  473 

Hieraus  folgerte  Schiller  zuDächst,  dass  überall  da,  wo  es  sich  darum  handelt, 
den  seiner  Sinnlichkeit  unterworfenen  Menschen  zum  sittUchen  Wollen  zu  erziehen, 
das  ästhetische  Leben  das  wirksamste  Mittel  dazu  darbietet.  Kant  hatte  die 
„Umkehrung  der  Triebfedern^  als  die  ethische  Aufgabe  des  Menschen  bezeichnet 
(vgl.  oben  §  39,  6):  für  den  Uebergang  aus  der  sinnlichen  in  die  sittliche  Be- 
stimmtheit des  Willens  bot  er  dem  Menschen  als  Unterstützung  die  Religion,  — 
Schiller  die  Kunst ').  Glaube  und  Geschmack  lassen  den  Menschen  wenigstens 
legal  handeln,  wo  er  zur  Moralität  noch  nicht  reif  ist.  Im  Umgang  mit  dem 
Schönen  verfeinert  sich  das  Gefühl,  sodass  die  natürliche  Rohheit  schwindet  und 
der  Mensch  für  seine  höhere  Bestimmung  erwacht  Die  Kunst  ist  der  Nährboden 
für  Wissenschaft  und  Sittlichkeit.  So  lehrte  Schiller  schon  in  den  „Künstlern''; 
die  Briefe  über  die  ästhetische  Erziehung  des  Menschengeschlechts  graben  tiefer. 
Der  ästhetische  Zustand  („Staat'')  vernichtet,  weil  er  der  völlig  interesselose  ist, 
auch  das  sinnliche  Wollen  und  sdiafit  damit  Raum  für  die  Möglichkeit  des  sitt- 
lichen WoUens:  er  ist  der  nothwendige  Durchgangspunkt  aus  dem  physischen 
Nothstaat  in  den  moralisciien  Staat.  Im  physischen  Zustand  erleidet  der  Mensch 
die  Macht  der  Natur,  er  entledigt  sich  ihrer  im  ästhetischen,  und  er  beherrscht 
sie  im  moralischen. 

Aber  schon  in  den  „Künstlern"  war  dem  Schönen  die  zweite,  höhere  Auf- 
gabe zugewiesen  worden,  der  moralischen  und  intellectueUen  Cultur  schhesslich 
auch  die  höchste  Vollendung  zu  geben,  und  indem  der  Dichter  diesen  Gedanken 
dem  kritischen  Begrifbsystem  einbildet,  geht,  er  von  der  Ergänzung  zur  Um- 
gestaltung der  kantischen  Lehre  über.  Die  beiden  Seiten  der  menschlichen  Natur 
sind  nicht  versöhnt,  wenn  der  sittliche  Trieb  den  Sinnentrieb  übenvinden  muss. 
Im  physischen  und  im  „moralischen"  Zustand  ist  je  eine  Seite  der  mensch- 
lichen Natur  zu  Gunsten  der  anderen  unterdrückt.  Ein  vollendetes  Menschen- 
thum  ist  nur  da,  wo  keiner  der  beidien  Triebe  über  den  anderen  herrscht.  Der 
Mensch  ist  nur  da  wahrhaft  Mensch,  wo  er  spielt,  wo  der  K^mpf  in  ihm  schweigt, 
wo  die  sinnliche  Natur  in  ihm  zu  so  edler  Empfindung  erhoben  ist,  dass  er 
nicht  mehr  nöthig  hat,  erhaben  zu  wollen.  Der  kantische  Rigorismus  gilt  überall 
da,  wo  der  Pflicht  die  sinnliche  Neigung  gegenübersteht:  aber  es  giebt  das  höhere 
Ideal  der  schönen  Seele,  welche  diesen  Kampf  nicht  kennt,  weil  ihre  Natur  so 
veredelt  ist,  dass  sie  das  Sittengesetz  aus  Neigung  erfällt.  Und  eben  diese  Ver- 
edlung gewinnt  der  Mensch  nur  durch  die  ästhetische  Erziehung.  Durch  sie 
allein  wird  der  sinnlich-übersinnliche  Zwiespalt  in  der  menschlichen  Natur  auf- 
gehoben, in  ihr  allein  kommt  das  ganze,  volle  Menschenthum  zur  Verwirklichung. 

5.  In  dem  Ideal  der  „schönen  Seele"  überwindet  die  Shaftesbury'sche 
„Virtuosität"  den  kantischen  Dualismus.  Die  Vollendung  des  Menschen  ist  die 
ästhetische  Versöhnung  der  beiden  in  ihm  wohnenden  Naturen;  die  Bildung  soll 
das  Leben  des  Individuums  zum  Kunstwerk  machen,  indem  sie  das  sinnlich 
Gegebene  zum  vollen  Einklang  mit  der  ethischen  Bestimmung  adelt.  In  dieser 
Richtung  hat  Schiller  im  Gegensatz  zum  Rigorismus  Kant's  der  idealen  Lebens- 
auffassung seintr  Zeit  dien  tonangebenden  Ausdruck  verliehen,  und  der  ästhe- 
tische Humanismus,  welchen  er  so  der  Begrüfsarbeit  abrang,  fand  neben  ihm 
eine  Fülle  von  anderen,  eigenartigen  Ausprägungen.  In  ihnen  allen  aber  erschien 


1 )  VgL  den  Schluss  der  Abhandlung  „Ueber  den  moralischen  Nutzen  ästhetischer  Sitten" . 


474  Vr.  Deutsche  Philosophie.   2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

Goethe  als  die  gewaltige  Persönlichkeit,  welche  in  der  ästhetischen  Vollkommen- 
heit ihrer  Lebensflihrung  ebenso  wie  in  den  grossen  Werken  ihrer  dichterischen 
Thätigkeit  diese  ideale  Höhe  der  Humanität  lebendig  darstellte. 

In  dieser  Au£Pas8ung  des  Genius  begegnete  sich  mit  Schiller  zunächst 
Wilhelm  von  Humboldt^):  er  suchte  von  hier  aus  das  Wesen  der  grossen 
Dichtungen  zu  verstehen,  er  fand  in  der  Harmonie  der  sinnlichen  und  der  sitt- 
lichen Natur  das  Lebensideal  des  Menschen,  und  er  wendete  dies  Prindp  in 
seiner  für  die  Sprachwissenschaft  grundlegenden  Abhandlung^)  in  der  Weise 
an,  dass  er  aus  der  organischen  Wechselwirkung  beider  Elemente  das  Wesen 
der  Sprache  zu  verstehen  lehrte. 

Zu  schärferem  Gegensatz  gegen  den  kantischen  Bigorismus  ging  in  dem 
Shaftesbury'schen  Geiste  schon  Jacobi  in  seinem  auf  Goethe's  PersönUchkeit  zu- 
geschnitMien  Boman  „AUwill's  Briefsammlung^  vor.  Auch  das  moralische 
Genie  ist  „exemplarisch^ :  es  fügt  sich  nicht  imter  hergebrachte  Begdn  und 
Maximen,  es  lebt  sich  selbst  aus  und  giebt  sich  damit  auch  die  Gesetze  sein^ 
MoraUtät.  Diese  „sittliche  Natur ^  ist  das  Höchste,  was  es  im  Umkreise  der 
Menschheit  giebt. 

Zu  vollem  Uebermuth  ist  diese  ethische  Genialität  in  Theorie  und  Praxis 
bei  den  Rom  antikern  ausgewuchert.  Hier  entwickelte  sie  sich  als  eine  ästhe- 
tische Aristokratie  der  Bildung  gegen  die  demokratische  ütilität  der 
Auf  klänmgsmoral.  Das  bekannte  Schiller'sche  Wort  von  dem  Adel  in  der  sitt- 
lichen Welt  wurde  dahin  gedeutet,  dass  der  Philister  mit  seiner  nach  allgemeinen 
Grundsätzen  geregelten  Arbeit  seine  zweckbestimmte  Thätigkeit  zu  leisten  habci 
während  der  geniale  Mensch,  frei  von  aller  äusseren  Bestimmung  durch  Absichten 
und  Regeln  in  dem  interesselosen  Spiel  seiner  bewegten  Innerlichkeit,  in  der  Aus- 
gestaltung seiner  ewig  bildsamen  Phantasie  nur  seine  bedeutende  Individualität 
als  etwas  in  sich  WerthvoUes  auslebt.  In  dieser  genialen  Moral  soll  deshalb  auch 
die  Sinnlichkeit  (in  der  engsten  Bedeutung  des  Worts)  zu  ihrem  vollen  un- 
verkümmerten  Rechte  kommen  und  durch  ästhetische  Steigerung  den  feinsten 
Regungen  der  Innerlichkeit  ebenbürtig  werden,  —  ein  sublimer  Gedanke,  der 
nicht  hinderte,  dass  seine  Ausführung  in  Schlegers  Lucinde  auf  geistreich  raffinirte 
Gemeinheit  hinauslief. 

Zu  der  Reinheit  Schiller'scher  Gesinnung  wurde  die  romantische  Moral  durch 
Schleiermacher'  s®)  Ethik  zurückgeführt.  Sie  ist  der  vollendete  Ausdruck  des 
Lebensideals  jener  grossen  Zeit.  Auf  die  Einheit  von  Yemimft  und  Natur  scheint 
ihr  alles  ethische  Handeln  gerichtet :  danach  bestimmt  sich  im  Allgemeinen  das 
Sittengesetz,  welches  kein  anderes  sein  kann  als  das  natürUche  Lebensgesetz  der 
Vernunft,  danach  auch  im  Einzelnen  die  Aufgabe  jedes  Individuums,  welches  in 
besonderer,  nur  ihm  eigener  Weise  jene  Einheit  zum  Ausdruck  bringen  soll.  In 
der  systematischen  Ausführung  dieses  Gedaidcens  unterscheidet  Schleiermacher 
(nach  dem  organischen  und  dem  intellectuellen  Factor  der  Intelligenz,  vgl.  §41,  6) 
die  organisirende  und  die  symboHsirende  Thätigkeit,  je  nachdem  ob  die  Einheit 
von  Natur  und  Vernunft  erstrebt  oder  vorausgesetzt  wird,  und  so  ergeben  sich 


1)  Geb.  1767,  gest.  1835.  Ges.  Werke  7  Bde.,  Berlin  1841  ff.  Vgl.  ausser  dorn  Brief- 
wechsel, namentlich  mit  Schiller,  hauptsächlich  die  „Aesthetischen  Yersnohe"  (Braunschweig 
1799).  Dazu  Run.  Haym,  W.  v.  H.  (Berlin  1856).  —  2)  Ueber  die  Kawi-Sprache,  Berlin  1836.  — 
3)  Vgl.  auch  ScmiBiERHACHSR's  „Vertraute  Briefe  über  die  Lucinde"  (1800). 


§  42.  System  der  Vernutift.  (Schleiermacher,  Herbart,  Schiller.)  475 

im  Ganzen  vier  sittliche  Grondverhältnisse^  denen  als  Güter  Staat,  Geselligkeit; 
Sdiule  und  Kirche  entsprechen.  Aus  diesen  heraus  hat  sich  das  Individuum  zu 
harmonischem  Eigenleben  selbstthätig  zu  entwickeln. 

Auf  die  ästhetische  Vernunft  hat  endlich  in  völlig  selbständiger  Weise  auch 
Herbart  die  ethische  Theorie  zurückgeführt :  ihm  gilt  die  Moral  ak  ein  Zweig 
der  allgemeinen  Aesthetik.  Neben  der  theoretischen  Vernunft;  welche  die  Prin- 
dpien  fiir  die  Erkenntniss  des  Seins  enthalt;  erkennt  er  als  ursprünglich  nur  die 
Beurtheilung  des  Seienden  nach  ästhetischen  Ideen  an.  Diese  hat 
mit  dem  Willen  und  den  Bedürfiiissen  des  empirischen  Ich  ebenso  wenig  zu  thun 
wie  das  Erkennen.  Die  ^Geschmacksurtheile^  gelten  mit  unableitbarer  Evidenz 
nothwendig  und  allgemein^  und  sie  beziehen  sich  stets  auf  die  Verhältnisse 
des  Seienden:  ihnen  wohnt  ein  ursprüngliches  Wohlgeüedlen  oder  Missfallen 
bei.  Die  Anwendung  dieser  Principien  auf  das  engere  Gebiet  des  Aesthetischen 
ist  von  Herbast  nur  angedeutet  worden :  die  Ethik  dagegen  gilt  ihm  als  die  Lehre 
von  den  Geschmacksurtheilen  über  Verhältnisse  des  menschlichen  Willens.  Sie 
hat  nichts  zu  erklären  —  das  ist  Sache  der  Psychologie  — ,  sie  hat  nur^die  Normen 
festzusteUen,  nach  denen  sich  jene  Beurtheilung  richtet.  Als  solche  findet  Herbart 
die  fünf  sittlichen  Ideen:  Freiheit,  Vollkommenheit,  Wohlwollen,  Recht  und 
Billigkeit;  und  nach  ihnen  sucht  er  auch  die  Systeme  des  sittlichea  Lebens  zu 
ordnen,  während  er  für  die  genetische  Untersuchung  immer  die  Principien  der 
Associationspsychologie  geltend  macht  und  so  in  der  Statik  und  Mechanik  des 
Staats  den  Mechanismus  der  Willensbewegungen  darzustellen  unternimmt;  durch 
welchen  das  gemeinsame  Leben  der  Menschen  sich  erhält. 

6*  AusSchiller 's  ästhetischer  Moral  ergab  sichaber  auch  eineGeschichts- 
Philosophie;  welche  die  Gesichtspunkte  vonRousseau  und  Kant  in  neuer  Verbin- 
dung erscheinen  liess.  Der  Dichter  entwickelte  sie  in  ganz  eigenartiger  Weise, 
indem  er  in  den  Aufsätzen  über ,,  Naive  und  sentimentalische  Dichtung^  die  ästhe- 
tischen Grundbegriffe  aus  der  Aufstellung  historischer  Gegensätze  und  aus  einer 
allgemeinen  Construction  ihrer  Bewegung  gewann.  Die  Zeitalterund  dieDichtungs- 
artencharakterisiren  sich  ihm  durch  das  verschiedene  Verhältniss  des  Geistes  zum 
Reiche  der  Natur  und  zum  Reiche  der  Freiheit.  Als  der  ^ arkadische^  Zustand 
erscheint  hier  der,  wo  der  Mensch  instinctiv,  ohne  Gebot  das  Sittliche  thut,  weil 
der  Gegensatz  seiner  beiden  Naturen  noch  nicht  im  Bewusstsein  entfaltet  ist : 
als  das  „elysische^  Ziel  erscheint  jene  Vollendung,  in  welcher  die  Natur  so 
veredelt  ist;  dass  sie  wiederum  das  Sittengesetz  in  ihren  Willen  aufgenommen 
hat.  Zwichen  beiden  liegt  der  Kampf  der  beiden  Naturen,.  —  die  wirkliche 
Geschichte. 

Die  Dichtung  aber,  deren  eigentliche  Aufgabe  es  ist,  den  Menschen  dar- 
zustellen; ist  überall  durch  diese  Grundverhältnisse  bestimmt.  Lässt  sie  die 
sinnUche  Natürlichkeit  des  Menschen  noch  in  der  harmonischen  Einheit  mit  seinem 
geistigen  Wesen  erscheinen;  so  ist  sie  naiv;  bringt  sie  dagegen  den  Widerspruch 
zwischen  beiden  zur  DarsteUung,  lässt  sie  in  irgend  einer  Weise  die  ünangemessen- 
heit  zwischen  der  Wirklichkeit  und  dem  Ideal  des  Menschen  hervortreten,  so  ist  sie 
sentimental,  und  zwar  entweder  satirisch  oder  elegisch,  sei  es  auchimidyll.  Der 
Dichter;  der  selbst  Natur  ist;  stellt  die  Natur  naiv  dar;  der,  welcher  sie  nicht 
besitzt,  hat  an  ihr  das  sentimentalische  Interesse,  die  Natur,  die  aus  dem  Leben 
schwand,  ak  Idee  in  der  Dichtung  zurückzurufen.  Die  Harmonie  von  Natur 


476  ^I-  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

und  Vernunft  ist  bei  jenem  gegeben ;  bei  diesem  aufgegeben^  —  dort  als  Wirk- 
lichkeit;  bier  als  Ideal.  Dieser  Unterschied  der  dichterischen  Empfindungs- 
weise cbarakterisirt  nach  Schiller  auch  den  Gegensatz  des  Antiken  und  des 
Modernen.  Der  Grieche  empfindet  natürlich ,  der  moderne  Mensch  empfindet 
die  Natur  als  ein  verlorenes  Paradies,  wie  der  Kranke  die  Genesung.  Daher 
giebt  der  antike  und  naive  Dichter  die  Natur  wie  sie  ist,  ohne  seine  Empfindung, 
der  moderne  und  sentimentale  nur  in  Beziehung  auf  seine  Reflexion :  jener  ver- 
schwindet hinter  seinem  Gegenstande  wie  der  Schöpfer  hinter  seinen  Werken, 
dieser  zeigt  in  der  Gestaltung  des  Stoffs  die  Macht  seiner  dem  Ideal  zustrebenden 
Persönlichkeit.  Dort  waltet  Realismus,  hier  Idealismus,  und  die  letzte  Höhe  der 
Kunst  wäre  die  Vereinigung,  worin  der  naive  Dichter  das  Sentimentalische  dar- 
stellte :  so  umriss  Schiller  die  Gestalt  seines  grossen  Freundes,  des  modernen 
Griechen. 

Mit  Begier  wurden  diese  Bestimmungen  von  den  Romantikern  auf- 
gegriffen. Virtuosen  des  Recensententhums,  wie  die  SchlegeTs  waren,  freuten 
sich  dieses  philosophischen  Schemas  für  Kritik  und  Charakteristik  und  führten 
es  in  ihre  umfassende  Bearbeitung  der  Litteraturgeschichte  ein.  Dabei  gab  indess 
Friedrich  Schlegel  den  schiller'schen  Gedanken  die  spedfisch  romantische 
Zuspitzung,  fiir  die  er  mit  schlagfertiger  Oberflächlichkeit  fichte'sche  Motive  zu 
verwerthen  wusste.  Wenn  er  den  von  Schiller  aufgestellten  Gegensatz  mit  den 
neuen  Namen  classisch  und  romantisch  bezeichnete,  so  bildete  er  ihn  auch 
sachUch  durch  seine  Lehre  von  der  Ironie  um.  Der  classische  Dichter  geht  in 
seinem  Stoff  auf,  der  romantische  schwebt  als  souveräne  Persönlichkeit  über  ihm, 
er  vernichtet  den  Stoff  durch  die  Form.  Indem  er  über  den  Stoff,  den  er  setzt, 
mit  freier  Phantasie  hinweggeht,  entfaltet  er  an  ihm  nur  das  Spiel  seiner  Genialität, 
das  er  in  keiner  seiner  Bildungen  beschränkt.  Daher  hat  der  romantüsche  Dichter 
einen  Zug  zum  Unendlichen,  zum  Niemalsfertigen:  er  selbst  ist  immer  hoch  mehr 
als  jeder  seiner  Gegenstände,  und  darin  eben  bethätigt  sich  die  Ironie.  Dem 
unendlichen  Thun  des  sittlichen  Willens,  wovon  Fichte  gelehrt,  schiebt  der 
Romantiker  das  endlose  Spiel  der  zwecklos  bildenden  und  wieder  zerstörenden 
Phantasie  unter. 

Die  geschichtsphilosophischen  Momente  in  Schiller^s  Lehre  haben 
bei  Fichte,  dem  sie  manches  entlehnte,  ihre  volle  Ekitwicklung  gefunden,  dabei 
aber  auf  diesen  den  Einfluss  gehabt,  dass  auch  er  in  der  ästhetischen  Vernunft 
die  Gegensätze  der  Wissenschafkslehre  sich  ausgleichen  liess.  Schon  in  den 
.1  enenser  Vorlesungen  über  das  Wesen  des  Gelehrten  und  in  der  Behandlung, 
welche  die  Berufspflichten  des  Lehrers  und  des  Künstlers  im  „System  der  Sitten- 
lehre^ fanden,  klingen  solche  Motive  an:  zum  beherrschenden  Thenia  sind  sie  in 
Fichte's  Erlanger  Vorlesungen  geworden.  Wenn  er  daran  ging,  die  Grundisiige 
des  gegenwärtigen  Zeitalters  zu  zeichnen,  so  that  er  es  in  den  markigen  Linien 
einer  universalhistorischen  Construction.  Als  der  erste  („arkadische")  Zustand 
der  Menschheit  erscheint  hier  der  des  „Vernunftinstincts*^,  als  dessen  Träger 
ein  Normalvolk  angenommen  wird.  In  diesem  Zeitalter  waltet  über  und  in  den 
Individuen  mit  unmittelbarer,  unangefochtener  Sicherheit  der  Natumothwendig- 
keit  das  allgemeine  Bewusstsein:  aber  die  Bestimmung  des  freien  Einzel-Ich  ist 
es,  sich  von  dieser  Gewalt  der  Sitte  und  des  Herkommens  loszureissen  und  dem 
eigenen  Triebe  und  Urtheile  zu  folgen.  Damit  aber  beginnt  das  Zeitalter  der 


§  42.  System  der  Vernunfb.  (Fichte,  Schelling.)  477 

Sündhaftigkeit.  Diese  vollendet  sich  in  dem  intellectuellen  und  moralischen  Zer- 
fall des  Gesammtlebens,  in  der  Anarchie  der  Meinungen,  in  dem  Atomismus  der 
Privatinteressen.  Mit  deutlichen  Strichen  wird  diese  „vollendete  Sündhaftig- 
keit^ als  Theorie  und  Praxis  der  Aufklärung  gekennzeichnet.  Die  Lebens- 
gemeinschaft der  Menschheit  ist  hier  zu  dem  „Nothstaat^  herabgesunken,  der 
auf  die  Ermöglichung  eines  äusserlichen  Zusammenseins  beschränkt  ist  und 
darauf  beschränkt  sein  soll,  da  er  mit  allen  höheren  Interessen  des  Menschen, 
Moralität,  Wissenschaft,  Kunst  und  Religion  nichts  zu  thun  hat  und  sie  der 
Freiheitssphäre  des  Individuums  überlassen  muss.  DaftLr  hat  denn  aber  auch  das 
Individuum  an  diesem  „  wirklichen'^  Staat  kein  lebendiges  Interesse :  seine  Heimath 
ist  die  Welt  und  vielleicht  noch  in  jedem  Augenblicke  der  Staat,  der  gerade  auf 
der  Höhe  der  Cultur  steht*).  Diese  Cultur  aber  besteht  in  der  Unterordnung 
der  Individuen  unter  das  erkannte  Vemunftgesetz.  Aus  der  sündhaften  Willkür 
der  Individuen  muss  die  Autonomie  der  Vernunft,  die  Selbsterkenntniss  und 
Selbstgesetzgebung  des  nun  bewusst  im  Einzelnen  waltenden  AUgemeingiltigen 
sicherheben.  Damit  wird  das  Zeitalter  der  Yernunftherrschaft  beginnen, 
aber  es  wird  sich  nicht  vollenden,  ehe  nicht  in  dem  „wahren  Staate^  alle  Kräfte 
des  vernünftig  vollgereiften  Individuums  in  den  Dienst  des  Ganzen  gestellt  werden 
und  so  wieder  das  Gebot  des  Gesammtbewusstseins  widerstandslos  erfüllt  wird. 
Dieser  („elysische^)  Endzustand  ist  der  der  „Vernunftkunst^.  Es  ist  das 
Ideal  der  „schönen  Seele^,  auf  Politik  und  Geschichte  übertragen.  Dies  Zeit- 
alter herbeizuführen  und  in  ihm  die  Gemeine,  das  „Reich^  durch  Vernunft  zu 
leiten,  ist  die  Aufgabe  des  „Lehrers'',  des  Gelehrten  und  des  Künstlers^). 

Den  „Beginn  der  Vemunftherrschaff  sahFichte^s  thatkräftiger  Ideatismus 
gerade  da,  wo  die  Sündhaftigkeit  und  die  Noth  am  höchsten  gestiegen  waren. 
In  den  Reden  an  die  deutsche  Nation  feierte  er  sein  Volk  als  dasjenige,  welches 
allein  noch  die  Ursprünglichkeit  bewahrt  habe  und  dazu  bestimmt  sei,  den  wahren 
Culturstaat  zu  schaffen.  Er  rief  es  auf,  sich  auf  diese  seine  Bestimmung  zu  be- 
sinnen, an  der  das  Schicksal  Europa's  hange,  von  innen  heraus  durch  eine  völlig 
neue  E2rziehung  sich  selbst  zum  Vemunftreiche  zu  erheben  und  der  Welt  die 
Freiheit  Ssurückzugeben. 

7»  Zur  vollen  Hen*schaft  im  ganzen  System  der  idealistischen  Philosophie 
gelangte  der  Gesichtspunkt  der  ästhetischen  Vernunft  durch  Schelling. 
In  seiner  Ausarbeitung  des  „transscendentalen  Idealismus''  entwickelte  er  den 
fichte'schen  Gegensatz  der  theoretischen  und  der  praktischen  Wissenschaftslehre 
durch  das  Verhältniss  der  bewussten  und  der  bewusstlosen  Thätigkeit  des  Ich 
(vgl.  oben  No.  2).  Ist  die  bewusste  durch  die  bewusstlose  bestimmt,  so  verhält 
sich  das  Ich  theoretisch,  im  umgekehrten  Falle  praktisch.  Aber  das  theoretische 
Ich,  welches  derProductivität  der  bewusstlosen  Vernunft  empfindend,  anschauend, 
denkend  zuschaut,  kommt  damit  nie  zu  Ende,  und  auch  das  praktische  Ich,  welches 
die  bewusstlose  Weltwirklichkeit  in  der  freien  Arbeit  der  individuellen  SittUch- 
keit,   der  staatlichen  Gemeinschaft  und  des  geschichtUchen  Fortschritts  um- 


1)  Die  für  den  Kosmopolitismus  der  Bildung  im  18.  Jahrhundert  classische  Stelle  ist  bei 
Fichte,  W.  YTT,  212.  —  2)  In  der  religiösen  Schlusswendung  des  Fichte'schen  Denkens  nimmt 
dies  Bild  des  idealen  Colturstaates  der  Zukunft  mehr  und  mehr  theokratische  Züge  an :  der 
Gelehrte  und  Künstler  ist  jetzt  der  Priester  und  Seher  geworden.  Vgl.  W.  IV,  453  ff.  und 
Nachgel.  Werke  III,  147  ff. 


478  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

gestaltet;  hat  das  Ziel  seiner  Thätigkeit  im  Unendlichen.  In. beiden  Reihen 
kommt  das  ganze  Wesen  der  Vernunft  nie  zu  voller  Verwirklichung.  Dies  ist 
nur  möglich  durch  die  bewusstlos-bewusste  Thätigkeit  des  künstleri- 
schen Genies,  worin  jene  Q-egensätze  au%ehoben  sind«  In  der  absichtslosen 
Zweckmässigkeit  des  Schaffisns,  dessen  Froduct  die  Freiheit  in  der  Erscheinung 
ist;  mu8s  die  höchste  Synthesis  aller  VemunftthitiglBateii  gesucht  werden.  Hatte 
Kant  das  Genie  als  die  Intelligenz  definirt;  die  wie  Natur  wirkt,  hatte  Schiller 
den  ästhetischen  Zustand  des  Spiels  als  den  wahrhaft  menschlichen  bezeidiMt, 
so  erklärte  Schelling  die  ästhetische  Vernunft  fär  den  Schlussstein  des  idealisti- 
schen Systems.  Das  Kunstwerk  ist  diejenige  Erscheinung;  worin  die  Vernunft 
am  reinsten  und  Tollsten  zur  Entwicklung  gelangt:  die  Kunst  ist  das  wahre 
Organen  der  Philosophie.  An  ihr  hat  das  „zuschauende  Denken^  zu  lernen,  was 
Vernunft  ist.  Wissenschaft  und  Moralität  sind  einseitige  und  nie  abgeschlossene 
Entwicklungsreihen  der  subjecüren  Vernunft:  nur  die  Kunst  ist  in  jedem  ihrer 
Werke  fertig  als  ganz  verwirklichte  Vernunft. 

Nachdem  erden  ;,transscendentalen  Idealismus^  geschrieben,  hielt  Schelling 
in  Jena  die  Vorlesungen  über  die  „Philosophie  der  Kunst",  welche  diese  Grund- 
gedanken mit  einem  bewunderungsvrürdig  feinen,  insbesondere  an  der  Behandlung 
der  Dichtkunst  bewährten  Verständniss  für  künstlerische  Eigenart  und  Schaffens- 
weise ausführten.  Damals  nicht  gedruckt,  haben  diese  Vorlesungen  durch  ihre 
Wirkung  auf  die  Jenenser  Kreise  die  gesammte  folgende  Entwicklung  der 
Aesthetik  bestimmt.  Die  spätere  Veröffentlichung  ')  legt  diejenige  Bedaction 
vor;  welche  Schelling  einige  Jahre  später  in  Würzburg  vortrug.  In  ihr  macht 
sich  noch  mehr  die  Aenderung  in  der  allgemeinen  Auffassung  geltend,  wozu  der 
Philosoph  inzwischen  fortgeschritten  war. 

8.  Auch  dabei  wirkte  das  ästhetische  Motiv  wenigstens  in  formeller  Hin- 
sicht; indem  für  die  Naturphilosophie  und  die  Transscendentalphilosophie  eine  ge- 
meinsame systematische  Grundlage  gesucht  wurde.  Jene  handelte  von  der  ob- 
jectiven,  diese  von  der  subjectiven  Vernunft:  beide  aber  mussten  im  letzten  Wesen 
identisch  sein-,  weshalb  sich  diese  Phase  des  Idealismus  das  Identität&system 
nennt.  Danach  bedarf  es  fQr  die  Natur  und  das  Ich  eines  gemeinsamen  Prineips. 
Dies  wurde  in  der  Schrift;  welche  Schelling  ^Darstellung  meines  Systems  der  Philo- 
sophie*^ betitelte,  die  „absolute  Vernunft"  oder  die  „Indifferenz  von  Natur 
und  Geist;  von  Object  und  Subject"  genannt:  denn  das  höchste  Princip  kann  weder 
real  noch  ideal  bestimmt  sein,  in  ihm  müssen  alle  Gegensätze  ausgelöscht  sein.  Das 
„Absolute"  ist  hier  bei  Schelling  inhaltlich  so  unbestimmt');  wie  in  deralten  nnegß,- 
tiven  Theologie",  wie  in  Spinoza's  „Substanz".  Mit  dem  letzteren"  Begriffe  aber 
theUt  es  die  Eigenschaft,  dass  seine  Erscheinung  in  zwei  Beihen  aus  einander  geht; 
die  reale  und  ideale,  Natur  und  Geist.  Diese  sachliche  Verwandtschaft  mit  Spinoza 
verstärkte  Schelling  durch  die  formelle;  indem  seine  „Darstellung"  den  Schema* 
tismus  d^  „Ethica"  nachahmte.  Trotzdem  ist  dieser  idealistische  Spino- 
zismus  von  dem  originalen  in  seiner  WeltauffSiSsung  durchaus  verschieden. 
Beide  wollen  die  ewige  Verwandlung  des  Absoluten  in  die  Welt  daMellen:  dabei 
betrachtet  aber  Spinoza  die  beiden  Attribute  der  Materialität  und  des  Bewusstseins 

1)  In  den  Ges.  Werken  V,  353  ff.,  erst  1859  gedruckt.  —  2)  Sehr  charakteristisch  drückte 
dies  Schelling's  Schüler  Oken  ans,  wenn  er  (Naturphilosophie!,  S.  7 ff.)  das  Absolute,  von 
ihm  schon  Gott  genannt,  =  ^  0  setzte. 


