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Geſchichte
»LRKReligi⸗u.
Von
Dr. Johannes Scherr.
Sechs Buͤcher in einem Band.
Leipzig
Berlag von Otto Wigand.
187.
Kdıget
2 3du ‚1930
LIBRAUN
Luc 4. V
Dorwort.
Die erfte Abtheilung dieſes Werfed (Buch 1— 2) ift im Jahre
1855, die zweite (Buch 3— A) vor Jahresfriſt erfchienen. Indem ich
jet die dritte und legte (Buch 5 — 6) der Deffentlichfeit übergebe und
fomit die ganze Arbeit zum Abſchluß bringe, betone ich noch einmal
fehon vor zwei Jahren Geſagtes, nämlich, daß ich meine Aufgabe nicht
als Theolog, fondern als Eulturhiftorifer ind Auge faßte und zu loͤſen
verfuchte. Es ift Damit angedeutet, daß ich ohne irgend eine vorgefaßte
Meinung, ohne irgend einen Vorbehalt an meinen Gegenſtand herans |
getreten bin und ihn mit dem ganzen Gleichmuth einer parteilofen Unter⸗
fuhung behandelt habe. Der Eulturhiftorifer hat nicht für diefe oder
jene Religion als die „alleinſeligmachende“ zu plaidiren, fondern feis
nes Amtes iſt es, die verfchiedenen ‚Entfaltungdformen der religiöfen
— WI 0 —
Idee in ihrem Werden, Wahlen, Vergehen aufzuzeigen, die religiondge-
chichtlichen Acten zu fammeln und zu ordnen, darauf fein Referat zu
bafiren und ald Refultat defjelben die Wirfungen des religiöfen Gedan-
kens auf Bildungsgang und Sitte der Völfer nachzumeifen.
Ohne unbefcheiden zu fein, glaube ich jagen zu dürfen, daß das
vorliegende Buch der erfte Verſuch ift, von dieſem zugleich freien und
gewiſſenhaften culturgefchichtlichen Standpunfte aus eine Univerfalhiftos
tie der Religion zu fehreiben. Daß mein Unternehmen nicht ein durdh-
weg gelungenes fei, habe ich am Schluß meiner Arbeit unbebenflic, zu-
geftanden (III, A38), daß es feiner Natur nad) nicht ein durchweg
gelungenes fein könne, "mögen Solche bejireiten, die mit dem Hochmuth
eincs Spezialitätswiſſens die ganze Unbilligfeit des gelehrten Zunftzwangs
verbinden. Mit Gegnern diefer Art ſich verftändigen zu wollen, wäre
eitle Mühe; ebenfo, mit folcyen, denen der furor theologicus auch bei
Beurtheilung hiftorifcher Schriften der einzige paffende Maßſtab fcheint.
Sc habe bei Durchführung meines Werks von vorneherein darauf ver⸗
zichtet, den Beifall diefer oder jener dogmatiſchen, confellionellen oder
ſchulphiloſophiſchen Partei zu gewinnen.
Daher war ich auf das Gezeter der Fanatiker des Glaubens, wie
auf das Kopfſchütteln der Fanatiker des Unglaubens gefaßt und fuͤhrte
meine Arbeit zu Ende, ohne nach rechts oder links zu blicken und mich
Einfluͤſſen von dieſer oder jener Seite her zu unterwerfen. Jedoch
leugne ich nicht, daß ich mir nicht im Geringſten angelegen ſein ließ, bei
Gelegenheit den Widerwillen und die Verachtung, zu verichleiern, welche
mir bornirte ‘oder geheuchelte Ziondwächterei fowie aufgeblafene Krafts
ftoffelei gleichermaßen einflößen. Was Iegtere indbefondere angeht, fo
111
7
kann id) auch hier mein anbermärtd geaͤußertes Befremden nicht bergen,
daß die Apoſtel bes materigliſfiſchen Evangeliums in ihrer Einjeitigfelt
nicht merfen, mie fie zu Gunſten ber nieberträchtigften Stodiohberei
Hanblangerdienfte verrichten,
Gerade die Geſchichte der Religion ift, denke ich, wie für bie Zeloten
des Glaubens fo auch für die des Unglaubens vol eindringlichfter Leh⸗
ren und Warnungen. Aber freilich, die Gefchichte ift Leider noch jetzt,
was fie von jeher geweſen, — eine Kaſſandra.
Da ich mid) über Plan und Methode meiner Arbeit in der „Ein⸗
leitung‘’ zum 1. Buch hinlänglic ausgefprochen habe, erübrigt mir an
biefem Orte nur noch die kurze Bemerfung, daß ich in der Behandlung
bes Chriſtenthums von ber gang und gäben Firchenhiftorifchen Weiſe
abgegangen bin, indem ich die große Materie in ihre einzelnen Gebiete
zerlegte und jedes berfelben biß zur Gegenwart herab durchmaß. Da
muß ich nun allerdings dem Leſer zumuthen, mir mit Ausdauer zu
folgen, glaube ihm aber in dieſem alle einen Flaren Einblid
in den Entwidlungsgang der chriftlichen Religion verfprechen zu
dürfen.
In Organen der Kritik, welche zu den einflußreichften in Deutfch-
land gehören, haben die vier erften Bücher meines Werkes einfichtige
und wohlmollende Beurtheilungen erfahren, und aud) fonft ift mir von
verfchiedenen Seiten her Danf und Aufmunterung zu Theil geworben.
Ich that alfo recht, wenn id) beim Beginn meiner Arbeit des Glaubend
lebte, daß es noch Menfchen gebe, welche nicht in der Vergottung von
Koth und Gold die höchfte Weisheit, die einzigwahre Religion erbliden,
fondern der Ueberzeugung anhängen, daß der Geift, nicht die Mechanik,
die Zufunft bauen müfje und werde. Solchen Mitgliedern der „unbe⸗
=—— WW
fannten Gemeinde“ mag aud) mein Bud) in feiner jegt abgefchloffenen
Geſtalt nicht unwillkommen fein. — Allen im Baterlande, welche ſtre⸗
ben, hoffen und ſich mitten in den Miasmen der Schwindelpeſt die Seele
geſund erhalten haben, meinen Gruß!
Winterthur, am 18. April 1857.
Johannes Scherr.
Inhaltsverzeihniß.
Erster Theil,
Seite.
1. Buch: Die Religion als roher Naturalismus. Ueber:
gangsftufe zur religiöfen Syflematif . . . 1
Erſtes Kapitel: Die Einleitung 3
Zweites Kapitel: Religiöfee Borftellen, Glauben und Thun der Naturs
völfer . . . . . . . 16
Drittes Kapitel: Die Ateten i in Merito . . . . 0.8
Biertes Kapitel: Die Inkas in Peru . . . 74
1. Bud: Die Religion ale Syftlem. Die DR- Afiaten . . 9
Erftes Kapitel: Die Arier; 1) Inder . . . 98
Zweites Kapitel: Die Arier; 2) Perſer (Balırer, Iranier) . 186
Drittes Kapitel: Die Ehinefen und Japaner . . . . . 194
Viertes Kapitel: Der Buddhismus . . . . . . 222
Zweiter Theil,
IN. Sud: 1) Die Aegypter. 2) Die Wef:Afiaten (die Völfers
fämme von Babylon, Syrien und Kleinafien).
3) Die pelasgifhen Bölfer Griechen und Ramen). 1
Erſtes Kapitel: Die Aegypter. 3
Zweites Kapitel: Die Aegypter (Schluß) . . . . 33
Drittes Kapitel: Die Babylonier, Syrier und Klein-Afaten 2.686
Viertes Kapitel: Das Hebräerthum . . . . . ..%
Künftes Kapitel: Die Hellenen oder Gelechen . 4146
. Scehftes Kapitel: Die Römer . . . . . . 201
IV. Bud: 1) Die Kelten. mas Slaven cn Binnen. 3) Die
®ermanen . .
Erftes Kapitel: Die Kelten
Zweites Kapitel: Die Slaven und Finnen.
Drittes Kapitel: Die Germanen
Fritter Theil.
V. Buch: Das Chriſtenthum
Erſtes Kapitel: Eine untergehende Welt
Zweites Kapitel: Eine untergehende Welt (Schluß)
Drittes Kapitel: Blid auf die Philofophie des alterthume
Viertes Kapitel: Das Leben Jeſun. .
Fünftes Kapitel: Die Lehre Jeſu Ehrifti . .
Sechſtes Kapitel: Entwidlung ber Seinlihen seine in den — Con⸗
feſſionen und Sekten
Siebentes Kapitel. Der Cultus
Achtes Kapitel: Die Kirche; ihr Kampf, ihr Triumph, ine Verfaſſung,
ihre Spaltung:
Neuntes Kapitel: Das fittiche und ſoziale geben ber Voller i im Ship
thbum . . . . .
Zehntes Kapitel: Die Wiſſenſchaft
Elftes Kapitel: Die Kunfl .
‚LU Anhang zum fünften Buch: Das Juden chum ü in der Seite Be
VI. Bud: Der Jolam
Erſtes Kapitel: Arabien .
Zweites Kapitel: Mohammed und ber Koran . . . .
Drittes Kapitel: Das moslemifhe Dogma . . . . .
Viertes Kapitel: Der moslemifche Gottesdienft . .
Fünftes Kapitel: Die moslemifche Sitten - und Mechtslehre
Sechſtes Kapitel: Zur Geſchichte des Islam . .
‚Seite.
223
225
255
289
136
161
226
283
322.
353
359
361
370
386
398
44
418
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Oruckfehlerverzeichniß.
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SEE HB ES BO COS OO
— „macht““ lies „wacht.“
— „B. Numeri“ l. B. Exodus.“
o. — „Klernä“l. „Kleonä.“
18 v. u.
— „den Waldgeiſt, den Waſſermann“ l. „der W.,
der W.“
— „Tornaldar““ J. „Fornaldar.“
— „Gdallarhorn“ l. „GBiallarhorn.“
— „alte“ T. „alle.“
— „ESchlüſſel“ l. „Schuͤſſel.“
— „Dolchdrungene“ I. „Rolchdurchdrungene.“
Theil IM.
. nach „Propheten““ tilge das Komma.
. nach „Israeliten“ Tepe ein Komma.
— „Secte“ L. „Seite.“
. nach „Familienleben““ tilge das Komma.
nad „Mittelſtand“ feße ein Koınma.
. ftatt , Statt findet‘. „ſtattfindet.“
. — „Peiris“ l. „Petri.“
. — „feine l. „kleinhicher.“
.nach „Geſetz“ tilge das Komma.“
. ſtatt „Mogonamie““l. Monogamie.“
. — „Beharden“ J. „Lollarden.“
Eeite 125 Zeile 11 v.
— 173
— 211
— 211
— 2185
— 239
— 243
— 262
— 298
— 309
— 311
— 316
— 332
— 343
— 351
— 384
— 429
— 430
— 431
17».
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2.0.
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15 v.
39.
135 v.
8v.
— Vlll
.iſt das Komma ſtatt nach tem Worte „nicht“ vor daſſelbe
zu ſetzen.
. Ratt ,, Namen‘ l. „Perſonen.“
. — „Innocenz IV. T. „Innocenz I.“
— „Peter von Eaftelnau‘ ‘I. ‚Arnoldvon Citeaux.“
. nach „Kirchengemeinſchaft““ tilge das Fürwort „ſiſch.“
.ſtatt „Afſſiſſi““ 1. „Aſſiſi.“
. — „heiligen Legende‘ I. „Heiligenlegende.“
. — „1360 1. 1260.“
‚nach „Literatur““ tilge das Wort „ſonſt.“
.ſtatt „die l. „dieſe“ (Weltanſchauung).
. — „natürlichſten“ l. natürlichen.“
.nach „dem chriſtlichen Gott“ ergaͤnze: „iſt nur der Unter:
ſchied zwiſchen dem heidniſchen und dem chriſtlichen
Menſchen oder Volke.“
. nah „Michelangelo“ tilge das Komma.
. ftatt „die Schilderung““ l. die ſe Sch.”
. — „lieu“ l. „lien.“
nach „der ihrigen“ ſetze ein Komma.
. flatt „gewiſſermaßen“ I. „gleichermaßen.“
— „Avigenna“ I. „Avizenna.“
u. — „Serne“ l. „Sterne.“
— —— — — —
Schere’s
Geſchichte der Neligion.
Ardua res est, vetuslis novitatem dare, novis auctoritaiem,
obsoletis nitorem, obscuris lucem, fastiditis gratiam, dubiis fidem,
omnibus vero naluram et nalurae suae omnia. Itaque eliam non
asseculis, voluisse abunde palchrum et magnificum est.
Plinius,
Fünftes Bud.
Das Götiftentgum. |
Erſtes Kapitel.
Eine untergehende Welt.
1.
Wie einem Wanderer, der, von Hoͤhe zu Höhe klimmend, da in
blühende Thäler oder fruchtreifende Ebenen, dort in weite Waldwildniſſe hin⸗
ein, hierhin auf prächtige Seeipiegel oder erhabene Gletfcherbildungen, dort-
hin auf chaotifhe Felswüſten hinab geblickt Hat und endlich, auf einem
hödjften Alpenfirn angelangt, rundum eine ganze Welt zu frinen Füßen aufs
gerollt fieht, — fo wird dem Eulturbiftorifer zu Muthe, wenn er, die Er⸗
ſcheinungsformen der religiöfen Idee in vorchriftlicher Zeit binter ſich, zur
Betrachtung des Chriſtenthums vorfchreitet. Vorher hatte er ed mit Localem
und Nationalem zu thun, jegt befcäftigt ihn Menſchheitliches. Vorher
hatte er den einzelnen Quellen nachzugehen, welche die ungeheure Arbeit jo
vieler Völker und zahllofer Generationen am religiöfen Gedanken aufge-
graben; jetzt ſteht er an einem weltgeſchichtlichen Strome, der feine Fluthen
durch Jahrhunderte dahergewälzt Hat und durch Jahrhunderte dahinwälzen
wird. Denn — wir haben e8 ſicher am Schluffe des vierten Buches gefagt —
des Chriftenthums welthiftorifche Bedeutung ift die, daß es alle früheren
Offenbarungen der religiöfen Idee zur Einheit einer Weltreligion zufammen«
faßte.