§42.  System  der  Vernunft.  (Schelling.)  479 

als  völlig  getrennt  und  jede  endliche  Erscheinung  als  lediglich  einer  der  beiden 
Sphären  angehörig.  Schelling  aber  verlangt,  dass  in  jeder  Erscheinung  „Realität^ 
und  „Idealität^  enthalten  sein  müssen  und  construirt  die  einzelnen  je  nach  dem 
Masse,  in  welchem  beide  Momente  darin  verknüpft  sind.  Das  dialektische  Pnncip 
des  absoluten  Idealismus  ist  die  quantitative  Differenz  des 
realen  und  des  idealen  Factors:  das  Absolute  selbst  ist  eben  deshalb  die 
völlige  Indifferenz ').  Die  reale  Seihe  ist  diejenige,  worin  der  objective  Factor 
„überwiegt^ :  sie  führt  von  der  Materie  durch  Licht,  BUektricität  und  Chemismus 
zum  Organismus,  der  relativ  geistigsten  Erscheinung  der  Natur.  In  der 
idealen  Beihe  überwiegt  der  subjective  Factor,  in  ihr  geht  die  Entwicklung  von 
der  Morafität  und  der  Wissensdiaft  zum  Kunstwerk,  der  relativ  natürlichsten 
Erseheinung  im  Reiche  des  Geistes.  Und  die  Gesammterscheinung  des  Absoluten, 
das  Universum,  ist  deshalb  zugleich  der  vollkommenste  Organismus  und  das 
vollkommenste  Kunstwerk  ^. 

9.  In  diesem  System  wollte  Schelling  den  ganzen  Ertrag  der  früher  nach 
verschiedenen  Richtungen  aus  einander  gehenden  Untersuchungen  zusammen- 
fassen. Er  bezeichnete  dabei  die  verschiedenen  Stufen  der  Selbstdifferenzirung  des 
Absoluten  zuerst  als  „Potenzen'':  bald  aber  führte  er  einen  anderen  Namen 
und  zugleich  eine  andere  Auffassung  der  Sache  ein.  Das  hing  mit  der  reli- 
giösen Wendung  zusammen,  welche  das  Denken  der  Romantiker  um  die  Wende 
der  Jahrhunderte  nahm.  Die  Anregung  dazu  ging  von  Schleiermacher  aus. 
Er  bewies  den  „Gebildeten  unter  den  Verächtern  der  Religion^,  dass  das  System 
der  Vernunft  sich  nur  in  der  Religion  vollenden  könne.  Auch  darin  lag 
ein  Sieg  der  ästhetischen  Vernunft.  Denn  was  Schleiermacher  damals  als 
Religion  predigte  (vgl.  §  41, 6),  war  kein  theoretisches  und  kein  praktisches  Ver- 
halten des  Menschen,  sondern  eine  ästhetische  Beziehtmg  zum  Weltgrunde,  das 
Gefühl  sohlechthiniger  Abhängigkeit.  Darum  beschränkte  sich  auch  die  Religion 
für  ihn  auf  das  fromme  Gefbhl,  auf  das  Durchdrungensein  des  Individuums  von 
dieser  innerlichen  Beziehung  zum  Allgemeinen,  und  lehnte  alle  theoretische  Form 
und  alle  praktische  Organisation  ab.  Darum  sollte  die  Religion  Sache  der  Indi- 
vidualität sein,  darum  wurde  die  positive  Religion  auf  das  „religiöse  Genie^  ihres 
Stifters  zurückgeführt.  Bei  dieser  Verwandtschaft  ist  die  Wirkung  begreiflicfa, 
welche  Schleiermacher's  „Reden^  auf  die  Romantik  ausgeübt  haben,  von  hier 
stammt  deren  Neigung,  die  einheitliche  Lösung  aller  Probleme  der  Menschheit 
von  der  Religion  zu  erwarten,  in  ihr  die  getrennten  Sphären  der  Culturthätigkeit 
wieder  innerlich  vereinigen  zu  wollen,  und  schliesslich  das  Heil  in  jener  Herr- 
schaft der  Religion  über  alle  Lebenskreise  zu  suchen,  wie  sie  im  Mittelalter  be- 
standen haben  sollte.  Wie  SchiUer  ein  idealisirtes  Griechenthum,  so  schufen  die 
späteren  Romantiker  ein  idealisirtes  Mittelalter. 

Mit  grosser  Feinfühligkeit  folgte  Schelling  diesem  Zuge  des  Denkens.  Wie 
Spinoza  nannte  er  nun  das  Absolute  „Gott^  oder  das  „Unendliche^,  und  ebenso 
wie  Spinoza  zwischen  der  „Substanz^  und  den  einzelnen  endlichen  Wirklichkeiten 
die  Attribute  und  die  „unendlichen  Modi"  (vgl.  S.  323)  eingeschoben  hatte,  so  galten 
nun  die  „Potenzen"  als  die  ewigen  Formen  der  Erscheinung  Gottes,  deren  end- 

1)  SchematUch  erläutert  Sohelling  dies  darch  das  Bild  des  Magneten,  in  dessen  ver- 
schiedenen Theilen  Nordmagnetismus  und  Südmagnetismus  mit  verschiedenem  Intensitäts- 
verhältniss  gegenwärtig  sind.  —  2)  W.  I,  4,  423. 


480  ^^'  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

liehe  Abbilder  die  empirischen  Einzelerscheinungen  sind.  Wenn  sie  aber  in  diesem 
Sinne  von  Schelling  (im  „Brano^  und  in  der  „Methode  des  akademischen  Stu- 
diums^), als  Ideen  bezeichnet  ¥nirdeny  so  kommt  darin  noch  ein  anderer  Ein- 
fluss  zu  Tage.  Schleiermacher  und  Hegel,  der  seit  1801  seinen  persönlichen 
Einfluss  auf  Schelling  geltend  machte,  wiesen  gleichmässig  auf  Piaton  hin;  aber 
die  damalige  philosophische  Kenntniss  betrachtete  ^)  dessen  Lehre  noch  immer 
durch  die  Brille  des  Neuplatonismus,  welcher  die  Ideen  als  Selbst- 
anschauung Gottes  auffasste.  Und  so  ging  Schelling's  Lehre  in  einen  neu- 
platonischen Idealismus  zurück,  wonach  die  „Ideen*^  das  Mittelglied  bildeten, 
durch  welches  sich  das  Absolute  in  die  Welt  verwandeln  sollte. 

Dieser  religiöse  Idealismus  der  ScheUing'schen  Ideenlehre  hat  eine  Anzahl 
von  Parallel-  und  Folgeerscheinungen.  Die  persönlich  interessanteste  davon  ist 
Fichte 's  spätere  Lehre,  worin  er  dem  Sieg  des  Spinozismus  den  Tribut  ent- 
richtete, dass  er  nun  doch  wieder  den  unendlichen  Trieb  des  Ich  aus  einem  „ab- 
soluten Sein^  hervorgehen  und  auf  dasselbe  gerichtet  sein  liess.  Für  die  end- 
lichen Dinge  hielt  er  daran  fest,  sie  als  Producte  des  Bewusatseins  zu  deduciren: 
aber  dessen  unendliche  Thätigkeit  leitete  er  nun  aus  dem  Zweck  ab,  ein  absolutes 
Sein,  die  Gottheit,  „abzubilden^,  und  deshalb  erschien  ihm  jetzt  als  die  Be- 
stimmung des  Menschen  nicht  mehr  die  rastlose  Thätigkeit  des  kategorischen 
Imperativs,  sondern  das  „selige  Leben^  der  Versenkung  in  die.  Anschauung  des 
göttlichen  Urbildesj  —  ein  mystischer  Ausklang  des  gewaltigen  Denkerlebens, 
welches  den  Sieg  der  ästhetischen  Vernunft  in  seiner  vollen  Grösse  erscheinen  lässt. 

Noch  weiter  ist  das  religiöse  Motiv  von  Schelling's  Schüler  Krause 
verfolgt  worden.  Die  pantheistische  Weltanschauung  des  Idealismus,  welche 
Schelling  auch  damals  noch  (eben  in  spinozistischer  Weise)  vertrat,  wollte  Krause 
mit  dem  Begriff  der  göttlichen  Persönlichkeit  verbinden.  Die  Welt  gilt  auch  ihm 
als  Entwicklung  des  göttlichen  „Wesens^,  das  in  den  Ideen  ausgeprägt  ist:  aber 
diese  Ideen  sind  die  Selbstanschauung  der  höchsten  Persönlichkeit. 
Wesen  —  so  sagt  Krause  für  Gott  —  ist  nicht  indifferente  Vernunft,  sondern 
der  persönliche  Lebensgrund  der  Welt.  In  der  weiteren  Ausführung  des  hier- 
nach als  „Panentheismus^  charakterisirten Systems  hat  Krause  kaum  eine  andere 
Originalität  als  die  sehr  bedenkliche,  dass  er  die  gem'einsamen  Gedanken  der 
ganzen  idealistischen  Entwicklung  in  einer  unverständlichen  Terminologie  vor- 
trägt, die  er  selbst  erfand,  aber  für  urdeutsch  erklärte.  Besonders  ausgeführt  ist 
bei  ihm  die  Auffassung  des  ganzen  Vemunftlebens  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
„Gliedbau's'^  (zu  deutsch:  Organismus).  Er  betrachtet  nicht  nur  das  Universum 
wie  Schelling  als  „Wesengliedbau^  (göttlichen  Organismus),  sondern  auch  die 
Bildungen  des  gesellschaftlichen  Zusammenhanges  als  Fortsetzungen  der  organi- 
schen Lebensbewegung  über  den  individuellen  Menschen  hinaus:  jeder  „Bund^ 
ist  ein  solcher  GUedbau  und  fügt  sich  wieder  einem  höheren  als  Glied  ein,  und 
der  Gang  der  Geschichte  ist  die  Erzeugung  immer  vollkommenerer  und  um- 
fassenderer Vereinigungen. 

Für  die  romantische  Aesthetik  endlich  hatte  Schelling's  neue  Lehre 
die  Folge,  dass  die  neuplatonische  Auffassung  der  Schönheit  als  Erscheinung  der 


1)  Heber  Herbart's  selbsULndige  AusnahmestelluDg,  deren  Bedeutung  gerade  im  Gegen- 
sat« zu  Schelliog  und  Hegel  klar  wird,  siehe  oben  8. 459,  Anm. 


§42.  System  der  Vernunft.   (Hegel:)  481 

Idee  im  Sinnlichen  für  sie  wieder  massgebend  wurde.  Das  Verhältniss  der  Un- 
zulänglichkeit zwischen  der  endlichen  Erscheinung  und  der  unendlichen  Idee 
stimmte  zu  dem  Schlegerschen  Princip  der  Ironie^  und  dieser  Zusammenhang 
wurde  namentlich  von  Solger  zur  Grundlage  der  Kunsttheorie  gemacht. 

10.  Den  Abschluss  dieser  ganzen  gestaltenreichen  Entwicklung  bildet 
Hegel's  logischer  Idealismus.  Er  bedeutet  in  der  Hauptsache  eine  Rück- 
kehr von  Schelling  zu  Fichte,  ein  Aufgeben  des  Gedankens,  dass  aus  dem 
„Nichts^  der  absoluten  Indifferenz  der  lebendige  Eeichthum  der  Welt  abgeleitet 
werden  könne  *),  und  den  Versuch;  jene  leere  Substanz  wieder  zum  Geist,  zum 
in  sich  bestimmten  Subject  zu  erheben.  Solche  Erkenntniss  kann  aber  nicht 
die  Form  der  Anschauung  haben,  welche  Fichte  und  Schelling  für  das  Ich  oder 
das  Absolute  in  Anspruch  genommen  haben,  sondern  nur  die  des  Begriffs. 
Wenn  alles  Wirkliche  die  Erscheinung  des  Geistes  ist,  so  fällt  die  Metaphysik 
mit  der  Logik*)  zusammen,  welche  die  schöpferische  Selbstbewegung  des  Geistes 
als  eine  dialektische  Nothwendigkeit  zu  entwickeln  hat.  Die  Begriffe,  in  welche 
der  Geist  seinen  eigenen  Inhalt  aus  einander  legt,  sind  die  Kategorien  der 
Wirklichkeit,  die  Gestalten  des  Weltlebens,  und  die  Philosophie  hat  dies 
Reich  der  Formen  nicht  als  gegebenes  Mannigfaltiges  zu  beschreiben,  sondern  als 
die  Mometite  einer  einheitlichen  Entwicklung  zu  begreifen.  Die  dialektische 
Methode  dient  also  bei  Hegel  dazu,  das  Wesen  der  einzelnen  Erscheinungen 
durch  die  Bedeutung  zu  bestimmen,  welche  sie  als  Glieder  in  der  Selbst- 
entfaltung des  Geistes  haben.  Statt  Geist  sagt  Hegel  auch  Idee  oder  Gott.  Es 
ist  die  höchste  Aufgabe,  welche  der  Philosophie  je  gestellt  worden  ist,  die  Welt 
als  eine  Entwicklung  der  Inhaltsbestimmungen  des  göttUchen  Geistes  zu  begreifen. 

Dabei  verhält  sich  Hegel  nicht  nur  zur  deutschen  Philosophie,  sondern  zu 
der  gesamnlten  früheren  Geistesbewegung  ähnlich  wie  Proklos  zur  griechischen^): 
in  dem  ^Schema  der  Dreieinigkeiten^  von  Position,  Negation  und  Aufhebung 
der  Negation  werden  alle  Begriffe,  mit  denen  der  menschliche  Geist  je  die  Wii'k- 
lichkeit  oder  einzelne  Gruppen  derselben  gedacht  hat,  zu  einem  einheitlichen 
System  zusämmengewoben.  Jeder  davon  erhält  damit  seine  Stelle  angewiesen, 
an  der  seine  Nothwendigkeit,  seine  relative  Berechtigung  deutlich  werden  soll: 
aber  jeder  erweist  sich  damit  auch  nur  als  ein  Moment,  welches  erst  im  Zu- 
sammenhange mit  den  übrigen  und  durch  die  Art  seiner  Einfügung  in  das  Ganze 
seinen  wahren  Werth  erhält.  Es  soll  gezeigt  werden,  dass  die  Gegensätze  und 
Widersprüche  der  Begriffe  zum  Wesen  des  Geistes  selbst  und  damit  auch  zum 
Wesen  der  aus  ihm  entfalteten  Wirklichkeit  gehören  und  dass  ihre  Wahrheit 
gerade  in  dem  Zusammenhange  besteht,  in  welchem  die  Kategorien  aus  einander 
sich  ergeben.  „Die  Erscheinung  ist  das  Entstehen  und  Vergehen,  das  selbst 
nicht  entsteht  und  vergeht,  sondern  an  sich  ist  und  die  Wirklichkeit  und  Be- 
wegung des  Lebens  der  Wahrheit  ausmacht^  ^). 


1)  Hegel,  Phänomen.  Vorr.  W.  JI,  14.  —  2)  Diese  metaphysische  Logik  ist  natürlich 
nicht  die  formale,  sondern  ihrer  Bestimmung  nach  recht  eigentlich  Kant's  transscendentale 
Logik.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  dass  die  „Erscheinung"  für  Kant  eine  menschliche  Vor- 
steUungsweise,  für  Hegel  eine  objective  Entausserung  des  absoluten  Geistes  ist.  —  8)  Vgl.  oben 
S.  197.  —  4)  Dieser  Heraklitismus,  der  schon  in  Fichte's  Lehre  vom Thun  (vgl.  oben  S.  467) 
angelegt  war,  fand  seinen  lebhaftesten  Gegner  in  Herbart's  Eleatismus  (vgl.  §  41,  7f).  Dieser 
uralte  Gegensatz  macht  das  Wesentliche  in  dem  Verhältniss  der  beiden  Zweige  des  deutschen 
Idealismus  aus  (vgl.  oben  S.  459,  Anm.). 

Windelband,  Geschichte  der  Philosophie.  31 


482  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

Darum  ist  Hegers  Philosophie  wesentlich  historisch,  eine  systema- 
tische Verarbeitung  des  ganzen  Gedankenstoffs  der  Geschichte.  Er 
besass  sowohl  die  Polyhistorie,  welche  dazu  nöthig  war,  als  auch  die  combinative 
Feinftihligkeit  zur  Auffindung  jener  logischen  Beziehungen^  auf  welche  es  ihm 
ankam.  Das  Interesse  an  seiner  Philosophie  trifft  weniger  die  einzelnen  Begriffe, 
die  er  der  geistigen  Arbeit  von  zwei  Jahrtausenden  entnahm,  als  die  syste- 
matische Verbindung,  welche  er  zwischen  ihnen  herstellte:  und  gerade  durch 
diese  wusste  er  Sinn  und  Bedeutung  des  Einzelnen  meisterhaft  zu  zeichnen  und 
tiberraschendes  Licht  auf  längst  bestehende  Gedankengebilde  zu  werfen.  Frei- 
lich entfaltete  er  am  Gegebenen  die  Willkür  des  constructiven  Denkens, 
welche  das  Wirkliche  nicht  so  darstellte,  wie  es  empirisch  sich  darbietet,  sondern 
so,  wie  es  in  der  dialektischen  Bewegung  sein  sollte,  und  diese  Vergewaltigung 
des  Thatsächlichen  konnte  da  bedenklich  werden,  wo  er  es  versuchte,  das  em- 
pirische Material  in  ein  philosophisches  System  zu  bringen,  wie  in  der  Natur- 
philosophie, in  der  Geschichte  der  Philosophie,  in  der  Geschichte  überhaupt* 
Desto  glänzender  bewährte  sich  die  Macht  des  von  historischem  Geiste  ge- 
tränkten Denkens  auf  solchen  Gebieten,  wo  der  philosophischen  Behandlung 
ausdrücklich  nur  die  Reflexion  über  ein  zweifellos  Gegebenes,  kein  Bericht  über 
empirische  Wirklichkeit  zukommt.  So  gab  Hegel  als  Aesthetik  einen  histo- 
rischen Aufbau  der  ästhetischen  Ideale  der  Menschheit,  welcher  nach 
Schiller'scher  Methode  und  auch  mit  sachlicher  Anlehnung  an  ilire  Resultate 
alle  systematischen  Grundbegriffe  dieser  Wissenschaft  in  der  wohlgefügten 
Reihenfolge  des  Symbolischen,  des  Classischen  und  des  Romantischen  heraus- 
springen liess  und  danach  ebenfalls  das  System  der  Künste  in  Architektur, 
Skulptur,  Malerei,  Musik  und  Dichtung  gliederte.  So  entwickelte  auch  die 
Religionsphilosophie  aus  dem  Grundbegriff  der  Religion,  dass  sie  das  Ver- 
hältniss  des  endlichen  Geistes  zum  absoluten  Geiste  in  der  Form  der  Vorstellung 
sei,  die  Stufen  ihrer  positiven  Verwirklichung  in  der  Naturrebgion  der 
Zauberei,  des  Feuerdienstes  und  der  Thiersymbolik,  in  der  Religion  der  geistigen 
Individualität  des  Erhabenen,  des  Schönen,  des  Verstandesmächtigen,  endlich 
in  der  absoluten  Religion,  welche  Gott  als  das  vorstellt,  was  er  ist,  als  den  drei- 
einigen Geist.  Ueberall  hat  Hegel  hier  mit  tiefgreifender  Sachkenntniss  die 
Grundlinien  gezogen,  in  denen  sich  später  die  empirische  Behandlung  derselben 
Gegenstände  bewegt  hat,  und  die  philosophischen  Kategorien  für  die  Gesammt- 
betrachtung  der  historischen  Thatsachen  aufgestellt. 

Dasselbe  gilt  auch  für  seine  Behandlung  der  Weltgeschichte.  Hegel  ver- 
stand unter  objectivem  Geist  den  übergreifenden  Lebenszusammenhang  der 
Individuen,  der,  nicht  von  diesen  erzeugt,  vielmehr  den  Boden  bildet,  aus  dem 
sie  geistig  hervorgehen.  Die  abstrakte  Form  dieses  Zusammenhanges  heisst 
Recht');  es  ist  der  objective  Geist  „an  sich".  Die  Unterordnung  der  subjec- 
tiven  Gesinnung  des  Einzelnen  unter  die  Gebote  des  Gesammtbewusstseins 
nennt  der  Philosoph  „Moralität",  während  er  den  Namen  der  „Sittlichkeit'' 
für  die  Verwirklichung  jenes  Gesammtbewusstseins  im  Staate  aufbewahrt.  In 
der  immanenten  Lebensthätigkeit  der  menschlichen  Vernunft  ist  der  Staat  das 


1)  Daher  behandelt  Hegel  die  Lehre  vom  objectiven  Geiste  nnter  dem  Titel  „Rechts- 
philosophie**. 


§  42.  System  der  Vernunft.  (Hegel)  483 

Höchste^  über  ihn  hinaus  dringen  nur  Kunst,  Religion  und  Wissenschaft  bis 
zum  absoluten  Geiste  vor.  Der  Staat  ist  die  Verwirklichung  der  sittlichen  Idee, 
der  sichtbar  gewordene  Yolksgeist:  er  ist  seiner  Idee  nach  das  lebendige  Kunst^ 
werk,  worin  die  Innerlichkeit  der  menschlichen  Vernunft  in  die  äussere  Erschei' 
nung  tritt.  Aber  diese  Idee,  aus  der  sich  das  System  der  Formen  und  Functionen 
des  Staatslebens  ableitet,  tritt  in  der  Wirklichkeit  nur  in  den  individuellen 
Bildungen  der  entstehenden  und  vergehenden  Staaten  auf:  seine  wahre  und  volle 
Verwirklichung  ist  nur  die  Weltgeschichte,  in  welche  die  Völker  successive 
eintreten,  um  ihren  Geist  in  der  Arbeit  der  Staatenbildungen  auszuleben  und 
dann  vom  Schauplatz  zurückzutreten.  So  charakterisirt  sich  jede  Epoche  durch 
die  geistige  Vorherrschaft  eines  bestimmten  Volkes,  welches  das  Zeichen  seiner 
Eigenart  allen  Arten  der  Culturthätigkeit  aufragt.  Und  wenn  es  die  Gesammt- 
aufgabe der  Geschichte  ist,  diesen  Zusammenhang  zu  verstehen,  so  wird  auch 
die  Politik  nicht  meinen  dürfen,  aus  abstrakten  Anforderungen  ein  Staatsleben 
construiren  und  decretiren  zu  können,  sondern  sie  wird  in  der  ruhigen  Entwick- 
lung des  Volksgeistes  die  Motive  seiner  politischen  Bewegung  zu  suchen  haben. 
So  wendet  sich  in  Hegel,  dem  „Philosophen  der  Restauration'',  die  histo- 
rische Weltanschauung  gegen  den  revolutionären  Doctrinarismus  der  Auf- 
klärung. 

Geringer  sind  HegePs  Erfolge  in  der  Behandlung  naturphilosophischer 
und  psychologischer  Fragen:  die  Energie  seines  Denkens  liegt  auf  dem  Gebiete 
der  Geschichte.  Das  äussere  Gesammtschema  seines  Systems  ist  in  grossen 
Zügen  folgendes:  der  „Geist  an  sich'',  d.  h.  seinem  absoluten  Inhalt  nach,  ist 
das  Reich  der  Kategorien;  von  ihm  handelt  die  Logik  als  Lehre  vom  Sein,  vom 
Wesen  und  vom  Begriff.  Der  „Geist  flir  sich",  d.  h.  in  seinem  Anderssein  und 
seiner  Selbstentfremdung,  ist  die  Natur,  deren  Gestalten  in  der  Mechanik, 
Physik  und  Qrganik  abgehandelt  werden.  Der  dritte  Haupttheil  betrachtet  als 
Philosophie  des  Geistes  den  „Geist  an  undftLr  sich",  d.  h.  in  seinem  bewusst 
zu  sich  selbst  zurückkehrenden  Leben;  hier  werden  drei  Stufen  unterschieden: 
der  subjective  (individuelle)  Geist,  der  objective  Geist  als  Recht,  Moralität,  Staat 
und  Geschichte,  endlich  der  absolute  Geist  als  Anschauung  in  der  Kunst,  als 
Vorstellung  in  der  Religion,  als  Begriff  in  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Dabei  wiederholt  sich  in  allen  diesen  Theilen  der  Philosophie  nicht  nur 
die  formale  Dialektik  der  Begriffsbildung,  sondern  auch  die  sachliche  Reihenfolge 
der  Begri&inhalte.  So  entwickelt  bereits  die  Logik  in  ihrem  zweiten  und  dritten 
Theil  die  Grundkategorien  der  Natur-  und  Geistesphilosophie;  so  weist  die  Ent- 
wicklung der  ästhetischen  Ideale  stetig  auf  diejenige  der  religiösen  Vorstellungen 
hin,  so  steht  der  gesammte  Gang  der  Logik  in  Parallelismus  zur  Geschichte  der 
Philosophie.  Gerade  dies  Verhaltniss  gehört  zum  Wesen  des  Systems  derVer- 
nunft,  welches  hier  nicht  mehr  wie  bei  Kant  nur  die  Formen,  sondern  auch 
den  Inhalt  umfasst  und  diesen  seinen  zuletzt  doch  überall  mit  sich  selbst  gleichen 
Inhalt  in  der  Mannigfaltigkeit  der  „Gestalten  der  Wirklichkeit '^  vor  sich  ent** 
falten  soll.  Die  Entwicklung  ist  immer  dieselbe,  dass  die  „Idee"  durch  ihre 
Selbstentzweiung  „zu  sich  selbst  kommt".  Darum  gehen  die  Kategorien  von 
dem  inhaltlosen  Sein  zu  dem  innerlichen  Wesen  und  von  da  zu  der  sich  selbst 
begreifenden  Idee  fort;  darum  steigen  die  Gestalten  der  empirischen  Welt  von 
der  Materie  zu  den  Imponderabilien,  zum  Organismus,  zum  Bewusstsein,  zum 

31* 


484  ^*  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

Selbstbewusstseiii;  zur  Yerhunft^  zum  Recht,  zur  Moralität  und  zur  Sittlichkeit 
des  Staats  auf,  um  in  Kunst,  Religion  und  Wissenschaft  den  absoluten  Geist  zu 
erfassen;  darum  hebt  die  Geschichte  der  Philosophie  mit  den  Kategorien  des 
materiellen  Seins  an  und  vollendet  sich  nach  allen  üiren  Geschicken  in  der  Lehre 
von  der  sich  selbst  begreifenden  Idee;  darum  endlich  soll  man  auch  in  dies 
„System  der  Vernunft^  den  Eingang  am  besten  dadurch  finden,  dass  man  sich 
klar  machty  wie  der  menschUche  Geist  mit  dem  sinnlichen  Bewusstsein  beginnt 
und  durch  dessen  Widersprüche  zu  immer  höherer  und  tieferer  Erfassung  seiner 
selbst  getrieben  wird,  bis  er  in  der  philosophischen  Erkenntniss,  in  der  Wissen- 
schaft des  Begriffs,  seine  Buhe  findet.  Das  Ineinander  aller  dieser  Entwicklungen 
hat  Hegel  mit  dunkler  Sprache  und  geheimnissvoll  andeutendem  Tiefsinn  in 
seiner  Phänomenologie  dargestellt. 

In  diesem  System  der  Vernunft  hat  jedes  Einzelne  seine  Wahrheit  und 
Wirklichkeit  eben  nur  darin,  dass  es  ein  Moment  in  der  Entwicklung  des  Ganzen 
ist.  Nur  als  solches  ist  es  in  concreto  wirklich  und  wird  es  von  der  Philosophie 
begriffen.  Nimmt  man  es  aber  abstrakt,  denkt  man  es  in  seiner  Vereinzelung, 
worin  es  nicht  realiter,  sondern  nur  nach  der  subjectiven  Auffassung  des  Ver- 
standes besteht,  so  verliert  es  jenen  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen,  in  dem 
seine  Wahrheit  und  Wirklichkeit  besteht:  dann  erscheint  es  als  zufällig  und  ver- 
nunftlos. Aber  als  solches  existirt  es  eben  nur  in  dem  beschränkten  Denken  des 
einzelnen  Subjects.  Für  die  philosophische  Erkenntniss  gilt,  dass,  was  ver- 
nünftig ist,  wirklich  ist,  und  dass,  was  wirklich  ist,  vernünftig  ist  ^).  Das  System 
der  Vernunft  ist  die  einzige  Realität. 

§  48.  Die  Metaphysik  des  Irrationalen. 

Die  „Dialektik  der  Geschichte^  hat  gewollt,  dass  auch  das  System  der 
Vernunft  in  sein  Gegentheil  umschlug,  und  dass  die  Einsicht  in  die  Unübersteig- 
lichkeit  der  Grenzen,  auf  welche^  der  Versuch  einer  Deduction  aller  Erschei- 
nungen aus  Einem  Grundprincip  nothwendig  stösst,  unmittelbar  neben  jenen 
idealistischen  Lehren  andere  entstehen  liess,  welche  sich  eben  dadurch  genöthigt 
fanden,  die  Unvernunft  des  Weltgrundes  zu  behaupten.  Diesen  Process 
hat  zuerst  der  vielseitigste  Träger  der  Hauptentwicklung,  der  Proteus  des 
Idealismus,  Schelling,  an  sich  selbst  erlebt.  Das  Neue  ist  dabei  nicht  die  Er- 
kenntniss, dass  das  vernünftige  Bewusstsein  zuletzt  doch  immer  irgend  etwas  zum 
Inhalt  hat,  was  es  einfach  in  sich  vorfindet,  ohne  sich  darüber  Rechenschaft 
geben  zu  können:  solche  Grenzbegriffe  waren  das  transscendentale  X  als  Ding- 
an-sich  bei  Kant,  als  Bewusstseinsdifferential  bei  Maimon,  als  grundlos  freie 
Handlung  bei  Fichte.  Das  Neue  war,  dass  dies  von  der  Vernunft  nicht  zu  Be- 
greifende, ihrer  Arbeit  Widerstehende  nun  auch  als  etwas  Unvernünftiges 
gedacht  werden  sollte. 

1.  Schelling  ist  auf  die  Bahn  des  Irrationalismus  merkwürdigerweise  gerade 
durch  die  Aufnahme  des  religiösen  Motivs  in  den  absoluten  IdeaUsmus  (§  42,  9) 
gedrängt  worden.  Wenn  „das  Absolute^  nicht  mehr  bloss  in  spinozistischer 
Weise  als  das  allgemeine,  indifferente  Wesen  aller  Erscheinungen,  sondern  als 
Gott  gedacht,  wenn  das  göttUche  und  das  natürliche  Princip  der  Dinge  unter«* 


1)  Vorrede  zur  Rechtsphilos.  W.  VIII,  17. 


§  43.  Metaphysik  des  Irrationalen.  (Schelling.)  485 

schieden  wurden^  sodass  den  ewigen  Ideen  als  den  Formen  der  göttlichen  Selbst- 
anschauung eine  gesonderte  Existenz  neben  den  endlichen  IHngen  zugewiesen 
wurde^  so  musste  die  Verwandlung  Gottes  in  die  Welt  von  Neuem  zum  Problem 
werden.  Das  war  ja  im  Grunde  genommen  auch  Hegel's  Problem,  und  dieser 
hatte  sehr  Kecht,  wenn  er  später  lehrte,  dass  nach  ihm  die  Philosophie  dieselbe 
Aufgabe  habe  wie  die  Theologie.  Er  half  sich  mit  der  dialektischen  Methode, 
die  in  der  Form  einer  höheren  Logik  zeigen  sollte,  wie  die  Idee  sich  ihr^n 
eigenen  begrifflichen  Wesen  gemäss  zum  ;,  Anderssein",  d.  h.  zur  Natur,  zur  end* 
liehen  Erscheinung  entlässt 

Dasselbe  Problem  hat  Schelling  auf  dem  Wege  der  Theosophie  zu  lösen 
versucht;  d.  h.  durch  eine  mystisch-speculative  Lehre,  welche  die  philosophischen 
Begriffe  in  religiöse  Anschauungen  umsetzte.  Er  gerieth  auf  diesen  Weg  dadurch, 
dass  ihm  das  Problem  in  der  Gestalt  eines  Versuchs  der  Einschränkung  der 
Philosophie  durch  die  Religion  entgegengebracht  wurde,  und  dass  er  in  lebhafter 
Keaction  dagegen  sich  im  Namen  der  Philosophie  anheischig  machte,  auch  das 
religiöse  Problem  zu  lösen.  Bas  konnte  dann  freilich  nur  geschehen,  wenn  die 
Philosophie  in  theosophische  Speculationen  überging. 

Ein  Schüler  des  Identitätssjstems,  Eschenmayer  ^),  zeigte,  dass  die  philo- 
sophische Erkenntniss  zwar  die  Vemünftigkeit  des  Weltinhalts,  seine  üeber- 
einstimmung  mit  der  göttlichen  ürvemunft  aufweisen,  dass  sie  aber  nicht  zeigen 
könne,  wie  dieser  Inhalt  zu  der  selbständigen  Existenz  gelange,  welche  er  in 
den  endlichen  Dingen  der  Gottheit  gegenüber  hat.  Hier  höre  die  Philosophie 
auf  und  beginne  die  Religion.  Um  nun  auch  dies  Gebiet  der  Philosophie  zu 
vindiciren  und  die  alte  Einheit  von  Religion  und  Philosophie  wiederherzustellen, 
nimmt  Schelling  specifisch  religiöse  Anschauungen  als  philosophische  Begriffe 
in  Anspruch  und  formt  sie  demgemäss  bo  um,  dass  sie  nach  beiden  Seiten 
brauchbar  erscheinen:  wobei  er  in  ausgiebigstem  Masse  Kant's  Religionsphüo- 
sophie  benutzt. 

In  der  That^),  vom  Absoluten  zum  Wirklichen  giebt  es  keinen  stetigen 
Uebergang;  der  Ursprung  der  Sinnenwelt  aus  Gott  ist  nur  durch  einen  Sprung, 
ein  Abbrechen  von  der  Absolutheit  denkbar.  Ein  Grund  dafür  —  lehrt  Schelling 
hier  noch  —  ist  weder  im  Absoluten  noch  in  den  Ideen  zu  finden:  aber  im  Wesen 
der  letzteren  ist  wenigstens  die  Möglichkeit  gegeben.  Denn  den  Ideen  als  dem 
„Gegenbild"  des  Absoluten,  worin  es  sich  selbst  anschaut,  theilt  sich  die  Selb- 
ständigkeit des  Urbildes  mit,  die  Freiheit  des  „In-sich-selbst-seins".  In  dieser 
liegt  die  Möglichkeit  des  Abfalls  der  Ideen  von  Gott,  ihrer  metaphysischen 
Verselbständigung,  wodurch  sie  wirklich  und  empirisch,  d.  h.  endlich  werden. 
Aber  dieser  Abfall  ist  nicht  nothwendig  und  nicht  begreiflich :  er  ist  eine  grund- 
lose Thatsache,  aber  nicht  ein  einmaliges Geschehniss,  sondern  so  zeitlos,  ewig, 
wie  das  Absolute  und  die  Ideen  selbst.  Man  sieht,  die  reUgiöse  Färbung  dieser 
Lehre  stammt  aus  Kant's  Lehre  vom  Radical-Bösen  als  einer  That  des  inteUigiblen 
Charakters,  die  philosophische  dagegen  aus  Fichte's  Begriff  der  grundlos  freien 
Handlungen  des  Ich.  Auf  diesem  Sündenfall  also  beruht  die  Verwirklichung  der 
Ideen  in  der  Welt.  Daher  ist  der  Inhalt  der  Wirklichkeitvemünftig  und  göttlich ; 


1)  EscHEMMATBB  (1770—1862),  Die  Philosophie  in  ihrem  Uebergange  zur  NiohtphÜo* 
Sophie  (1803).  —  2)  Schsluno,  Religion  und  Phüosophie,  W.  I,  6,  S.  38  ff. 


486  VI.  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

denn  es  sind  Gottes  Ideen,  die  darin  wirklich  sind:  ihr  Wirklichsein  aber  ist 
AbÜEilly  Sünde  und  Unvernunft.  Diese  Wirklichkeit  der  Ideen  ausser  Gott  ist  die 
Natur.  Aber  ihr  göttliches  Wesen  strebt  zu  dem  Urgrund  und  Urbild  zurück, 
und  dieser  Rückgang  der  Dinge  in  Gott  ist  dieGeschichte,  das  im  Geiste 
Gottes  gedichtete  Epos,  dessen  Ilias  die  immer  weitere  Abkehr  des  Menschen 
von  Gott,  dessen  Odyssee  seine  Rückkehr  zu  Gott  ist.  Ihre  Endabsicht  ist  die 
Versöhnung  des  Abfalls^  die  Wiedervereinigung  der  Ideen  mit  Gott,  das 
Aufhören  ihrer  Selbständigkeit.  Auch  die  Individualität  erleidet  dies  Schicksal: 
ihre  Ich-heit  ist  inteUigible  Freiheit,  Selbstbestimmung,  Losreissung  vom  Ab- 
soluten :  ihre  Erlösung  ist  das  Untertauchen  in  das  Absolute. 

In  ähnlicher  Weise  hat  Friedrich  Schlegel*)  die  „Triplicität"  des  Un- 
endlichen, des  Endlichen  und  der  Rückkehr  des  Endlichen  zum  Unendlichen  zum 
Princip  seiner  späteren  Lehre  gemacht,  welche  die  Widersprüche  des  Wirklichen 
alsThatsachebehaupten^aus  dem  Sündenfall  erklären  und  durch  die  Unterwerfung 
unter  die  göttliche  Offenbarung  versöhnen  wollte,  aber  unter  der  gewandten  Dar- 
stellung nur  mühsam  die  philosophische  Impotenz  ihres  Urhebers  verbarg. 

2.  Den  Grübelsinn  Schelling^s  dagegen  liess  das  einmal  aufgedeckte 
Problem  nicht  los.  Der  Monismus,  der  sein  Denken  stets  beherrscht  hatte,  drängt 
auf  die  Frage  hin,  ob  denn  nicht  doch  schliesslich  der  Grund  des  Abfalls  im 
Absoluten  selbst  zu  finden  sei;  und  diese  konnte  nur  bejaht  werden,  wenn  das 
Irrationale  in  das  Wesen  des  Absoluten  selbst  verlegt  wurde.  Von  diesem 
Gedanken  aus  befreundete  sich  Schelling  mit  der  Mystik  Jacob  Boehme's 
(vgl.  S.  296).  Sie  wurde  ihm  durch  den  Umgang  mit  Franz  von  Baader  nahe 
gebracht.  Dieser  selbst  hatte  seine  Anregung  ebenso  wie  von  Boehme  auch  von 
dessen  französischem  Propheten  St.Martin  ^)  empfangen  und  sie,  am  katholischen 
Glauben  festhaltend,  mit  geistvoll  dunkler  Phantastik  und  unmethodischer  An- 
eignung kantischer  und  fichte'scher  Gedanken  in  sich  verarbeitet.  Die  eigene 
Idee,  die  in  ihm  wühlte,  war  die,  dass  der  Lebenslauf  des  Menschen,  der  Gottes 
Ebenbild  ist  und  der  von  sich  nur  so  weit  wissen  kann  als  Gott  von  ihm  weiss, 
der  Selbstentwicklung  Gottes  parallel  sein  müsse.  Da  nun  des  Menschen  Leben 
durch  den  Sündenfall  als  Anfang  und  die  Erlösung  als  Ziel  bestimmt  ist,  so  muss 
die  ewige  Selbstgebärung  Gottes  darin  bestehen,  dass  auch  Gott  aus 
dunklem,  vemunftlosen  Urwesen  sich  durch  Selbstoffenbarung  und  Selbsterkennt- 
niss  zur  absoluten  Vernunft  entfaltet. 

Unter  solchen  Einflüssen  fing  nun  auch  Schelling  in  seiner  Schrift  ')  über  die 
Freiheit  (1809)  an,  von  einem  Urgrund,  Ungrund  oder  Abgrund  im  göttlichen 
Wesen  zu  reden,  welcher  als  das  blosse  Sein  und  der  absolute  „Urzufall",  als 
ein  dunkles  Streben,  ein  unendhcher  Trieb  geschildert  wird.  Es  ist  der  unbe- 
wusste  Wille,  und  alle  WirkUchkeit  ist  in  letzter  Instanz  Wollen.  Dieser  nur  auf 

1)  In  den  von  Wn^DrscmiANN  herausgegebenen  „FhüosophiBchen  Vorlesungen''  (1804 — 6) 
und  ebenso  später  in  der  „Phüosophie  des  Lm>ens''  und  der  i,Fhilosophie  der  Geschichte"  (1828 
u.  29).  —  8)  St.  Mabun  (1748—1803),  „Le  philosophe  inconnu**,  der  rührige  Gegner  der  Auf- 
klärung und  der  Hevolution  war  durchaus  von  Boehme^s  Lehren  ergriffen,  dessen  Aurora  er 
übersetzte.  Von  seinen  Schriften  sind  Lliomme  de  desir  (1790),  Le  nouvel  homme  (1796),  De 
Feaprit  des  choses  (1801)  die  wichtigsten;  die  interessanteste  vielleicht  das  wunderliche  Werk 
Le  crocodile  ou  guerre  du  bien  et  du  mal  arrivee  sous  le  r^gne  de  Louis  XV,  potoe  äpioo- 
magique  (1799).  Vgl.  A.  France,  La  philosophie  mystique  en  France  (Paris  1866);  auch 
V.  Osten-Sacken,  Fr.  Baader  und  St.  Martin  (Leipzig;  1860).  —  S)  Hiemach  pflegt  diese  spätere 
Lehre  Schelling's  „Freiheitslehre"  genannt  zu  weraen  wie  die  frühere  das  nldentitätssyBiem". 


§  43.  Metaphysik  des  Irrationalen.   (Schelling.)  487 

8ich  selbst  gerichtete  Wille  erzeugt  als  seine  Selbstoffenbarung  die  Ideen,  das 
Ebenbild,  in  dem  der  Wille  sich  selbst  anschaut,  —  die  Vernunft:  aus  der  Wechsel- 
wirkung des  ewig  dunklen  Dranges  und  seiner  idealen  Selbstanschauung  geht  die 
Welt  hervor,  die  als  Natur  den  Widerstreit  zweckmässiger  Gestaltung  und  un- 
vernünftigen Triebes  erkennen  lässt  ^)  und  ak  geschichtlicher  Process  den  Sieg 
des  in  der  Vernunft  offenbarten  Allgemeinwillens  über  die  natürliche  Unvernunft 
des  Particularwillens  zu  ihrem  Inhalte  hat.  Derart  fuhrt  die  Entwicklung 
des  Wirklichen  von  der  Unvernunft  des  Urwillens  (deus  implicitus)  zur  Selbst- 
erkenntniss  und  Selbstbestimmung  der  Vernunft  (deus  explicitus'). 

3.  So  wurde  fiir  Schelling  wie  früher  die  Kunst  zuletzt  die  Religion  zum 
^Organen  der  Philosophie^.  Da  der  Process  der  Selbstentwicklung  Gottes  sich 
in  den  Offenbarungen  abspielt,  mit  denen  er  im  menschlichen  Geiste  sich  selbst 
anschaut,  so  müssen  alle  Momente  des  göttUchen  Wesens  in  der  Reihenfolge  der 
Vorstellungen  zu  Tage  treten,  welche  der  Mensch  in  seiner  geschichtlichen  Ent- 
wicklung von  Gott  hat.  Deshalb  wird  in  der  Philosophie  der  Mythologie 
und  Offenbarung,  dem  Werke  von  Schelling's  Alter,  die  Erkenntniss 
Gottes  aus  der  gesammten  Religionsgeschichte  gewonnen:  indemFort- 
schritt  von  den  Naturreligionen  bis  zum  Christenthum  und  seinen  verschiedenen 
Gestaltungen  kommt  die  Selbstoffenbarung  Gottes  vom  dunklen  Urwillen  bis  zum 
Geiste  der  Vernunft  und  der  Liebe  zum  Durchbruch.  Gott  entwickelt  sich  selbst, 
indem  er  sich  den  Menschen  offenbart'). 

Der  methodischen  Form  nach  erinnert  dies  Princip  stark  an  Hegel's  Auf- 
flEissung  der  Geschichte  der  Wissenschaft,  worin  „die  Idee  zu  sich  selbst  kommt", 
und  auch  die  glückliche  Combination  und  die  feinfühlige  Gruppirung,  womit 
Schelling  den  massenhaften  Stoff  der  ReUgionsgeschichte  in  diesen  Vorlesungen 
bemeistert  hat,  zeigt  sich  durchaus  der  HegePschen  Art  verwandt  und  ebenbürtig. 
Allein  die  philosophische  Grundauffassung  ist  doch  völlig  verschieden.  Schelling 
bezeichnet  den  Standpunkt  dieser  seiner  letzten  Lehre  als  metaphysischen 
Empirismus.  Sein  eigenes  früheres  und  Hegel's  System  nennt  er  jetzt  die 
negative  Philosophie:  sie  vermag  wohl  zu  zeigen,  dass,  wenn  Gott  sich  einmal 
offenbart,  er  dies  in  den  dialektisch  zu  construirenden  Gestalten  der  natürlichen 
und  der  historischen  Wirklichkeit  thut.  Aber  dass  er  sich  offenbart  und  sich 
damit  in  die  Welt  verwandelt,  vermag  die  Dialektik  nicht  zu  deduciren.  Das  ist 
überhaupt  nicht  zu  deduciren,  sondern  nur  zu  erfahren,  und  zwar  aus  der  Art, 
wie  sich  Gott  im  religiösen  Leben  der  Menschheit  offenbart.  Daraus 
Gott  und  seine  Selbstentwicklung  in  die  Welt  zu  begreifen,  ist  die  Aufgabe  der 
positiven  Philosophie. 

Diejenigen,  welche  Schelling's  Philosophie  der  Mythologie  und  Offenbarung 
sogleich  und  später  als  „Gnosticismus''  verspottet  haben,  wussten  wohl  kaum, 
wie  tief  begründet  der  Vergleich  war.  Sie  hatten  nur  die  phantastische  Verquickung 
mythischer  Vorstellungen  und  philosophischer  Begriffe  und  die  WiUkür  kosmo- 
gonischer  und  theogonischer  Constructionen  im  Auge.  Die  wahre  Aehnlichkeit 
aber  besteht  darin,  dass,  wie  einst  die  Gnostiker  den  Kampf  der  Religionen,  in 
dem  sie  standen,  zu  einer  Geschichte  des  Universums  und  der  darin  waltenden 


1)  ScHKLUNO,  Unters,  über  die  Freiheit,  W.  I,  7,  376.  —  2)  Vgl.  oben  S.  229.  —  8)  Vgl. 
CONSTANTIN  Frantz,  Schelling's  positive  Philosophie,  Cöthen  1879  f. 


488  ^^*  Deutsche  Philosophie.  2.  Entwicklung  des  Idealismus. 

göttlichen  Mächte  umdeuteten,  so  nun  Schelling  die  Entwicklung  der  menschlichen 
Vorstellungen  von  Gott  als  die  Entwicidung  Gottes  selbst  darstellte. 

4«  Zur  vollen  Ausbildung  ist  durch  Abstreifnng  des  religiösen  Moments 
der  Irrationalismus  bei  Schopenhauer  entwickelt  worden.  Jener  dunkle, 
nur  auf  sich  selbst  gerichtete  Drang  erscheint  bei  ihm  unter  dem  Namen  des 
Willens  zum  Leben  als  das  Wesen  aller  Dinge,  als  Ding-an-sich  (vgl.  §  41,  9). 
Dem  Begriffe  nach  hat  dieser  nur  auf  sich  selbst  gerichtete  Wille  eine  formale 
Aehnlichkeit  mit  Fichte's  ^unendlichem  Thun^,  gerade  so  wie  das  auch  bei 
SchlegeFs  Ironie  der  Fall  war  (vgl.  §  42,  5):  allein  in  beiden  Fällen  ist  die  sach- 
liche Differenz  um  so  grösser.  Die  lediglich  auf  sich  selbst  gerichtete  Thätigkeit 
ist  bei  Fichte  die  Autonomie  sittlicher  Selbstbestimmung,  bei  Schlegel  das  will* 
kürliche  Spiel  der  Phantasie,  bei  Schopenhauer  die  absolute  Unvernunft  eines 
gegenstandslosen  Willens.  Da  dieser  Wille  nur  ewig  sich  selbst  erzeugt,  so 
ist  er  der  niemals  befriedigte,  der  unselige  Wille:  imd  da  die  Welt  nichts  ist 
als  die  Selbsterkenntniss  (Selbstoffenbarung  —  Objectivation)  dieses  Willens,  so 
muss  sie  eine  Welt  des  Elends  und  des  Leidens  sein. 

Diese  metaphysische  Begründung  des  Pessimismus  verstärkt  nun  Schopen- 
hauer^) durch  die  hedonische  Beurtheilung  des  Lebens  selbst.  Zwischen  Wollen 
und  Erreichen  fliesst  jedes  Menschenleben  fort.  Aber  Wollen  ist  Schmerz,  ist 
Unlust  desNoch-nicht-befiiedigtseins.  Darum  ist  Unlust  das  positive  Gefühl, 
und  die  Lust  besteht  nur  in  der  Aufhebung  einer  Unlust.  Daher  muss  im  Willens- 
leben unter  allen  Umständen  die  Unlust  überwiegen,  und  das  wirkliche  Leben 
bestätigt  diese  Folgerung.  Man  vergleiche  mit  der  Lust  des  fressenden  Thieres 
die  Qual  des  gefressenen  —  und  man  wird  ungefähr  richtig  das  Yerhaltniss  von 
Lust  und  Unlust  in  der  Welt  überhaupt  danach  abschätzen  können.  Deshalb 
endet  aber  auch  das  Leben  der  Menschen  überall  in  die  Klage,  das  Beste  sei 
nie  geboren  zu  sein. 

Ist  Leben  Leiden,  so  kann  nur  Mitleid  das  ethische  Grundgefühl  sein  (vgl. 
§  41,  9).  Unmoralisch  ist  der  Individualwille,  wenn  er  das  Leid  des  anderen 
mehrt  oder  auch  nur  dagegen  gleichgiltig  ist;  moralisch  ist  er,  wenn  er  es  als 
eigenes  Leid  fühlt  und  zu  lindern  sucht.  Vom  Mitleid  aus  gab  Schopenhauer 
seine  psychologische  Erklärung  des  sittlichen  Lebens.  Allein  diese  Linderung 
des  Leids  ist  nur  ein  Palliativ:  sie  hebt  den  Willen  nicht  auf,  und  mit  ihm  bleibt 
seine  Unseligkeit  bestehen.  „Die  Sonne  brennt  ewigen  Mittag."  Das  Elend  des 
Lebens  bleibt  immer  dasselbe:  nur  seine  Yorstellungsform  ändert  sich.  Die  ein- 
zelnen Gestalten  wechseln,  aber  der  Inhalt  ist  immer  der  gleiche.  Deshalb  kann 
von  einem  Fortschritt  in  der  Geschichte  nicht  die  Rede  sein:  die  intellectuelle 
Vervollkommnung  ändert  an  dem  Willenswesen  des  Menschen  nichts.  Die  Ge- 
schichte zeigt  nur  das  endlose  Leid  des  Willens  zum  Leben,  der  mit  immer  neuen 
Personen  stets  dieselbe  Tragikomödie  vor  sich  selber  auffuhrt*).    Aus  diesem 

1)  Welt  als  W.  u.  V.  I  §  56ff.,  11  cap.  46;  Parerga  II,  cap.  llf.  —  2)  Daher  war 
der  Gedanke,  auf  diesen  Schopenhauer'schen  Willens-Irrationalismus  nach  dem  Muster  der 
Schelling'schen  Freiheitslehre  den  Optimismus  des  Hegerschen  Entwicklungssystems  zu 
pfropfen,  ebenso  verfehlt  wie  etwa  die  Hofinung,  speculative  Resultate  nach  inductiv-natur- 
wissenschaftlicher  Methode  zu  gewinnen :  und  mit  der  organischen  Verbindung  beider  Un- 
möglichkeiten konnte  selbst  ein  so  geistvoller,  tief  und  vielseitig  grübelnder  Denker  wie 
Eduard  V.  Hartmann  (Die  Philosophie  des  Unbewnssten,  Berlin  1869)  nur  den  Erfolg  eines 
für  kurze  Zeit  blendenden  Meteors  haben. 


§  43.  Metaphysik  des  Irrationalen.    (Schopenhauer.)  489 

Grunde  hat  die  Schopenbauer'sche  Philosophie  kein  Interesse  an  der  Geschichte: 
die  letztere  lehrt  nur  Individuelles,  es  giebt  von  ihr  keine  begriffliche  Wissenschaft. 

Eine  Erlösung  vom  Elend  des  Willens  wäre  nur  durch  die  Verneinung 
des  Willens  selbst  möglich.  Aber  diese  ist  ein  Mysterium.  Denn  der  Wille^ 
das  §v  xal  icav,  das  einzig  Reale  ist  ja  seinem  Wesen  nach  Selbstbejahung:  wie 
soll  er  sich  selbst  yemeinen?  Allein  die  Idee  dieser  Erlösung  liegt  vor  in  der 
mystischen  Askese,  in  der  Abtödtimg  des  Selbst,  in  der  Verachtung  des  Lebens 
und  aller  seiner  Güter,  in  dem  Seelenfrieden  der  Wunschlosigkeit.  DaS;  meinte 
Schopenhauer,  ist  der  Inhalt  der  indischen  Religion  und  Philosophie,  die  um 
seine  Zeit  in  Europa  bekannt  zu  werden  anfing;  er  begrüsste  diese  Identität 
seiner  Lehre  mit  der  ältesten  Weisheit  des  Menschengeschlechts  als  willkonmiene 
Bestätigung  und  nannte  nun  die  Vorstellungswelt  den  Schleier  der  Miga  und  die 
Verneinung  des  Willens  zum  Leben  den  Eingang  in  das  Nirwana.  Aber  jener 
imvemünftige  Wille  zum  Leben  liess  doch  den  Philosophen  nicht  los.  Am 
Schlüsse  seines  Werks  deutet  er  an,  was  nach  Vernichtung  des  Willens  und 
damit  auch  der  Welt  übrig  bliebe,  sei  für  alle  die,  welche  noch  des  Willens  voll 
sind,  allerdings  Nichts:  aber  die  Betrachtung  des  Lebens  dei^  Heiligen  lehre, 
dass,  während  ihnen  wiederum  die  Welt  mit  allen  ihren  Sonnen  und  Milchstrassen 
Nichts  ist,  sie  die  Seligkeit  und  den  Frieden  erreicht  haben.  „In  deinem  Nichts 
hoflT  ich  das  All  zu  finden." 

Ist  somit  eine  absolute  Erlösung  unmöglich  —  wäre  sie  je  möglich,  so  könnte 
es  bei  der  Idealität  der  Zeit  überhaupt  keine  Welt  der  Willensbejahung  geben  — , 
so  giebt  es  doch  eine  relative  Erlösung  vom  Leid  in  denjenigen  intellectuellen 
Zuständen,  worin  das  reine  willenlose  Subject  des  Erkennens  thätig  ist,  in  der 
interesselosen  Anschauung  und  im  interesselosen  Denken.  Das  Object  fiir  beide 
sind  nicht  die  einzelnen  Erscheinungen,  sondern  die  ewigen  Formen  der  Willens- 
objectivation,  —  die  Ideen.  Dies  platonische  (und  schelling'sche)  Moment  fügt 
sich  aber  (wie  andrerseits  auch  die  Annahme  der  intelligiblen  Charaktere)  äusserst 
schwer  dem  metaphysischen  System  Schopenhauer's  ein,  wonach  alle  Besonde- 
rung  des  Willens  erst  als  Vorstellung  in  Raum  und  Zeit  gedacht  werden  soll: 
aber  es  giebt  dem  Philosophen  Gelegenheit,  das  Schiller'sche  Princip  der  inter- 
esselosen Betrachtung  auf  die  glücklichste  Weise  für  den  Abschluss  seiner  Lebens- 
ansicht zu  verwerthen.  Der  Wille  wird  sich  selbst  los,  wenn  er  seine  Objectivation 
absichtslos  vorzustellen  vermag.  Das  Elend  des  unvernünftigen  Weltwillens  wird 
gemildert  durch  Sittlichkeit :  in  Kunst  und  Wissenschaft  wird  es  überwunden. 


490 


Vn.  Theil. 
Die  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

M.  J.  MoNRAD,  Denkrichtanffen  der  neueren  Zeit.  Bonn  1879. 

A.  Frangk,  Pbilosophes  modernes  etrangers  et  fran^is.  Paris  1873. 

Ph.  Damiron,  Essai  sur  Thistoire  de  la  philosophie  en  France  au  19*  siecle.  Paris  1834. 

H.  Tainb,  Les  philosophes  classiques  fintn^s  au  19*  siecle.  Paris  1857. 

F.  Ravaisson,  La  philosophie  en  France  au  19*  siecle.  Paris  1868. 

L.  Ferraz,  Histoire  de  la  philosophie  en  France  au  19*  siecle,  3  Bde.  Paris  1880—89. 

D.  Massok,  Recent  English  philosophy,  3.  Aufl.  London  1877. 

Har.  Höffoing,  Einleitung;  in  die  englische  Philosophie  der  Gegenwart.  Leipzig  1890. 

L.  Ferri,  Essai  sur  Thistoire  de  la  philosophie  en  Italic  au  19*  siäole.  Paris  1869. 

K.  Werner,  Die  italienische  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts.  Wien  1884ff. 

Die  Geschichte  der  philosophischen  Principien  ist  mit  der  Ent- 
wicklung der  deutschen  Systeme  an  der  Orenzscheide  zwischen  dem  vorigen  und 
unserem  Jahrhundert  abgeschlofssen.  Eine  Uebersicht  über  die  darauf  und 
daraus  folgende  Entwicklung^  in  der  wir  noch  heute  stehen,  ist  weit  mehr  litterar- 
historischen,  als  eigentlichen  philosophischen  Interesses.  Denn  wesentlich  und 
werthvoll  Neues  ist  seitdem  nicht  zu  Tage  getreten.  Das  19.  Jahrhundert  ist 
weit  davon  entfernt,  ein  philosophisches  zu  sein :  es  ist  in  dieser  Hinsicht  etwa 
mit  dem  3.  und  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  oder  mit  dem  14.  und  15.  Jahrhundert 
n.  Chr.  zu  vergleichen.  Wollte  man  in  HegeFs  Sprache  reden,  so  müsste  man 
sagen,  dass  der  Weltgeist  unserer  Zeit,  in  der  Wirklichkeit  so  sehr  beschäftigt 
und  nach  aussen  gerissen,  abgehalten  ist,  sich  nach  Innen  und  auf  sich  selbst  zu 
kehren  und  in  seiner  eigenthümlichen  Heimath  sich  selbst  zu  gemessen  ^).  Aus- 
gebreitet freilich  genug  und  ebenso  bunt  in  allen  Farben  schillernd  ist  die  philo- 
sophische Litteratur  des  19.  Jahrhunderts:  reich  gewuchert  in  allen  Sphären  der 
Wissenschaft  und  des  öffentlichen  Lebens,  der  Dichtung  und  der  Kunst  hat  der 
Same  der  Ideen,  der  uns  aus  den  Tagen  der  Bltithe  des  geistigen  Lebens  her- 
überwehte; in  einer  fast  unübersehbaren  Fülle  wechselnder  Verbindungen  haben 
sich  die  Gedankenkeime  der  Geschichte  zu  vielen  Bildungen  von  persönlich  ein- 
drucksvoller Besonderheit  zusammengefunden:  aber  selbst  Männer,  wie  Hamilton 
und  Comte,  wie  Rosmini  und  Lotze  haben  ihre  Bedeutung  doch  schliesslich  nur 
in  der  geistvollen  Energie  und  der  feinfühligen  Umsicht,*  womit  sie  typische  Ge- 
dankenformen der  Geschichte  zu  neuer  Lebendigkeit  gestaltet  haben,  und  auch 
der  allgemeine  Gang,  welchen  das  Probleminteresse  und  die  Begriffsbildung 
unseres  Jahrhunderts  genommen  haben  ^,  bewegt  sich  in  den  Bahnen  historisch 

1)  Hegel,  Berliner  Antritterede,  W.  VI,  XXXV.  —  2)  Dem  litterarhistorischen  Inter- 
esse an  dieser  schwer  zu  bemeistemden  Mannigfaltigkeit  hat  der  Verfasser  seit  Jahren  eine 
umfangreiche,  der  Natur  der  Sache  nach  weit  verzweigte  und,  wie  sich  leicht  verstehen  lasst, 
vielfach  durch  äussere  Schwierigkeiten  gehemmte  Arbeit  gewidmet,  deren  Ertrag  er  nun  bald 
successive  als  einzelne  Theile  des  dritten  (ergänzenden)  Bandes  seiner  nOeschichte  der  neueren 
Philosophie"  vorzulegen  hoffen  darf.  Darin  wird  ausgeführt  und  bewiesen  werden  können, 
was  hier  nur  noch  kurz  skizzirt  werden  darf. 