Die Betrachtung der vorchriſtlichen Religionsſyſteme, zumal des hebräi⸗
ſchen und des griechifch=römifchen, Hat in ihren Ausgangepunkten uns
gezeigt, daß ein großer Umjchwung des geiftigen Lebens ter Völker ſich
borbereitete 1). Wie diefer Umſchwung, von der Religion ausgehend und
1) Bol. Theil II, ©. 144, 200, 220, 346.
‚ 1 E}
A
allmälig alle Gebiete des Lebens ergreifend, wirklich eingetreten, wie das
Chriſtenthum geworden und gewachſen, wie es fich ausgebreitet und wie es
gewirkt bis auf Die Gegenwart herab, was fein Wefen fet und in welden
Geftaltungen dafjelbe während des Verluftes von Jahrhunderten aufgetreten,
— dies Alles Darzuftellen, wird die Aufgabe des vorliegenden Buches un⸗
ſeres Werkes ſein.
WBecevor jedoch an die Löſung derſelben gegangen werden kann, verlangt
die hiſtoriſche Treue und bie Durchſichtigkeit der Darſtellung einen prüfen⸗
den Blick auf den Boden, aus welchem das Chriſtenthum emporgekeimt und
jo mächtig herangewachſen iſt. Demnach haben wir zusörderſt die jüdiſche
und heidniſche Welt zur Zeit ihres Verfalls ins Auge zu faſſen.
Denn nicht allein aus dem ideellen Gehalt des Chriſtenthums laßt fich
die von ihm errungene weltgeſchichtliche Bedeutung erklären, ſondern viele
mehr iſt zum klaren Verſtaͤndniß derſelben auch die Einſicht in. die Zeitver⸗
haltniſſe erforderlich, welche fein Auftreten fo ſehr beguͤnſtigten. Auch das
ganz verſchiedene Verhalten des Hebraismus zum Chriſtenthum einerfeitß,
des Heidenthums andererſeits, beruht auf der Verſchiedenheit der damals
gegebenen Zufſtaͤnde, zumal der religiöſen. Dieſes und weiterhin die merk⸗
würdige Thatſache, daß das Chriſtenthum die heidniſche Welt erneute, waͤh⸗
rend die jüdiſche Nation ihrem Untergange nur um ſo ſchneller entgegen⸗
ging, beſtimmt uns, die religiöſen, ſocialen, politiſchen und literariſchen
Verhaͤltniſſe des römiſchen Reiches von denen der Hebräer geſondert zu bes:
trachten.
Wir heben mit den legten an, weil das Chriſtenthum, unmittefßar:
aus dem Mofatsmus hervorgegangen und in deſſen Entwicklungsgang vom.
bereitet, als die menſchheitliche Frucht deſſelben anzufehen ift.
2.
Bur Zeit: Jeſu Chrifit mar die hebraͤiſche Surache, worin die Schriften
des NM: T. verfaßt. find, der Maffe des jüdifchen Volfes fremd geworben; es
herrſchte der aramätiche Dialekt, in welchen. auch Jeſus ferne Lehren: vor.
trug. Das Althebraͤiſche mar nur. noch den Rabbinen und Höher Gebil⸗—
deten in Palaͤſtina verſtändlich, weßhalb die Schriftgelehrten als eine eigene,
von den Prieſtern verſchiedene Klaſſe überall' im neuer Teſtamente genannt
+
werden. Obwohl nun die Sprache der Propheten zu den todten Sprachen
gehörte, waren ihre Weiflagungen auf eine neue Theokratie und deren Haupt,
einen ruhmvollen König aus Davids Geſchlecht, den man nad Pſalm 2,2
und 45, 8 Meſſias, „den Geſalbten Gottes “nannte, in lebendigem
Andenken geblieben 1).
Ja, eben diefer dad Verſtändniß der Propheten erfchwerende Uns
fand Hatte zur Folge, daß die Juden, feufzend unter dem harten Jod) der
Römer und durch die Leiden der Gegenwart noch mehr zur Sehnſucht nad
dem verheißenen Retter entflammt, viele Stellen des A. X. ald meſſianiſche
Weiffagungen auffaßten, ohne ſich über deren "eigentlichen, dieſem Gegen-
ſtande ganz fremden, aus dem Zufammenhang völlig anders zu erklärenden
Sinn irgend welche Rechenichaft zu geben. Aus den gleichen Grunde zogen
fie die fpecieller Tautenden Ausſprüche der Propheten den allgemeiner ge⸗
haltenen vor, fo taß z.B. allgemein erwartet wurde, der Meſſias müfle nad
Micha 5, 1. 3. in Bethlehen geboren werden, und ebenfo gerne vergaßen
fie der Hindeutung auf eine geiftige Wiedergeburt des Volkes, welche nad
Jeremia (31, 31 fg.) mit der Zeit des Heils eintreten follte,
Wie ſich ſchon der Väter Hoffnungen auf dad Kommen eined vollfom-
menen, der Sünde und des Elends baaren Gottedreiches an das David'ſche
Königsgeſchlecht geknüpft hatten 2) zunächſt als Sehnſucht nach der Wieder⸗
kehr einer ruhmvollen Vergangenheit: fo konnten auch die Zeitgenoſſen Jeſu
ſich den verheißenen Retter nur in Geſtalt eines mächtigen Königs aus
Davids Geſchlecht vorſtellen, eines Königs, welcher dad Joch der Römer zer⸗
brechen, Iörasl über alle Völker des Erdkreiſes erheben und.diefe zum Glau-
ben an den Einen lebendigen Gott befehren würde). Auch ale Sohn
Gottes, der vom Himmel herabfomme, außgeftattet mit übermenjchlichen
Kräften, ward der Meſſias zum Voraus betrachtet 4). Man glaubte ferner,
Elias oder ſonſt einer der alten Propheten, werde ald Vorläufer des Meſſias
vom Himmel wiederkommen und allem Volk erſcheinen 8).
—
1) Dgl. dazu noch Daniel 9, 28.
- 2) Sefaia 11, 4 u. 2; vgl. Matth. 20, 31. 21, 9. 22, 4148.
3) Jefaia 2, 24; vgl. Mat. 10, B5—45. 11, 10. Apoſtelgeſch. 1, 6.
Job. 6, 18.
4) Dankl 7, 13 u, 44. Palm 8, 7; vgl. Matih. 16, 1, Ich. 8, 18.
Matth. 14, 33.
5) Matth. 16, 44. 17, 40-43; vgl. Maleathi 3, 4. 2, 3 (odet &, 8).
f
Vorwiegend weltlich Hatte ſich alfo die Mefflashoffnung bet der großen
Mehrzahl der Zeitgenoffen Jeſu geftaltet. Nur die Erleren im Volfe Hatten
die geiflige Seite ber theofratifchen Wieterherftellung über der weltlichen
nicht außer Acht gelaffen ; fo weit aber die Weltgefchichte zurücreicht, bildeten
die Epleren immer und überall die Minderheit. Die vorwiegend weltliche
Auffaffung der mefftanifchen Stellen läßt fih Übrigens aus dem flttlich«
religiöien Zuflande der Juden und Samariter leicht erflären. Zwiſchen den
Legteren, einem Miſchlingsvolke aus Heiden und von Salmanaffar einft zu=
rücgelaffenen Israeliten 6) und den Juden war feit dem Teupelbau Seruba=
bels der gegenfeitige fanatifche Haß immer höher geftiegen und ward fort«
während genährt durch ben Streit darüber, in weldem Tempel man Gott
allein anbeten könne, ob im jüdifchen auf Zion, oder im ſamaritaniſchen
auf dem Berge Garizim. Auch nad der Zerftörung des famaritanifchen
Tempels durch Johannes Hyrfanus blieb Garizim der Sig des famaritifchen
Eultus und der Streit mit den Juden unausgefodhten”). Im Uebrigen
waren auch die Samariter von Meſſtashoffnungen erfüllt ®), zeigten fich
aber empfänglicher für deren geiftige Auffaffuug, ſchon weil ihr fana=
tifcher Nationalftolz nicht alles Maaß überfchritt, wie derjenige der Juden.
Als Richtſchnur ihres Glaubens und Lebens anerkannten die Samaritaner
einzig und allein die 5 Bücher Mofld, und verwarfen neben den übrigen
Büchern des erſt gegen Iefu Zeit hin abgefchloflenen altteftamentlichen Ka=
none auch die mündliche Ueberlieferung (Tradition). Betreffend die Aus—
brüche des Hafled in gegenfeitigen Beichimpfungen und thärlichen Beleidi-
gungen, gaben Juden und Samaritaner einander Nichts nach 9).
Auf Religioſität und Sitte des jüdifchen Volkes Hatte zumal der
Phariſäismus höchſt nachtheilig eingewirkt. Die Phariſäerſekte näm—
lich, deren Urſprung hiſtoriſch nicht genau nachgewieſen werden kann, die
aber zur Zeit Jeſu dogmatiſch in mehrern Schulen zerfiel 10), wußte ſich
durch den Schein aͤngſtlich genauer Geſetzeserfüllung und durch allerlei dema—
— — — ⸗ñht—
6) 2 Könige 18, 9-42. |
7) Joh. 4, 5-26 Joſephus, Antiquitt. 18, 4. 1. Züd. Krieg 3, 7. 32.
8) Joh. 4, 28.
9) Joſephus Antiquitt. 12, 4. 4. 18, 2.2. Luk. 9, 83. Rath. 10,8.
Joh. 8, 48.
10) Die Schulen des Hille! und Shammai waren am Bee.
. - „ 36, - . ⁊ 3 .
ı . —xXX * 7*7 J Fun : 4 N
[2 . ° “
7
gogiihe Künfte bei dem. Volke fo einzufchmeicheln, daß fie einen entfcheiden-
den fowohl moralifchen als politifchen Einfluß gewann und durch ganz Judaͤa
und Galiläd ſich audzubreiten vermochte. Nicht in ihrer Glaubendlehre von
guten und böfen Geiftern, noch von der Unflerblichfeit der menschlichen
Seele11) und von der fittlihen Willendfreiheit unter Mitwirkung des
Schickſals lag das Verderblihe ihrer Richtung, wohl aber in ihrem Fefthalten
‚an der Tradition und in der Lehre vom Verdienſt guter Werfe vor Gott.
Dadurch gemöhnten fie dad Volk, mehr Werth zu legen auf Aeußerlichfeiten,
als auf die innere Weihe religiöfen Sinnes, eine hohe Meinung zu faffen
von feiner Gerechtigkeit fowoHl den Heiden, als auch den übrigen Klaffen
des eignen Volkes, zumal Sadduzäern, Zöllnern und Verbrechern gegenüber,
gegen die im Lande wohnenden Römer als Unreine eine wabrhaft verlegende
BZurüdhaltung zu beobadıten, fo Laß der Umgang mit ihnen möglichft ver«
mieden wurde. Sie fihürten den Nömerhaß, wo ſie fonnten, flößten der
Menge den Kleinigkeitögeift ein, welcher Kümmel und Raute an den Tempel
verzehntete, vor dem Genuß eines Stückleins Brod die Hände wufh, am
Sabbath beim Spazierengehen feine Schritte zählte, um ja nicht mehr als
2000 Ellen Weges zu durchwandeln, und mit Alledem den Geiſt der Heuchelet,
welcher an den’ Eden der Gaſſen betete und vor ſich ber pofaunen ließ, damit
männiglid die frommen Herren Almofen austheilen fehe.. Was Wunder
nun, daß ein Volk, vom Kleinigkeitägeifte beſeſſen, für das wahrhaft
Große feinen Sinn mehr bat; durch Heucelfinn entwürbdigt, eine Beute
demagogiſcher Heudjler wird, von blindem Gerechtigkeitsdünkel aufgeblafen,
die Stimme der Wahrheit nicht mehr hört, von leidenfchaftlibem National
ſtolz hingeriſſen, Eopfüber ind Verderben rennt? Ein Beweis, wie wenig
ächte Neligiofttät mehr im Volke war, tft der Viehmarft fammt dem
MWechölergeihäft im Vorhof des Tempeld und die willige Annahme der
pharifäifchen Sagung, daß man hülflofe Eltern nicht mehr zu unterflüßen
brauche, wenn das, was ihnen zu gute Fäme, dem Tempel vergabt würde 12),
41) Joſephus, Jüd. Krieg 2, 8. 14, u.3, 8. 8 fagt ausdruͤcklich: „nad ihrer
Lehre verweilen die Seelen der abgefejiedenen Guten im Himmel, bis fie nach Ablauf
der Zeiten von da in andere, nun heilige Leiber zurückkehren, "während die Seelen der
Böfen zur Strafe in die Unterwelt verbannt werden." Nach Luk. 20, 27—40 fcheint
aber doch bisweilen eine etwas Fraflere Auffaſſung der Auferfehung unter ihnen ges
waltet zu haben.
12) Matth. 15, 5. Joh. 2, 14—16.
8
Natürlich wollten auch die Phartfäer, nach Art aller Heuchler, nicht umfonft
heucheln, fondern benugten ihr Anfehen, um unter der Hand ihren perſoͤn⸗
lichen Vortheil zu verfolgen 13). Von den Zeiten der hadmonälfhen Dyna-
ſtie her eine mächtige politifche Partei, behaupteten fi noch zu Jeſu Zeiten
dis Mehrheit im Hohen Rathe der Juden, und zeigten fi) ald Rathsglieder
aͤußerſt eifrig in Vollziehung des mofaifch.en Geſeßes gegen arme Sünder
nad feiner ganzen Strenge 14). „Nicht zufrieden mit der dem Uebertreter
auferlegten Strafe, gaben fle allem Volk das Beifpiel, dergleichen Unglüd-
liche zeitlebens von jeglihem Umgang auszufchließen, wodurd der Geift ber
Humanität unter der Menge ausgelöfcht wurde 15).