VII.  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  491 

Überkommener  und  höchstens  in  ihrem  empirischen  Ausdruck  neu  geformter 
Gegensätze. 

Denn  das  entscheidende  Moment  in  der  philosophischen  Bewegung  des 
19.  Jahrhunderts  ist  zweifellos  die  Frage  nach  dem  Mass  von  Bedeutung^  welches 
die  naturwissenschaftliche  Auffassung  der  Erscheinungen  für  die  gesammte  Welt- 
und  Lebensansicht  in  Anspruch  zu  nehmen  hat.  Der  Einfluss,  welchen  diese 
Specialwissenschaft  auf  die  Philosophie  und  das  allgemeine  Geistesleben  gewonnen 
hat;  ist  im  19.  Jahrhundert  anfänglich  gehemmt  und  zurückgedrängt  worden^ 
nachher  aber  zu  um  so  grösserer  Macht  angewachsen.  Die  Metaphysik  des  17. 
und  deshalb  auch  die  Aufklärung  des  18.  Jahrhunderts  standen  im  Grrossen  und 
Ganzen  unter  der  Herrschaft  des  naturwissenschaftlichen  Denkens:  die 
AufEassung  der  allgemeinen  Gesetzmässigkeit  alles  Wirklichen^  die  Aufsuchung 
einfachster  Elemente  und  Formen  des  Geschehens,  die  Einsicht  in  die  beständige 
Nothwendigkeit,  die  allem  Wechsel  zu  Grunde  liegt,  bestimmte  die  theoretische 
Forschung  und  damit  auch  die  beurtheilende  Ansicht  des  Einzelnen,  dessen 
Werth  an  dem  „Natürlichen^  gemessen  wurde.  Der  Ausbreitung  dieser  mecha- 
nischen Weltbebrachtung  trat  die  deutsche  Philosophie  mit  dem  Grundgedanken 
entgegen,  dass  alles  so  Erkannte  nur  die  Erscheinungsform  und  das  Vehikel  einer 
sich  zweckvoU  entwickelnden  Innenwelt  sei  und  dass  das  wahre  Begreifen  des 
Einzelnen  die  Bedeutung  zu  bestimmen  habe,  welche  ihm  in  einem  zweckvollen 
Lebenszusammenhange  zukommt.  Die  historische  Weltanschauung  wai* 
das  Resultat  der  Gedankenarbeit,  welche  das  „System  der  Vernunft"  entwerfen 
wollte. 

Diese  beiden  Mächte  ringen  im  geistigen  Leben  unseres  Jahrhunderts  mit 
einander,  und  in  ihrem  Kampfe  sind  alle  Argumente  aus  den  früheren  Perioden 
der  Geschichte  der  Philosophie  in  den  mannigfachsten  Zusammenstellungen  auf- 
geboten, aber  keine  neuen  Principien  in's  Feld  geführt  worden,  und  wenn  sich 
dabei  allmählich  der  Sieg  auf  die  Seite  des  Demokritismus  neigen  zu  wollen 
scheint,  so  sind  es  hauptsächlich  zwei  Motive,  die  ihm  in  unseren  Jahrzehnten 
günstig  gewesen  sind.  Das  erste  ist  wesentlich  intellectueller  Natur  und  dasselbe, 
welches  auch  in  den  geistiger  lebenden  Zeiten  der  vorigen  Jahrhunderte  wirk- 
sam war:  es  ist  die  anschauliche  Einfachheit  und  Klarheit,  die  Sicherheit 
und  Bestimmtheit  naturwissenschaftlicher  Einsichten,  welche,  mathematisch 
formulirt  und  jederzeit  in  der  Erfahrung  aufweisbar,  alle  Zweifel  und  Meinungen 
und  alle  Mühe  des  deutenden  Denkens  auszuschliessen  verspricht.  Weit  wirk- 
samer aber  ist  in  unseren  Tagen  die  handgreifliche  U  tili  tat  der  Naturwissen- 
schaft. Die  mächtige  Umgestaltung  der  äusseren  Lebensverhältnisse,  welche  sich 
im  rapiden  Fortschritt  vor  unseren  Augen  vollzieht,  unterwirft  den  Intellect  des 
Durchschnittsmenschen  widerstandslos  der  Herrschaft  der  Denkformen,  denen 
er  so  grosse  Dinge  verdankt,  und  deshalb  leben  wir  unter  dem  Zeichen  des 
Baconismus  (vgl.  oben  S.  305). 

Sollen  aus  der  philosophischen  Litteratur  dieses  Jahrhunderts  diejenigen 
Bewegungen  herausgehoben  werden,  in  welchen  jener  charakteristische  Gegensatz 
seine  bedeutsamste  Erscheinung  gefunden  hat,  so  handelt  es  sich  in  erster  Linie 
um  die  Frage,  in  welchem  Sinne  das  Seelenleben  der  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntnissweise unterworfen  werden  kann:  denn  an  diesem  Punkte  zuerst  muss 
über  das  Anrecht  dieser  Denkformen  auf  philosophische  Alleinherrschaft  ent- 


492  ^n*  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

schieden  werden.  Deshalb  ist  über  Aufgabe,  Methode  und  systematische  Be- 
deutung der  Psychologie  nie  mehr  gestritten  worden  als  im  19.  Jahrhundert^ 
und  an  diesem  Punkte  sind  auch  die  Geister  am  heftigsten  auf  einander  gestossen. 
Im  Rückschlag  gegen  den  hoch  gespannten  Idealismus  der  deutschen  Philo- 
sophie fliesst  durch  das  19.  Jahrhundert  ein  breiter  Strom  materialistischer 
Weltanschauung^  welche  sich  um  die  Mitte  des  Zeitraums,  zwar  ohne  neue 
Gründe  oder  Erkenntnisse,  aber  mit  desto  leidenschaftlicherer  Emphase  ans- 
sprach;  seitdem  freilich  in  ihren  Ansprüchen  auf  wissenschaftliche  Gdtung  sehr 
viel  bescheidener  geworden  ist,  daftir  aber  um  so  wirksamer  im  Gewände  skep- 
tischer und  positivistischer  Vorsicht  umgeht. 

Zu  den  bedeutsamsten  Auszweigungen  dieser  Denkrichtung  gehört  zweifel- 
los das  Bestreben,  auch  das  gesellschaftliche  Leben  des  Menschen,  die  geschicht- 
liche Entwicklung  und  die  Verhältnisse  des  geistigen  Daseins  unter  naturwissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten  zu  betrachten.  Auf  der  anderen  Seite  hat  aber 
auch  die  historische  Weltanschauung  ihre  kräftige  Wirkung  auf  die  Natur- 
forschung nicht  verfehlt,  und  in  den  Principien  der  entwicklungsgeschicht- 
lichen Theorien  scheinen  sich  historische  und  naturwissenschaftliche  Welt- 
ansicht so  weit  einander  genähert  zu  haben,  als  es  ohne  eine  neue  übergreifende 
philosophische  Idee  möglich  ist. 

Aus  der  phüosophischen  Litteratur  des  19.  Jahrhunderts  bis  1860 — 70  dürften  etwa 
folgende  Hauptpunkte  herauszuheben  sein : 

In  Frankreich  theilte  sich  die  Ideologie  in  einen  mehr  physiologfischen  und  einen 
mehr  psychologischen  Zweig.  In  der  Richtung  von  Oabanis  wirkten  hauptsächlich  die  Pariser 
Aerzte,  wiePh.Pinel  (1745—1826;  Nosographie  philosophique,  1798),  F.  J.  V.Bronssais 
(1772—1838;  Traite  de  physiologie,  1822 f.;  Traitö  de  Tirritation  et  de  la  folie,  1828)  und  der 
Begründer  der  Phrenologie,  Fr.  Jos.  Gall  (1758—1828;  Recherches  sur  le  systÄme  nerveux 
en  genäral  et  sur  celui  du  cerveau  en particulier,  1809,mit  Spurz heim  zusammen redigirt). — 
Den  Gegensatz  bildete  physiologisch  die  Schule  von  Montpellier:  Barthez  (1734—1806; 
Nouveaux  Clemens  de  la  science  de  Thomme,  2.  Aufl.,  1806).  Ihr  traten  bei  M.  F.  X.  Bichat 
(1771—1802;  Recherches  physiologiques  sur  la  vie  et  la  mort,  1800),  Bertrand  (1795—1831, 
Traite  du  somnambulisme,  1823)  und  Buisson  (1766 — 1805;  De  la  division  la  plus  naturelle 
des  phencm^nes  physiologiques,  1802).  Dem  entsprach  die  Ausbildung  der  Ideologie  bei 
Daube  (Essai  d'ideologie,  1803)  und  besonders  bei  Pierre  Laromigui^re  (1756  —  1837; 
J^egons  de  philosophie,  1815—18)  und  seinen  Schülern  Fr.  Thurot  (1768—1832;  De  Tenten- 
dcment  et  de  la  raison,  1830)  und  J.  J.Oardaillac  (1766 — 1845;  Etudes  ^l^mentaires  de  philo- 
sophie, 1830).  —  Vgl.  PiCAVET,  Les  ideolo^es.  Paris  1891. 

-Eine  Richtung  von  umfangreicher  historischer  Bildung  und  tieferer  Psychologie  beginnt 
mit  M.  J.  Degerando  (1772 — 1842;  De  la  g^neration  des  connaissances  humaines,  Berlin 
1802;  Histoire  comparee  des  systdmes  de  philosophie,  1804)  und  hat  ihr  Haupt  in  Fr.  P.  Gon- 
thier  Maine  de  Biran  (1766 — 1824;  De  la  decomposition  de  la  pensee,  1805;  Les  rapports 
du  physique  et  dumoral  de  Thomme,  gedr.  1834;  Essai  sur  les  fondemens  de  la  psychologie, 
1812;  Oeuvres  philosophiques  editees  par  V.  Cousin,  1841;  Oeuvres  in^dites  öditees  par 
E.  Naville,  1859;  Nouvelles  oeuvres  inedites  ed.  par  A.  Bertrand,  1887).  In  diese  Lehre  münden 
die  Einflüsse  der  schottischen  und  der  deutschen  Philosophie  durch  P.  Prevost  (1751 — 1839), 
Ancillon  (1766—1887),  Royer-Collard  (1763—1845),  Jouffroy  (1796-1842)  und  vor 
allen  Victor  Cousin  (1792 — 1867;  Introduction  i  Thistoire  generale  de  la  philosophie, 
7.  Aufl.,  1872;  Du  vrai,  du  beau  et  du  bien,  1845;  Oeuvr.  compl.  Paris  1846  fif.,  vgl.  E.  Fuchs, 
Die  Philos.  V.  C.'s,  Berlin  1847;  J.  E.  Alaüx,  La  philosophie  de  M.  Cousin,  Paris  1864).  Die 
zahlreiche  und  namentlich  durch  ihre  historischen  Arbeiten  ausgezeichnete  Schule,  welche 
Cousin  gründete,  pflegt  die  spiritualistische  oder  eclectische  genannt  zu  werden.  Sie 
war  die  officielle  Philosophie  seit  der  Juli-Revolution. 

Ihre  Hauptp^egner  waren  die  Philosophen  der  kirchlichen  Partei,  deren  Theorie 
als  Traditionalismus  bezeichnet  zu  werden  pflegt.  Neben  Chateaubriand  (Le  gänie  du 
Christianisme,  1802),  Jos.  de  Maistre  (1753 — 1821;  Essai  sur  le  principe  g^nerateur  des 
constitutions  politiques,  1810;  Soiröes  de  St. Petersbourg,  1821)undJ.Fravssinon8(1765 — 1841; 
Defense  du  Christianisme,  1823)  steht  hier  im  Vordergrunde  V.  G.  A.  de  Stonald  (1753 — 1841; 
Theorie  du  pouvoir  politique  et  religieux,  1796;  Essai  analytique  sur  les  lois  naturelles  de 


Vn.  Philosophie  des  neuDzehnten  Jahrhunderts.  493 

I'ordre  social,  1800;  Du  divorce,  1801;  De  la  philosophie  morale  et  politique  du  18*8i^cle; 
Oeuvres  compl.,  15  Bde.,  Paris  1816  £f.).  In  wunderlich  phantastischer  Weise  ist  der  Traditio- 
nalismus von  P.  S.  Ballanche  vorgetragen  worden  (1776 — 1847;  Essai  sur  les  institutions 
sociales,  1817;  La  palingenesie  sociale;  Oeuvres  compl^tes,  6  Bde.,  Paris  1883).  Anfangs  vertrat 
diese  Bichtung  auch  H.  F.  R  de  Lamennais  (1782 — 1854)  in  seinem  Essai  sur  Tindifference 
en  matiöre  de  religion  (1817);  später  mit  der  Kirche  zerfallen  (Parole  d'un  croyant,  1834), 
stellte  er  in  der  Esquisse  d*une  philosophie  (4  Bde.,  1841—46)  ein  umfassendes  System  der 
Philosophie  auf,  welches  zum  Theil  das  Schelling'sche  Identitatssystem,  zum  Theil  den  italieni- 
schen Ontologismus  zum  Vorbilde  hatte. 

Unter  den  philosophischen  Vertretern  des  Socialismus  (vgl.  L.  Stein,  Geschichte  der 
socialen  Bewegung  in  Frankreich,  Leipzig  1849fr.)  ist  der  bedeutendste  Cl.  H.  de  St.  Simon 
(1760—1825;  Introduction  aux  travaux  scientifiques  du  19*  sidcle,  1807;  Reorganisation  de  la 
soci^t^  europ^enne,  1814;  Systeme  industriel,  1821  f. ;  Nouveau  christianisme,  1825;  Oeuvres 
choisies,  3  Bde.,  1859).  Von  den  Nachfolgern  seien  genannt:  B.  Enfantin  (1796 — 1864;  La 
religion  St.  Simonienne,  1831),  Pierre  Leroux  (1798 — 1871;  Refutation  de  Teclecticisme, 
1839;  De  Thumanitd,  1840)  und  Ph.  Buchez  (1796—1866;  Essai  d'un  traite  complet  de  philo- 
sophie au  point  de  vue  du  catholicisme  et  du  progr^s,  1840). 

Die  interessanteste  Sonderstellung  nimmt  Aug.  Gomte  ein,  1798  zu  Montpellier 
geboren,  1857  vereinsamt  in  Paris  geston)en:  Cours  de  philosophie  positive  (6  Bde.,  Paris 
1840 — ^);  Systöme  de  politique  positive  (Paris  1851 — 54);  Catechisme  positiviste  (1858);  vgl. 
LiTTBft,  G.  et  la  philosophie  positive,  Paris  1868;  J.  St.  Mill,  0.  and  positivisra,  London  1865; 
J.  Rio,  A.  C,  la  philosophie  positive  resumee,  Paris  1881 ;  E.  CAmD,  The  social  philosophy  and 
religion  of  C,  Glasgow  1885. 

In  England  setzt  sich  die  Associationspsychologie  durch  Thomas  Brown  auf 
Männer  wie  Thomas  Belsham  (1750—1829;  Elements  of  the  philosophy  of  the  human  mind, 
1801),  John  Fe  am  (First  lines  of  the  human  mind,  1820)  und  viele  andere  fort,  findet  auch 
hier  in  physiologischen  und  phrenologischen  Theorien  wie  bei  G.  Gombe  (A  system  of  phreno- 
logy,  Edinburg  1825),  Sam.  Baley  (Essays  on  the  pursuit  of  truth,  1829;  The  theory  of  reaso- 
ning,  1851 ;  Lettres  ou  the  philosophy  of  human  mind,  1855)  und  Harriet  Martine  au  (Lettres 
on  the  laws  of  man^s  uature  and  development,  1851)  Unterstützung  und  erhält  ihre  volle  Aus- 
bildung durch  James  Mill  (Analysis  of  the  phaenomena  of  the  human  mind,  1829)  und  seinen 
Sohn  J.  Stuart  Mill  (1806 — 1873;  System  of  logic  ratiocinative  and  inductive,  1843;  Utili- 
tarianism,  1863;  Examination  of  Sir  W.  Hamiltons  philosophy,  1865,  posthum  Nature,  1874. 
Vgl.  H.  TADfE,  Le  positivisme  anglais,  Paris  1864).  Nahe  steht  dieser  Richtung  auch  Alex. 
Bain  (The  senses  and  the  intellect,  1856;  Mental  and  moral  science,  1868;  The  emotions  and 
the  will,  1859).  Den  verwandten  Utilitarismus  vertreten  G.  Gogan  (Philosophical  treatise 
on  the  passions,  1802;  Ethical  questions,  1817),  John  Austin  (1790 — 1859;  The  philosophy 
of  positive  law,  1832),  G.  Gornwall  Lewis  (A  treatise  on  the  methods  of  Observation  and 
reasoning  in  politics,  1852),  den  Gomte'schen  Positivismus  G.  Henry  Lewes  (Problems  of 
life  and  mind,  3.  Aufl.,  1874)  und  mit  einer  Art  von  dialektischer  Umbildung  Herbert  Spencer 
(First  principles,  1862;  Principles  of  psychology,  1855;  Dataof  Ethics,  1879;  zusammengefasst 
als  System  of  philosophy,  seit  1862). 

Die  schottische  Philosophie  hatte  nach  Dugard  Stewart  und  James  Mackin  tosh 
(1764 — 1832;  Dissertation  on  the  progress  of  ethical  philosophy,  1830)  zunächst  unbedeutende 
Vertreter  wie  Abercrombie  (1781 — 1846;  Inquiry  conc.  the  intellectual  powers,  1830; 
Philosophy  of  the  moral  feelings,  1833),  Ghalmers  (1780 — 1847)  und  wurde  namentlich  als 
akademische  Lehre  dem  Gousin^schen  Eclecticismus  genähert  durch  Henry  Galderwood 
(Philosophy  of  the  Infinite,  1854),  S.Morell  (An  historical  and  critical  view  of  the  speculative 
philosophy  of  Europe  in  the  19'*»  Century,  1846)  auch  H.Wedgwood  (On  the  development  of 
the  understanding,  1848). 

Eine  weitere  Bereicherung  der  Gesichtspunkte  trat  durch  die  Bekanntschaft  mit  der 
deutschen  Litteratur  ein,  für  welche  Sam.  Tayl.  Goleridge  (1772 — 1834),  W.  "Wordsworth 
(1770—1850)  und  vor  Allem  Thomas  Carlyle  (1795  -1881);  Past  and  present,  1843)  thätig 
waren.  In  der  Philosophie  machte  sich  dies  zunächst  durch  den  Einfluss  von  Kant  geltend, 
dessen  Erkenntnisslehre  auf  J.  Her  sc  hei  (On  the  study  of  natural  philosophy,  1831)  und 
besonders  auf  W.  Whewell  (Philosophy  of  the  inductive  sciences,  1840)  wirlde. 

In  verständnissvoller  Reaction  gegen  diese  Einwirkung  hat  die  schottische  Philosophie 
eine  verth  volle  Umbildung  durch  Sir  William  Hamilton  erfahren  (1788—1856;  Discussions 
on  philosophy  and  litterature,  1852;  On  truth  and  error,  1856;  Lectures  on  metaphysics  and 
logic,  1859;  Ausgaben  von  Reid's  und  Stewart's  Werken;  vgl.  M,  Veitsch,  S.  W.  H.,  the  man 
and  bis  philosophy,  Edinburg  and  London  1888).  In  seiner  Schule  scheidet  sich  der  eigent- 
liche Agnosticismus,  den  hauptsächlich  M.  L.  Mansel  (1820 — 1871;  Metaphysics  or  the 
philosophy  of  consciousness,  1860)  vertritt,  von  einer  anderen,  der  eclectischen  Metaphysik 


494  Vn.  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

zuneigenden  Richtung:  M.  Veitsch,  R.  Lowndes  (Introduction to  the  philosophy  of  primary 
beliefe,  1865),  Leechman,  M'c  Cosh  u.  A.  r 

Mehr  noch  als  die  französische  ist  die  italienische  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts 
durch  politische  Motive  bestimmt  und  dabei  in  dem  Inhalte  der  zu  solchen  Zwecken  verarbei- 
teten Gedanken  theils  von  der  französischen,  theUs  von  der  deutschen  Philosophie  abhängig. 
Anfanglich  hen'schte  in  Männern  wie  Gioia  (1766 — 1829)  oder  seinem  Freunde  Romagnosi 
(1761 — 1835)  die  Weltansicht  der  Encyclopädisten  in  praktischer  und  theoretischer  Hinsicht, 
während  schon  bei  Pasquale  Galluppi  (1771 — 1846;  Saggio  iilosofico  suUa  critica  delle  con- 
noscenze  umane,  1820 ff.;  Filosofia  della  volenti,  1832 ff.)  kantische  Einflüsse,  freilich  unter  der 
psychologistischen  Form  des  Leibniz'schen  virtuellen  Angeborenseins  sich  geltend  machen. 

Später  war  die  meist  von  Klerikern  entwickelte  Philosmphie  wesentlich  von  der  politi- 
schen Verbindung  des  Papstthums  mit  dem  demokratischen  Liberalismus  beeinflusst,  indem 
der  Rationalismus  sich  mit  dem  Offenbarungsglauben  vereinigen  wollte.  Die  eigenartigste 
und  persönlich  liebenswürdigste  Erscheinung  dieser  Richtung  ist  Antonio  Rosmini-Serbati 
(1797 — 1855;  Nuovo  saggio  sull'  origine  delle  idee,  1830;  Principj  della  scienza  morale,  1831; 
posthum  Teosofia,  1859  ff ;  Saggio  storico-critico  suUe  categorie  e  la  disdettioa,  1884;  vgl.  über 
ihn  F.  X.  Kraus,  Deutsche  Rundschau,  1890).  Noch  ausgesprochener  geht  die  VerknüpAing 
platonischer,  cartesianischer  und  schelling*scher  Ideen  auf  einen  Ontologismus,  d.h.  auf 
eine  apriorische  Seinslehre,  aus  bei  Vincenzo  Öioberti  (1801 — 1852;  Degli  errori  ülosofici  di 
Rosmini,  1842;  Introduzione  alla  filosofia,  1840;  Protolona,  1857.  Vgl.  B.  Spavknta,  La  filo- 
sofia di  G.,  1863).  Diese  ganze  Entwicklung  hat  Terenzo  J^amiani  mitgemacht  (1800 — 1885; 
Confessioni  di  un  metafisico,  1865). 

Als  Gegner  fand  diese  Richtung  einerseits  den  strammen  Orthodoxismus  von  Ven- 
tura (1792 — 1861),  Tapparelli  und  Liberatore  (Della  conoscenza  intellettuale ,  1865), 
andrerseits  den  politisch  radicalen  Skepticismus,  wie  ihn  Guiseppe  Ferrari  (1811 — 1866; 
La  filosofia  delle  revoluzioni,  1851)  und  Antonio  Francki  (La  reUgione  del  19.  secolo,  1853) 
vertreten. 

In  Deutschland—  vgl.  Joh. Ed. Erdmakn, Grundriss  11,  Anhang,  § 331  ff.  —  breiteten 
sich  im  drittenundvierten  Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts  zunächst  die  grossen  Schulzusammen- 
hänge aus.  Am  geschlossensten  und  stabilsten  erwies  sich  Herbart*s  Anhängerschaft;  in  ihr 
ragen  hervor:  M.  Drobisch  (Religionsphilosophie,  1840;  Psychologie,  1842;  Die  moralische 
Statistik  und  die  menschliche  Willensfreiheit,  1867),  R.  Zimmermann  (Aesthetik,  Wien  1865), 
L.  Strümpell  (Hauptpunkte  der  Metaphysik,  1840;  Einleitung  in  die  Philosophie,  1886), 
T.  Ziller  (Einleitung  in  die  allgemeine  Pädagogik,  1856).  Eine  besondere  Auszweigung  der 
Schule  bildet  die  sog.  Völkerpsychologie,  wie  sie  M.  Lazarus  (Leben  der  Seele,  18ß6f.) 
und  H.  Steinthal  (Abriss  der  Sprachwissenschaft,  I,  Einleitung  in  die  Psychologie  und 
Sprachwissenschaft,  1871)  eröffnet  haben:  vgl.  deren  gemeinsames  Programm  im  1.  Bde.  der 
Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft. 

Die  HegeTsche  Schule  hat  den  Segen  der  Dialektik  reichlich  an  sich  er&hren;  sie  ging 
an  religiösen  Gegensätzen  schon  in  den  dreissiger  Jahren  auseinander.  Unbeirrt  davon  sind 
die  bedeutenden  Historiker  der  Philosophie  ihren  Weg  gegangen:  Zeller  und  Prantl,  Erd- 
mann und  Kuno  Fischer.  In  der  Mitte  zwischen  den  Parteigegensätzen  stehen  mit  selb- 
ständigerem Denken  K.  Rosenkranz  (1805—1879;  Wissenschaft  der  logischen  Idee,  1858f.) 
und  Friedrich  Theodor  Vi  scher  (1807—1887;  Aesthetik,  1846—1858;  Auch  Einer,  1879). 

Der  „rechten  Seite"  der  Schule  HegePs,  welche  sich  gegen  die  pantheistische  Deutung 
wehrte  und  die  metaphysische  Bedeutung  der  Persönlichkeit  betont,  traten  solche  Denker  nahe, 
welche  in  freierem  Verhältniss  zu  Hegel  Fichte'sche  und  Leibniz'sche  Motive  aufrechterhielten, 
so  J.  H.  Fichte  (Sohn  des  Schöpfers  der  Wissenschaftslehre,  1797 — 1879;  Beiträge  zur 
Charakteristik  der  neueren  Philosophie,  1829;  Ethik,  1850 ff.;  Anthropologie,  i856),  Christ. 
Weisse  (1801—1866;  System  der  Aesthetik  1830,  bzw.  1871;  Grundzüge  der  Metaphysik, 
1835;  Das  philosophische  Problem  der  Gegenwart,  1842;  Philosophie  des  Christenthums, 
ia55ff.),  H.  ülrici  (1806—1884;  Das  Grundprincip  der  Philosophie,  1845f.;  Gott  und  die 
Natur,  1861;  Gott  und  der  Mensch,  1866).  Ihnen  verwandt  war  A.  Trendelenburg,  der  an 
Stelle  von  HegeFs  dialektischem  Princip  den  Begriff  der  „Bewegung"  setzte  und  damit  HegeFs 
Philosophie  zu  bekämpfen  meinte,  sein  Verdienst  aber  in  der  Anregung  aristotelischer  Studien 
hat  (1802—1872;  Logische  Untersuchungen,  1840;  Naturrecht,  1860). 

Zu  den  „Linken"  unter  den  Hegelianern  gehören  Arnold  Rüge  (1802 — 1880;  mit 
EcHTEBMBYEB  Herausgeber  der  Halle'schen  Jahrbücher,  1838 — 40,  und  der  Deutschen  Jahr- 
bücher, 1841f.;  Ges.  Schriften,  10  Bde.,  Mannheim  1846 ff.),  Ludwig Peuerb ach  (1804—1872; 
Gedanken  über  Tod  und  Unsterblichkeit,  1830;  Philosophie  und  Christenthum,  1839;  Wesen 
des  Christenthums,  1841;  Wesen  der  Religion,  1845;  Theogonie,  1857;  Ges.  Werke,  10  Bde., 
Leipzig  1846ff.   Vgl.  K.  Grün,  L.  F,  Leipzig  1874),  David  Friedrich  Strauss  (1808-1874; 


§  44.  Kampf  um  die  Seele.  (Ideologie.)  495 

Da8  Leben  Jesu,  1835;  Christliche  G-laubenslehre,  1840 f.;  Der  alte  und  der  neue  Glaube,  1872; 
G-es.  Schriften,  12  Bde.,  Berlin  1876  ff.  Vgl.  A.  Haüsbath,  D.  F.  Str.  und  die  Theologie  seiner 
Zeit,  Heidelberg  1876  und  78). 

Aus  dem  Materialismusstreit  sind  zu  erwähnen:  K.  Moleschott  (Kreislauf  des 
Lebens,  1852);  Rudolph  Wagner  (lieber Wissen  und  Glauben,  1854;  der  Kampf  um  die  Seele, 
1857);  0.  Vogt  (Köhlerfflaube  und  Wissenschaft,  1854;  Vorlesungen  über  den  Menschen,  1863); 
L.  Büchner  (Kraft  und  Stoff,  1855). 

Die  weitaus  bedeutendste  Erscheinung  unter  den  Epigonen  der  deutschen  Philosophie 
Hrar  Bud.  Herrn.  Lotze  (1817 — 1881;  Metaphysik,  1841;  Logik,  1842;  Medicinische  Psycho- 
loge, 1842;  Mikrokosmus,  1856 ff.;  System  der  Philosophie,  I  Logik,  1874,  II  Metaphysik, 
1871^:  vgl.  0.  Gaspabi,  H.  L.  in  seiner  Stellung  zur  deutschen  Philosophie,  1883;  E.  v.  Hart- 
MAMli^L.  s  Philosophie,  Berlin  1888). 

Interessante  Nebenerscheinungen  sind:  G.  Th.  Fechner  (1801 — 1887;  Nanna,  1848; 
Physical.  und  philos.  Atomenlehre,  1855;  Elemente  der  Psychophysik,  1860;  Drei  Motive  des 
Glaubens,  1863;  Vorschule  der  Aesthetik,  1876;  Die  Tagesansicht  gegenüber  der  Nachtansicht, 
1879)  und  Eug.  Dührinff  (1833  geb.;  Natürliche  Difdektik,  1865;  Werth  des  Lebens,  1865; 
Logik  und  Wissenschafbsüieorie,  1878).  —  Von  katholischer  Seite  haben  sich  an  der  Entwick- 
lung der  Philosophie  betheiligt:  Fr.  Hermes  (1775 — 1831;  Einleitung  in  die  christkatholisclie 
Theologie,  1819),  Beruh.  Bolzano  (1781—1848;  Wissenschaftslehre,  1837),  Anton  Günther 
(1785—1863;  Ges.  Schriften,  Wien  1881)  und  Wilhelm  Rosenkrantz  (1821—1874;  Wissen- 
schaft des  Wissens,  1866). 

§  44.  Der  Kampf  um  die  Seele. 

Eine  charakteristische  Veränderung  in  den  allgemeinen  wissenschaftlichen 
Verhältnissen  während  des  19.  Jahrhunderts  ist  die  stetig  fortschreitende  und 
jetzt  als  principiell  vollendet  anzusehende  Ablösung  der  Psychologie  von 
der  Philosophie^).  Sie  folgte  aus  dem  rapiden  Niedergange  des  metaphysi- 
schen Interesses  und  der  metaphysischen  Leistungen,  welcher  zumal  in  Deutsch- 
land als  natürlicher  Rückschlag  auf  die  hohe  Spannung  des  speculativen  Denkens 
eintrat.  So  eines  allgemeineren  Rück)ialts  beraubt,  besass  die  Psychologie  in 
dem  Bestreben,  sich  als  rein  empirische  Wissenschaft  zu  befestigen,  zunächst 
nur  geringe  Widerstandskraft  gegen  den  Einbruch  der  naturwissenschaftlichen 
Methode,  wonach  sie  als  ein  Specialfach  der  Physiologie  oder  der  allgemeinen 
^Biologie  behandelt  werden  sollte.  Um  diese  Frage  gruppiren  sich  eine  Keihe  leb- 
hafter Bewegungen. 

1.  Im  Anfang  des  Jahrhunderts  bestand  ein  reges  Wechselverhältniss 
zwischen  der  französischen  Ideologie  und  den  Ausläufen  der  englischen  Auf- 
klärungsphilosophie,  welche  in  Associationspsychologie  und  Common-sense-Lehre 
gespalten  war:  dabei  jedoch  war  jetzt  Frankreich  der  führende  Theil.  Hier  aber 
trat  immer  schärfer  der  Gegensatz  heraus,  welcher  in  dem  französischen  Sen- 
suaUsmus  von  Anfang  an  zwischen  Condillac  und  Bonnet  bestanden  hatte  (vgl. 
S.  361).  Bei  Destutt  de  Tracy  und  noch  bei  Laromigui^re  kommt  es  nicht  zu 
einer  scharfen  Entscheidung.  Dagegen  ist  Cabanis  der  Führer  der  materiali- 
stischen Bichtung:  seine  Untersuchung  über  den  Zusammenhang  des  physi- 
schen und  des  seelischen  (moral)  Wesens  des  Menschen  kommt  an  der  Betrach- 
tung der  verschiedenen  Einflüsse  des  Alters,  des  Geschlechts,  des  Temperaments, 
des  EHimas  etc.  zu  dem  Ergebniss,  dass  überall  das  Seelenleben  vom  Leibe  und 
seinen  physischen  Beziehungen  bestimmt  sei.  Andere  Aerzte,  vide  Broussais 
gaben  dem  Materialismus  einen  noch  schärferen  Ausdruck:  die  intellectuelle 
Thätigkeit  ist  „eines  der  Resultate^  der  Gehimfunctionen.  Mit  Begierde  ergriff 

1)  Vgl.  W.  WiNDELBAMD,  Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  psychologischen  Forschung 
(Leipzig  1876). 


496  Vn.  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

man  daher  die  wunderliche  Hypothese  der  Phrenologie,  mit  welcher  Gall  alle 
die  einzelnen  „  Vermögen  **,  über  die  bisher  die  empirische  Psychologie  verfügt 
hatte,  an  bestimmten  Stellen  des  Gehirns  localisiren  wollte.    Es  war  nicht  nur 
ein  lustiges  Treiben,  als  man  im  Publikum  vernahm,  dass  sogar  am  Schädel  die 
mehr  oder  minder  kräftige  Entwicklung  der  einzelnen  Seelenkräfte  zu  erkennen 
sei,  sondern  es  knüpfte  sich,  namentlich  bei  Medicinem,  daran  auch  die  Meinung, 
dass  ja  damit  nun  die  Materialität  des  sogenannten  Seelenlebens  «zweifellos  auf^^ 
gedeckt  sei.    Besonders  in  England  hat  der  phrenologische  Aberglaube,  wie>Ber 
Erfolg  von  Combe's  Schriften  zeigt,  sehr  grosses  Interesse  hervorgerufOT  und 
einer  rein  physiologischen  Psychologie  im  Sinne  Hartley's  Vorschub  g^fleistet. 
Erst  John  Stuart  Mi  11  hat  seine  Landsleute  zu  Hume's  Auffassung  der  Asso- 
ciationspsychologie  zurückgeführt.    Ohne  danach  zu  fragen,  was  Materie  und 
was  Geist  an  sich  seien,  soll  man  von  der  Thatsache  ausgehen,  dass  die  körper- 
lichen und  die  geistigen  Zustände  zwei  völlig  unvergleichliche  Gebiete  der  Er- 
fahrung darstellen,  und  dass  die  Psychologie  als  die  Wissenschaft  von 
den  Gesetzen  des  geistigen  Lebens  die  Thatsachen  desselben  in  sich  selbst 
Studiren  muss  und  sie  nicht  auf  die  Gesetze  einer  anderen  Daseinssphäre  zurück- 
führen darf. 

2.  Im  Gegensatze  zu  der  materialistischen  Aufhebung  der  „Seele",  die, 
weil  sie  physiologisch  nicht  mehr  als  „Lebenskraft"  nöthig  schien,  auch  als  Träger 
des  Bewusstseins  ausgedient  haben  sollte,  wurde  aber  doch  von  anderer  Seite 
die  Activität  des  Bewusstseins  betont.  Nach  de  Tracy's  Vorgang  unter- 
schied Laromiguidre's  Ideologie  sorgfältig  zwischen  den  „Modificationen", 
welche  die  blosse  Folge  leiblicher  Erregungen  sind,  und  den  „Actionen"  der 
Seele,  worin  diese  bereits  im  Wahrnehmen  ihre  Selbständigkeit  bethätigt.  In 
der  Schule  von  Montpellier  glaubte  man  sogar  noch  an  die  „Lebenskraft", 
welche  Barthez  allerdings  als  ein  völlig  Unbekanntes  von  Leib  und  Seele 
getrennt  denken  wollte:  aber  auch  Bichat  unterschied  vom  „organischen" 
Leben  das  „animale"  durch  das  Merkmal  der  spontanen  „Reaction".  Zur  vollen 
Ausbildung  aber  war  dies  Moment  in  der  Psychologie  durch  Maine  de  Biran 
gekommen.  Der  feine  Grübelsinn  dieses  Philosophen  hat  mannigfache  An- 
regungen der  englischen  und  der  deutschen  Philosophie  erfahren:  hinsichtlich 
der  letzteren  ist  die  wenn  auch  nur  oberflächliche  Bekanntschaft  mit  Kant's  und 
Fichte's  Lehren  und  mit  dem  Virtualismus  des  in  Paris  merkwürdig  oft  ge- 
nannten Bouterwek  hervorzuheben^).  So  ist  die  Grundthatsache,  auf  welche 
Maine  de  Biran  seine  später  Spiritualismus  genannte  Theorie  gründet,  die, 
dass  wir  im  Willen  zugleich  unsere  eigene  Activität  und  den  Widerstand  des 
„Non-Moi"  (zunächst  des  eigenen  Leibes)  unmittelbar  erleben.  Die  Reflexion 
der  Persönlichkeit  auf  diese  ihre  eigene  Bethätigung  bildet  den  Ausgangspunkt 
aller  Philosophie,  für  deren  Erkenntniss  somit  die  innere  Erfahrung  die  Form, 
die  Erfahrung  des  Widerstrebenden  den  Stoff  darbietet.  Aus  der  Grundthat- 
sache werden  die  Begriffe  Kraft,  Substanz,  Ursache,  Einheit,  Identität,  Freiheit, 


1)  Die  Vermittlungen  sind  hier  nicht  nur  litterarisch  (Villers,  Degerando  etc.),  sondern 
in  starkem  Masse  persönlich  gewesen.  Von  g^rosser  Bedeutung  war  u.  A.  die  Anwesenheit  der 
Schlegel's  in  Paris,  besonders  die  Vorlesungen  Friedrich's ;  in  raris  selbst  die  Gesellschalt  von 
Auteuil,  zu  der  auch  der  Schweizer  Gesandte  Stapfer,  eine  hervorragend  vermittelnde  Persön- 
lichkeit, gehörte. 


fr. 

l.U 


§  44.   Kampf  um  die  Seele.   (Maine  de  Birau,  Hamilton,  Hegelianer.)  497 

Nothwendigkeit  entwickelt.  Derart  baut  Maine  de  Siran  auf  die  Psychologie  ein 
metaphysischefl  System;  welches  vielfach  an  Descartes  und  Malebranche  erinnert; 
aber  das  cogito  ergo  sum  durch  ein  volo  ergo  sum  ersetzt;  eben  deshalb  aber 
hat  er  sich  ganz  besonders  bemüht;  die  Grenzlinien  zwischen  Psychologie  und 
Physiologie  sicher  zu  legen  und  namentUch  den  Begriff  der  inneren  Erfahrung 
(sens  intime)  als  die  an  sich  deutliche  und  selbstverständliche  Grundlage  aUer 
Geisteswissenschaft  zu  erweisen.  In  nicht  unähnlicher  Weise  hat  Beneke  die 
innere  ErÜEihrung;  welche  auch  für  ihn  alle  philosophischen  Disciplinen  trägt,  als 
das  unmittelbare  Wissen  von  den  „Urvermögen^;  d.  h.  von  den  activen  Elementen 
der  Seelenthätigkeit;  behandelt;  und  Fortlage  hat  diesen  BegrüF  noch  mehr 
fichtisch  gestaltet. 

In  paralleler  Weise  ist  in  Folge  der  Einflüsse  der  deutschen  Philosophie 
und  besonders  Kant's  die  schottische  Philosophie  durch  Hamilton  vertieft 
worden.  Auch  er  vertheidigt  den  Standpunkt  der  inneren  Erfahrung  und  be- 
trachtet ihn  als  massgebend  für  alle  philosophischen  Disciplinen:  nur  in  den 
einem  Jeden  geläufigen  und  einfiach;  unmittelbar  verständlichen  Thatsachen  des 
Bewusstseins  ist  Nothwendigkeit  und  AUgemeingiltigkeit  zu  finden.  Aber  in 
diesen  Thatsachen  (und  zu  ihnen  gehört  auch  jede  einzelne  Wahrnehmung  von 
dem  Vorhandensein  eines  äusseren  Dinges)  gelangt  immer  nur  Endhches  in  end- 
lichen Verhältnissen  und  Beziehungen  zu  unserer  Erkenntniss,  und  in  diesem 
Sinne  (also  ohne  den  kantischen  Begriff  der  Phänomenialität)  gilt  fitr  Hamilton 
das  menschliche  Wissen  auf  Erfahrung  des  Endlichen  beschränkt:  vom  Unend- 
lichen und  Absoluten;  d.  b.  von  Gott  hat  die  Wissenschaft  keine  Vorstellung; 
weil  sie  nur  solches  denken  kann,  was  sie,  um  es  auf  einander  zu  beziehen;  von 
einander  unterscheidet  (vgl.  Kant's  Begriff  der  Synthesis). 

3.  Bei  den  Debatten  über  diese  Fragen  in  Frankreich  und  England  mischt 
sich  natürlich  auch  immer  das  religiöse  oder  theologische  Interesse  an  dem 
Begriffe  der  Seelensubstanz  ein:  im  Vordergrunde  stand  dasselbe  bei  den 
sehr  heftigen  Streitigkeiten;  welche  in  Deutschland  zur  Auflösung  der  Hegel'- 
sehen  Schule  führten.  Sie  drehten  sich  wesentlich  um  die  Persönlichkeit 
Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  Der  Hegelianismus  konnte  als 
„preussische  Staatsphilosophie ^  nicht  bestehen,  wenn  er  nicht  darin  die  ^Identität 
der  Philosophie  mit  der  Religion"  aufrechterhielt.  Die  vieldeutige;  in  den  dialek- 
tischen Formalismus  gehüllte  Ausdrucksweise  des  Meisters,  der  an  diesen  Fragen 
kein  directes  Interesse  gehabt  hatte;  begünstigte  diesen  Streit  um  die  Recht- 
Gläubigkeit  seiner  Lehre.  In  der  That  versuchte  die  sog.  ;,rechte  Seite"  der 
Schule;  zu  der  hervorragende  Theologen  wie  Gabler,  Göschel  und  Hinrichs  ge- 
hörten; diese  Rechtgläubigkeit  zu  halten:  aber  wenn  es  vielleicht  zweifelhaft 
bleiben  konnte,  wie  weit  das  ;,Zu-sich-selbst-kommen  der  Idee"  als  Persönlichkeit 
Gottes  zu  deuten  wäre;  so  wurde  andrerseits  klar;  dass  in  dem  System  des 
ewigen  Werdens  und  des  dialektischen  Ueberganges  aller  Gestalten  in  einander 
die  endliche  Persönlichkeit  auf  den  Charakter  einer  „Substanz"  und  auf  Un- 
sterblichkeit im  religiösen  Sinne  kaum  scheinbar  Anspruch  zu  erheben  vermochte. 

Dies  Motiv  drängte  einige  Philosophen  aus  der  Hegel' sehen  Schule  heraus 
und  zu  einer  atheistischen"  Weltansicht;  welche  (ähnUch  wie  die  von  Maine 
de  Biran)  den  Begriff  der  Persönlichkeit  zu  ihrem  Mittelpunkte  hatte  und 
hinsichtlich  der  endlichen  Persönlichkeiten  sich  der  Leibniz'schen  Monadologie 

Windelband,  Geschichte  der  Phflosophie.  32 


498  Yll»  Philosophie  des  nounzehnten  Jahrhunderts. 

zuneigte.  Der  jüngere  Fichte  bezeichnete  diese  geistigen  Realitäten  als  „Ur- 
positionen";  die  bedeutendste  Ausfuhrung  des  Gedankens  ist  das  philosophische 
System  von  Chr.  Weisse,  welches  ontologisch  den  Begriff  des  Möglichen  über 
den  des  Seins  stellt,  um  dann  alles  Sein  aus  der  Freiheit,  als  der  Selbsterzeugang 
der  Persönlichkeit-  (Fichte),  abzuleiten.  Mit  mehr  psychologischer  Ausfuhrung 
dieser  Ansicht  betrachtete  Ulrici  das  Selbst  als  Voraussetzung  der  „unter- 
scheidenden^ Thätigkeit,  womit  er  alles  Bewusstsein  identificirte. 

4.  Von  der  Gegenpartei  wurde  gerade  die  in  der  Bestaurationszeit  an  Macht 
und  Anspruch  wachsende  Orthodoxie  mit  den  Waffen  des  Hegehanismus  bekämpft, 
wobei  in  pubUcistischer  Vertretung  des  religiösen  wie  des  poUtischen  Liberalismus 
Buge  den  Führer  abgab.  Wie  pantheistisch  und  spinozistisch  von  dieser  Seite 
her  das  idealistische  System  aufgefasst  wurde,  sieht  man  am  besten  aus  Feuer- 
bach's  Gedanken  über  Tod  und  Unsterbhchkeit,  wo  die  göttliche  Unendlichkeit 
als  der  letzte  Lebensgrund  des  Menschen  und  sein  Aufgehen  in  dieselbe  als  die 
wahre  Unsterbhchkeit  und  Seligkeit  gefeiert  wird.  Von  diesem  idealen  Pantheis- 
mus aus  ist  Feuerbach  dann  sehr  schnell  zu  den  radicalsten  Aenderungen  seiner 
Lehre  fortgeschritten.  Er  fühlte,  dass  das  panlogistische  System  das  natürliche 
Einzelding  nicht  zu  erklären  vermochte:  hatte  doch  Hegel  die  Natur  das  Beich 
der  ZufälUgkeit  genannt,  welches  unfähig  sei,  den  Begriff  rein  zu  erhalten. 
Diese  Unfähigkeit,  dachte  Feuerbach,  steckt  vielmehr  in  dem  Begriff,  den  sich 
der  Mensch  von  den  Dingen  macht:  die  allgemeinen  Begriffe,  in  denen  die  Philo- 
sophie denkt,  sind  allerdings  unfähig ,  das  wirkhche  Wesen  des  Einzeldinges  zu 
verstehen.  Darum  stellt  Feuerbach  nun  das  Hegel'sche  System  auf  den  Kopf, 
imd  so  giebt  es  einen  nomin alistischen  Materialismus.  Das  Wirkhche  ist 
das  sinnUche  Einzelwesen:  alles  Allgemeine,  alles  Geistige  ist  nur  eine  Illusion 
des  Individuums.  Der  Geist  ist  die  „Natur  in  ihrem  Anderssein".  So  giebt  Feuer- 
bach seine  rein  anthropologische  Erklärung  derBeligion:  der  Mensch 
betrachtet  sein  eigenes  Gattungswesen,  so  wie  er  selbst  zu  sein  wünscht,  als  Gott. 
Die  Erkenntnisslehre  dieser  „Philosophie  der  Zukunft"  kann  nur  Sensuahsmus, 
ihre  Ethik  nur  Eudämonismus  sein :  der  Glückseligkeitstrieb  ist  das  Princip  der 
Moral  und  das  Mitwollen  des  fremden  Glücks,  die  Mitfreude,  das  ethische  Grund- 
gefühl. 

Nachdem  der  MateriaUsmus  eine  so  vornehm  metaphysische  Abkunft  er- 
wiesen hatte,  bemächtigte  man  sich  zu  seinen  Gunsten  auch  der  anthropologischen 
Begründungsweise,  welche  er  seit  Lamettrie  in  der  französischen  Litteratur  er- 
fahren hatte  und  welche  sich  durch  die  Fortschritte  der  Physiologie  noch  zu 
stärken  schien.  So  begann  sich  die  materialistische  Denkart  auch  in  Deutschland 
unter  den  Aerzten  und  Naturforschern  auszubreiten,  und  dies  kam  bei  der  Natur- 
forscherversammlung von  1854  in  Göttingen  zu  Tage.  Der  Widerspruch  zwischen 
den  Folgerungen  der  Naturwissenschaft  und  den  „Bedürfnissen  des  Gemüths" 
wurde  das  Thema  eines  auch  litterarisch  heftig  fortgesetzten  Streites,  worin  Carl 
Vogt  die  Alleinherrschaft  der  mechanischen  Weltansicht  vertheidigte,  Budolph 
Wagner  dagegen  an  den  Grenzen  der  menscliUchen  Erkenntniss  die MögUchkeit 
fär  einen  Glauben  gewinnen  wollte,  der  die  Seele  und  ihre  Unsterblichkeit  rettete. 
Dies  Bestreben,  welches  höchst  ungeschickt  als  „  doppelte  Buchführung  "  bezeichnet 
wurde '),  ist  in  der  Folge  hauptsächlich  wirksam  gewesen,  um  bei  den  Natur- 

1)  Es  ist  nicht  ohne  luteressc  zu  constatiren,  dass  dies  Motiv  schon  den  franzrisischen 


§  44.  Kampf  um  die  Seele.  (Lotze,  Fechner.)  499 

forschen};  welche  die  Einseitigkeit  des  Materialismus  durchschauten;  aber  mit 
der  Teleologie  des  Idealismus  sich  nicht  befreunden  konnten;  eine  wachsende 
Neigung  für  Kant  zu  erzeugen;  in  dessen  Ding-an-sich  sich  jene  Bedürfiüsse  des 
Gremüths  flüchten  zu  dürfen  meinten.  Als  dann  1860  Kuno  Fischer's  glänzende 
Darstellung  der  kritischen  Philosophie  erschien;  da  begann  jene  „Rückkehr  zu 
Kant^;  der  es  nachher  beschieden  sein  sollte,  in  litterarhistorische  Mikrologie 
auszuarten.  Der  naturwissenschaftlichen  Stimmung;  aus  der  sie  entsprang;  hat 
Albert  Lange's  Geschichte  des  Materialismus  den  Ausdruck  gegeben. 

Der  Materialismus  war  damit  in  der  Wissenschaft  überwunden:  er  lebt  in 
populären  Darstellungen;  wie  Büchner's  „Kraft  und  Stofif^  oder  in  der  feineren 
Form  von  Strauss'  „Alter  und  neuer  Glaube^,  er  lebt  aber  auch  als  Lebensansicht 
gerade  in  solchen  Eireisen  fort,  welche  die  „Ergebnisse  der  Wissenschaft^  aus  der 
gefalligsten  Hand  zu  naschen  lieben. 

Für  die  Psychologie  jedoch  als  Wissenschaft  ergab  sich  auch  danach  die 
Nothwendigkeit;  auf  den  Begriff  der  Seelensubstanz  als  Grundlage  ebenso  wie 
als  Ziel  ihrer  Forschung  zu  verzichten;  und  als  Lehre  von  den  Gesetzen  des 
seelischen  Lebens  sich  nur  auf  innerer  oder  äusserer  Erfahrung  oder  auf  beiden 
zusammen  aufzubauen.  So  bekamen  wir  die  „Psychologie  ohne  Seele";  welche 
von  allen  metaphysischen  Voraussetzungen  frei  ist  —  oder  zu  sein  meint. 

6.  Eine  tiefere  Versöhnung  jener  Gegensätze  hat  Lotze  von  den  Grund- 
gedanken des  deutschen  Idealismus  aus  gegeben.  Er  betrachtet  den  Naturmecha- 
nismus als  die  Form  der  Gesetzmässigkeit ;  worin  der  Trieb  des  Lebens  und 
Gestaltens,  der  das  geistige  Wesen  alles  Wirklichen  ausmacht;  seinen  Zweck;  das 
Gute;  verwirklicht.  Danach  hat  die  Natuinvissenschaft  allerdings  kein  anderes 
Princip  als  das  des  mechanischen  CausalzusammenhangeS;  aber  die  Anfange  der 
Metaphysik  liegen  wie  diejenigen  der  Logik  nur  in  der  Ethik.  Li  der  Ausfiüirung 
dieses  teleologischenldealismus  klingen  Motive  aus  allen  grossen  Systemen 
der  deutschen  Philosophie  zu  einem  neuen  harmonischen  Gebilde  zusammen: 
jedes  einzelne  Wirkliche  hat  sein  Wesen  nur  in  den  lebendigen  Beziehungen,  in 
welchen  es  zu  anderem  Wirklichen  steht,  und  diese  Beziehungen;  welche  den 
Zusammenhang  des  Universums  ausmachen,  sind  nur  möglich,  wenn  alles  Seiende 
als  TheilwirkUchkeit  in  einer  substantiellen  Einheit  begründet  ist  und  wenn  dabei 
alles  Geschehen  zwischen  den  Einzelnen  als  zweckvolle  Verwirklichung  eines 
gemeinsamen  Lebensziels  aufzufassen  ist.  Diesen  metaphysischen  Grundgedanken 
zur  vollen  Ausführung  zu  bringen;  war  Lotze  durch  die  mächtige  Universalität 
berufen;  mit  der  er  den  Thatsachenstoff  und  die  Formen  der  wissenschaftUchen 
Bearbeitung  in  allen  besonderen  Disciplinen  beherrschte,  und  auch  in  dieser  Hin- 
sicht reiht  sich  seine  Persönlichkeit  wie  seine  Lehre  der  vorhergehenden  Epoche 
würdig  an. 

Einen  anderen  Ausweg  aus  den  Schwierigkeiten  der  naturwissenschaftlichen 
Behandlung  des  Seelenlebens  hat  Fee hn er  gewählt.  Er  will  Leib  und  Seele  als 
die  zwar  völlig  getrennten  und  verschiedenartigen,  aber  stetig  mit  einander  cor- 
respondirenden  Erscheinungsweisen  eines  und  desselben  unbekannten  Wirklichen 
ansehen;  und  verfolgt  diesen  Gedanken  in  der  Richtung;  dass  den  physischen  Zusam- 


Materialiaten  nicht  fem  lag:  von  Cabanis  wie  von  Broussais  liegen  am  Ende  ihres  Lebens 
Erklärungen  in  diesem  Sinne»  sogar  mystischer  Tendenz,  vor. 

32* 


500  VII«  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

menhängen  auch  überall  geistige  Zusammenhänge  entsprechen,  während  uns  die 
letzteren  durch  Wahrnehmung  nur  an  uns  selbst  bekannt  sind.  Wie  sich  bei  uns 
die  Empfindungen;  welche  der  Erregung  einzelner  Theile  des  Nervensystems  ent- 
sprechen, als  Oberwellen  in  der  Gresammtwelle  unseres  Individualbewusstseins  dar- 
stellen, so  lässt  sich  vorstellen,  dass  die  Be wusstheiten  der  einzelnen  Persönlichkeiten 
wiederum  nur  Oberwellen  eines  allgemeineren  Bewusstseins,  etwa  des  Planeten- 
geistes sind:  und  setzt  man  diese  Betrachtung  fort,  so  kommt  man  schliesslich  zu 
der  Annahme  eines  universalen  Gesammtbe  w  US  st  sein  sin  Gott,  welchem 
der  universale  Causalzusammenhang  der  Atome  correspondirt.  Uebrigens  gestattet 
nach  Fechner  die  Verknüpfung  innerer  und  äusserer  Erfahrung  in  unserem  Be- 
wusstsein  auch  den  Gesetzen  dieser  Correspondenz  nachzuforschen.  Die  Wissen- 
schaft davon  ist  die  Psych ophysik.  Deren  erste  Aufgabe  ist,  Methoden 
zur  Messung  psychischer  Grössen  aufzufinden,  um  so  mathematisch for- 
muürbare  Gesetze  zu  gewinnen.  Fechner  stellt  hauptsächlich  dieMethodeder 
eben  noch  merklichen  Unterschiede  auf,  welche  als  Masseinheit  den 
kleinsten  noch  wahrnehmbaren  Unterschied  zweier  Empfindungsintensitäten  de- 
iinirt  und  diesen  als  überall  und  in  allen  Fällen  gleich  annimmt. 

§  45.    Natur  und  Geschichte. 

Der  Dualismus  der  kantischen  Weltanschauung  spiegelt  sich  in  der  Wissen- 
schaft des  19.  Jahrhunderts  durch  die  eigenthümliche  Spannung  des  Verhältnisses 
von  Naturwissenschaft  und  Geisteswissenschaft.  Keiner  früheren  Zeit 
ist  dieser  Gegensatz  in  sachlicher  und  methodischer  Bedeutung  so  geläufig  gewesen 
wie  der  unsrigen,  und  diesem  Umstände  sind  eine  Anzahl  neuer  verheissungs- 
voller  Verschiebungen  entsprungen.  Nimmt  man  dabei  aus  dem  Bereiche  der 
Geisteswissenschaft  das,  wie  gezeigt  wurde,  streitige  Gebiet  der  Psychologie  fort, 
so  bleibt  der  „Natur"  gegenüber,  noch  mehr  dem  kantischen  Gedanken  ent- 
sprechend, das  gesellschaftliche  Leben  und  seine  historische  Ent- 
wicklung in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  nach  allen  Richtungen  übrig.  Das 
annexionskräftige  Vordringen  des  naturwissenschaftlichen  Denkens  fand  nun  dem 
Wesen  der  Sache  nach  an  den  socialen  Erscheinungen  ebenso  wie  an  den  psycho- 
logischen leicht  die  Punkte,  wo  es  die  Hebel  seiner  Betrachtungsweise  ansetzen 
konnte,  sodass  auch  auf  diesem  Gebiete  ein  ähnUches  Ringen  wie  wegen  der 
Seele  nothwendig  wurde;  und  so  hat  sich  jener  Gegensatz  auf  den  von  Natur- 
wissenschaft und  Geschichtswissenschaft  zugespitzt. 

1.  Die  erste  Form,  in  welcher  der  Kampf  zwischen  naturwissenschaftlicher 
und  historischer  Weltanschauung  ausgefochten  worden  ist,  war  die  erfolgreiche 
Bestreitung  der  Revolutionsphilosophie  durch  den  französischen  Traditio- 
nalismus. Nachdem  St.  Martin  und  de  Maistre  die  Revolution  als  das  Straf- 
gericht Gottes  über  die  ungläubige  Menschheit  dargestellt  hatten,  ging  de  B  o  n  a  1  d 
dazu  über,  den  gesellschaftUchen  Theorien  des  18.  Jahrhunderts,  welche  auch  er 
für  die  Greuel  der  Terreur  verantwortUch  machte,  die  Theorie  der  kl  er  ik  al- 
le gitimistischenRestauration  entgegenzuhalten.  Ungeschult  im  begrifSichen 
Denken,  dilettantisch  namentlich  in  seiner  Vorliebe  für  Etymologisiren,  wirkte 
er  durch  die  Wärme  seiner  Darstellung  und  durch  die  Wucht  des  Princips,  das 
er  voi-trat.    Das  ist,  lehrt  er,  der  Fehler  der  Aufklärung,  dass  sie  geraeint  hat, 


§45.  Natur  und  Geschichte.  (Traditionalismus,  EoleoticismuB,  Volkerpsychologie.)     501 

die  Vernunft  könne  von  sich  ans  die  Wahrheit  finden  und  die  GeseUschaft  ein- 
richten;  dass  sie  in  das  Beheben  der  Individuen  die  Gestaltung  ihres  Zusammen- 
lebens legen  wollte.  In  Wahrheit  aber  ist  alles  geistige  Leben  des  Menschen  ein 
Product  der  geschichtlichen  Tradition.  Denn  es  wurzelt  in  der  Sprache. 
Die  Sprache  aber  ist  (und  gerade  hier  wird  der  Condillacismus  am  kräftigsten 
bekämpft)  dem  Menschen  von  Gott  als  erste  Offenbarung  gegeben  worden;  das 
göttliche  Wort  ist  der  Quell  aller  Wahrheit.  Die  menschliche  Erkenntniss  ist 
immer  nur  ein  Theilhaben  an  dieser  Wahrheit,  sie  erwächst  aus  dem  Gewissen, 
worin  wir  uns  das  allgemein  Geltende  zu  eigen  machen.  Der  Träger  aber  der 
Tradition  des  göttlichen  Worts  ist  die  Kirche:  ihre  Lehre  ist  die  von  Gott  ge- 
gebeneUniversalvernunft,  durch  die  Jahrhunderte  fortgepflanzt  als  der  grosse 
Baum,  an  welchem  alle  echten  Früchte  menschlicher  Erkenntniss  reifen.  Und  nur 
diese  Offenbarung  kann  deshalb  auch  die  Grundlage  der  Gesellschaft  sein.  Der 
Uebermuth  der  Individuen,  die  sich  dagegen  empörten,  hat  seine  Sühne  gefunden 
in  der  Auflösung  der  Gesellschaft,  die  es  nun  auf  dem  ewigen  Boden  neu  zu  er- 
richten gilt:  das  war  auch  der  Gedanke,  welcher  die  dunklen  und  wunderlichen 
Phantasien  von  Ballanche  lose  zusammenhielt. 

2.  Das  philosophische  Moment  dieser  Idrchenpohtischen  Theorie  bestand 
darin,  dass  als  der  geistige  Lebensgrund  der  Individuen  die  in  der  historischen 
Entwicklung  der  Gesellschaft  sich  verwirklichende  Gattungsvemunft  erkannt 
wurde:  zog  man  die  theologischen  Anschauungen  von  diesem  Traditionalismus  ab, 
so  befand  man  sich  dicht  bei  Hegel's  Begriff  vom  objectiven  Gei  ste.  Daher 
war  es  äusserst  humorvoll,  dass  Victor  Cousin,  als  er  die  deutsche  Philosophie 
gerade  nach  dieser  Seite  hin  sich  zu  eigen  machte,  den  Ultramontanen  gewisser- 
massen  den  Rahm  von  ihrer  Milch  fortschöpfte.  Auch  der  Eclccticismus  lehrte 
eineUniversalvemunft,  und  er  war  nicht  abgeneigt,  darin  etwas  dem  schottischen 
Common-sense  Aehnhche»  zu  sehen,  dem  er  aber  doch  die  metaphysische  Basis 
nach  Schelling  und  Hegel  nicht  versagte.  Als  daher  Lamennais,  der  anfanglich 
Traditionalist  gewesen  war  und  dann  durch  die  Schule  der  deutschen  Philosophie 
ging,  in  der  Esquisse  d'une  philosophie  die  Ideenlehre  behandelte,  konnte  er  jene 
Theorie  des  Gewissens  der  Sache  nach  völlig  beibehalten. 