Weit weniger Einfluß auf Moral und Sitte der Maflen hatte die
Sekte der Sadduzäer, welche Dagegen bei den Vornehmen, als Gegner
der pfeudodemofratiihen Pharifäer, in defto höherem Anſehen fanden. Alle
Tradition flreng verwerfend, einzig an das gefchriebene Befeg, die Thora,
fich haltend, Ichrten fie da8 Erfterben der Seele fammt dem Leibe, glaubten
auch weder Engel noch Dämonen 16), Ohne Ausfiht auf Lohn oder
Strafg nach diefem Leben, wollten fie die Tugend um ihrer ſelbſt willen ge=
übt wiſſen, hielten mehr auf bie innerliche Geſinnung, als auf das Aeußere,
erfchienen in ihrem Wandel und Urtheil ftreng, oft bis zur Härte, ohne jes
doch dad weitichweifige Geremoniell der Phariſäer im Mindeften zu beob⸗
achten 17). Ihrer politifchen Parteiftellung nady waren fie Anhänger der
Römer. Wenn .man die Darftellung des alerandrinifchen Philo von ihren
Uebertreibungen entfleidet, fo wird wahrfceinlih, daß die Sadduzäer,
wenigftend zum Theil, als Freidenfer , als Spötter über phartfäiiche Lehren
und Mebertreter fireng jüdiſcher Abgefchloffenheit gegen die Heiden, aud eine
gewifle Ariftofratie des Geiſtes in Juda repräfentirt Haben, Der Urfprung
dieſer Sekte ift ebenfalls dunkel. Zadok, ihr angeblicher Stifter, mag ver⸗
muthlich eine durch ethmologiſchen Schluß aus dem Namen „Sadduzäer *
fingirte Perſon ſein.
| Die dritte Sekte der Juden und bie den geringften Einfluß auf das
43) Motih. 283, 14.
44) Joh. 8,3 fe.
45) Zul. 7, 36—39. 18, 2.
46) Joſephus: Antiquitt. 13, 10. 6. Luk. 20, 27.
47) Joſephus, Jüd. Krieg 2, 8. 14.
9
Volk übte, waren die Eſſaer, welche unter dem Namen Aſidaͤer (hebr.
Chasidim, die Frommen) zuerfi Maffab. L, 7, 13 oorfommen. Aehnlich
ben ägyptiſchen Therapeuten aber nicht mit ihnen zu vermechfelu, bildeten
fie eine religiöfe Ordensgeſellſchaft, deren Glieder der Mehrzahl nad) auf
dem Lande lebten, Der Bund beftand aus lauter Männern, und beruhte auf
Gütergemeinfchaft. Die Effäer waren der Ehe abgeneigt, wollten feine
Waffen tragen, und opferten nie, obwohl fte in dem Tempel zu Ierufalem
Weihgefchenfe und Abgaben ſchickten. Außer dem A. T., deſſen Schriften
fie, wie die Pharifäer, jedoch mit mehr Redlichkeit, allegorifch außlegten,
hatten fie noch andere heilige Bücher, welche fie fehr geheim hielten. Gie
lehrten unabänderlihe Vorherbeſtimmung und zugleich Unſterblichkeit der
Seele, übten Enthaltſamkeit, mieden und befeitigten mit ängflliher Ge⸗
nauigkeit jede Verunreinigung , hielten feine Sflaven und thaten nie einen
Eid mehr, nachdem fie als neu Aufgenommene ihren Ordenseid abgelegt
hatten. Die aufgehende Sonne begrüßten fie mit Hymnen und ließen, bevor
Dies geſchehen war, fein weltliches Wort über die Lippen. Der Eheloſigkeit
feiner Mitglieder wegen ergänzte ſich ter Orden durch neu Aufgenommene
und war daher nicht ſehr verbreitet, obwohl zur Zeit des Flavius Joſephus,
der jelbft einer feiner Novizen geweſen, in den Gegenden am todten Meere
gegen A000 Efläer gelebt haben follen.1®)
So abgeihloffen nun der Hebraismus nad den biöherigen Betrach-
jungen der heitniichen Welt gegenüber erſcheint, fo eifrig ſuchte er gerade in
dem vorliegenden Zeitalter unter ben Heiden Eroberungen zu machen, und
zwar am meiften phariſäiſcherſeits, weil die Pharifäer ed für ein verdienft-
liches Werk Hielten, einen Judengenoſſen (Proſelyten) zu gewinnen 19).
Man unterſchied Proſelyten des Thores, d. i. in Israel anſaͤſſige Hei⸗
den, welche ſich zur Beobachtung der ſieben noachiſchen Gebote 20) verpflichtet
hatten, und Proſelyten der r Gerechtigkeit, welche den ganzen Moſaismus, die
— — — —— —
18) Wir bemerken gelegenitic, daß in ven 40 er Jahren in Deutſchland ber Ben
ſuch gemacht wurde, in Form einer augeblich alden Urkunde den Urfprung des Chriſten⸗
ihums fchlechtweg auf den Efiäismus zurüdgnführen. Die Idealiſtrung des Eſſaͤer⸗
ordens durch Philo mag zu diefer Myftification ermuthigt haben. Im Uebrigen ſoll
nicht beſtritten werden, daß Eſſaͤiſches im Urchriſtenthum war.
19) Maith. 33, 15.
20) Enthaltung von Bottesläfterung, Goͤtzendienſt, Mor, Blutfchande, Raub,
vom Genufle blutigen Fleiſches und von Witerfeglichfeit gegen die (jüdiſche) Obrigkeit.
10
"Männer durch Beichneidung und Opfer, die Weiber durch Taufe und Opfer,
annahmen. Die meiften Heiden, welche aus wirklich religiöfem‘ Beduͤrfniß
Proſelyten geworden, zeigten fich hernach fehr empfänglich für das Ehriften«
thum, jodaß. die Profelytenmacherei der Pharifäer gewiſſermaßen als Vor⸗
arbeit für Die chriſtliche erſcheint 21).
3.
Die vorſtehend geſchilderten religiös—-ſittlichen Zuftände der Hebräer ent=
ſprangen aber großentheils aus der politifchen und fozialen Stellung, welche
fie damals einnahmen. Nachdem durch Judas Maffabi ein Schugbündniß
mit den Römern gegen Syrien zu Stande gefommen, war der erfte Tritt in
das Neg der großen Spinne geichehen, Rettung der Unabhängigkeit nicht
mehr möglich, völlige Unterwerfung in Bälde zu erwarten. Unter Kürft
Simon wurden die Juden „Freunde und Bundesgenoffen des römifchen
Volkes“, ein Titel, der nicht, wie jo viele andere, weniger, fondern weit
mehr zu bedeuten Hatte, als er fagt. Die Thronftreitigkeit zwifchen Hyr⸗
kanus II. und Ariftobulus II., welche beide die Vermittlung des Pompejus
anriefen, verhalf zwar dem Hyrkanus zum Hohenpriefter- und Fürſtenthum
über Juta, machte aber Tas jüdifche Volk den Römern tributpflihtig. So
ſchüttelte das Heldengejchledht der Maffabäer oder Hasmonäer den Drud der
ſyriſchen Tyrannei nur ab, um fein Volk den Römern als Teihte Beute
preid;ugeben. Dabei handelte Judas Maffabi bloß unpolitiih, Hyrkan und
Ariftobulus dagegen hantelten, ald wäre ihr Volk ein willenlofes Ding:
fie madıten die Sache des Vaterlandes zu einer Privatftreitigkeit; auf ihnen
Taftet die Schuld, obſchon aud ohne diefe dem Verhängnig nicht mehr
audzuweichen war, Dem Hyrkanus ward der Edomiter Untipater als Pro«-
furator von Cäfar zur Seite gejeht; nach der Bergiftung Antipaterd und
mannigfadhen Kämpfen um den Thron erklärte dann auf Verwendung bed
Triumvirs Antonius der Senat Antipaters jüngern Sohn Herodes zum Kö⸗
nig der Juden, im Jahre 40 v. Chr. Diefer, von Argwohn und Graus
ſamkeit getrieben, vertilgte die legten Glieder ded hasmonäiſchen Stammes,
Unter feiner Regierung ward Jeſus ChHriftus geboren; nicht lange hernach
21) Apoſtelgeſch. 2, 10. — 16,14. — 8, 26— 28.
11
flarb Herodes. Man hat ihn den Großen genannt, wohl in Vergleihung
mit feinen erbärmlichen Söhnen. Groß war er allerdings an Graufamfeit,
jo daß Auguftus von ihm jagte, „es fei beſſer, des Herodes Ferkel, als fein
Kind zu fein!). Bon den zahlreichen Hinrichtungen ihm abgeneigter Juden
nicht zu reden, ließ er feine Gattin Marianne, feine Söhne Alerander und
Ariftobulus aus Argwohn, den wirflih fchuldigen Sohne Antipater kurz
vor feinem eignen Tode binrichten und „damit Ierufalem bet feinem Tode
auch Thränen vergieße*, entbot er eine Menge vornehmer Juden nach Jericho,
wo er krank lag, anordnend, daß fie bei feinen Tode hingerichtet werden
follten. Groß war Herodes 1. auch in der Diplomatifchen Kunſt, den Man⸗
tel nach dem Winde zu hängen. Den Antonius verließ er klüglich nach der
Schlacht bei Actium, weihte dem Octavian einen Tempel, befhwichtigte das
murrende Volk jegt durch prachtuolle Verfchönerung des ferubabelichen Tem⸗
peld 2), dann wieder durch kluge Bürforge bei einer fchweren Hungersnoth.
Doch beim Volke reichte er damit nicht aud. Durch feine Graufumfeiten,
die Einführung fremder Kampfipiele und einer geheimen Polizei, dur
mehrfache offene Verlegung des religiössnationalen Gefühls machte er feine
Wohlthaten vergeffen, feine zahlreihen Siege, die Größe und den Glanz
Judäas in Ausdehnung jeined Gebietes, in Verfhönerung Ierufalems durch
pradhtvolle Bauten, in Gründung ganzer Städte. Kraft und Befonnenbeit
in Gefahr hat er allezeit bewiefen ; feinem größten Feinde jedoch, fich felbft,
hat er feinen Sieg jemald abgewonnen. Die Ohnmacht jeines Geiſtes ge«
genüber feinen Leidenſchaften fühlte er oft; dann warfen ihn Reue und Ges
wiſſensbifſe aufs Krankenlager. Uebrigens erfcheint er zum Theil auch ale
ein Opfer veriworfener Günftlinge, die feine Schwächen kannten und ihm
durch fchlaue Benugung bderjelben Herz und Lebensglück vollens ver«
gifteten. —
4.
Der Tod Herodes J. rief verwidelte Thronflreitigkeiten hervor , deren
Ergebniß war, daß Herodes Archelaus ald Ethnarch das halbe Reich, Hero⸗
4) Macrobius, sat. 2, 2.
2) In feinem 18. Regierungsjahr.
12
des Antipad (dadurch der Landesherr Jeſu) Galilaͤa und Peraͤa, Philippus
Batanen, Trachonitis und Auranitis, die Wittwe Salome eine Summe
Beldes und etliche Städte erhielt. Sechs Jahre nadı Chrifti Geburt warb
Archelaus infolge der vereinigten Klagen feiner Brüder, der Suden und der
Samariter, welche feine Bedrückungen nicht länger zu ertragen vermochten,
son Auguftus nach Bienna in Gallien verbannt. Bon da an wurden Judäa
und Samaria, zur Provinz Syrien geſchlagen, durch römiſche Procuratoren
(Landpfleger, Statthalter) verwaltet. Ste beforgten bie Faijerlihen Ein⸗
fünfte, übten richterliche Gewalt, zumal die peinliche Geridhtöbarfeit!), und
hatten den Befehl über die in Judäa und Samaria liegenden Truppen. Ihr
eigentliher Sig war Caͤſarea, von wo fle nur an hoben Feſten, um bie
Ordnung unter den berbeigeftrömten Volksmafſſen aufrecht zu erhalten, und
bei ſonſtigen befonderen Veranlaffungen nad Jerufalem hinauffamen. Laut
Joſephus Angabe 2) befaß zwar der erſte Procurator, Goponius, die Blut⸗
gerichtäbarkfeit noch nit; Pilatus Hingegen, der zweite Bandpfleger unter
Kaiſer Tiberius, übte fie nicht wur Jeſu, fondern nad den Berichten ber
Evangelien aud vielen Andern gegenüber 3). Pontius Pilatus, jo ſchwach
er ſich bei ber Verurtheilung Jefu zeigte und fo viel ihm damals daran ges
legen ſchien, es mit den fanasifchen Juden ja nicht zu verderben, legte doch
Feftigfeit genug an den Tag, wenn e8 galt, dem Kaifer zu dienen oder auch
nur zu ſchmeicheln, eine Feſtigkeit, welde gegen den jüdiichen Fanatismus
nicht die mindeſte Ruͤckſicht kannte. Als er die mit Bildern des Kaiſers ver⸗
zierten Feldzeichen nach Jeruſalem gebracht und daſelbſt offen zur Schau
geſtellt hatte, eine Handlung, welche den Juden wie Kaiſervergötterung in
ber heiligen Stadt vorkam, drohte er den darüber Aufgebrachten zuerſt, ſie
niederhauen zu laſſen, wenn fle die Bilder des Kaijerd nicht duldeten, und
gab erfi nach, ald der ganze von den Truppen umringte Volkshaufe fih auf
die Erde niederwarf und Die Häupter den Todesftreichen beugte mit dem
Auf: „Lieber den Tod erleiken, ald das Gefeg übertreten!* Später einmal-
verwendete er den heiligen Schag (Korban) zum Bau einer Waflerleitung und
ließ, flatt der hierüber tumultuarifch verfammelten Menge nachzugeben, den
Schreiern Durch feine Soldaten mit Prügeln ven Mund flopfen. Es war
4) Joh. 18, 31.