Eine  ganz  andere  Form  nahm  die  Lehre  vom  objectiven  Geist  da  an,  wo 
sie  rein  psychologisch  und  empirisch  aufgefasst  wurde.  Im  geistigen  Leben  des 
Individuums  spielen  sich  zahlreiche  Vorgänge  ab,  welche  lediglich  darauf  beruhen, 
dass  der  Einzelne  überhaupt  nie  anders  denn  als  Ghed  eines  psychischen  Zusammen- 
hanges existirt.  Dies  Uebergreifende  aber,  in  welches  Jeder  hineinwächst  und 
vermöge  dessen  er  ist,  was  er  ist,  erweist  sich  nicht  von  der  naturgesetzlichen 
Gleichmässigkeit  wie  die  allgemeinen  Formen  des  seelischen  Geschehens :  es  ist 
vielmehr  von  historischer  Bestimmtheit,  und  der  Gesammtgeist,  der  dem  Indivi- 
dualleben  zu  Grunde  liegt,  prägt  sich  objectiv  in  der  Sprache,  in  den  Sitten,  in 
den  öffentlichen  Einrichtungen  aus.  Durch  deren  Studium  muss  die  Individual- 
Psychologie  zu  einer  Socialpsychologie  erweitert  werden.  Dies  Princip  haben 
Lazarus  und  Steinthal  aufgestellt,  und  den  eminent  historischen  Charakter, 
welchen  die  Ausfuhrung  desselben  haben  muss,  deuteten  sie  durch  den  übrigens 
wenig  glücklichen  Namen  der  Völkerpsychologie  an. 

3.  Den  socialen  Grundgedanken  des  Traditionahsmus  muss  man  berück- 
sichtigen, um  die  rehgiöse  Färbung  zu  verstehen,  welche  im  Gegensatz  zu  den 


502  ^I^-  Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 

social-politischen  Theorien  des  vorigen  Jahrhunderts  für  den  französischen 
Socialismus  seit  St.  Simon  charakteristisch  ist.  Des  Letzteren  Lehre  steht  aber 
nicht  nur  unter  dem  Druck  der  zu  neuer  socialerundpolitischer  Macht  erstarkenden 
Religiosität^  sondern  auch  in  lebhaften  Beziehungen  zur  deutschen  Philosophie 
und  sogar  zu  ihrer  Dialektik.  Alles  dies  ist  auf  seinen  Schüler  Auguste  Comte 
übergegangen ,  dessen  Gedankenentwicklung  einem  höchst  eigenthümhchen 
Schicksal  unterlegen  ist. 

Der  Entwurf  seines  positivistischen  Systems  der  Wissenschaften 
treibt  zunächst  die  Auffassung  Hume's  und  Condillac's  auf  die  äusserste  Spitze: 
nicht  nur  die  menschUche  Erkenntniss  ist  auf  die  Verhältnisse  der  Phänomene 
unter  einander  angewiesen^  sondern  es  giebt  überhaupt  nicht  etwas  Absolutes, 
das  diesen  etwa  unerkannt  zu  Grunde  läge.  Das  einzige  absolute  Princip  ist;  dass 
alles  relativ  ist.  Es  hat  keinen  vernünftigen  Sinn,  von  ersten  Ursachen  oder 
letzten  Zwecken  der  Dinge  zu  reden.  Allein  dieser  Relativismus  (oder  wie  man 
später  gesagt  hat  Correlativismus)  verföUt  nun  sogleich  dem  universalistischen 
Ansprüche  des  mathematisch  naturwissenschaftlichen  Denkens,  wenn  der  Wissen- 
schait  die  Aufgabe  zugesprochen  wird,  alle  diese  Relationen  unter  dem  Gesichts- 
punkte zu  erklären,  dass  sie  in  allgemeinen  Naturgesetzen  begründet  sind.  Zu 
diesemZwecke  ordnen  sich  die  Wissenschaften  (sciences)  in  einer  „Hierarchie" 
aU;  welche  vom  Einfachen  Schritt  für  Schritt  zum  Verwickelten  fortschreitet:  auf 
die  Mathematik  folgt  die  Astronomie;  dann  die  Physik,  weiter  die  Chemie,  die 
Biologie,  deren  höchster  Zweig  die  Psychologie  ist,  und  endlich  die  „S  o  ciologie". 
Damit  ist  allerdings  im  Princip  die  Begründung  der  Gesellschaftswissenschaft 
durch  die  vorhergehenden  Disciplinen  verlangt :  bei  der  Ausführung  aber  ist  davon 
bei  Comte  nicht  im  entferntesten  die  Rede.  Schon  die  sociale  Statik  verzichtet 
vielmehr  mit  charakteristischer  AusdrückUchkeit^darauf,  die  Socialität  aus  dem 
Individuum  abzuleiten,  wie  es  etwa  in  der  Aufklärungsphilosophie  geschah.  Die 
Geselligkeit  ist  ursprüngliche  Thatsache,  und  das  erste  sociale  Phänomen  ist 
schon  die  Familie.  Noch  selbständiger  dagegen  ist  die  sociale  Dynamik,  welche 
ohne  psychologische  Erklärung  sich  die  Aufgabe  stellt,  das  Naturgesetz  der 
Geschichte  der  Gesellschaft  zu  entdecken.  Comte  findet  dies  in  dem 
Princip  der  drei  Stadien,  welche  die  Gesellschaft  nothwendig  zu  durchlaufen 
habe  (ein  Apercu,  welches  nicht  bloss  Hegel  und  Cousin  zu  Vorbildern  hat).  Li- 
tellectuell  geht  der  Mensch  aus  der  theologischen  Phase  durch  die  metaphysische 
in  die  positive  über.  In  der  ersten  erklärt  er  sich  die  Erscheinungen  durch  anthro- 
pomorphistisch  gedachte  übernatürliche  Kräfte  und  Wesen,  im  zweiten  durch  all- 
gemeine Begriffe,  welche  er  sich  als  das  hinter  den  Erscheinungen  wirkende  Wesen 
construirt ;  im  positiven  Stadium  begreift  er  das  Einzelne  nur  durch  die  thatsäch- 
lich  nachweisbaren  Bedingungen ,  aus  denen  es  nach  einem  experimentell  zu  er- 
härtenden Gesetze  folgt.  Diesem  allgemeinen  Gesetze  des  geistigen  Lebens  sollen 
alle  einzelnen  Processe,  in  welche  sich  dasselbe  spaltet,  ebenso  unterworfen  sein 
wie  die  Gesammtbewegung  der  menschlichen  Geschichte,  und  dabei 
soll  der  intellectuelle  Process  von  einem  correspondirenden  Entwicklungsgang  der 
äusseren  gesellschaftlichen  Organisation  begleitet  sein,  welche  ausdem  priesterlich- 
kriegerischen  Zustande  über  die  Herrschaft  der  Rechtsgelehrten  zu  dem  „in- 
dustriellen" Stadium  der  Gesellschaft  hinüberführt.  Der  Sieg  der  positiven 
Weltanschauung  und  der  industriellen  Lebensordnung  ist  das  Ziel  der  historischen 


§  45.   Natur  und  Geschichte    (Comte,  Carlyle,  Darwin.)  603 

Entwicklung  der  europäischen  Völker;  welche  die  positive  Philosophie  nach  diesem 
Schema  höchst  interessant  construirte. 

Allein  als  sollte  sich  das  Gesetz  vom  Kreislauf  der  drei  Phasen  zuerst  an 
seinem  Urheber  bestätigen^  so  fiel  Comte  in  der  letzten  (^subjectiven^)  Periode 
seines  Denkens  in  das  theologische  Stadium  zurück^  indem  er  die  Menschheit  als 
Grand-etre  zum  Gegenstand  einer  religiösen  Verehrung  machte,  als  deren  Hohe- 
priester er  den  ganzen  Apparat  des  Heiligendienstes  in  positivistischer  Umbildung 
nachahmte. 

4.  Dieser  vornehmste  Versuch,  die  Geschichte  nach  Naturgesetzen  zu  con- 
struiren,  zeigt  also  in  seiner  Ausführung  den  Sieg  des  historischen  Denkens^  und 
in  diesem  Widerspruch  kommt  gerade  die  sachliche  Energie  von  Comte's  Denken 
zu  Tage.  Er  steht  darin  weit  über  seinem  englischen  Schüler  Thomas  Buckle, 
der  in  seiner  History  of  civilization  in  England  (1857)  der  Geschichtswissenschaft 
die  Aufgabe  dahin  stellen  wollte,  dass  sie  nur  Naturgesetze  des  Völker- 
lebens zu  suchen  habe.  Dafür  aber  bieten  Buckle  jene  leisen  Wandlungen  des 
gesellschaftlichen  ZustandeS;  die  sich  in  den  Zahlen  der  statistischen  Forschung 
aussprechen,  sehr  viel  brauchbareres  und  exacteres  Material  als  die  Erzählung 
einzelner  Ereignisse,  auf  welche  sich  die  alte  chronikhafte  Geschichtsschreibung 
beschränkt.  Hier  enthüllt  sich  der  eigentliche  Sinn  des  Gegensatzes :  auf  der 
einen  Seite  das  abstrakte  Gesetz,  ein  GtittungsbegriiSr  von  Veränderungen,  —  auf 
der  anderen  der  lebendige  Eigen werth  der  einmaligen,  in  sich  bestimmten  Gestalt. 
In  dieser  Hinsicht  ist  das  Wesen  der  historischen  Weltauffassung  von  Niemand 
so  tief  ergriffen  und  so  eindringUch  und  warm  dargestellt  worden  wie  vonCarlyle. 

5.  Während  aber  so  die  Geschichte  ihre  Autonomie  gegen  die  Verwischung 
der  Grenzlinien  der  Wissenschaft  zu  vertheidigen  hat,  ist  umgekehrt  auf  einem 
besonderen  Gebiete  der  Naturforschung,  in  der  Lehre  von  der  organischen  Welt, 
das  historische  Princip  derEntwicklung  zur  Geltung  gekommen,  wonach 
der  gesammte  Zusammenhang  der  Lebewesen  als  der  einmalige  Process  einer 
durch  den  teleologischen  Gesichtspunkt  der  Lebensfähigkeit  bestimmten  Ausbil- 
dung der  organischen  Formen  betrachtet  wird.  Diese  auf  vielen  Wegen  vorbereitete 
Auffassung  ist  durch  Charles  Darwin 's  grosses  Werk  On  the  origin  of  species 
by  means  of  natural  selection  (1859)  in  den  Mittelpunkt  des  wissenschaftlichen 
Interesses  gerückt  worden  und  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  Fülle  von  breit 
und  tief  gehenden  Anregungen  auch  für  die  philosophische  Behandlung  der  ver- 
schiedensten Probleme  hervorgebracht.  Freilich  sind  diese  Anregungen  noch 
lange  nicht  reif,  um  zu  einem  System  der  „synthetischen^  Philosophie  zusammen- 
gearbeitet zu  werden,  wie  es  Herbert  Spencer  versucht  hat,  indem  er  die  dialek- 
tische Methode  in  das  zeitgemässere  Schema  von  Differentiation  und  Integration 
der  Erscheinungen  umsetzte.  Aber  gerade  dazu  wird  die  Philosophie  berufen 
sein,  die  begrifflichen  Grundlagen  zu  untersuchen,  auf  denen  diejenige  Form  des 
Princips  der  Entwicklung,  welche  sich  jetzt  auf  einem  begrenzteren  Felde  der 
Naturwissenschaft  fruchtbar  erwiesen  hat,  im  Stande  sein  würde,  auf  das  historische 
Wissen  zurückzuwirken. 

Die  Erreichung  dieses  Ideals  mag  dem  Einen  näher,  dem  Anderen  femer 
scheinen:  vorerst  jedoch  findet  uns  der  Ausgang  des  Jahrhunderts  noch  überall 
im  Streite  zwischen  historischer  und  naturwissenschaftlicher  Bildung. 


504 


Namen-Register. 


Es  sind  diejenigen  Stellen  registrirt,  an  welchen  einerseits  die  Schriften  und  Lehren  der 
Philosophen,  andrerseits  ihre  Wirkungen  auf  andere  behandelt  werden. 


Abaelard  214  216  232f.234ff. 

242  flf. 
Abbt352. 
Abercrombie  493. 
Abubacer  246  252  f. 
Adelard  v.  Bath  216  235  238. 
Aegydius  v.  Col,  250. 
Aene8idemu8l25127  157  162, 

8.  auch  Schulze. 
Aerzte,    spätere    des   Alter- 

thums  161  263. 
Agricola  280  284. 
Agrippa  125  158. 

—  V.  Nettesheim  282  295. 
Akademie,  ältere  77  79  124. 

—  jüngere  125  f.  162,  s.  auch 
Karneadcs. 

Alanus  216. 

Albert  246  249  253  263  f.  269 

272  384. 
Alcuin  215. 
d'Alembert  349  376. 
Alexander  Aphrod.   126  184 

267  f. 
Alexandristen  280  283  f. 
Alexander  v.  Haies  248  272. 
Alexandrinische  Philo  s.  166  if. 

—  Katechetenschule  170. 
Alexinos  54  68. 

Alfred  de  Sereshel  272. 

Algazel  246. 

Alhacen  272. 

Alkidainas  57. 

Alkraaion35  49f. 

Althus  301  342. 

Amalrich,    Amalricaner    249 

267. 
AnimoniuB  Saccas  170. 
Anaxagoras  23  f.  31  ff.  39  41 

46  48  146, 
Aiiaximander  20  ff.  25  37. 
Anaxinienes  20  22  24. 
Ancillon  492. 
Andronikos  80  124. 
Annikeris  53  66  f. 
Anselm.  214  216  230ff.  233f. 

238  254  262  273  310. 
Antiochos  126. 


Antisthenes  53  f.  63  72,  s.auch 
Kyniker. 

Apelles  203. 

Apollodorus  127. 

Apollonios  167  169. 

Apologeten  170  175f.  181  f. 
186. 

Apuleius  169. 

Arabische  Philos.  211  244  ff. 
266  f. 

Archelaos  58. 

Archytas  23  79. 

Areios  Didymos  126  169. 

Aristarchos  127. 

Aristeides  170. 

Aristippos  53  f.  65  f.  72,  s. 
auch  Kyrenaiker. 

—  der  jüngere  54. 

Aristobulos  170  173. 

Aristophanes  62. 

Aristoteles  76  f.  79ff.  102—120 
150ff.  180  196  211  f.  229 
238  245  f.  248  256  258  260 
262  266  f.  279  282  ff.  288 
s.  auch  Peripatetiker. 

Aristoxenos  124  126. 

Arkesilaos  125  f. 

Amauld  300. 

Amobius  168  170  176  359. 

Arnold  351. 

Arrianus  169. 

Athenagoras  170  176. 

Atomisten  22. 

Augustinus  208f.  211  ff.  214f. 
217—226  239  250  260  262 
269  271  f.  279  287  309  311 
329  368. 

Austin  493. 

Avempace  246. 

Averroes  u.  AvciToisniu«  247 
252  255  265  ff.  280  283  338. 

Avicebron  247  262  267. 

Avicenna  236  246  269  272. 

Baader  446  486. 

Bacon,  Fr.  284  299  f.  302  ff. 

316  f.  321  326  332  339  376 

389  491. 


Bacon,  Rog.  250  252  270  272. 

Bain  493. 

Baley  493. 

Ballanche  493  501. 

Barbaro,  Enn.  280. 

Bardesanes  170  188. 

Barthez  492  496. 

Basedow  352  414. 

Basileides  168  170  191  203f. 

BasBO  280  293  321. 

Batteux  360. 

Baumgarten  351  381. 

Bayle  346  349  374  ff.  389  ff. 

Beattie  349. 

Beck  448  455. 

Becker  314. 

Beda  215. 

Bekker  316  f. 

Bellarmin  302  337. 

Belsham  493. 

Beneke  450454  461  497. 

Bentham  348  404  411. 

Berengar  216  234. 

Berigard  280. 

Berkeley  346  f.  356  f.  362  370  ff. 

374f. 
Bernhard  v.  Chartres  214  216 

232  239  282. 
—  V.  Clairvaux  214  217  237 

241. 
Bertrand  492. 
Bessarion  279  283. 
Bias  19. 
Bichat  492  496 
Bilfinger  351. 
Bodin  301  337  340  415. 
Boerhave  358  f. 
Boethius  213  215  234. 
Boehme  279  282  290  ff.  295  f. 

486. 
Bolingbroke  348  412. 
Bolzauo  495. 
Bonald492f.  500f. 
Bonaventura  248  263 f.   269. 
Bonnet  349  361  495. 
Bossuet  383  415. 
BouiUee  281  291  294. 
Bouterwek  450  461  f.  496. 


Namen-BegiBter. 


505 


Boyle  300. 

Broussais  492  495  499. 

Brown,  Pet.  347  358. 

—  Thom  348  858  874. 

Brucker  351. 

Bruno  279  281 284  290  ff.  293  f. 

323  333  385  465. 
Buchanan  342. 
Buchez  493. 
Büchner  495  499. 
Buckle  503. 
Budde  351. 
Buffon  349  378. 
Buisson  492. 
Buridan  251  262  290. 
Burke348  402.  . 
Butler  348  404f. 

*)€abani8  349   361  492  495 

499. 
Calderwood  493. 
Calvin  281  287. 
Gampanella  281  292  f.  294  298 

305  309  318  337  339f.  415. 
Cardaillac  492. 
Cardano  281  294  f.  340. 
Carlyle  493  503. 
Caesalpinus  280  284. 
Cassiodor  213  215. 
Chalmers  493. 
Charron  280  286  297  309. 
Chaseeboeuf  s.  Volney. 
Chateaubriand  492. 
Chesterfield  406. 
Chri8tHche  Philos.  167    185 

198. 
Chrysippos  125  127  147  152 

154. 
Chubb  348. 
Cicero  126  128  138  f.  160  175 

284f. 
Clarke348d86  396f. 
Clauberg  300  328. 
Clemens  Alex.  168  170  198 

229. 
Cogan  493. 
Coleridge  493. 
Collier  371  f. 
Collins  348  371. 
Combe  493  496. 
Corate  490  493  502  f. 
Condillac  347  349  360  f.  376  f. 

495  502. 
Condorcet  350  415. 
Constantinus  Afr.  238. 
Contarini  280. 
Cordemoy  300  328. 
Comutus  169. 
Comwall  Lewis  493. 
Cousin  492  501  f. 
Cremonini  280. 
Creuz  351. 
Crousaz  351  376. 


*)  S.  auch  K. 


Crusius  351  382. 

Cudworth  302  31 7  344  354  396. 

Cnmberland  299  302  344  395 

404. 
Cusanus,  s.  Nicolaus. 

JOalgam  314. 
Damaskios  168  171  187. 
Dante  246  249  258  f.  336. 
Darwin,  Ch.  503. 

—  Er.  348  368. 
Daube  492. 
Daubenton  349. 

David  V.  Diu,  249  267  324. 
Degerando  492. 
Demetrios  169. 
Demokrit  76£  78  80—90  101 

279  294  306  317  f. 
Demonax  167  169. 
Derham  387. 
Descartes    284    299  f.    307  ff. 

314  3l6ff.  324ff   327  332 

353  ff.  359  f.  363  368  370 

396  452. 
Destutt   de  Tracv    349    360 

495  f. 
Dexippos  171. 

Diderot  349  361  386  389  391. 
Didymos,  s.  Areios. 
DikaiarchoB  124  126. 
Diodorus  Krön.  54  68. 
Diogenes  v.  ApoUonia  42  53 

146. 

—  v.  Babylon  127. 

—  V.  Sinope  53  f.  64  72. 
Dionysidoros  68. 
Dionysios  Aeropag.  213  215 

286. 
Dippei  351. 

Dominikaner  249  ff.  260  264. 
Drobisch  494. 
Duclos  349. 
Dühring  495. 
Dnns    Scotus    236    248   250 

254f.    256 f.    261  ff.    269 ff. 

274  279  289  303  f.  311  315 

332  334  336  382  384. 

Eberhard  352. 

Eckhart  246  249  261  263  ff. 

289  292  296  458. 
Ekphantos  35  45. 
Eleaten  21  28  f.  33  39  91  230 

459  481. 
Elisch-eretrische  Schule    53. 
Empedokles  22  f.  30  f.  39. 
Encyclopaedisten347  349  361 

376  406. 
Enfantin  493. 
Engel  352. 
Ephektiker  131. 
Epiktet  167  169  180. 
Epikur  u.  Epikureismus  124  f. 

127 ff.  143ff.  148  152f.  lo9ft: 

318  341  408  411. 


Eratosthenes  127. 
Erdmann  494. 
Eric  V.  Aux.  215  234. 
Erigena,  Scot.  213  215  228  f. 

265  331  487. 
Eschenmayer  485. 
Essener  181. 
Eubulides  54  68. 
Eudemos  126  155. 
Eudoros  169. 
Eudoxos  79. 
EuemeroB  53  f.  66. 
Eukleides  53  68. 
Euthydemos  58. 

Feam  493. 
Fechner  495  499  f. 
Feder  352. 
Ferguson  348  402. 
Ferrari  494. 
Feuerbach  494  498. 
Fichte,  J.  G.  341  447  f.  455  ff. 

464-469  472  476f.  480f. 

485f.488  494  498. 

—  J.  H.  494  498. 
Ficino  279  283. 
Fischer,  Kuno  494  499. 
Fludd  282. 
Fontenelle  324. 

de  la  Forge  300  329. 

Fortlage  497. 

Foucher,  Sim.  280. 

Franck,  Seb.  281  289  291. 

Francke  351  384  458. 

Francki  494. 

Franz  v.  Mayron  250  270. 

Franziskaner  249  260. 

Frayssinous  492. 

Fredegisus  215. 

Friedrich  II.  v.  Sicilien  252. 

—  V.  Preussen  352  406. 
Fries  450  452. 
Fnlbert  217  238  f. 

Gabler  497. 

Galenos  169  184. 

Galüei  299  f.  306  f.  309  314  ff 

317  f.  324  332  377. 
Gall  492  496. 
Galluppi  494. 
Garat  350  410. 
Garve  352. 
Gassendi  280  308. 
Gaunilo  216  231. 
Gaza,  Theod.  280. 
Gennadios  283. 
Gentilis  301  340. 
Georgios  v.  Trap.  280  283. 
Gerbert  214  217  238. 
Gerson  251  255. 
Gersonides  247. 
Geulincx   299   301    312   324 

328  f.  335. 
Gibieuf  301  329. 
Gilbert  216  235  f.  265. 


606 


Namen- Raster. 


Gioberti  494. 

Gioia  494. 

Glanvü  374. 

Gnoßtiker  167  170  174  186 

188ff.  191  200ff.  487. 
Godwin  411. 
Gorgias  52  54  68  f. 
Göschel  497. 
Goethe  417  470  f. 
Gottfried  v.  Font.  261. 
Gottsched  351. 
Gregor  v.  Nyssa  200  206. 
Grimm  349. 

Grotius  302  337  340  f.  344  415. 
Gundling  409. 
Günther  496. 

Hamann  402  448  453  466. 
Hamilton  490  493  497. 
Hansch  351. 
Hardenberg  s.  Novalis. 
Hartley  347  358  f.  861  f.  378 

390  404  496. 
Hartmann  488. 
Harvey  318. 

Hedoniker  s.  Eyrenaiker. 
Hegel  8  f.  447  449  465  f.  481 

—485  487  494  497  f.  501  f. 
Hegesias  53  67. 
Heinrich  v.  Gent  250  261  269 

272. 
Helmont  282. 
Helvetius  349  405  f. 
Hemming  302. 
Hemsterhuys  401. 
Hentsch  351. 
Herakleides  79. 
—  Lembos  126. 
Heraklit  21  23  27  f.  38  f.  44  f. 

48f.  146  481. 
Herbart  447  449  f.  454  468  ff. 

465  475  494. 
Herbert  v.  Cherb.  299   302 

344  354  390. 
Herder  347  352  366  393  399 

415  f.  440  448  453  466  470. 
Hcrennios  (Pseudo-)  219. 
Hermes  495. 
Hermetische    Schriften    169 

186. 
Hermippos  126. 
Herschel  493. 
Hierokles  171. 
Hildebert  v.  Lavard.  217. 
Hinrichs  497. 
Hippias  52  54  56. 
Hippodamas  57. 
Hippokrates  50. 
Hippolytos  168. 
Hippon  53. 
Hobbes  299f.  306f.  314  3l6f. 

319  f.  324  ff.  332  341  ff.  353  f. 

369  f.  377  395  404  f.  407  f. 

460. 
Holbach  349  379  389  406. 


Home  348  402. 

Huet  312. 

Hugo  V.  St.  Victor  217  240  fl 
264. 

Humanisten  277  ff. 

Humboldt,  W.  v.  410  474. 

Hume  346  348  353  357  362 
372ff.  377  390  392  406  419 
422f.  429  450  454f.  502. 

Hutcheson  348  401  f. 

Huyghens  300  332. 

Jacobi  447  f.  450  ff.  463  467 

-474. 
Jamblichos  168  171  173f.  177 

179  186  196. 
Jansenisten  300. 
Jaucourt  349. 
Indische  Weisheit  489. 
Joachim  v.  Floris  252. 
Johannes   v.  Damaskus    213 

215. 

—  V.  Salisbury  217  242f. 
Johann  v.  Rochelle  272. 
Jouffroy  492. 

Irenaeus  168  174  176  178  182 

203  206. 
Irwing  351. 
Iselin  415. 

Isidor  V.  Sev.  213  215. 
Jüdische'Phüos.  167  170  244 

247. 
Julian  171. 
Jung  301  313  f. 
Justinus  167  170  175  186  203. 

*  )Kabbala  247. 

Eallikles  57  f. 

Kant  8  11  334  351  364  366  f. 
374  376  378  381  ff.  386  403 
417—447  450ff.468ff.  462ff. 
469  472  f.  481  485  493  497  ff. 

Kantianer  448  452. 

Karneades  125f.  152f.  158 162. 

Karpokrates  170  203. 

Kelsos  169. 

Kepler  299  306. 

Kerdon  203. 

Kerinthos  202  f. 

Kircher  314. 

Kleanthes  125  ff. 

Kleidemos  53. 

Kleitomachos  126. 

Knutzen  351  421. 

Komenius  304. 

Kopemicus291f.  317f. 

Koppen  447. 

Krantor  79  128. 

Krates  v.  Theb.  54. 

—  V.  Athen  79. 
Kratylos  53. 
Krause  449  480. 
Kritias  58. 

*)  S.  auch  C. 


Krug  450  457. 

Krüger  451. 

Kyniker  53  f.  63  72  167  169. 

Kyrenaiker  53  55  65  ff.  72. 

liabruy&re  406. 

Lactantius  170. 

Lamarck  378. 

Lambert  351  364  367  378. 

Lamennais  493  501. 

Lamettrie  349  359  361  378 

405  f. 
Lancelin  411. 
Lanöfranc  216. 
Lange  499. 
Lanffuet  842. 
Lapkce  378. 
Larochefoucauld  406. 
Laromiguiere  492  495  f. 
Lazarus  494  501. 
Leechman  494. 
Lefövre  280. 
Leibniz  299  301   313  ff.  317 

828  332  347  360  863  ff.  367 

380ff.    383f.    886ff.  d97ff. 

402  f.  408  415  421  423  446 

453  f.  466  494. 
Leroux  493. 

Lessing  347  362  366  392  f. 
Leukippos  22f.  32  f.d9  ff.  45  85. 
Lewes  493. 
Liberatore  494. 
Lionardo  da  Vinci  306. 
Lips  280. 
Locke  309  319  346  f.  352  ff. 

363 ff.  368  383  395  L  404f. 

408  414. 
Longinos  i70  183, 
Lossius  351  363. 
Lotze  490  495  499. 
Lowudes  494. 
Lucretius  125  127  148  293. 
Lullus  251  264. 
Luther  281  287. 
Lykophron  57. 

Mably  360  412. 
MacchiavelU  301  336  f. 
Mackintosh  493. 
Magnenus  280. 
Maignanus  280. 
Maimon  448  464  f. 
Maimonides  247  252  254. 
Maine  de  Siran  492  496. 
Maisüe,  Jos.  de  492  500. 
Malebranche  299  301  311  321 

324  329  371  383. 
Mamiani  494. 
Mandeville  348  405  413. 
Mani  u.  Manichäismus  188. 
Mansel  493. 
Marcianus  Capella   213  215 

233. 
Marcion  173  203. 
Marcus  Aurelius  167  169  181. 


Namen-Register. 


507 


Mariana  802  337. 
Marsilius  y.  Inghen  251. 

—  V.  Padua  269  272  336  341. 
Martineau  493. 
Maupertuis  349  376  386. 
Maximus  v.  Tyr.  169. 

—  Conf.  215. 
M*c  Cosh  494. 
Megariker  53  68. 
Meiners  352. 

Melanchtbon  280  288  302  336. 
Melissos  23  34. 

Meliton  170. 

Mendebsohn  352  380  399  403 

410  447. 
Menedemos  54. 
Metrodoros  58. 

—  d.  Epikureer  127. 
Michael  Fsellos  270. 
Milesier  20ff. 

Mill,  James  493. 

—  J.  St.  493  496. 
Milton  342. 

Minucius  Felix  167  170  176. 
Moderatus  169. 
Moleschott  495. 
Montaigne  280  286  297  318. 
Montesquieu  350  406  408. 
Moore  (Thomas  Monis)  301 

337  ff. 
More,  Henry  302  317  344  355 

396. 
MoreU  493. 
Morelly  350  412. 
Morgan  348. 
Moritz  351. 
Mnsonius  169. 
Mystik  180  209. 

—  deutsche  249f.  264ff.  281 
288  ff. 

Hausiphanes  129. 
Nekkam,  Alex.  272. 
Neuplatonismus     168     170f. 

173  ff.   177  ff.  183  ff.  186  ff. 

192  ff.  199  201  209  211  221 

226  228  265  f.  278  f.  282  f. 

290ff.    302    306    317    843 

480. 
Neupythagoreismus  166    169 

172  181  183  186  294. 
Newton  300  306  314  318  324 

332  f.  386. 
Nicolai  352  380  399  410. 
Nicolaus  d'Autricuria  272. 

—  Cusanus  248  251  265  f.  271 
273f.  291  293  317  323  331 
432  465. 