2) Züd. Krieg 2, 8.1.
3) Luk. 13,1.
Ed
13
in ihm eine Aber brutalen Humors, bie ſich auch bei der Kreuzigung Jeſu
nicht verleugnete: — der Landpfleger Tieß über das Kreuz die höhnifche In⸗
ſchrift fegen: J (esus) N (azarenus) R (ex) J (udaeorum). Rach zehnjähe
tiger Verwaltung endlih beim Präfes von Syrien, Vitellius, angeflagt,
ward er von diefem zur Verantwortung vor Tiberlus nach Rom geſchickt.
Dies gefhah ungefähr drei Jahre nach EChrifti Tod. Zwei Jahre früher war
der Vierfürft Philippus geftorben. Ungefähr fünf Jahre nach Ehrifli Tod
reif’te der Mörder Iohannid des Täufers, Herodes Antipas, ein ſchwelgeri⸗
ſcher, Hinterliftiger Fuͤrſt, auf Betrieb feiner Gemahlin Herodias zum Kai⸗
fer Galigula, ſich die Königswürde von ihm zu erbitten. Statt diefe zu er⸗
langen, ward er nad Lugdunum (Lyon) verbannt, fein und des Philippus
Land dem Herodes Agrippa übergeben, demfelben, auf deflen Geheiß der
Apoftel Jakobus hingerichtet ward 4). Agrippa J. mußte ſich die Gunft des
Volkes fo fehr zu gewinnen, daß es ihn bet einem öffentlichen, zu Ehren
des Kaiſers veranftalteten Kampflpiel ald einen Gott begrüßte?), Sein
Sohn Agrippa II. wegen willfürlihen Ab-⸗ und Einfeßens der Hohenpriefter
bei den Juden wenig beliebt, hielt nad) tem Ausbruch des furchtbaren Ver-
tilgungskrieges fortwährend die Partei der Römer, mie überhaupt Die Hero»
dianer thaten, im Gegenfaß zu den nationalgefinnten Pharifäern.
Mährend der Regierung Agrippa's 1. walteten keine Procuratoren im
Lande. Nach feinem Tode eröffnete die Reihe derjelben Cuſpius Fadus, der
die Häuberhorden zu bezähmen wußte. Unter feinen Nachfolgern fteigerte
fofdatifcher Muthwille, Willlür, Bedrückung und Beftechlichfeit die Zer⸗
rüttung im Volke immer mehr. Die Räuberbanden (Sikarter) mehrten, bie
Bande der Gefellfchaft löſten ſich, bis endlich unter Florus das radhedürftende-
Volk in Maflen aufftand, um nad furdtbaren Kämpfen dad Opfer feines-
meſſtaniſchen Wahnes, phärifätiher Hetzerei und römifchen Uebermuthes zu
werden.
8.
Die Vergrößerung der Städte und die wachſende Verwicklung der po⸗
litiſchen Verhaͤltniſſe, ſowie die Zerſtreuung einer großen Zahl von Juden
4) Apoſtelgeſch. 12,1 ff.
5) Apoftelgefch. 12, 22. u. 23. Unglaublich bei der damaligen ſtreng theokra⸗
tiſchen Richtung der Juden, es fei denn, daß die feilen Herodianer zuerft riefen und fo
bie übrige Menge-mit ſich fortriflen.
44
in alle Länder der Heidenwelt, hatten die von Moſes feflgefegte foziale Ord⸗
nung längft ihres fegensreichen Einflufied beraubt). Zwar wurten nach ber
Nüdfehr aus Babylon Jubel- und Sabbathsjahr gewiſſenhaft gefeiert und
Joſephus führt noch aus der Zeit des Johannes Hyrkanus eine Sabbaths⸗
jahrfeier an?). Mit diefen Einrichtungen erhielt ſich dann auch die Gliede⸗
sung der Hierardie bis in die legten Zeiten; aber die Anforderungen der
römifchen Oberherrn nahmen wenig Rückſicht auf dieſe Einrichtungen und
machten deren wohlthätige Zwede größtentheils illuforifh. War ein Sabs
bathsjahr oder nicht, Die jährliche Steuer von 1 Denar auf den Kopf mußte
bezahlt werden, ebenfo der an römiſche Nitter verpachtete Zoll, welche wieder,
zumal in den Kafenftäbten, ihre Untereinnehmer, die „Zöllner“, hatten,
Letztere, Die, nad Judenart, in Geldſachen audy nicht immer die Redlichſten
bei ihrer Verwaltung fein modten, wurden als die Gehülfen der Unterdrüder
von ihren fanatiichen Stammesgenoffen auf's Bitterfte gehaft, im Evanges
lium mit den „Sündern*, im Talmud mit Räubern und Mördern zuſam⸗
mengeftellt 3). An ihnen lich der Fochende Grimm ber Pharifäer,, ber fid
vor den Römern Duden mußte, feine ganze Stärke aus, ald an Sünden-
böden des Nömerhafles.
In den Antiquitäten des Joſephus (12, 3, 3) Anden wir zum erften
Mal ausdrücklich erwähnt das Synedrium, den hohen Math der Juden,
beftehend aus. den Hohenprieftern, Aelteften und Schriftgelehrten pharifäifcher
fowohl als ſadduzäiſcher Partei. Diefe Behörde vereinigte die oberfte geießges
berifche und adminiftrative Gewalt in Firchlichen Dingen mit der richterlichen
Gewalt in Rechtsſachen, die einen ganzen Stamm, oder einen willfürlichen
Krieg, oder ein Staatöverbrecdhen, oder endlich kirchliche Dinge betrafen.
Präfident war gewöhnlich, wenn auch nicht immer, der im Amt befindliche
Hoheprieſter. Wie vielfach übrigens die Gewalt des Synedriums theils Durch
die Herodier, theild durch die Landpfleger eingefchränft wurde, läßt ſich aus
Obigem erfehen. Ungeachtet einiger Aehnlichkeit mit dem Rath der Siebzig,
welhen Mofed, und dem Öbergeridht, welches König Joſaphat errichtet
hatte, iſt das Synedrium ein nicht mofaifches, früheftend unter feleuzidifcher
Oberherrſchaft aufgefommenes Inftitut2).
4) Bol. Thl. II., ©. 119 fg.
2) Jüd. Krieg 1, 2. 4.
3) Matth. 11, 19. Luk. 7, 34.
4) Mof. 4, 11, 16. Chron. 2, 19, 8.
15
Auch das Synagogenwefen entftand erſt feit dem Exil. In der
Synagoge (Berfammlungshaus) Hielt man zur Zeit Chriſti und feiner Apoftel
nur am Sabbath Gotteddienf. Der Synagogenabwart begann mit einem
Gebet, verlas hierauf Die der Reihe nad folgende Stelle des Pentateuch
(Paraſche) und der Propheten (Haphtare) im Original, nebft aramälicher
Ueberſetzung, und dann konnte zur Auslegung im freien Vortrag oder Ges
fpräd) Ieder auftreten. Der Segen und das Amen machten den Schluß. Die
Vorfteherfchaft der Synagoge befand aus einem’ „Oberften der Berfamm-
lung“ in jevem Ort, wo fid eine Synagoge befand, und einem ihm beige-
geben Rath von „Aelteſten“. Der Oberfte wachte über die Ordnung in den
Verſammlungen, leitete mit dem Rath der elteften dad ganze Synagogen
weien und hatte außer tem Abwart noch einen Diener unter fi, welcher
ungefähr die Stelle eines Küfters verfah. In den Synagogen wurden auch
irrgläubige und abtrünnige Juden gegeißelt. —
6.
Der Banatismus iſt Verweſungshauch einer im Herzen erflorbenen
Religion. Das erhellt deutlich aus den jüdiſchen Geſchichten damaliger Zeit.
- Den Biehmarft im Vorhof des Tempeld duldete man, über eine Heilung
am Sabbath erhob fich entfetzliches Gefchrei. Daß Herodes einen goldenen
Adler über einer Pforte des Tempels angebracht, entflammte die Geſetzes⸗
eiferer zur Wuth, einen Schwur beim Tempel oder Altar brachen diefelben
ohne Bedenken. Iammergeichrei erhob fi beim Anblid der mit Tiberiud
Bilde gezierten Beldzeichen, allein wenn Pharifäer der Wittwen und Waiſen
Gut fich aneigneten, ertönte feine Klage. Die Religion der Juden war, fo
zu fagen, Eind geworden mit ihrem National-Stolz und «Haß. Was von
der Religion darüber hinaus geht, war unter ihnen kaum mehr zu finden.
Die Form hatte den Geiſt, Ceremontendienft die Tugend verfchlungen. Wie
es mit der fittlichen Gefinnung der Nation ftand, davon zeugt am beften das
feit der römifchen Herrſchaft mächtig wuchernde Raͤuberweſen. Bald als
Propheten, bald als Tyrannenſpieler fanımelten Abenteurer zahlreiche Ban
den, auszuziehen auf Raub und Mord 1). Herodes und die Procuratoren
4) Joſephus, Juͤd. Krieg 2, 22. 2. Antiquitt. 20, d. 1.
16
ſchickten zu wiederholten Malen Truppen gegen fle aus; vergeblih. Bald
mußten Procuratoren fih bequemen, die Mäuber gegen Entrichtung einer
Steuer zu dulden2). Ste felber mehrten deren Zahl dur Entlaffung der
Gefangenen gegen eine Loskaufſumme. Im füdifchen Krieg bis zu deſſen
Ende war der Einfluß der Raͤuber vorwiegend, ein Beweis, wie tief die
öffentlihe Moral gefunfen war. Für den Geiſt damaliger Zeit bezeichnend
iſt auch der Umftand, daß die Mäuber im großen Kriege den Namen Zelo⸗—
ten, d. 5. Eiferer für Gott und fein Gefetz, annahmen. Diefe Dinge be—
treffend, bezeugt der Jude Joſephus ſelbſt: „Wenn das Feuer an einem
Punkte gedämpft war, fo brach, wie an einem kranken Leibe, das Fie-
ber wieder anderswo aus *?). Wir machen nur noch darauf aufmerkſam, wie fehr
die weltlichen Mefftashoffnungen das Volk für tie Stimme jedes Verführers
empfänglich machen mußten. Ohne ſie wären nicht Yaufende bald dem Theu⸗
das, bald dem ägpptiichen Gaufler, bald jenen Schwärnern nachgelaufen,
die in der Wüſte göttliche Wunderzeichen der Befreiung verhießen 2).
7.
Ueber Bethätigung des hebrälichen Geiſtes in Kunft und Wiffenfchaft
ift aus diefer Zeit wenig zu melden. Die Poeſie bat Feine und befannten
Erzeugniffe mehr hervorgebracht. Woher religiöje Lieder, wenn die Reli«
gton nicht mehr Sache des. Herzens it? Malerei und bildende Kunft waren
den Juden, wie vordem, fremd geblieben. Nur bie Baufunft lebte unter
den Herodiern auf, wie nie mehr feit Salomond Tagen. Ihre Krone war
der Tempel, den Herodes I. in größerm Maaßſtab ald dem falomonijhen aus
weißem Marmor mit Goldverzierungen erbaute. Seine erhabene Pracht be⸗
wundernd, fuchten Die Mömer ihn bet Jeruſalems Eroberung mit änßerſter
Sorgfalt zu ſchonen; aber in glühenten Schutt ſank das herrliche Bauwerf-
zufammen, nachdem es dem Feldherrn Titus faum.vergönnt gewefen, einen
Blick in fein Innered zu werfen.
Was die Wiffenfchaften angeht, fo waren die Priefter, wie von Altera
2) Joſephus, Antiquitt, 20, 11.1.
3) Jüd. Krieg 2, 13. 6.
4) Shendaf. 2,13, &u.85.
17
ber, die Aerzte ihres Volkes geblieben, in weldger Stellung fe unter Anden.‘
rem auch dem Teufelaustreiben oblagen, weil nad damaliger Anſchauung
fallende Sucht und Geiſteskrankheit aller Art dem Innewohnen eines oder
mehrerer Teufel zugeſchrieben wurde).
Wie wir bereitd angebeutet, ward bie Sammlung der altteſtament⸗
fihen Urkunden Furz vor Ehrifti Geburt geichloflen; das Jahr des Ab-
ſchluſſes ift unbeflimmbar. Philo fheint das A. T. als Ganzes anzuführen,
nennt aber nicht alle einzelnen Schriften deſſelben. Joſephus erft führt in
feiner Schrift gegen Apion faft alle altteft. Bücher auf und zählt deren 22.
Die griechifche Ueberſezung ber altteſt. Schriften iſt De Wette zufolge bis
130 v. Chr. ganz oder größten Theils vollendet worden.
Um Eprifti Zeit blühten in Serufalem und vielen andern Städten be
Landes hauptfächlich der Geſetzeskunde gewidmete gelehrte Schulen. Weiter
bliende Lehrer mögen die Jünglinge wohl auch mit griechiſcher Literatur be⸗
fannt gemacht haben, wie denn Paulus, des Bharifäerd Gamaliel Schüler,
. den Spruch 1. Kor. 15, 33: „Böje Geſchwätze verderben gute Sitten*,
wvoͤrtlich von dem hellenifchen Dichter Menander entlehnt bat 2).
Die Juden waren durch ihr Exil mit perfiihen Neligiondlehren, bes
fonders der Damonologie bekannt geworden. Daher ihr kraſſer Teufelglaus.
- ben zu Iefu Zeiten, gefördert durch die Vorftellung, daß. die Gögen ber
Geiden eigentlich Teufel feien, welche die Menfchen zu ihrer Anbetung ver⸗
führt Haben, wodurch 3. B. der Götze Baal⸗Sebub untes dem Titel Beelze⸗
bub zum „Oberſten der Teufel“ erhoben. ward 2).