—  d'Oresme  272. 
Nicole  300. 
Nifo  280  283. 
Nigidius  Figulus  168. 
Nikomachos  167  169  183  186. 
Nizolius280  284f.  297. 
Norris  371. 


Novalis  (Fr.  v.  Hardenberg) 

448471. 
Numenios  167  169  171  f.  175 

182. 

Occam  248  250  f.  255  ff.  259 

261  263  270ff.  297  319  336 

341  356  369. 
Occasionalismus  299  ff.  328  ff. 

374. 
Odo  V.  Cambr.  233. 
Oinomaos  169. 
Oken  449  471  478. 
Oldendorf  302. 
Ophiten  203. 
Oratorianer  301. 
Origenes  168  170  174 183  185 

199  ff.  202  220  252. 

—  170. 

Osiander  281  288. 
Oswald  349. 

Paley  348  404  f. 

Panaitios  126  f. 

Paracelsus  282  291  ff.   295  f. 

Parker  347. 

Parmenides  21  f.  28  44  f.  49. 

Pascal  300  312. 

Patristik  167  ff. 

Patrizzi  279  283  290. 

Peregrinus  Proteus  169. 

Peripatetiker  126  140 155  180 

85  278  280  325. 
Persius  169. 
Peter  v.  Poitiers  216. 
Petrus  Hispanus  250  270. 
Petrus  Lombardus  216 
Phaidon  54. 
Phaidros  127. 
Phaleas  57. 
Pherekydes  19  26. 
Philippos  V.  Opus  79. 
Philolaos  22f.  34f. 
Philodemos  127  156  161  270. 
Philon  V.  Larissa  126. 

—  V.  Alex.  167  170  173  178 
181  186  189  f.  229  252. 

Phumutus,  s.  Cornutus. 

Pico279  294  f. 

Pierre  d'Ailly  251  263  272. 

Pinel  492. 

Pittakos  19. 

Piaton  54  76  f.  78  f.  81ff.  90- 

102  150  180  191  193  278 

321  333  338. 
Piatonismus    166  f.   169    175 

183  188  200  216  238  278ff. 

282  f.  459  480  489,  s.  auch 

Neuplatonismus. 
Platner  351. 
Plethon  279  283. 
Plotinos   168  171  179  183  ff. 

186  192  ff.  220  265  273  283 

290. 
Ploucquet  351. 


Plutarch  v.  Chair.  167  169  177 
182  188. 

—  V.  Athen  168  171. 
Poiret  300  312. 
Polemon  79. 

Polos  57. 

Pomponazzi  280  283  f. 
Pope  352  400. 
Porphyrios    168     171    183  f. 

196  f.  213  227. 
Porta  280. 
Poseidonios  126  f. 
Prantl  494. 
Prevost  492. 
Price  348  396. 
Priestley  347  f.  359  378  390 

404. 
Prodikos  52  54  58. 
Proklos  168 171 173  f.  177  179 

186  196  ff.  283  481. 
Protagoras  52  f.  56  ff.  66  69  ff. 

80  f. 
Pufendorf  801  313  341. 
Pyrrhon  125  127  130f.  157f. 

286. 
Pythagoras  23. 
Pytbagoreer  22  ff.  34  f.  43  f.  46 

82  95  166  168  191  306. 

Quesnay  350. 

Ramus  280  284f.  297. 
Haymundus  LuUus,  s.  JjuIIus. 

—  V.  Sabunde  251  254. 
Reid  348  f.  362  380. 
Reimarus  351  386  391  f. 
Reinhold  448  452f.  472. 
Remigius  217. 
Reuchlin  282  294f. 
Rhabanus  Maurus  215. 
Richard  v.  St.  Victor  217  241. 

—  v.Middletown  250  261  263. 
Robert  PuUeyn  216. 
Robinet  849  379  386. 
Romagnosi  494. 
Romantiker  418  474  476  480  f. 
Roscellin  214  216  284. 
Rosenkranz,  K.  494. 
Rosenkran tz,  W.  495. 
Rosmini  490  494. 
Rousseau  841  347  849  f.  361  f. 

395  401  409f.  413  420  440 

475. 
Royer-Ck)llard  492. 
Rüdiger  351  868  882. 
Rüge  494  498. 

Saadjah  Fajjumi  247. 
Sallustius  171. 
St.  Lambert  850  411  415. 
St.  Martin  362  486  500. 
8t.  Simon  493  502. 
Sanchez  280  286  297  318. 
Satuminus  168  170  188  203. 
Satyros  126. 


508 


Namen-Register. 


Scaliger  280. 

SchelÜDg  341  447  ff.  457  465 

469  ff.  477-480  484—489 

501. 
Schiller  386  399  416  f.  447  f. 

472—476  489. 
Schlegel,  Fr.  449  465  474  476 

486  488  496. 
Schleiermacher  447  449  457  f. 

474 f.  479. 
Schmid,  Erh.  448. 
Schmidt,  J.or.  361  393. 
Scholastik  180  209  ff. 
Schopenhauer  330   447    450 

462 ff.  472  488f. 
Schoppe  280. 
Sehottische  Schule  346  348  f. 

362  380  401  f.  493  497. 
Schubert  449  471. 
Schulze    (Aenesidemus)    448 

453  f. 
Schwenckfeld  282  288. 
Scotismus,  8.  Duns. 
Scotus  Erigena,  s.  Erigcna. 
Search  347. 
Semler  851  393  412. 
Seneca  167  169  180. 
Sennert  280  293  321. 
Sextier  126  128  169. 
Sextus  Empiricus  125  127. 
Shaftcsbury   348    361   385  ff. 

392    395   400  ff.  405  f    412 

415  473. 
Sidney  342, 
Sieben  Weisen  19. 
Siniplicius  171  268. 
Skeptiker   127  f.    130  f.   157  f. 

311318,  B.Pyrrhon. 
Sraith  348  406  413. 
Socinian  Ismus  281  384. 
Sokratcs  53  f.  58  ff.  72  ff.  150. 
Sokratiker  53  f. 
Solger  449  481. 
Solon  19  26. 
Sophisten  51  55ff.  61  ff. 
Sorbiöre  280. 
Sotiou  126  128  169. 
Sozziui  (Leliü  u.  Fausto)  281. 
Spencer  493  503. 
Spener  351  884  458. 
Speusippos  79  191. 
Spinoza  299  301  308  312  317 

322  ff.  325  ff.  330  f.  335  337 

341  ff.  357  360  393  398  432 

447  456  ff.  460  462  470  478  f. 
Sp\irzheim  492. 
Steffens  449  471. 
Stciuthal  494  501. 


Stewart,  Dug.  348  462. 

Stilpon  54  69. 

Stoiker  124  127  129  ff.  145— 
164  167  169  175  177  18()f. 
185  189  220  290  311  317. 

Straten  124  126  140  185. 

Strauss  494  f.  499. 

Strümpell  494. 

Sturm,  Joh.  286. 

—  J.  Chr.  314. 

Suarez  280  287  302. 

Sulzer  351  403. 

Summisten  216. 

Suso  250. 

Süssmilch  415. 

Swift  406. 

Syrianus  171. 

Systeme  de  la  nature,  s.  Hol- 
bach. 

TappareUi  494. 

Tatian  168  170  176  199. 

Tauler  230. 

Taurellas  281  296. 

Teles  169. 

Telesio  281  297. 

Tertullian  168  170  174  176  f. 

204. 
Tetens  351  367  403. 
Thaies  19  f.  22  24, 
Themistios  171. 
Theodorich  v.  Chartres  232 

239. 
Theodoros  53  66. 
Theophilos  170. 
Theophrastos  124 126  128  140 

155. 
Thomaeus  283. 
Thomas  Aqu.  236  246  249  254 

256  ff.  260  262  ff.  269  279 

287  329  332  340  382  384. 
Thomasius  341 350  398  f.  409  f. 
Thrasyllos  126  169. 
Thrasvmachos  57  f. 
Thurot  492. 
Tiedemann  349  f. 
Timon  125  127  157. 
Tindal348  391f. 
Toland  348  385  412. 
Tooke  347. 
Trendelenburg  494. 
Tschirnhausen   301  309  331. 
Turgot  340  f. 

Ulrici  494  498. 

Valentinos  168  170  188  191  f. 
200. 


f  Valla,  Laur.  280  284, 
Vanini  291. 
Varro  126  128. 
le  Vayer  280. 
Veitsch  493. 
Ventura  494. 
Vemias  280. 
Vico  414  f. 

Victoriner  214  241  255  f.  327. 
Yincenz  y.  Beauvais  248  272. 
Viecher  494. 
Vives  280  284f.  297  318. 
Vogt,  C.  496  498. 
Volney  360  411. 
Voltaire  346  349  359  386  389 
391  397  410  412  421. 

l¥agner,  R.  496  498. 
Walter  v.  Mortagne  216  232  f. 
~  V.  St.  Victor  217. 
Wedgwood  493. 
Weigel  Erh.  301  313. 

—  Val.  280  289  292  296. 
Weisen,  die  sieben  19. 
Weiss  361  403. 
Weisse  494  498. 
Whewell  493. 

Wilhelm  v.  Auvergne  250  262 
269. 

—  V.  Champaux  214  216  232 
235. 

—  V.  Conches  216  239  f.  282. 
Winkler  302. 

Wolff  313  347  350  f.  363  380 
883  386  398  f.  409  f. 

—  Pancr.  368. 
Wollaston  348  396. 
Woolston  391. 
Wordsworth  493. 

X.eniade8  65. 
XcnokratcB  79  191. 
Xenophanes  21  f.  36. 
Xenophon  54. 

Zabarella  280. 
Zeller  494. 

Zenon  v.  Elea  22  33  f.  42  ff. 
46  f.  68. 

—  V.  Kittion  124  126. 
--  V.  Sidon  127. 
Ziller  494. 

Zimara  280. 
Zimmermann  494 
Zorzi  282. 
Zwingli  281. 


Sach-Register. 


509 


Aberglauben,  von  den 
Stoikern  geschützt  149, 
Kriterium  für  ihn  nolh- 
wendig  177,  systematisirt 
294. 

Absolute  478. 

Activität  des  Bewusstseius 
bei  Aug.  221,  cf.  Synthesis. 

' A  0 1  d  <p  0  p  a ,  der  Stoiker  132. 

A  e  o  n  192,  Demiurg  als  A.  202. 

Aesthetik,  Anlage  bei  Ar. 
119,  physische  Plotins  195, 
der  Aufklärung  351,  Baum- 
garten's  381,  Diderot's  389, 
mit  Ethik  verschmolzen 
402,  im  Vordergrund  des 
Interesses  418,  Kantus  440ff., 
Schopenhauer  472,  Schiller 
ib.  u.  ff.,  Schelling  478  480, 
Solger  481,  HegeTs  482. 

A  ff  ect,  Freiheit  von  129 132, 
bei  Spinoza  325. 

Altruismus  344,  ursprüng- 
lich 400,  auf  Egoismus  ba- 
sirt  405. 

A  u  a  I  o  g  i  e  der  Erfahrung  429. 

Analyse  bei  Descartes  308, 
de  1  entendement  353. 

Analytik,  cf.  Logik. 

W  votjjLVfjai^  91. 

Anschauung,  Formen  der 
424ff.,  intellectuelle446  456. 

Anthropologie,  Wendung 
der  Wissenschaft  zur  52, 
metaphysische  292,  Bacon's 
304. 

Anthropologismus  206. 

Antinomismus  zwischen 
Gegebenem  und  Begriff  9, 
d.  reinen  Vernunft  433. 

''Aiteipov,  cf.  Unendlichkeit. 

Apologeten  167. 

Apperception,definirt365, 
transscendentale  4d0f.,  Her- 
bart 461. 

Apriori  bei  Kant  424ff. 

'  A  p  )^7j ,  cf.  Weltstoff,  Materie. 

Askese,  cf.  Weltflucht. 

Associationspsycho- 
1  ogi  e,  cf.  Psychologie. 


Astronomie  als  Motiv  zur 
Annahme  der  Naturord- 
nung 43.  Galilei  317  f. 

Ataraxie,  cf.  Affect. 

Atheismus  der  Aufklärung 
389. 

Atom  bei  Leukipp  32  39,  bei 
DemokritSöff.,  Epikur  144, 
Bruno  293,  A.  —  complex 
=  Molekül  378. 

Attribut  320,  Unendlichkeit 
d.  322,  Parallelismus  331, 
subordinirt  333  Anm. 

Aufklärung  345  ff.,  deutsche 
363  f.,  Kant's  Stellung  zur 
A.  419. 

Autonomie  der  Vernunft 
435. 

Autorität,  Verlangen  nach 
171,  gleich  Vernunft  174. 


edürfnisslosigkeit  der 
Kyniker  64,  Epikur's  130, 
Stoa  131. 

Begriff,  Bedeutung  bei  So - 
krates  73,  Verhältciss  zur 
Idee  93,  bei  Ar.  107,  Stoa 
160,  Epikur  161,  cf.  Idee. 

Begriffsdichtung  statt 
Philosophie  11. 

Bewegung,  das  Princip  der 
Vermittlungsversuche  zwi- 
schen Denken  und  Wirklich- 
keit30,Eigenschaft  d.  Atome 
33,  Beweise  gegen  von 
Zeno  42,  =  Wahrnehmung 
70,  ewig  112,  der  Materie 
durch  Gott  186  ff.,  mathe- 
matische Erkenn tniss  307, 
Summe  sich  gleichbleibend 
324,  bei  Kant  429. 

Beweis,  d.  Dasein  Gottes, 
ontölogischer  230,  bestritten 
231  382,  Descartes  310, 
Spinoza  322,  Kant  432, 
physico  -  theologischer  385, 
Kant  387,  erschüttert  389, 
Hume  390,  Kaut  kritisirt 
433. 


Bewusstsein,  definirt  184, 
Selbstgewissheit  207,  der 
Sünde  als  Ausgangspunkt 
243,  Gewissheit  308,  Diffe- 
rentiale des  454,  Abschluas 
der  Naturreihe  471,  Activi- 
tät d.B.  496,  überhaupt  429 
443,  Ding-an-sich  455,  wird 
Ich  458. 

Causalität,  skeptisch  be- 
handelt 161,  Grundform  d. 
C.  324,  physische  und  logi- 
sche 329,  Grund  u.  Folge 
330,  kritisirt  von  Hume  374, 
Kant  429,  u.  Freiheit  436, 
wechselseitige  445,  Scho- 
penhauer 462. 

C  h  a  r  a  k  t  e  r ,  intelligibler  437. 

Christenthum,  seine  Vor- 
aussetzungen 166,  mit  Phi- 
los.  von  Origenes  vereint 
174,  Gegensatz  zur  Ph.  176, 
bei  Abaelard  237,  u.  Refor- 
mation 287 ,  begründet 
durch  Philosophie  384  ff, 
Schelling  487. 

Coincidentia  opposito- 
rum  273  291,  bei  Schelling 
465. 

Communi8mu8beiPlato98. 

Conceptualismus214  235. 

Consensus  gentium  bei 
Stoa  160,  Inhalt  des  Ge- 
wissens 244,  Cudworth  354. 

Correlativität  von  Sein  u. 
Bewusstsein,  fonnulirt  von 
Parmenides  28. 

Cultur,  ihr  Werth  in  Frage 
gestellt  64,  bejaht  bei  den 
Cyrenaikem  67 ,  durch 
Kirche  vermittelt  207,  der 
Neuzeit  305,  Problem  d.  C. 
408  ff.,  als  Privileg  412,  Kant 
440,  Fichte  477. 

Darwinismus,  geahnt  bei 
Emped.  40,  Zukunftspro- 
blem 503. 


510 


Sach-Register. 


Deductiou  der  Verstandes-  ' 
begriffe  428. 

D  e  f  i  n  i  t  i  0  n ,  cf.  Begriff. 

Deismus,  Annäherung  des 
Christenthums  an  176,  deut- 
scher 351,  metaphysischer 
englischer  385,  bekämpft 
durch  Bayle  389,  morali- 
scher 390. 

Denken,  reines,  Gegensatz 
zur  Erfahrung  44,  aus  er- 
kenntnisstheoretischer 
Werthschätzung  entstanden 
47,  sensualistische  Erfah- 
rung 48,  bei  Demokrit  88, 
begriffliches  103,  psycho- 
logische Eintheilung  403 
Anm.  420. 

Determinismus  der  Stoa 
151,  bestritten  152,  intellec- 
tualistischer  261,  Buridan 
262,  Spinoza's  u.  Hobbes' 
326. 

Dialektik  des  Zeno  34,  be- 
nützt von  Sophisten  52»  bei 
Plato  93,  Aristoteles  102 
106,  Proklos  197,  als  Ele- 
mentarstufe .  213,  durch 
Mystik  bekämpft  2 14,  Abae- 
lard's  236,  Verdrängung 
284,  Ramus  285,  trsnsscen- 
dentale  431,  Fichte's  457f. 
464ff.,  Hegers  481. 

Dialog  bei  Sokrates  74,  bei 
Plato  78,  Schelüng  480, 

Ding,  anders  als  Vorstellung 
257,  Ding-an-sich  426  ff., 
Grenzbegnff431,  Streit  um 
D.-a.-s.  450  ff. 

Dogmatismus,  formulirt 
380,  bei  Kant  420. 

D  u  a  1  i  8  m  u  s ,  Plato's  93,  über- 
wunden bei  Ar.  103,e  thischer 
der  Stoa  149,  religiöser  Be- 
wegung günstig  165  180, 
als  Ausgangspunkt  188, 
Ueberwindung  189,  der  gei- 
stigen Welt  224,  anthro- 
pologischer 240,  psycholo- 
gischer Occam's  257,  der 
Substanzen  31 8  f.,  der  Er- 
fahrungsquellen 368,  Kant's 
438. 

Dynamismus,  Leibniz  332, 
Kant  430.    Schelling  469. 


Eclecticismu8,cf.  Skepsis. 

Egoismus,  Sophisten  57, 
Epikur  138,  Grund  des 
Staatsvertrags  342,  =  Sol- 
ipsismus 372. 

K 1 0  u>  X  a  bei  Demokrit87,  Epi- 
kur 159,  Lockp  269. 

Einheit      des      Menschen-  | 


geschlechts  205,  der  Apper- 
ception  430. 

Einbildungskraft,  cf. 
Phantasie. 

Einzelding,  Nothwendig- 
keit  seines  Untergangs  38. 

Ekstase  des  Neuplat.  179 
196,  cf.  Vergottung. 

Elementarphilosophie, 
Reinhold  452. 

Elemente  als  zertheiltes 
„Sein**  30,  als  Homöome- 
rien  31,  bei  Ar.  102. 

Emanationssystem  191ff., 
Proklos  197. 

Empirismus  aus  Xominalis- 
mus  271  297,  Unsicherheit 
ib.,  Bacon's  303,  geschult 
durch  Mathematik  307, 
Hume^s375,  metaphysischer 
ScheUing^s  487. 

Empfindung,  Zusammen- 
hang mit  Bewegung  827, 
Quantificirungbei  Bentham 
404,  Fichte  467. 

Entelechie  bei  Ai\  109, 
Leibniz  332. 

Enthusiasmus  =  Religion 
385. 

Entwicklung,  Central- 
begriff  bei  Aristoteles   78 

,  ,107  ff. 

■Etco)^yj  der  Skeptiker  158, 
Descartes  311. 

Erfahrung  definirt  durch 
Stoa  159,  innere  217ff.  239  f., 
die  sicherste  272,  bei  Locke 
überwiegend  368,  Maine 
de  Biran  497,  Theorie  bei 
Bacon  302. 

Eristik  der  Sophisten  68. 

Erkenntnisstheorie  16, 
sittlichesBewusstsein  alsPo- 
stulat  für  72,  Plato's  91ff., 
skeptische  Epikur's  161, 
Aug.  221,  Occam's  257  261, 
nominalistische  270,  Des- 
cartes'  31 1,  Leibmz'334  364, 
abhängig  von  Psychologie 
352  f,  macht  Wissen  von 
Aussenwelt  problematisch 
368f,  Hume  373,  Kant 
422  ff.,  Jacobi  451,  Rein- 
hold 453,  „Aenesidem** 
454,  Fichte  456. 

Eros  bei  Empedokles  30,  bei 
Sokrates  60,  bei  Plato  92. 

Erscheinung  und  Ding-an- 
sich  425  f.,  nicht  vom  D.-a  -s. 
verursacht  463 

Erziehung  zur  Cultur  208. 

Eschatologie204. 

Ethik  15  16,  erste  Frage- 
stellung analog  der  Physik 
56,  Gegensatz  von  „Natur" 


und  „Satzung"  ib.,  rein  con- 
ventioncll58,  neubegründet 
59,  individual  60 = Wissen- 
schaft 75,  bei  Demokrit  89, 
Plato  97,  Aristoteles  117, 
allein  angebaut  123,  Indi- 
vidualethik  128,Plotin'8l96, 
Abaelard's  243,  Verhält- 
niss  zu  Gottes  G^bot  263, 
Spinoza's  312,  natürliche 
Moral  344f.,  Behandlung 
der  Grundfragen  394  f.,  auf 
Logik  basirt  396,  auf  Ge- 
wissen 397,  auf  Vollkom- 
menheit 397  und  Utilität 
399,  auf  Gefühl  401,  mit 
Aesthetik  verbunden  402, 
als  Weltklugheit  406,  des 
kateg.Imp.433,  Fichte's  468, 
Romantiker  474,  Schleier- 
macher ib.,  ästhetische  Her- 
bart's  475,  Schopenhauer 
488,  cf.  Weltflucht. 

Eudämonismus,  cf.  Utili- 
tarismus. 

Evidenz,  Descartes  307,  cf. 
Kriterium. 

Evolutionssystem  191. 

Existenz  Gottes  =  Essenz 
230,  Kant  432  438,  noth- 
wendige  und  zo&llige  335, 
=  Wahrnehmung  371. 

Experiment  bei  Bacon  303, 
bei  GaUlei  306. 

Form  bei  Ar.  109,  Bacon 
303,  bei  Lambert  364,  bei 
Kant  425f.,  Reinhold  452, 
cf.  Idee,  Gattungsbegriff. 

Freiheit,  Sokr.  150  =  Ur- 
sachlosigkeit  153,  vieldeutig 
angewendet  224,  ein  Ge- 
heimniss  322,  Gottes  326, 
bei  Leibniz  335,  Kant  436 
439,  Schelling  486,  cf. 
WiUensfreiheit. 

Gattungsbegriff,  meta- 
physische Bedeutung  213 
227  ff.,  nicht  Substanzen 
233  ff.,  cf.  Idee,  Kategorie. 

Gefühl,  Seele  entfaltet  sich 
aus  241,  mit  Wahrnehmung 
verbunden  360,  Rousseau 
361,  Herder  366,  Kant  403, 
Anm.  420,  apriori  441, 
ästhetisches  443,  Jaoobi 
451. 

Genie,  definirt  444,  Central- 
punkt  474,  ScheUing  478. 

Geschehen  36 ff.,  Welt  als 
Geschehen  38,  durch  leeren 
Raum  ermöglicht  89,  als 
Wirbelbewegung  40,  als 
nothwendiges    41,    gesetx- 


Sach-Regiater. 


511 


massiges,  cf.  Astronomie. 
Nach  Analogie  des  Künst- 
lers 112. 

Geschichte  der  Philo- 
sophie BfT.,  Def.  8,  Glassi- 
Rcirunff  12,  Eintheilung 
15  ff.,  der  griechischen  20, 
der  hellenistisch-römischen 
124,  der  mittelalterlichen 
212,  der  Renaissance  277, 
der  Aufklärung  345  f„  der 
deutschen  417,  Hegel  482. 

Geschichtsphilosophie 
16,  angelegt  bei  Ar.  119, 
Neuheit  des  Problems  200, 
bei  Au|^.  225,  Thomas  258, 
pessimistische  Rousseau's 
418,  Vico's  414,  Bossuet, 
Herder's  415,  Eant's  440, 
Schiller's  475,  Fichte's  476, 
HegeFs  482,  Comtess  502, 
Buckle  Oarlyle  503. 

Gesetzmässigkeit,  zuerst 
postulirt  von  Heraklit  28, 
logische  bei  Zeno  46. 

Gewissen,  nicht  das  daipio- 
vtov  75,  Problem  184,  Norm 
der  Moral  243,  als  Erkennt- 
niss  Gottes  263,  Princip  der 
Moral  397,  A.  Smith  408, 
Kant  437,  Eichte  468. 

Glauben,  Gnostiker  woUen 
ihn  auf  Erkennen  basiren 
167,  Erkennen  ihm  unter- 
geordnet 208,  vermittelt 
Vemunftwahrheiten  222, 
Kant  436,  Jacobi  451  = 
belief  875  390. 

Glückseligkeit,  nicht  mit 
Tugend  identisch  57,  ihr 
gleichgesetzt  62,  zu  er- 
reichen 218,  im  Anschauen 
der  Wahrheit  226,  als  Welt- 
zweck 386  und  Oultur  413, 
kein  Monüprincip  435. 

Gnostiker  167  ff,  und  Schel- 
ling  487. 

Gott,  von  Gottheit  unter- 
schieden 266,  Unendlich- 
keit 273,  transsoendent.  290, 
Selbstgebämng  296,  Be- 
weise für  Dasein  310,  voll- 
kommene Substanz  320, 
Ort  der  Geister  321,  sive 
natura  323,  des  Occasiona-  j 
lismus  380,  Centralmonade 
335,  Berkeley's  371,  als 
Hypothese  378,  muss  Uebel 
zulassen  388,  sanctionirt 
ütiUtarismus  405,  Kant  432 
438,  Identität  von  Denken 
und  Sein  457,  Fichte  468, 
Schelling  (Absolutes)  479 
=  Geist  481,  Theosophie 
Schelling's  485  f.,  Streit  um 


Persönlichkeit  497  f.,  im 
Traditionalismus  501. 

Gottheit.  Die  Materie  als 
G.  26,  Glaube  an  G..von  De- 
mokrit  erklärt  89,  bei  Plato 
99,Demiurg  101,  bei  Ar.  als 
reine  Form  113,  als  Pneu- 
ma  146,  bei  Epikur  148, 
doppelte  Offenbarung  175, 
Aufgehen  in  1 78,  rein  geistig 
182,  denkt  die  Ideen  183, 
im  Verhältniss  zur  Welt 
185  ff.,  offenbart  sich  suces- 
sive  204,  Wahrheit  in  G. 
220,  =  Allgemeinstes  229, 
bei  Thomas  256,  Verhältniss 
zu  Wille  und  Verstand 
262,  der  Mystiker  265,  als 
Materie  und  Form  267,  cf. 
Gott. 

Grenzbegriff  und  Ding-an- 
sich  431,  der  Naturerklä- 
rung 445. 

Grund,  zureichender,  formu- 
lirt  142,  für  Determinismus 
verwendet  151,  für  aposte- 
riorische Wahrheiten  315, 
bei  Wolff  380. 

Gut,  höchstes  128 ff.,  Kant 
437. 


Alarmonie  des  Geschehens 
bei  Heraklit  28,  Pythago- 
reer  35,  Bruno  290,  praesta- 
bilirte  232f.  365,  bei  Kant 
883  423. 

Hedonismus,  cf.  Lust. 

Sv  %a\  ic&y,  Eleaten  28, 
Schopenhauer  464,  cf«  Pan- 
theismus. 

Hlomöomerien  des  Anaxa- 
goras  31,  suchen  Sein  mit 
Werden  zu  vereinigen  39, 
cf  Qualität. 

Humanismus,  erste  Peri- 
ode der  Renaissance  277  ff., 
ästhetischer  473. 

Humanität,  Ideal  der  416. 

Hylozoismus  25,  Stellung 
znmGeschehen  36,  in  Frank- 
reich 379. 


Ich  bei  Kant  429 f.,  Fichte 
457  f.  466  ff.,  Schelling  478. 

Ideal,  ästhetisches  444. 

Idealismus  als  System  bei 
Plato  77,  erkenntnisstheo- 
retischer Occam's  257,  Ber- 
keley's  371,  deutscher  418ff., 
Jacobi451,  Fichte455  464ff., 
ästhetischer  472  f. ,  logi- 
scher Hemers  481,  teleo- 
logischer Lotze's  499. 


Idealität  bei  Kant  425 f. 

Idee  bei  Plato  84  90 ff.,  Ver- 
hältniss zur  Erscheinung  93 
=  Gattungsbegriff  ib.,  des 
Guten  94,  als  Zweck  99, 
identificirt  mit  Zahl  95,  Um- 
bildung bei  Ar.  108,  als  Ge- 
danken Gottes  183,  vermit- 
teln zwischen  Gott  und  Welt 
189,  der  Ideen  190,  bei  den 
Gnostikem  192,  als  Kraft 
193,  logisches  Verhältniss 
zu  Gott  197,  bei  Aug.  220, 
als  Realien  229,  Welt  der  I. 
232,  Descartes'  309,  Geist 
die  I.  des  Körpers  331,  ein- 
geborne  354  ff.  365,  Locke 
355,  abstrakte,  geleugnet 
357,  Hume  ib.,  Wolff  363, 
Leibniz  364,  Körper  ledig- 
lich I.  870,  bei  Kant  432  f., 
SchelUug  480,  Hegel  481, 
Abfall  von  G.485,  Schopen- 
hauer 489. 

Identität,  Satz  der,  betont 
von  den  Sophisten  68,  des 
Theiles  mit  Ganzem  333,  cf. 
Seinsproblem. 

Identitätssystem  478. 

I  d  e  o  1  o  g  i  e  in  FranJu-eich  360 
377  495. 

Idole  Bacon's  302. 

Imperativ,  kategorischer 
434. 

Indeterminismus,  cf. 
Willensfreiheit. 

Individualismus  und  No- 
minalismus 234,  Occam's 
259. 

Individualität  266ff., 
Rousseau  362,  cf.  Persön- 
lichkeit. 

Individuum  als  Mikrokos- 
mus 274,  die  Monade  ist  I. 
334,  Grund  öffentlichen  Le- 
bens 341,  im  Vordergrund 
394 ,  Ausgangspunkt  für 
Staatslehre  409,  cf.  Persön- 
lichkeit. 

Induction  bei  Sokrates  74, 
bei  Ar.  106,  bei  Bacon 
303. 

Innerlichkeit,  Princip 
d.  aug.  Philos.  212  218. 

Inspiration,  cf.  Oilen- 
barung. 

Intellectualismus  396. 

Interesse,  interesselos  448. 

Ironie  bei  Sokrates  74,  Ro- 
mantiker 476. 

Irrationalismus  Schel- 
ling's  484,  Schopenhauer's 
488. 

Irrthum  erklärt  311. 

Jurisjurudenz,  cf.  Recht. 


512 


Sach-Begister. 


Kanonik,  cf.  Logik. 

Kategorie  bei  Ar.  110,  Stoa 
166,  Plotin  193,  Aug.  ent- 
ficheidet  sich  fiir  Plot.  221, 
Ar.  als  Ausgangspunkt  des 
Universalienstreites  227, 
Kant  427  f.,  des  Zwecks  434, 
Fichte  466,  Hegel  481. 