Hinwieder hatte Uleranderd des Großen Zug die Juden mit griechiſcher
Bildung und Religion bekannt gemacht, eine Bekanntſchaft, die ſich mit der
Auswanderung einer immer größern Zahl nach Aegypten, beſonders nach
Altxandrien, dem damaligen Hauptfig griechiſcher Cultur, fortwährend ſtei⸗
gerte. Unter den alexandriniſchen Juden fand zuerſt eine geiſtige Verſchmel⸗
zung des Hebraismus mit dem Hellenismus ſtatt, was auf die Geſtaltung
der drei jüdiſchen Sekten auch im Mutterlande, befonderd auf Sadduzäis⸗
mus und Eſſäismus, jedenfalld nicht ohne Einfluß blieb. Die alerandris
niihe Richtung fuchte entweder die jüdifchen Meinungen durch griechiſche
*
.—
un — — ——— ⸗
1) Matth. 12, 27. 8,28. 17, 14 ff.
1) Es iſt ein vollſtaͤndiger Zrimeter: pselgovasv 797 zejas! ouAlaı zaxab-
3) Matth. 12, 24.
Scherr, Geſch. d. Religion. III. 2
18:
Begriffe zu erklaͤren / oder ſib fuchte die heil. Bäder auch als⸗ Quellée ber
griechifchen Vhiloſophie darzuſtollen und ward fo wahrſcheinlichſdie Mutter
bes, allegorifhen:Shriftauslegung. Ihr vornehmfler - Reprä
fentant ift der Jude Philo, geb. etwa 30 Jahre vor Chriſtus in Alerandrien:
Unter feinen: zahlreichen Schriften ‚heben wir befonders feine: Apologie“
(Bertheidigungsichrift für die Juden) hervor. Er deutete den Mato in den:
Moſes hinein, jo dag esralkgemeim hieß: „ Entweder: platonifirt Philo oder
Plato philoniſtrt.“ Obwohl er daran feſthielt, das Moſes unmittelbare
göttliche Belehrung empfangen habe, wußte er doch’ Fülgendes aus ihm her⸗
außzudenteln: „Die Welt fei aus zwei Prinzipien entfländen, der befchaffen« -
heitölojfen Materie und Gott, als der Duelle alles Wahren, Guten: und
Schönen. Gott hat fih in die Materie verfenkt, um daraus tie Welt zu
ſchaffen. Sein Verſtand enthält das Muſterbild der Welt, jein Wille bie -
Naturkraft der wirklichen Welt. Ohne unmittelbare göttliche Einwirkung
aufi die Seele weiß: der Menſch nur, daß ein Gott ift, nicht wie er iſt.“
Man. fteht, wenn died Die Lehre des Moſes fein fol, fo hat er feine unmit«
telbare Erleuchtung nicht von Bott, jondern von Philo empfangen. Trotzdem
iſt Philo unter den Philofophen jenes Zeitalterd, obwohl der einzigenamhafte
jüdeſche, doch nicht der geringfte gewefen: Er gehörte zu den Eſſaͤern, zeigte
aber deſſen ungeachtet eine umfaſſende Theilnahme für alle feine Stammes⸗
genoſſen. Noch als Greis reiſ'te er im Auftrag ſeines Volkes zum Kaiſer
Caligula, um ſeine Volksgenoſſen gegen die Verläumdungen eines Apion
und Anderer zu vertheidigen. Nicht als Philoſoph, aber wohl als Geſchichts⸗
ſchreiber Hat ſichunter den Juden hervorgethan Flavius Joſephus, geb. 37
nad Chr., wahrſcheinlich in Jeruſalem. Er ſchtieb in griechiſcher Sprache
die. „güdifchen Alterthümer“ (Antiquitates), Die Apologie gegen Apion
und: die Geſchichte des jüdiſchen Krieges, den--er perſönlich mitgemacht.
Daß er auch letztgenanntes Werk von ſeinem Parteiſtandpunkt aus geſchrie⸗
ben, ſollte ihm nicht zu ſehr verargt werden. Außerordentliche Geiſtes⸗ und
Willenskraft gehört Dazu, als unparteiifcher, unbefangener Geſchichtsſchrei⸗
ber Ereigniſſe darzuſtellen, in deren Verlauf man ſelbſt ſehr ſtark Partei ge=
nommen. Die Schoͤnrednerei, welcher ſich Joſephus bei jeder Gelegenheit
hingibt, war damals Mode. Bei allen Mängeln find feine Werke doch eine
Sauptquelle für die Kenntniß damaliger Zeitumflände,
1%
Zweites Kapitel.
@ine untergehende Welt.
(Sätuß.)
1.
Don Ierufalem wenden wir und nad Rom, dem Schaufpiel des Unter«
gangs der alten Gejellichaft von einem anderen Standpunfte zuzufehen, d. 5.
und von den religiöfen, fittlichen, politifchen und literarifchen Zuſtänden
der römifchen Welt zur Zeit ihres Berfalld ein Bild zu mahen. Wir wer⸗
den zu dieſem Ende bis in die Zeit der Antonine herabfteigen müffen, wo
die Auflöfung der antifen Ideen, Sitten und Einridtungen ſchon ganz un«
hemmbar geworden war. Die Betrachtung ber fpärlichen Lichtſeiten, der’
furchtbaren Schättenfeiten diefes Bildes wird erfennen Tafien, wad der Aus⸗
breitung des Chriſtenthums im römijchen Weltreich Hinderlich und was ihm’
förderlich gewefen. Der Gefammteindrud wird fein: dieſe verroftete Welt’
fonnte nicht mehr dauern; es mußte etwas Anderes fommen.
Im Zeitalter des Auguftus war der alte Götterglaube bereitö allge=
mein, bei den gebildeten Ständen wie unter der Mafle des Volkes, tief er⸗
ſchüttert. Schon Eicero hatte geäußert, ed glaube fein altes Weib mehr an’
r
Bühne herab ſprechen laſſen: „ Warum fol ih, ein armer Sterblicher, nicht
Elyſium und Tartarus. Ungeſcheut durfte Terentius, der 160 Jahre vor
der Schlacht bei Actium geboren war, einen Wollüftling von öffentlicher
thun dürfen, was tie Götter thun?“
Ennius, des Scipio Afrifanus vertrauter Breund, verjpottete in ſei⸗
nen Gedichten die Wahrfager und Zeichendeuter. Auguftus felbft zeigte fich |
als einen Verächter der oberften olympifchen Götter. Unter Tiberius lie
fid) feine Iungfrau mehr zur Priefterin der Veſta weihen, bid man den Veſta⸗
linnen neue wichtige Vorrechte ertheilte, und unter Claudius waren bie
Geremonien zur Einweihung eines Supiterpriefterd wie diefenigen zur prie⸗
fterlicden Einfegnung der Ehen in Vergeffenheit gerathen, ein Hauptbeweis
für den Verfall des Väterglaubens auch unter der ungebildeten Volksmenge.
92 *
»
20
Wodurch die Gebildeten zur Verachtung der althergebrachten Religion ge⸗
führt worden, wird die Darſtellung der literariſchen Verhältniſſe zeigen.
Schwieriger möchten die Urſachen, warum der große Haufe fich vom der
Volksreligion innerlich abgewendet, Far zu machen fein. Glückſeligkeit für
fih und die Seinen hatte auch der Heide bei der Gottheit gefudht. Die
follte der Preis feiner Opfer und Gebete und feines Gehorſams gegen bie
Gebote der Götter fein. Allfaͤlliges Mißgeſchick fchrieb er dem Zorn irgend
einer Gottheit zu, den er durch eigne Schuld auf fich geladen. Oder, wenn
er fih Eeiner Schuld bewußt war, dem Neide der Himmlijchen. Diefen Zorn
und Neid fuchte er, fei ed durch Opfer, fei e8 durch fonftige Bußhandlungen,
zu beſchwichtigen. Nachdem aber die römifche Herrſchaft über ben ganzen
Erdkreis ausgebreitet war und in Folge deſſen die Unterjochten Die Ohnmacht
ihrer nationalen Schuggätter Fennen gelernt hatten, unter der Blutfaugerei
römifcher Beamten feufzten, gegen die ſchändlichften Gewaltthaten der über-
müthigen Sieger nirgends mehr Schug noch Hülfe fanden, als auch die rö«
mijche Pleb8 von den Optimatenfamilien eine ähnliche Behandlung erfuhr
und faft in allen Dingen die Schändlichfeit triumphiren, erhabene Tugend
in fruchtloſem Ringen verbluten ſah: da fing das getäufchte Volk an, die
Macht, die Gereihtigfeit, felbft das Dafein der bislang verehrten Götter zu
bezweifeln: dad allgemeine Unglüd war der erite Todeöftoß in das Herz
der vordhriftlichen Religionen.
Andere Grundgedanfen bargen fi unter dem geheimnißrollen Schleier
der ägyptiſchen, andere unter den Wollüften und Graujamfeiten der fyro=
phönicifchen, andere unter den poetifchen Göttergeftalten der helleniſch-⸗römi⸗—
fchen Religion. Ob nun auch diefe verfchiedenen Grundgedanfen dem Volfe
nie Elar zum Bewußtfein gefommen fein mochten, fle waren doch wirkſam in
. der Ahnung und dem Gefühl der Gläubigen. Al aber durch die Religiond«
politif der Römer nad und nad) eine Vermifchung aller Eulte entftand,, fo
daß die Oberherren die Götter der Beflegten auch unter Die ihrigen aufs
nahmen und Hinwieder helleniihe und römifche Gottheiten nah Aſten und
Afrifa wanderten, ta hatte die rein äußerliche Vermengung der prinzipiell
fo verfhiedenen Religionen ein völliges Erfterben ihres idealen Gehaltes zur.
Folge, womit ihnen auch im Gemüth der Menge der Lebensnerv entzwet
gefchnitten war. |
Vollends in Verachtung gerietb dad alte Götterwefen, nachdem bie
römifhen Kaifer angefangen, ſich felbft und ihre Günftlinge noch bei Leb⸗
21
zeiten vergöttern zu laſſen). Sejanus, des Tiberius Günflling, brachte
feiner eigenen Gottheit Opfer. var, öffentlich, ungeftraft; ebenfo ber Kaifer
Cajus Caligula, welcher ed mit Heeresgewalt hatte erzwingen wollen, daß
feine Bildſäule, göttlicher Ehren zu genießen, im Tempel zu Jerufalem aufs
geftellt werde, als ihn plöglich das Schwert der Rache traf. Seine göttliche
Verehrung durch Opfer und Altäre, fowie fpäter die des Nero wagte der
elende Senat nicht zu hindern, und nie mehr erholte ſich diefe vormals fo
ehrwürdige Verſammlung von folder Schante. Sie fank vielmehr fo tief,
daß Kaifer Domitian jedes feiner Edifte beginnen durfte mit den Worten:
„Wir ald Herr und Gott verordnen.? — Mochte die Apotheofe der Katfer,
zuerft nur nach ihrem Tode geübt, fi) auf die alt hergebrachte Hervenver-
ehrung (Romulus) gründen; nur um fo lächerlicher und erbärmlicher er⸗
ihien dem natürlich unbefangenen Gefühl die göttliche Verehrung von Men⸗
fhen, weldye, halb wahnfinnig von Wolluft und Blutgier, von Geiz und
Habſucht, Sklaven entmenjchter Dirnen und Xotterbuben, den Thron der
Gäfaren ſchändeten, um meift unter ten Dolchen derer, welche ihnen ge⸗
opfert, ihr Leben auszuhauchen.
Die Götter Homers und Heſiods, wie nicht minder die altrömiſchen
Gottheiten, hatten ihrer nackten Natürlichkeit ungeachtet, einen gewiſſen fitt⸗
lichen Gehalt. Daß dieſer ſchon vor der Kaiſerzeit keinen Einfluß mehr übte,
iſt ein fernerer Grund, warum die Glaubenslehren der Religion ſelbſt un«
ter der Volksmenge ihren Boden verloren. Denn gleichwie mit der Reinheit
religiöſer Ueberzeugung und durch dieſelbe die Sittlichkeit ſteigt, ſo fördert
hinwieder die Sittlichfeit die religiöſe Ueberzeugung, fo erſchüttert auch Ent«
ſittlichung den religiöſen Glauben ſelbſt.
Zu Alledem kam nun noch die Erweiterung des Gedankenkreiſes unter
dem Volke durch den vielfältigen Verkehr, den geiſtigen Austauſch aller Na⸗
tionen, welchen die Ausbreitung. des römijchen Weltreiches hervorgerufen,
und der Einfluß der gebildeten Stände auf die ungebildeten, zwei Mächte,
die auch den Handiverfer, den Bauer und gemeinen Soldaten zum grübeln-
den Nachdenken über die Glaubendlehren antrieben und die Findlich naive
Auffaffung der nationalen Religionen gewaltig erfchütterten. Dem Einfluß
——— —
1) Betreffend die Bergötterung des Caligula läßt Seneca einen der Götter fagen:
„Sonft war es ein großes Greigniß, ein Gott zu werben, jeßt ift dies Feine Ehre
mehr in der öffentlichen Meinung.“
2
„ber gebildeten Spötter und Philoſophen widerfland keine geſchloſſene Prie⸗
‚Herkafte, fo weit das Eaiferliche, Szepter reichte. (Der aͤgyptiſchen fehlte zum
„guten Willen die Gewalt.) Den letzten Reſt religiöfen Gefühl überwanden
bei Vielen die Reize der Dichtung, unter deren Hülle Lucretius und Hora⸗
‚tus ihre epifuräifche Lebensanfhauung in die Gemüther einzufchmeicheln
„mußten. "
2.