Kirche  205,  bewahrt  antike 
Cultur  207,  Stellung  bei 
Aug.  217,  als  Erlösungs- 
anstalt 223,  Stellung  zu  Ar. 
249,  dem  Staat  übergeord- 
net 254,  coordinirt  259  und 
Renaissance  279  f.  und  Staat 
336,  „freie"  383. 

Körper,  Gegensatz  zur  Seele 
238  ff. 

Korpuskulartheorie  293. 

Kosmopolitismus  der 
Kyn.  65,  der  Stoal38,cf.477. 

Kriterium  der  Wahrheit 
159,  Evidenz  160  354, 
Uebereinstimmung  mit  Lo- 
gos 163,  der  0£^nbarung 
noth wendig  177,  der  Moral 
394  f.  404. 

Kritik,  historische  338, 
System  d.  418  f.  und  Jacobi 
451. 

Kunst,  grosse  des  Lullus  254, 
Leibniz  314,  cf.  Aesthetik. 

fieben  als  Grenzbegriff  445, 
(/entralbegriff  der  Natur- 
philosophie 470,  als  Kunst- 
werk  473. 

Logik  15  16,  des  Ar.  102ff., 
Eintheilung  104  f. ,  ihre 
Grenzen  106,  des  Feripatos 
1 55,  beherrschende  Stellung 
im  Mittelalter  213,  „neue" 
245,  Vereinfachung  284,  als 
Methode  313  =  Grammatik 
377,  bei  Kant  428  ff.,  trans- 
soendentale  gegen  formale 
465,  Hegel  484. 

Logos  bei  Heraklit  48  = 
avocYv.'T]  bei  Demokrit  86, 
Stoa  141 146,  als  Kriterium 
163,  oicftpjjLatixog  175,  Idee 
der  Ideen  190,  Sohn  Gottes 
200. 

Lust  bei  Aristipp  65,  Epikur 
133,£entham404,  Schopen- 
hauer 488. 


akrokosmus  147  289ff. 
Materialismus  als  System 
bei  Demokrit  77 ff.  84,  Stel- 
lung der  Stoa  142,  Epikur 
143 ,  anthropologischer  von 
Hobbes  326 ,  Lamettrie's 
359,  metaphysischer  377, 
19.  Jahrhundert  492,  M.- 


streit  495  ff.,  französischer 
495,  Feuerbach's  498,  Oe- 
schichte  d.  M.  499. 

Materie,  ihre  Construction 
bei  Anaximander  25,  bei  Ar. 
109  111,  mit  Form  identiR- 
cirt  141,  Stoa  156,  Grand 
des  Bösen  181  195,  ethisch 
indifferent  182,  als  End- 
product  des  Guten  193, 
körperlos  194,  nicht  an  sich 
böse  198,  mangelhafte  Be- 
alitat  221,  quantitativ  be- 
stimmt 296,  niederste  Mo- 
nade 335,  mchtexistirend 
370,  dynamische  Theorie 
430,  Herbart  461,  cf.  Atom, 
Weltstoff,  Substanz. 

Materie  der  Erfahrung.  Lam- 
bert 364,  Kant  425  f..  Rein- 
hold 452. 

Mathematik 43,  Bedeutung 
für  Plato  91,  zur  Weltbü- 
dung  verwendet  102,  in  der 
Benaissance  294 ,  Galilei 
306,  Hobbes  307,  Hume  373, 
von  Philosophie  getrennt 
382,  Kant  423  ff. 

Mechanismus ,  ungewiss^bei 
Emped.,  durchgeführt  bei 
Leukipp  40,  des  Lebens  318. 

Metaphysik  15,  Begrün- 
dung 80  ff.,  teleologische  99, 
enge  Verbindung  mit  Logik 
103,  bei  Theophrast  140,  der 
Stoa  141,  religiöse  166,  welt- 
geschichtliche 201,  der  Gat- 
tungsbegriffe 213,  der  in- 
neren Erfahrung  217  ff.,  rein 
logisch  228,  des  Nominalis- 
mus 234,  der  Psychologie 
256,  der  Anthropologie  292, 
Boehme's  297  =  math. 
Physik  310,  Beziehung  zur 
Theologie  316,  Spinozas 
330  f.,  Leibniz  332  f.,  „gesun- 
den Menschenverstands" 
346f.,  Woir8363  380,  spiri- 
tualistische  37 1 , = Erkennt- 
nisstheorie 375,  naturalisti- 
sche 394  f.,  soll  Moral  be- 
gründen 396,  Stellung 
Kant's  zur  M.  422 f.,  der 
Natur  429,  der  intellectuel- 
len  Anschauung  465  ff.,  des 
Irrationalen  484 ff. ,  des 
Materialismus  498,  Lotze's, 
Fechner  s  499. 

Methode,  Besinnung  auf 
299  ff.,  Problem  302  ff.,  com- 
positive  306,  mathematische 
311,  geometrische  313,  un- 
möglich 382,  Woirs  363, 
psycliologische  für  Kant  un- 
zulänglich 419,    transsceii- 


dentale  420 f.,  dialektiBche 
464ff.,  Hegers  481  ff. 

Methodologie  16. 

Mikrokosmus  289ff. 

Modus    320f.,    unendlicher 
323. 

Möglichkeit  bei  Ar.  108. 

Monade,  Bruno  8  293,  Leib- 
niz 334. 

Monismus,  stillschweigend 
vorausgesetzt  24,aaBge8pro- 
chen  26,  Parmenides  28, 
Stoa  142,  von  späterer  St. 
vernachlässigt  180 ,  des 
Geistes  185,  als  Zielpunkt 
189,  als  Ausgangspunkt  199, 
desThomismuB  256,  der  Re- 
naissance 290,  Fichte  469. 

Monotheismus  des  Xeno- 
phanes  26,  des  Geistes  bei 
Ar.  113,  Endform  der  Rcl. 
392. 

Moral,  cf.  Ethik. 

Moral  Sense  401  407. 

Mo ralphilosophie,  cf. 
Ethik. 

Motiv  der  Moral  394. 

Mystik  wurzelt  im  Neuplat. 
178,  die  Scholastik  ergän- 
zend 209,  psychologische 
Studien  240,  vertritt  Ver- 
standesprimat 260,  deutsche 
264  ff.  u.  Reformation  288, 
der  Zahl  294,  Boehme's  295, 
Spinoza's  323,  der  Trans- 
scendentalphilos.  458,Schel- 
Ung's  480  486. 

Mythos  bei  Plato  96  101, 
der  Gnostiker  188  192,  von 
Hume  verwendet  392. 

H  a  t  u  r ,  Uebereinstimmung 
mit  134,  ins  Geistige  ge- 
deutet 196 ,  verringerte 
Wichtigkeit  im  Christen - 
thum  20 1 ,  für  den  Menschen 
da  206,  Studium  d.N.  em- 
pfohlen 238,  genaturte  265, 
mathematische  Erkenntnis» 
307,  =  Gott  323,  mensch- 
liche 340,  ein  Kunstwerk 
385 f.,  bei  Kant  426 f.,  als 
zweckmässig  442,  N.  und 
Genie  444,  „werdendes  Ich** 
469,  Schelling469ff'.486. 

Naturale  setz,  geahnt  bei 
HeraKlit28,  durch  Astrono- 
mie 43,  bei  GaUlei  306,  Ber- 
keley 371,  besondere  446. 

Naturphilosophie  der  Re- 
naissance 290,  des  Telesius 
297,  Schelling  469,  Hegel 
483. 

Naturwissenschaft,  zweite 
Periode    der    Renaissance 


I- 


D- 

i 

Tl. 


1 


iH 


vi 


Kant  423ff.,  gegen  Philo- 
sophie 471,  augenblickliche 
Herrschaft  491,  u.  Geistes- 
wissenschaft 500  ü*. 

Naturzustand,  Ideal  der 
Kyniker  64,  Renaissance 
343,  Rousseau  414,  Kant 
440. 

Negation  bei  Fichte  465. 

Neuplatonismus  168  ff., 
läuft  in  Mystik  aus  209,  Re- 
naissance 2278 f.,  ßoehme's 
296,  Locke  polemisirt  gegen 
N.355,  Schelling's  idealisti- 
scher X.  480 

Neupyt  hagoreismuB 
166,  wie  zu  erklären  172, 
Renaissance  278  290. 

Nihilismus ,  Resultat  der 
Sophistik  69. 

Noetik,  cf.  Logik. 

Nominalismus  214fF.,  Ur- 
sprung 233,  Stellung  Abae- 
lard's  235,  erneut  248  250,  [ 
und  Mystik  255,  siegreich  : 
270,     idealistischer     271,  \ 
humanistisch.  284,  Locke, 
Berkeley  356. 

No  th  wen  digk  ei  t,  mechani- 
sche bei  Leukipp  41,  bei 
Plato  101,  logische  bei  Ar. 
104,  Stoa  142,  Epikur  145, 
zwei  Arten  315,  Gottes  allein 
335,  subiectivische  367,  des 
Uebels  387,  Gefühl  d.  455. 

Nous,  cf.  Vernunft. 


Objectivation  des  Willens  ' 
463. 

Occasionalismus  329f.         i 

Offenbarung,  höchste  Er- 
kenntnissquelle 172,  Philos. 
Umdeutung  174.  Jesus  als 
O.  göttlicher  Vernunft  175, 
Gegensatz  zur  Vem.  176, 
Plan  der  O.  204,  vermittelt 
Vemunftwahrheiten  222, 
übervemünftig254,  d.  Gott- 
heit bei  Mystik  265,  =  Ver- 
nunft 384  ff.,  ursprüngliche 
392,  nothwendig  fiir  Rel. 
393. 

Optimismus  198,  der  Re- 
naissance 290,  kosmologi- 
scher  385,  Leibniz'  388. 

Orient,  Beziehungen  des 
griech.  Denkens  zum  18  21, 
Versuche,  es  auf  O.  zurück- 
zufuhren 172,  Berührung 
mit  244. 

06a  i«  beiPlato  95,  Aristoteles 
108,  Plotin  193,  Origenes 
199,  cf.  Substanz. 

Windelband,  Geschichte  der 


*  U&  tAX 


theilt  249,  Averroes  268, 
Bruno  293. 

Pantheismus,  angelegt  bei 
Eleaten  28,  Straton  140, 
Stoa  141,  verbunden  mit 
Polytheismus  149,yermittelt 
mit  Theismus  185,  logischer 
229,  Averroes  249,  derAmal- 
ricaner  267 ,  Renaissance 
290,  nach  Descartes  320f., 
Toland  388. 

Hapoositt  bei  Plato  93. 

Patristikl67ff.  200flr. 

Perceptions  petites  334 
365. 

Peripatos  140 ff.,  Renais- 
sance 283  f. 

Persönlichkeit  wird  etlii- 
scher  Centralbegriff  131, 
steigt  an  Bedeutung  174, 
•fesu  175,  im  geistigen  Prin- 
cip  gefunden  183,  Gottes 
187,  Bedeutung  bei  Plotin 
196,  endliche  und  unend- 
liche 200,  Ausgang  für  Ge- 
Hchichtsphilosophie  201,  als 
Sünde  266,  Problem  268, 
Selbsterfahrung  der  272, 
Würde  d.  436,  cf.  Innerlich- 
keit. 

Pe  s  8  i  m  i  s  m  u  s  des  Erlösungs- 
bcdürfnisses  198,Swift's  406, 
Rousseau's  413,  Schopen- 
hauer's  488. 

Pflicht,  Stoa  135,  Kant434f., 
Wirklichkeit  als  Material 
für  467. 

Phänomenalität  =  Ideali- 
tät 425  f. 

Phantasie  bei  Stoa  163,  Aug. 
221,  Kant  428,  productive 
431,  ästhetische  443,  Fichte 
466. 

Philosophie,  Def  If.  15, 
als  Terminus  72,  Herrscher 
im  Staat  98,  Eintheilungbci 
Ar.  102,  Ausscheiden  der 
Special  Wissenschaften  122, 
skeptische  Zersetzung  173, 
Verhältniss  zum  Christen - 
thnm  174,  des  Mittelalters 
abhängig  von  antiker  209, 
Ausgleich  mit  Rel.  246,  = 
natürliche  Rel.  253,  welt- 
liche Wissenschaft  255  271, 
der  Renaissance  275 ff.,  = 
Naturwissenschaft  279, 
Lehre  von  Bewegung  der 
Körper  307,  Üniversal- 
mathematik  ib.,  der  Aufklä- 
rung 345  ff.,  =  Psychologie 
353,  von  Mathematik  ge- 
trennt 382,  deutsche  417  ff., 
als  Vemnnftsystem  464  ff., 

Philosophie. 


19.  Jahrhunderts  490  fi'. 

Phrenologie  496. 

Physik  15,  des  Ar.  116,  Peri- 
patos 140,  Galilei  306. 

Phvsicotheologie  d.  Stoa 
158. 

Pneuma,  Pneumatiker  174, 
V.  Seele  unterschieden  181,. 
'       mit  dem  Gottesbegriff  ver- 
bunden 186,  cf.  Gottheit. 
I  Poren  bei  Empedokles  39. 

Positivismus,    nicht     bei 
Protagoras  81,  Epikur's  161, 
Hume's  375,   Bayle,    Con- 
'       dillac  376,  Comtess  502. 
'  Praedestinatioä  224. 

Praeexistenz  der  Seele  96- 
196. 

Primat,  Verstand  oder  Wille 
259 ff.,  praktische  Vernunft 
437. 

Principium  individua- 
tionis266ff. 

Probabilismus  der  Aka- 
dem.  162. 

Probleme, ihre  Eintheilung 
15,  kosmologisches  20 ff., 
des  Seins  24 ff.,  des  Ge- 
schehens 36  ff.,  des  Er- 
kennens  44  ff.,  anthropo- 
logische 50 ff.,  der  Sittlich- 
keit 55  ff.,  der  Wissenschaft 
67  ff.,  der  Metaphysik  80  ff., 
der  Entwicklung  107  ff., 
Wiederauftreten  früherer 
122  ff.,  der  Freiheit  150  ff., 
der  Wahrheit  155  ff.,  reli- 
gicise  164  ff.,  der  Offen- 
barung 171  ff.,  Geist  und 
Materie  180ff.,  Gott  und 
Welt  185  ff.,  der  Welt- 
geschichte 20'0  ff.,  der  inne- 
ren Erfahrung  217,  der 
Universalien  227  ff.,  Ver- 
hältniss von  Leib  und  Seele 
238,  Natur  und  Gnade  251, 
des  psychologischen  Pri- 
mats 259,  der  Lidividualität 
266,  Unendlichen  und  End- 
lichen 273,  ältere  282  ff.; 
Makrokosmus  und  Mikro- 
kosmus ä89ff.,  Substanz  und 
Causalität  315  ff.,  Natur - 
recht  386  ff.,  theoretische 
der  Aufklärung  352  ff..  Er- 
kenntniss  der  Aussenwelt 
367 ff.,  der  natürlichen  Re- 
ligion883,  praktische  393  ff.,. 
Principien  der  Moral  895  ff., 
der  Cultur  408ff.,  der  Ver- 
nimftkritik  418  ff.,  des  Ge- 
genstandes der  Erkenntniss- 
422,  des  kate^rischen  Im- 
perativs 433  flf.,  der  Zweck- 

33 


6U 


Sach-Register. 


mässigkeit  440  JBT.,  Ding-an- 
sich  460  ff. ,  Vernunft  Systems 
464  £f.,  des  Irrationalen  484, 
Existenz  der  „Seele^  495 ff., 
Natur  und  Geschichte  600  £f. 

Ps  y  c  h  0 1 0  g  i  e  16,  anfangs  rein 
materialistisch  47,  wissen- 
schaftlich bearbeitet  52,  der 
Kyrenaiker  66,  des  Demo- 
krit  87,  Plato's  95,  Einfuh- 
rung des  Begriffs  der  Syn- 
•thesis  184,  Aug.  218  f.,  eif- 
riger Betrieb  239,  meta- 
physische 256,  empirische 
272  297,  sprengt  Sub- 
stanzenlehre 826,  steht  im 
Centrum  des  Interesses 
^52fif.,  physiologische  357, 
empirische  und  rationale 
^63,  Eintheilung  durch 
Tetens  403,  sensualistische 
P.  und  Ethik  405,  keine 
Wissenschaft  429,  rationale 
432  f.,  „mythologische"  454, 
Herbart's  458  l,  viel  be- 
arbeitet 492,  Loslösung  von 
Philosophie  495 f,  „ohne 
^eele"  499,  Socialps.  501., 
Associatiofisps,  angelegt 
242,  Hobbes'  326,  Aufklä- 
rung 346  f.,  Terminus  358, 
Hume  373,  englische  493, 
französische  495. 

Psychophysik  500. 

*4{ualität  =  Quantität  45, 
Motiv  für  Homöomerie  46, 
in  Quantität  aufgelöst  85, 
Beziehung  auf  Entelechie 
115,  als  Eigenschaft  d.  Dinge 
142,  Gott  abgesprochen  186, 
des  ürtheils  Kant  427,  pri- 
märe und  secuudäre  87  318, 
(tertiäre)  369,  Kant  425. 

Rationalismus,  theore- 
tischer bei  Demokrit  83,  der 
Aufklärung  354,  ethischer 
bei  Plato  83,  religiöser  391, 
cf.  Realismus. 

Haum,  leerer,  von  Parme- 
nides  geleugnet  29,  noth- 
wendig  für  Atomismus  32, 
dialektische  Widerlegung 
34,  real  bei  d.  Pythagoreem 
-35,  Grund  der  Leugnung  bei 
Emp.  und  Anax.  39,  bei 
Leukipp  eingeführt  39,  seine 
Schwierigkeiten  durch  Zeno 
dargestellt  43,  angenommen 
bei  Plato  100,  =  Materie 
194,  bestritten  bei  Descartes 
321,  Kraftproduct  333,  Kant 
Inaug.-Diss.  367,  Vemunft- 


kritik  424  ff.,  Herbart  460, 
Fichte  466. 

Reale  Herbart ^s  459. 

Realismus  214  ff.,  Scotus 
Erigena  228,  tendirt  zum 
Pantheismus  233,  gemäs- 
sigter 234,  bekämpft  durch 
Abaelard  235,  ausklingend 
bei  Spinoza  324,  naiver  353, 
Stellung  zur  Aussenwelt  368 
und  Kant  460  f. 

Realität  des  Bewusstseins 
Aug.  218,  Descartes  309, 
des  Ding-an-sich  436,  des 
höchsten  Guts  437,  gleich- 
giltig  für  Aesthetik  443,  der 
Aussenwelt  nicht  beweisbar 
372,  empirische  425. 

Recht,  Naturrecht  Stoa  139, 
auf  Gott  zurückgeführt  258, 
Renaissance  336  ff.,  Auf- 
klärung 409  f.,  Kant  439, 
Fichte  468,  Hegel  482. 

Receptivität  383. 

Reflexion  365. 

Relativität,  cf.  Skepsis, 
Wahrnehmung. 

Relativismus,  cf.  Ethik, 
Wahrnehmung,  Causalität. 

Religion,  Ausgangspunkt 
der  Ph.  5,  Stellung  der 
Sophisten  52,  Epikur^s  148, 
Stoa  165.  Verbindung  mit 
Philos.  164  ff.,  Kampf  der 
Rel.  202,  in  Gesinnung  be- 
stehend 338,  Stellung  zur 
natürlichen  390,  aus  Betrug 
entstanden  392,  Genesis  bei 
Hume  ib. ,  Kant  438  f., 
Schleiermacher  479,  Hegel 
482,  Schelling  487,  natür- 
liche 148  263,  Campanella 
293,  Problem  383  ff. 

Religionsphil  osophiel6, 
jüdische  167,  d.  Aufklärung 
384,  Kant's  438,  Hegel' s  482, 
Schellings  485,  Feuerbach's 
498,  cf.  Religion. 

Renaissance,  Vorblüthe 
238,  Philos.  d.  275  ff. 

Revolution,  Theorie  342, 
vorbereite  1 410,Stra%ericht 
Gottes  500. 

Romantiker  418. 

fi^anction,  der  Moral  394 
404  f. 

Sohluss,  cf.  Logik. 

Schönheit,  definirt  195,  des 
Universums  283  290,  Quelle 
der  Religion  285,  Burke  402, 
Sulzer  403,  Kant  441  ff., 
Schiller  472. 

Scholastik  209ff., Methode 
248,  identificirt  nicht  Rel. 


und  Philos.  254,  wird  ge- 
meinsamer AngriffspuiJct 
278  f.,  Nachblüthe  287. 

S  c  h  r  i  f t ,  heil.,  allegorisch 
ausgelegt  173. 

Seele  =  Bewegun^kraft  47, 
äHssert  sich  nur  im  Wissen 
47,  besteht  aus  Atomen  87, 
bei  Plato  nicht  schöpferisch 
92,  Seelenvermögen  96, 
Entelechie  des  Körpers  116, 
Stoa  147,  Epikur  ib.,  dem 
Fleisch  entgegenge8etztl80, 
bei  Plotin  193,  bei  Aug.  219, 
und  Körper  238  ff.,  bei 
Thomas,  Duns,  Occam  256, 
Wille  als  Grundkraft  261, 
göttlich  265,  individualisirt 
269,  Wechselwirkung  mit 
Körper  327,  Entstehung 
354,  Vermögen  355,  Analyse 
360,  immateriell  361,  Sub- 
stanz unerkennbar  370  374, 
Kant  432  f.,  Vermögen  kriti- 
sirt  453,  Herbart  459, 
„schöne''  473,  Streit  um  die 
S.  495  ff.,  cf.  Weltstoff,  Per- 
sönlichkeit, Ich. 

Sein  24  ff'.,  =  Körperlichkeit 
28,  Atom  32,  Raumerfüllnng 
28  86 146,  Zahl  34,  schliesst 
Werden  aus  39,  skeptische 
Behandlung  69,  Nichtseien- 
des  real  100,  reines  =  Gott 
113220,  unendliches=Gott 
320,  alsKateg.  Ar.  108,  Stoa 
166,  der  Wahrheit  220,  = 
Allgemeines  228,  =  Einzel- 
ding 234,  =  Erkenntniss 
266,  als  Art  des  Bewusst- 
seins 455ff.;  cf.  Wirklichkeit, 
Realität. 

Selbstbewu8stsein,cf.Be- 
wusstsein. 

Selbsterkenntniss,  Aug. 
217,=Welterkenntnis8  292, 
Descartes  309,  Locke  368. 

Sensation  355  f. 

Sensualismus  der  Sophi- 
stik  70,  der  Stoa  und  £pi- 
kiv's  159,  für  Orthodoxie 
verwendet  176,  Consequenz 
des  Nominalismus  234,  Cam- 
panella's  298,  Aufklärung 
346  ff.,  skeptischer  360,  und 
Ethik  405,  supranaturaler 
451. 

Sinn,  äusserer  u.  innerer  428. 

Sinneswahrnehmung, 
IJnzuverlässigkeit  bei  Hera- 
klit,  Parmenides  45,  Sub- 
jecüvität  70. 

Sinnlichkeit  bei  Leibniz 
365,  als  Vermögen  366,  bei 
Kant  426,  rehabüitirt  453. 


Skepsis,  Besultat  sophisti- 
scher Lehren  52,  wird  zur 
Schule  135  127,  ethische 
Consequenz  131,  Erkennt- 
nisstheoriel57,  Renaissance 
285  f.,  Agrippa'8296,  mathe- 
matische 312,  d.  Aufklärung 
360  ff.,  nicht  bei  Hume  375, 
deutscher  Popularphilos. 
376,  „Aenesidem**  453,  cf. 
Sein,  Zweifel. 

Sociologie  16. 

Solipsismus,  extremer 
Idealismus  372. 

Sophisten,  Aufkommen  51, 
gelangen    zur    Skepsis  52, 

'  beeinflusst  durch  Sokrates 
53,  u.  moderne  Aufklärung 
345. 

Spinozismus,  in  Deutsch- 
land 447  ff.,  poetischer  Goe- 
the's  470,  idealistischer 478, 
und  Fichte  480. 

Spiritualismus  496. 

Spontaneität  383,  Kant 
427. 

Sphärenharmonie,  ihr 
Ursprung  bei  den  Pytha- 
gorcern  34. 

Sprache  415  501. 

Staat,  centrale  Stellung  bei 
Plato  97,  bei  Ar.  118,  Stoa 
136,  Epikur  137,  Aug.  225, 
Thomas  259,  Dante  259, 
Occam  ib.,  modemer  336, 
sanctionirt  Moralität  405, 
801^  für  Wohlfahrt  409, 
möglichst  beschränkt  410, 
Kant  439,  Fichte  469  477, 
Hegel  483,  als  Vertrag  Epi- 
kur 137,  Benaissance  341, 
Hobbes  408,  Eousseau  409, 
Kant  439. 

Stoa  124  if. 

Stoif,  cf.  Materie. 

Substanz,  bei  Ar.  111, Stoa 
156,  nicht  auf  Gott  anwend- 
bar 220,  =  Gattungsbegriff 
228,  modificirt  232,  erste  u. 
zweite  236,  Anm.,  erste  = 
Ind.  270,  zwei  Substanzen 
320,  werden  als  Attribute 
gedacht  322,wird  Krafb332f, 
kritisirt  b.  Locke  369,  Hume 
373,  in  welchem  Sinn  neffirt 
durch  Fichte  467,  und  Ab- 
solutes 478,  Hegel  481,  cf. 
Materie. 

Subsumtion,  bei  Ar.  105. 

S  ü  n  d  e  =  Irrthum  61,  =  Ma- 
terie 181  195,  Abkehr  von 
Gott  199,  durch  Gott  gesetzt 
199,  benöthigt  physisches 
üebel  387,  als  radical  Böses 


400,  X  icnie  4 « 4 ,  ui.  X  nuu- 
dicee 

Sündenfall  182  296,  Kant 
440,  Schelling  485. 

Syllogistik,  bei  Carte- 
sianem  313,  cf.  Logik. 

Symbolik,  Auslegung  der 
Schrift  173,  Zahlens.  232. 

Sympathie,  bei  Hume  407, 
Schopenhauer  488. 

Syntheresis,  cf.  Gewissen. 

Synthesis  =:  Geist  183,  bei 
Descartes  308,  Leibniz  333, 
wird  Centralbegriff  bei  Kant 
423,  praktische  433  f.,  zwi- 
schen theor.  und  prakt. 
Philos.  441 ,  productivo 
465. 

T  c  1  e  o  1  o  g  i  e,  bei  Anaxagoras 
32,  bei  Sokrates  75,  Plato 
99,  durchgeführt  bei  Ar. 
109,  kleinlich  in  der  Stoa 
143,  geleugnet  v(m  Epikur 
ib.,  histerische205,  Aug.221, 
Kampf  gegen  317,  Shaftes- 
bury  385,  Aufklärung  386, 
Kant's  433  f.  441  ff.,  Jaule" 
445. 

Terminismus  248  270, 
siegreich  353,  Ausklingen 
368,  cf.  Nominalismus. 

Theodicee,  der  Stoa  154, 
Plotin's  194,  Origenes  198, 
Aug.  221,  Leibniz  335  387  f. 
und  Bayle  389,  cf.  Teleo- 
logie. 

Theologie  und  Realismus 
229,  als  praktisch  eDisciplin 
263,  „deutsch"  288,  negative 
186,  gestreift  220,  Mystik 
265,  Bruno's  291,  Spinoza's 
323. 

Traditionalismus  492500. 

Transscendcntal,  Logik 
427  f.,  Schein  431  f. 

Trausscendenz  Gottesl85 
190,  vermittelt  zur  Imma- 
nenz 1 92,  in  der  Renaissance 
290. 

Trinität,  bei  Aug.  221,  Rea- 
lismus 233,  Mystiker  265. 

Tropen,  der  Skepis  157. 

Tugend,  inadäquater  Aus- 
druck lür  apsrrj  59,  Verbin- 
dung zur  Glückseligkeit  62, 
Unabhängigkeit  vom  Ge- 
schehen 64,  =  Genussfahig- 
keit  65,  erste  Eintheilung 
bei  Plato  96,  bei  Ar.  118, 
«B  Wissen  129,  des  Skep- 
tikers 131,  entsteht  durch 
Xo-fo;  178,  bei  Plotin  196, 
und  Glückseligkeit  437,  cf. 
Ethik. 


«jneuaiiciiKeii^,  von^iJiaxi- 
mander  postulirt  25  37. 

Unsterblichkeit,  proble- 
matisch bei  Sokrates  60,  ge- 
lehrt bei  Plato  96,  Stoa  147, 
als  eingeborener  B.  160, 
Streit  über  U.  283,  Bonnet 
361,  Streit  über  497. 

U  r  t  h  ei  1 ,  Stoa  1 63,  als  psychi- 
sche Grundkraft  220,  bei 
Empfindung  betheiligt  242, 
bei  Descartes  311,  syntheti- 
sches apriori  420  n.,  logi- 
sches 427,  cf  Logik. 

Urtheilskraft,  Ramu8  285, 
Kant  420  441  ff. 

Utilitarismus  bei  den  So- 
phisten 57,  bei  Sokrates  69, 
Cirkelbeweis  60,  Stoa  143, 
angewendet  auf  den  Staat 
137,  Bacon's  305,  deutsche 
Aufklärung  386  399,  als 
System  395  f.,  Formel  404, 
auf  Staat  angewendet  411. 

Utopie  339f. 

Vergottung  der  Neuplat. 
179  197,  Mystiker  241  266. 

Vernunft  als  Denkstoff 
(Nous)  32,  als  Beginn  der 
Bewegung  40,  Princip  des 
Eudämonismus  62,  Seelen- 
theil  bei  Plato  96,  =  Gott 
99  Zweitheilung  bei  Ar. 
117,  bei  Theophrast  140,  u. 
Autorität  174,  beginnender 
Gegensatz  176,  als  höheres 
Vermögen  219,  Gattung- V. 
268,  V.-Erkcnntniss  evident 
310,  =Chri8t«nthum385f., 
Identität  der  prakt.  V.  397, 
theoretische  V.  bei  Kant 
423  f.,  Jacobi  451,  Fichte 
465f.,V.-Instinct476,  ästhe- 
tische Schelling's  477,  logi- 
sche Hegers  483,  cf  Logos. 

Vernunftkritik  418ff. 

Ve  r  s  t  a  n  d ,  psychologischer 
Primat  259  ff.,  bei  Leibniz 
365,  Kant  426  f. 

Vielheit,  geleugnet  von  Par- 
menides  29  45,  Grund  zur 
Annahme  der  Atome  30. 

Virtualismus  widerlegt 
Solipsismus  462. 

Vorstellung  220,  Entwick- 
lung 242,  verworrene  u. 
klare  261,  an  Stelle  des 
Dinges  271 ,  unbewusste  335 
365. 

IVahrheit,  zweifache  253, 
bei  Bayle  389,  ursprüng- 
liche 362,  ewige  366.