Zerftören ließ ſich die Volksreligion Teiht, nachdem die ihr zu Grunde
liegenden Ideen aus Bewußtfein und Gefühl verfhwunden waren. Da aber
die Philoſophie, ohnehin in viele Lchrmeinungen zerfplittert, von der Volks⸗
menge nicht verflanden ward und fomit auch nicht die Stelle der Volksreli⸗
‚gion vertreten Fonnte, fo that dies der Aberglaube, zu welchem ſchon von
Alters her Stoff und Neigung genug vorhanden gewefen. — Daß die Rö«
mer in ihrer Tagwaͤhlerei, in Beobachtung der heiligen Hühner, des Vogel-
fluge® und der aufgefchnittenen Opferthiere, um hieraus zu weiffagen, fort«
fuhren und bei ihnen auch dad Anſehen der ſibylliniſchen Bücher aufrecht
blieb, daß die ärgften Spötter unter Hellenen und Römern in der Noth dem
Apollon einen Dreifuß, in Krankheit dem Asklepios einen Hahn gelobten,
wäre für fih allein nody nicht als ein Zeichen überbandnehmenden Aber⸗
glaubens zu betrachten. Wie die Römer von den Seelen der Verflorbenen
dadıten, wundern wir und auch nicht über den Eraffen Beipenfterglauben,
der fih fchon in der Erzählung von dem zweimaligen Geſicht des Republt«
kaners Brutus, Cäfars Mörder, noch mehr in fpätern Geifterbefchwörungen
fund gibt. Dies vielmehr iſt das untrügliche Zeichen des wachjenden Aber⸗
glaubens, daß man ſein Heil in den zuchtloſeſten Orgien orientaliſcher Culte,
in der ausländifchen Magie aller Art zu ſuchen allgemein anfing. Vergeblidy
hatte der Senat 53 vor Chr. den Tempel der Iſis und des Serapis zerftören
Iaffen, derjelbe ward bald wieder aufgebaut. Der Iflss, Kybele- und Ado⸗
nisdienft nahm, felbft unter den Vornehmſten, immer mehr überhand und
‚führte zu womöglich noch größern Scheußlichkeiten als die Bacchanalien 1).
Was geraume Zeit vor ihnen im Geheimen war getrieben worden, ward
Dur den ſyriſchen Sonnendienft ded Kaiſers Heliogabalus (219 nad Chr.)
1) Bol. Thl. 11, S. 211— 12.
"83
‚und, die zur. Erforſchung der Zukunft eifrig geübte Kiuderſchlaͤchterei des Wales
rianus (253 — 260. nach. Ehr.) nur. eineri groͤßern Oeffentlichkeit überliefert.
Aus .Babylonien, Baläfina, Syrien und Aegypten ergoffen fiy Schaa⸗
von von Beirügern durch das ganze römifihe Mach, welche als Lraumbenier,
Wahrfager, Wundesärzte,. Zauberer. bei Hehen und Niebern die bereitwilligfie
Aufnahme fanden. Bei den Griechen hießen fie Goeten, bei den Mömern
‚entweder Magier oder Chaldäer. ‚Einen Chaldaͤer als förmlich Angeftellten
zu haben, gehörte bald bei den vernehmen Käufern Roms zum guten Ton,
auch Könige und Fürften bedienten fich Diefer Leute, wie denn z. B. Herodes
Arhelaus, nachdem fein Acht herodiſches Gewiſſen einen fatalen Traum ges
träumt , etliche Wahrfager und Chaldäer kommen ließ, um ihre Auslegun-
gen zu hören. Die Zauberer jüdifcher Abkunft rühmten ſich der Künfle
Salomons, die Aegypter traten insbeſondere als Schlangenbeſchwoͤrer auf,
Aber audy Ephefus in Kleinaſien war berühmt als ein Sauptflg der Zau⸗
:herei, vermutblih von ber myſtiſchen Secte ihres Artemiscultus ber.
Plutach im Sympoſton erwähnt der epbeflfhen Zanberformeln CEykoia
‚yodumora), weldre man in gewiſſen Faͤllen entweder herſagte oder, auf
Bergamentftreifen gefchrieben,, als Amulete bei ſich trug. Nicht zufrieden,
fh von Zauberern bedient zu fehen, ſtudirte man auch ſelber höchſt eifrig
:die damals ſchon unterſchiedene weiße: und ſchwarze Magie. Als Frucht der⸗
artiger Studien trieben ärmere Weiber einen ſchwunghaften Handel mit
Ziebeötränfen, mobei ed :begreiflich ohne: Gift nicht zu machen war. Vor⸗
nehme Römerinnen waren in Privatveriegenheiten -eifrige Dikettantinnen
:Diefer ſchmutzigen und verbrechertichen: Wiſſenſchaft. Wie fehr ſchon zur Zeit
»des Auguftus bie Liebeszauberei in Rom Mode-war, bezeugt-Virgil?). Bet
2) In der Aeneis (IV., 478 fg.) fagt Dido zu ihrer Schwefler Anna :
Preiſe mich gluͤcklich, o Schwefter! ich fand ein ficheres Mittel,
Das ihn (den Aeneas) mir wiedergibt, wo nicht, von der Liebe mich Löfet.
An des Oceanus Bränz’ und nahe der finkenden Sonne
. Liegt ber Aethiopier äußerfies Land, wo der mächtige Atlas
Auf der Schulter den Pol den ſternumſchimmerten drehet.
Dorther zeigt ſich die Prisfterin mir des maſſiliſchen Bollks'. ... .
Diefe verfpricht: durch Baubergefang bie Herzen zu Iöfen, -
Welche:fie will, und andre mit Liebesqual zu beladen, -
Flüffe zu · hemmen im. Sauf und zuruͤck die Sterne zu wenden;
Auch beſchwoͤrt fie die Manen ber. Nacht...
24
- feinem Zeitgenoſſen Horaz erfcheinen diefe abergläubifchen Praktiken ſchon in
. ihrer furchtbarſten Ausartung ?). Natürlich Fonnte ed damals, wie das in
allen Perioden foztaler Auflöfung der Ball ift, nicht an Caglioſtros fehlen.
In der Bahl derfelben erfreute fi befonderer Berühmtheit der mit Anfang,
der priftlichen Zeitrechnung geborene Pythagoraͤer Apollonios von Tyana in
Kappadokien. Er fland bei Kaifer Befpaftan im Anfehen eines Orakels und
ed wurden ihm ganz ähnliche Wunderthaten zugefchrieben,, wie den Saint
‚ Germain und Balfamo im 18. Jahrhundert.
3.
Während die Zerſtörung der alten Volksreligionen ſich dermaßen
. Schritt für Schritt vollzog, gelangten höher Gebildete zu den Ideen des
Monotheisſsmus, einer geiftiger gefaßten Unfterblichfeit und einer mehr ver⸗
innerlichten Frömmigkeit, wie dies im dritten Buch unferer Religiondge-
ſchichte SS. 200 und 220 Dargeftellt worden iſt. Solche glücklicher orga-
niſirte Geifter ftanden aber fo vereinzelt, daß fie keinen durchgreifend pofl=
‚tiven Einfluß gewinnen fonnten. Um jo mächtiger wirkte auf alle tiefern
Gemüther die Erwartung einer neuen beflern Zeit, wie fie ſich in einzelnen
- Stellen der Dichter und in den durch das ganze Morgen» und Abendland
verbreiteten meſſtaniſchen Prophezeiungen ausſprach. Zwar können wir,
wenn Kirchenväter, wie Eufebius und Auguflinus, die berühmten Verſe der
4. Efloge des Virgil, in welden der Dichter den zu erwartenden Sohn des
Aſinius Pollio ald den Vorläufer der Wiederkehr des goldenem (faturninie
fhen) Zeitalters feiert 1), ald eine unmittelbare Vorherverfündigung des
Meſſias deuteten, diefe Deutung nur als eine ganz willfürliche bezeichnen.
Dennoch aber ift gewiß, daß fi in dem bezeichneten Gedicht das fehnfüchtige
3) Horat. epod. carm. V.
4). Schon ift das Ende der Zeit nach dem Liede von Cumaͤ gefommen
Und großartig Beginnen den Lauf ganz neue Geſchlechter.
Schon kehrt Aſtraͤa wieder, es Fehrt Saturnus’ Regierung,
Neue Geburten’ entfleigen num bald’ dem erhabenen Himmel. .
Sei nur dem werdenden Knaben , mit dem fih das eiferne Alter
Schließt und die goldene Zeit auffleiget dem fämmtlichen Exbfreis,
Sei nur, feufche Lucina, ihm hold... . .
25
Gefühl der Nothwendigkeit einer durchgreifenden Veränderung ausfpriät.
Und gewiß if ferner, daß im ganzen Orient, wohl durch die überall an⸗
fäfftgen Juden verbreitet, die Runde vom bevorftehenden Auftreten eines
mächtigen Judenkönigs umging 2).
In das Abendland, nah Rom felbft, drang das Gerücht in dieſer Ge⸗
ftalt: die Weltherrfchaft folle an das Morgenland gelangen und die Natur
den König des Weltreiches unmittelbar erzeugen, eine Faſſung, welche wahr⸗
fheinlich unter Mitwirkung perfiicher Magier, die fich ihres Softofh 3) er»
innerten,, entftand. Aehnlich faßte noch Domitian, 81 nah Chr., die mef-
flantichen Prophezeiungen auf. Er hatte vernommen, daß aus Davids Ge⸗
fchleht ein großer König hervorgehen werde, und auch, daß die Ehriften
Jeſum ihren König nennen. Da ed nun hieß, von Jeſu Bruder, Judas,
feien noch einige Enfel am Leben, Tieß er diefe vermeintlichen Kronprätene
denten aufipüren und vor fi bringen. Zum Glück benahmen ihm die
fhwieligen Hände und die Tändliche Einfalt derjelben feine Herzensangſt, fo
daß er fie unverfehrt entlieh.
Mit nicht geringerem Erfolg, als diefe Hoffnungen, Prophezetungen
und Gerüuͤchte, arbeiteten, wenn ſchon ganz wider Willen, jene Schriftfteller
dem Chriftenthum vor, welche theils die Anthropomorphismen , theils die
Widerſprüche der Volköreligionen in fehonungslofer populärer Sprache auf-
deckten. Der bereitd erwähnte Ennius hatte die Schrift des Griechen Euhe⸗
meros überfegt, worin zu beweifen verfucht worden, daß die gefanmten
Götter nur Menſchen feien, welde die Sage theild um ihrer Tugenden,
theil8 um der Größe ihrer Gewaltthaten willen vergöttert habe. Beſonders
zu beachten find aber die fatirifchen, vorwiegend in Gefprächöform gehaltenen
Schriften des Lukianos von Samofata, welder im Beitalter der Antonine
blühte. In feinen „Göttergefprächen * geißelte er die unftttliche Auffaffung
der Gottheit, deren unendlich mannigfachen Geftaltungen der Hellenismus
alle Schwächen, Keitenfchaften unt Lafter der verborbenften Menfchennatur
zugeichrieben. Bei feinem regen Sinn für dad Schöne Eonnte nur ein ge=
läutertes fittlihed Bewußtfein den Olymp mit folcher vernichtenden Satire
angreifen. In den „Todtengelpräden * fpottet Lukianos der Unflerblichfeitd«
Iehre, indem er barthut, wie die Seelen in der Unterwelt den Charafter
—
2) Sueton. Vespas. IV. Tacit. histor. V, 13.
3) Vgl. Thl. I, ©. 181.
826
‚böweß irdiſchen Lebens fortwahrend: behaupten müßten. Das Stüd „Brus in
dialektiſcher Noth“ deckt meifterhaft auf, wie: die Lehren von dem willfür«
Fchen Walten der Götter „von ber, fittlichen Verantwortlichkeit der Menden
und der Vergeltung in ber Unterwelt einerſeits, und die Lehre von der ewi⸗
‚gen Rothwendigfeit, alles Geſchehens, wanach Mötter. und Menſchen den brei
Echickſalsſchweſtern (Moiren) unterworfen fein ſollen, mit einander in Wis
derſpruch ſtehen. Die Ohnmacht der Götter, ‚ihre. Abhängigkeit vom Glau⸗
ben: der Menſchen ſchildert trefflich, Zeus in tragiſcher Stimmung“, in wel⸗
„her Satire die Götter in. voller. Verſammlung zuhören müſſen, wie der Epi⸗
‚Suräer Damis dem Stoifer Timokles aufs Glänzendſte beweift, es gebe feine
Götter und von einer Weltregierung folcher ſei feine Rede. Die Götter
ſelbſt ärgern fich über ‚die plumpe Ungeſchicklichkeit ihres Vertheidigers.
Gerade aus der zerſetzenden Skepfis des Lukianos aber erfleht.man,
welche. Sragen in fener Beit:religiöfer Auflöſung denfende Männer haupt⸗
ſachlich befchäftigten. Das war ein. Taſten und Suchen. nad) einer Weisheit,
weldye dem Herzen den erfehnten Brieden geben. iollte, ein Forſchen über das
.Meien der Gottheit, ein Fragen, ob die Menſchenſeele unfterblich fei oder
‚nicht. ‚Seien die „NRecognitionen ". auch fälſchlich dem Römer Clemens zuge⸗
ſchrieben, nur ein vom Heidenthum nenbefehrter Chrift konnte die Worte
‚schreiben, welche die bange Ungewißheit ‚der von: religidfen Zweifeln beſtürm⸗
‚ten Gemüther in jener Uebergangszeit ſo meifterbaft veranfchaulichen : —
„u sch befuchte die. Schulen. der Philojophen ; dort fand ich Nachts, ald Auf-
hauen ‚und Niederreißen der Syfleme und ‚vielfältigen Streit der Aufichten.
„Bald flegte die Lehre, daß .die Seele unfterblich ſei, bald die entgegengeſetzte.
Siegte jene, fo freute ich mich; -flegte.diefe, fo wurde ich traurig.“ Der
Berfafler erzählt fobann, er habe nach Aegypten reifen und dafelbft durch
‚einen Zauberer ‚einen Geift heraufbeſchwören laſſen wollen, um von diefem
Gewißheit über die Unfterblichfeit zu erlangen. Auf die Warnung eines
‚Breuntes jedoch, „die. Gottheit zume, wenn man die Seelen der Verſtorbe⸗
‚nen beunruhige,“ ‚habe er biefen Vorſat aufgegeben.
4.
Die Herrſchaft über den Erdkreis erkaufte der Roͤmer mit dem Verluſt
ſeiner Buͤrgertugend. Die unermeßliche Beute der Heere und ihrer Feldherren
„21
Ind. ein, zu zügslfofem Beruf, und, verleidete dan Enkeln bie harte Arbeit, bie
infache Lebendweiſe der Altporberen. Der Reichthum mehrte ſich bis zu
dem. Grade, daß Cicero mit einem Vermögen von mehr als einer Millign
Ahalern-noch nicht zu den reichen Senatoren gehörte und ein Verſchwender
‚Rd aus Furcht vor Hunger und Kummer entleibte, nachdem fein Vermögen
bis auf 250,000 Thaler abgenonmen. ‚Die Genußſucht Fannte feine Gren⸗
zen mehr. Während Dad Auge an die Pracht der flbergen und goldenen
Geſchirre, der Edelſteine und Foftbaren Statuen. ſich gemöhnte, fammelten
ſich die Erzeugniffe aller Länder und Meere bei einem einzigen Schmaus des
‚Reihen, und als hätte die Seele ihren Sig im Gaumen aufgeſchlagen, er⸗
‚göpten ſich diefe an einem, Mahle von Nacdtigallenzungen, während ber
Wahnfinn Anderer es Eöftlich fand, in Effig aufgelöfte Perlen zu verichlin-
‚gen. Wer nicht reih war, machte Den unterthänigen. Schmaroger,, ‚oder
jhlug ſich zum Proletariat, -defien Gelüfle man mit Brot- und Geldaus⸗
tbeilungen kümmerlich zu befchwichtigen wußte. Mit der Schwelgerei ver
band fich die Unzucht in gräulichfter Ausdehnung und Geftaltung. Die Ehe,
welcher meift Scheidung oder Vergiftung des einen Ehegatten ein Ende
machte, hielt nicht ab vom fleiflichen Umgang. mit jeden beliebigen Gegen⸗
ftand des flüchtigen Triebes, und fand ihre äußerſte Herabwürdigung, als
Caͤſaren, wie Nero, fih mit Jünglingen zu verbeiraten anfingent). Von
1) Das Felt, welches der förmlichen Hochzeit Nero’s mit dem Freigelaflenen Py⸗
thagoras vorherging, befchreibt Tacitus (Annal. XV, 37) ſo: — Auf dem’ See des
»Agrippa wurde ein Floß erbaut, anf welchem das zubereitete Mahl, von Schiffen ges
‚zogen, ſich fortbewegie. Die Schiffe waren mit Gold und Glfenbein,aysgelegt, hie
Ruder wurden von Buhlfnaben gehandhabt, die man nad) ihrem Alter und ihrer Ges
übtheit in Wollüften einreihte. Aus entlegenen Grdgegenven hatte man Geflügel und
Wildpret, aus fernen Meeren Fiſche herbeigeichafft. Auf den Dammufern des Teiches
Randen Bordelle, angefült-mit vernehmen Brauen ; gegenüber erblickte man völlig
„nadie Freudenmädchen, die ih in obfcönen Attitüden übten.. Hierauf unzüchtige Tänze,
und als die Dunfelheit einhrach, erichalften weit umher der Hain und die. umliegenden
Bebäude von Gefang und erglängten von Fackelſchein. Nero ſelbſt, in. natürlichen und
widernatürlichen Lüften fehwelgend , fchien jede Art ſchaͤndlichſter Verworfenheit ers
-[höpft zu haben, hätte er. nieht wenige Tage. nachher Kinen aus jener. lafterbefudelten
Motte, - deſſen Name Pythagoras war, nad der Weile förmlichen Cheyerloͤbniſſes ges
htiratet. Dem Imperatpr ward. ber feuerfarbene Brautſchleier übergehangen, man, ſqh
‚Pieter, Mitgift, Brgutbett, Hochzeitsfackeln, — kurz, Alles. war zur Schau. geftellt,
was ſelbſt bei der legitimen Verbindung mit, singen Weihe bie Schotten ber Nacht ver⸗
28
“den Frauen ded Claudius, Meffalina und Agrippina, nicht zu reden, konnte
felhft die Tugend und Milde eines Marcus Aurelius feine Kaiſerin Bauftina
nit von hundertfachem Ehebruch abhalten; fie foll „oft in dem Unterften
aller Sterblichen noch perfönliche Vorzüge entdeckt haben.” Die Früchte ber
ichranfenlofen Unzucht brauchten Herzlofen Müttern nicht bange zu machen:
das Gejeg erlaubte die Ausfegung der Kinder, und die Mehrzahl der.
Mütter beeilte fih, nach der außerehelichen Niederkunft, zu zeigen, wie der
Menih noch unter das Thier Herabfinken kann. Don elterlicher Erziehung,
jelöft der ehelichen Kinder ‚, war nicht die Rede mehr. Schon Cornelia, der
Gracchen edle Mutter, war ein Phönix unter den damaligen Müttern. Den
Sklaven blieb die Erziehung der römifchen Knaben überlaffen. Verführung
zu den unnatürlichften Zaftern war nicht felten die Beigabe dieſer ſaubern
Erziehung; doch Fonnten die Sklaven ſich auf das Beifpiel der Eltern und
übrigen Verwandten beziehen, welche, wie Quintilian Flagt, das Kind be=
lächelten und küßten, wenn es ein recht unverfchämtes oder ſchmutziges Wort
ausgeſprochen.
Eine nicht minder ergiebige Quelle der Zerrüttung des Familienlebens,
als Schlemmerei und Wolluſt, war die Sklaverei. Durch die zahlreichen
Kriege mit Sklaven, zu welchen die Gefangenen herabgewürdigt wurden,
reichlich verſehen, ward der Nömer harter Arbeit entwöhnt, die Roͤmerin
aus einer betriebjamen Hausmutter in eine träge, putz⸗ und gefallfüchtige
Gebieterin verwandelt. Uneingedenk, daß auch mancher freigeborne Römer
fraft harter Schuldgefeße von jeinem Gläubiger zum Sflaven gemacht wor«
den, galt der Sklave als eine Sache, mit welcher man alles Belichige an⸗
fangen dürfe. Sklaven und Sklavinnen waren die nähften Werkzeuge der
— —— — — —
huͤllen. — Wie hier, zeichnet der größte Geſchichtsſchreiber Roms noch an zahlreichen
Stellen feiner Hiftorien und Annalen die ungeheure Sittenverderbniß der römiichen
Koiferzeit. Ferner thun dies bekanntlich Suetonius in feinen Biographien der Cäfaren
(befond. Tiber. 43 — 44), Betronius in feinen Libri Satiricon , diefem Cpos der Bäs
deraftie, endlich der Cpigrammatiker Martialis, die Satirifer Berflus und Juvenalis.
Des Legteren 6. Satire, deren Heldin die Kaiſerin Meffalina, ift das furchtbarfte
Sittenbild, welches je entworfen worden. Wenn man biefe Schildereien lieft, begreift
man, wie fehr Gregorovius („Figuren*, S. 368) recht hatte, von einem Tiberiuß,
Galigula, Claudius, Nero zu fagen: „Diefen Menfchen warf eines Tages der Zufall
die Welt mit allen ihren Genuͤſſen vor bie Füße; fie wurden darüber finnlos, fle hätten
in ihrem Wahnſinn die Erde auf einmal ausfchlürfen mögen, wie ein @i.“
29
Unzudt und des Ehebruchs; der wohlhabende Mömer lebte unter feinen
Sflavinnen, wie in einem Harem. Bei großartigen Gaftmählern waren es
wiederum Sflaven und Sklapinnen, welde ſich den thierifchen Trieben der
trunfenen Gaͤſte, oft vor aller Augen, preißgeben mußten. Beim geringften
Verſehen Eonnte ein tyranniicher Gebieter fle martern oder töbten. Die Mu-
ränen in den Bifchteihen großer Herren wurden fett von dem Fleiſche zer
hadter Sklaven. Berfauft zu werben an einen flrengern Herrn, war noch
Das Mildefe, was man über Fehlbare verhängte.
Wie erbarmenswürbig nahmen fie ſich aus mitten in foldem Familien⸗
eben, die griechiſchen Hausphilofophen der vornehmen Mömer, welche ben
Herrn auf feinen öffentlichen Bängen begleiten mußten, damit er für einen
Breund und Gönner der Wiffenfchaften gälte, oder ergebenft mit dem Vor⸗
Iefen einer moralijchen Abhandlung innehielten, wenn der Dame vom Haufe
mittlerweile ein Billet zum ebebrecheriichen Stellvichein zugeſteckt wurde 2).
Würdig folher Bamiltenverhältnifie waren die öffentlichen Volksfreu⸗
den. Schon Cäſar kannte das römifche Proletariat, welches um „Brot und
Spiele* jeder Unterdrüdung feinen Beifall gab, jedem Frevler an der Re⸗
publik zujaudzte. Hatten ſich Doch die auserleienften Schwindler, die ges
meinflen Strolde und Gaudiebe nad) und nadh in der genuß⸗ und induftries .
reichen Weltftadt von allen Enden ſcharenweis zufammengefunden. Das gab,
verbunden mit dem ſüßen Pöbel aus. Marius, Sulla’8 und Catilina's Tas
gen, fihon eine rührfame Grundfuppe. Bon einem ehrenwertben Mittels
ſtand; wie er unter der Nepublif geblüht, waren faum noch Spuren vor«
handen. Vereint mit den Pöbelfcharen in ben riefigen Amphitheatern,
ſahen die DVornehmen den blutigen Thier⸗ und Sladiatorenfämpfen zu,
jauchzten, Elatfchten Beifall, wenn Hunderte zumal verröcdelnd im rothen
2) Auch fie — die vornehmen blauftrümpfigen Damen — führen ihre Rhetoren,
Grammatiker und Philofophen mit fih. Was aber das Luftigfte if, fie Hören die Vor⸗
träge ihrer Gelehrten nur am Putztiſche oder über der Tafel an. Da kann es denn oft
der Ball fein, daB, während der Philoſoph in einer moralifhen Abhandlung begriffen
ift, eine Zofe eintritt und der Gebieterin ein Briefchen ihres Geliebten einhändigt.
Run muß der Sittenlehrer ſtehen und warten, bis fie ihrem Buhlen eine Antwort ges
fchrieben,, und dann erſt hüpft fle wieder herbei, um die Tugenppredigt vollends anzu⸗
börn. Lukianos, „die gedungenen Belehrten” (36), in welcher Abhandlung die
Stellung der griechifchen Bhilofophen in der Befellfchaft der römischen Kaiſerzeit Höchft
ergoͤtzlich geſchildert wirt.
35”
Shnve ſich wälzten, frenten’ flih’nucdh” mehr der’ ſchamkoſen "Obfeönttäten;‘
welche auf den gewöhnlichen Theatern "dargeftellt wurden‘, machten‘ Chorus”
mit den Zotenliedern des Poͤbels Get den prunkvollen Umzügen an den
Gotterfeſten. Ja, Senatoren und adelige Matronen ließen fih herab, in
der Arena als Gladiatoren zu kämpfen und Tiefen ihre Söhne und Töchter“
um Geld die zuchtlofe Bühne betreten: Im Raufh‘ und Tumult rafender '
Bacthanakten gaben ſich die vornehmften Römerinnen feldft Sklaven und
Bladiatoren preis, ja fie thaten fogar, von unerfättliher Brunft und
unerfättlicher Haßgier gleichermaßen’ geftachelt, in den Vordellen "Dienft.
Die römifche Satire erftickt gleichfam in diefem Schmutz; fie kann den Folofz
falen Stoff der Verworfenhett nicht mehr bewältigen. „Alles — fo brand⸗
markt Seneea feitie Zeit 9 — iſt voll von Verbrechen und Laftern. Es wird
mehr gefrevelt, als durch Gewalt geheilt werden fünnte. Ein ungebeurer
Streit der Verworferiheit wird geftritten. Mit jedem Tage waͤchſt Die Luft
zur Sünde, mit jedent Tage finft die Scham. Verwerfend die Achtung
vor allem Beſſeren, flürzt fich die Luft, wohin es ſei. So öffentlich iſt die
Verderbniß geworden und in allen Gemüthern iſt fie fo maͤchtig, daß Un-
ſchuld nicht mehr bloß ſelten, ſondern gar nicht mehr vorhanden iſt.“
5.
Sittenloſtgkeit und Verbrechen verbreiteten ſich von Rom aus über
ganz Italien. In die Provinzen ſandte es durch ſeine Proconſuln, Proprä-
toren und Procuratoren, durch feine Heere und Feldherren Erprefiung, Ar⸗
muth und Mißhandlung; denn aus der Beute allein Fonnte der römifche
Luxus nicht bezahlt werden. Einen Mapftab defielben gibt ed, wenn
Plinius berichtet, daß ſich die Enkeltochter des im Orient durd feine Er—
preſſungen verrufenen Collius bei Fackelſchein mit einem Schmude von
46 Millionen Seftertien an Werth habe fehen lafien. So müheten ſich die
Khifer Caltgula und Vitellius, je Die Steuer einer ganzen Provinz an einer
. einzigen Mahlzeit zu verfchlingen. Heliogabalus wälzte fi nadt im Golbe ;
das gehörte zu feinen größten Wollüften. Raub und Exrpreffung, fodann
die gewaltigen Bauten, Straßen, Wafferleitungen, Brüden, Wälle, bet
3) De ira, II, 8.
3t‘
deren: Herſtellung immer die Provinzen‘ in Anfpruch genonnmen wurden;
hatten zur Folge, daß ganze Laänder in Hungersnoth geriethen, Stadte unter
ber Laſt ihrer Schulden erdrückt wurden. Was andy in Ruinen noch die
Bewunderung der jpäteren Geſchlechter blieb, war der Fluch der damals
lebenden.
Wenn unter Auguſtus noch nach Möglichkeit Recht und Gerechtigkeit
gehandhabt wurden, ſo trat von Tkberius an und unter deſſen verworfenen
Nächfolgern die Umkehr alles Rechtes ein. Der tollen Willfür -auf Seiten
der Herrfcher entſprach die Niederträchtigkelt auf Seiten der Unterthanen,
die allgemeine Heuchelet und: Beigheit, das Spionenwefen , die bronzeſtirnige
Angeberet „ die Beilheit der Beamten , die Brutalität ter Offlziere und Sole
daten: gegen Behörden und Bürger: Im dieſem rajenden Strudel der Cor⸗
ruption erfihten die Tugend entweder geradezu als Verbredien oder machte
wenigftend verbächtig und konnte die ſchamloſeſte Schlechtigfett mit Erfolg
Anſpruch auf Loyalität erheben,
Es Half‘ den Bewohnern des ungeheuren Meiches wenig, daß von
Auguſtus an die römifche Rechtsgelehrſamkeit in Blüthe kam. - Ie genauer
die Rechtsfäge formulirt wurden, defto weniger factiſche Geltung: hatten: fie -
zu einer Zeit, wo die Gewalt Alles, die Menſchenwürde Nichts war. Alles,
was die verftändigeren und wohlgefinnteren der Cäfaren zur Dämmung deg⸗?
Verderbens verſuchten, erwies ſich als eitel, denn es half nur momentan,
und nach ſolchen zeitweiligen Stillſtaͤnden nahm der Zerſetzungsprozeß in
feinem Vorſchreiten nur noch koloſſalere Dimenſtonen an. Eitel waren die
Senatöbefchlüffe gegen das Eindringen der unzüchtigen Eulte des Orients,
wie gegen die freiwillige Proftitution der-patrizifchen Grauen. Jene drangen
Immer wieder dur, diefe nahm ſich kaum die Mühe, einen bürchftchtipften
Sihleier der Heimlichkeit umzuwerfen. Eitel erwies ſich das Ankaͤmpfen
von Männern altrepublikaniſcher Gefinnung, wie der jüngere Cato einer’
war, gegen die Ueberfluthung des Sklavenflind und der Zuchtloſigkeit. Ver⸗
gebens auch Tießen ergrimmte PBatrioten die Skorpionengeißel der Satire mit’
furhtbarer Wucht auf die Ruͤcken ihrer Zeitgenoffen fallen. Mochte ein
Caͤſar wie Trajan für eine Weile das Anfehen der Ehe wieder herftellen,
mochte unter der Megierung der Antonine ein Schein von Glüd "über das’
weite Reich fich verbreiten, — ein Commodus genügte, um alle Beurühung
trefflicher Vorgänger rafch wieder zunichte zu machen. Mochte ter Sodoms-
apfel jenes Beitalterd bisweilen noch fo Hell glänzen, innerlich blieb er doch
32
faul. In einer folgen Welt mußten edlere Geifter zulegt auf die Anficht
fommen, der Selbitmord ſei eine Tugend und die Sreiheit dazu ein Vorzug
der Menichen vor den Göttern.
6.
Aller Eroberung und Unterbrüdung ift eine Gränze gefegt und den
Weltreichen zum Glück der Menichheit Feine Dauer verliehen. Die Wölfin
Ron hatte fich vollgefreffen von dem Raub der Welt, aber verbauen fonnte
fie denjelben nicht. ALS die römische Republik nad Ueberwältigung der
Nebenbuhlerin Kartbago, ihre Macht über ganz Italien und feine Infeln
und dann immer weiter und weiter nach allen Himmelsſtrichen hin ausdehnte,
begann auch fofort ihre lange und ſchreckliche Agonie. Der Kampf zwiſchen
der ariftofratifhen Dligarhie und der Demokratie oder beſſer Demagogie
war dad DVorfpiel zur Monarchie. Die geſchichtliche Nothwendigfeit der-
jelben, in Julius Cäſar zu hellem Bewußtfein gefommen, ift heutzutage
jedem Kenner der Geſchichte Kar. Der genialfte Römer mordete bie Res
publik nicht, er beftattete nur ihre Leiche und trat die Hinterlaffenidaft an.
Wie wenig Cäſars Mörder ihre Zeit Fannten, wurde ihnen bei Philippi
bewiefen.
Eine Republik ohne Republikaner, d. h. ohne eine ſtarke Majorität
von arbeitſamen, ehrbaren und patriotiſchen Bürgern, iſt nur ein Phantom
und daher konnte, nachdem Auguſtus die äußerliche Convenienz der republika⸗
niſchen Verfaſſung noch hatte fortbeſtehen laſſen, ſchon Tiberius durch Ver⸗
legung der Comitien in den Senat und durch fein Majeffätsgeſetz dieſen
Schein vollends befeitigen. Der römiſche Senat war jeßt nur noch ber
elende Handlanger orientalifher Deöpotenlaune. Palaſtrevolutionen be=
flimmten fortan das Schickſal der römischen Welt. Unter dem Joch cäfarifch«
prätorianifcher Tyrannei, im Taumel namenlofer Lüfte, büßten die Römer
geiftige. Energie und phyſtſchen Muth ein. Die Wehrfraft beftand bald nur
noch aus geworbenen Provinzialen und Barbaren. Dad Reich fam an
Fremde. Beim Uniergang ded auguftiichen Haufes mit Nero, beim Erz
löſchen des flavifchen mit Domitian beftieg zuerft ein Kretenfer, Nerva,
dann ein Spanter, Trafan, den Thron der Cäfaren. Unter Diofletian ging
die Siebenhügelftadt aud noch des Vorrechts verluſtig, die Reſidenz der
Kaiſer zu ſein.
33
7.
Wenn nad Vorſtehendem die mit Strömen von Ihränen und Blut
bezahlte Ehre, dem roömiſchen Weltreih anzugebören, für tie Völker in
politifcher und moralifher Beziehung eine traurige war, fo darf doch nicht
verfchwiegen werden, daß die Ausdehnung dieſes Reiches über fo viele Ge⸗
flade und Provinzen die Eulturarbeit der Weltgefchichte bedeutend gefoͤr⸗
dert bat. Unter den befieren Kaifern zog die antike Civilifation immer
weitere Kreife. . Die vielfachen Bedürfniſſe eines feineren Lebensgenuffes,
duch die Wechfelbeziehungen von fo vielerlei Nationalitäten, Sitten,
Klimate vermittelt, trieben ‚zur Entwicklung der Landwirthfchaft und ver-
edelten den Gartenbau. Der Lurus in Bauten, Geräthen, Trachten und
Waffen befchäftigte Millionen fleißiger Hände und führte einen allgemeinen
Aufſchwung der Gewerbe und Künfte herbei, welche Ietteren freilich ſtets
den Stempel der Nahahmung trugen. Die römifche Kunſt zehrte von ten
hellenifchen Vorbildern , erreichte fie nur fehr felten, übertraf fie nie. Mit
großer Sorgfalt wurde der materielle Verkehr ermuthigt und unterftügt. Der
im Inneren des Reiches herrſchende Friede, die alle Provinzen durchſchnei⸗
denden und als in einem Focus in der Hauptftadt zufammenlaufenden prädh-
tigen Heerftraßen, das im ganzen Reiche geltende gleiche Recht, Maaß, Ges
wicht und Geld, — alles Liefes wirkte höchſt vortheilhaft auf Handel und
Verkehr. Ebenſo ein weiterer Umftand ‚ welder aud die Ausbreitung des
Chriſtenthums fehr begünftigte, naͤmlich, daß zwei Spraden die ganze
sömifche Welt beherrichten, die lateinifche, in welcher alle adminiftrativen
und gerichtlichen Verhandlungen flatt hatten, und die griechifche, ald univer«
ſelles Organ aller höheren Bildung.
Diefe war, wie Jedermann weiß, in Nom ſtets nur ein Sepling des
Hellenismus geweien. Die Römer Hatten die hellenifchen Götter bei ſich
eingebürgert !) und trieben dann aud Wiffenfhaften und Künfte, Beredt⸗
famfeit und Poeſte nach griehifcher Manier, wenn au nicht im griechiichen
Geiſte. Denn das hellenifche Schönheitsideal blieb im Grunde den Römern
doch ſtets ein fremdes, fünftlich anempfundenes, um nicht zu fagen, mit plumper
Fauſt gewaltfom angeeigneted. Die rohen Anfänge der römiſchen Poefte 2),
4) Bol. Thl. U, S. 207 fo.
2) Carmina Saliaria, carmina amoebaea; ferner die Fescenninen und Atellanen,
dialogifirte Farcen.
Scherr, Geſch. d. Religion. 1. 3
34
aus welchen fih fpäter nur die eine eigenthümliche Dichtgattung ber
Satire entwidelte, traten, als die Bekanntſchaft mit der helleniſchen Litera-
fur gemacht war, ſpfort in den Hintergrund. Die Nävius und Ennius,
Pacuvius und Attlus zwangen das nody ungelenke Yateinifche Idiom in grie⸗
chiſche Formen und Rhythmen. Plautus und Terenz verpflanzten die Charak⸗
tere, Motive und Situationen der „neueren * attiihen Komödie nach Rom.
Lucretius, in feinem ſchon früheren Ortes berührten 3) Lehrgebicht De na-
tura rerum ſchulte den praftiihen Realismus feiner Nationalität an ber
philofophifhen Doctrin Epifurd und machte mit römiſcher Mannhaftigkett
den Verſuch, die Grundfragen des Menſchendaſeins zu Löfen. An Energie
ber Begeifterung und Leidenfhaft kommt feinem Gedicht fein anderes roͤmi⸗
ſches gleich.
Nah dem Untergange der Republik erlebte, im Zeitalter des Auguftus,
die griechifche Dichtung eine Nachblüthe in Iateinifcher Sprache. Die Poefte galt
am Hofe der Gäfaren für einen integrirenden Theil der feinen Lebensart. Die
Nachahmung griechiſcher Mufter, ſchon in den Gedichten des Batullus fein und
geſchmeidig aufgetreten, erreichte jeßt, Durch große Talente gepflegt, den
Bipfel der Eleganz. Wenn auch wenig felbftftändige Infpiration, jo legten
die Poeten der augufliihen Periode doch viel Formenſinn an den Tag.
Zwar zeigte diefe hofräthliche Dichtung natürlih kaum da oder dort noch
eine verlorene Spur des altrepublifanifchen Nömerfinnes, doch verlteh ihr
die Idee der Weltherrfchaft, freilich in der Verfon des Kaiſers angeſchmei⸗
delt, noch immer einen großartigen Hintergrund. An vollendeter Technik
war fein Mangel. Birgilius lieferte in feiner Aeneis eine zwar an fchönen
Einzelzügen reihe, im Ganzen aber Doch verfehlte Copie homerifcher Epit,
erreichte auch in Nachahmung der Idyllik des Theofrit fein Mufter nicht und
ſchlug nur in feinem trefflichen Kehrgedicht vom Landbau einen wahrhaft römi⸗
fhen Ton an. Im der Lehrdichtung und ihrem Nebenzweig, der Satire,
hat überhaupt die römijche Mufe ihre beften Eingebungen niedergelegt.
Horaz, als Lyrifer aus den Belelfen der Nachahmung nur in glücklichften
Momenten herausgekommen, hat in feinen Epifteln und Satiren daB Thema
des Nil admirari, d. 1. eines Heiteren Gleichmuths, der lachend „fein? Sach'
auf Nichts geftellt”, in Tiebenswürdig geiftreicher Weiſe variirt. Seine
Poeſie zeigt, daß felbft die beſten Geifter dem beginnenden Berfall der an⸗
3) Thl. 11, ©. 220.
35
fifen Welt nur noch epffurätfcheindifferente Itonie etttgegenzufegen hatten.
Andere geniale Raturen ſchwammen behaglich mit dem Strome und verherr-
lichten in melodiſchen Verien Die Ueppigfeiten der taͤſariſchen Roma. So
die drei Meifter der Elegie, Tibull ), Properz und Ovid. In den Efegien
des Erften Plingt ein füßer Ton idylliſcher Schwärmeret vor, in derien des
weiten glüht heiße Leidenſchaft, in denen des Dritten ſplielt die Srivolität
ber Zeit in taufend prismatifchen Farben. Später wich die horazifche Ironte
and die ovidiſche Leichtfertigkeit der ſchrecklichen Sittenſchilderei einer Satire,
deren Vertreter wir ſchon gelegentlich namhaft gemacht.
In dem legten Jahrhundert vor und dem erſten nach Chriſtus gelangte
die römiſche Gefhichtfchreibung zur höchſten Blüthe, während die griechtiche
in Plutarch ihren legten großen Vertreter vorſchickte. Die feierlihen Perioden
ber vergleichenden Biographien Plutarchs tönen wie das Grabgeläute einer
Welt, deren Geſchichte uns die Meifter der hellenifchen Hiftorif, Herodot,
Thukydides, Kenophon und Polybios, erzählten. Die hiftorifche Kunft der
Römer Gebt mit Cäfard Commentarien über feine Feldzüge in Gallien an,
ſchreitet in den herrlichen Monographien Salluſts über Catilina und Jugur⸗
iha, fowie im dem großen vaterländifchen Geſchichtswerk des Livius zur
Bollendung vor und erreicht fle in ben Werken des Taritus. Diefe ftehen
wie ein von der Hand der Nemefis errichteted Denkmal von Erz auf den
Ruinen der alten Welt. |
Die römifche Redekunſt Hatte in Cicero ſowohl theoretiſch als praftifch
ihren bedeutendſten Pfleger gefunden. Bwar ein Demofthenes war Cicerd
nit und fein Charakter ald Staatdmann wie ald Schriftfteller bietet der
Blößen viele dar; aber wenn er, trog Alledem, von den Kathebern unferer
Tage herab mißhandelt wird, fo gehört das zu den wunderlichen Ueber
bebungen einer Zeit, deren Gelehrte durchſchnittlich wahrlich Feine Urſache
haben, in Beziehung auf Mannhaftigkeit und politifhen Takt mitleidig auf
den Ankläger des Verres und des Catilina herabzuſehen. Mit der Rhetorik,
um deren Theorie Quintilian und der jüngere Plinius noch ſich verdient
machten, bevor ſie in ſophiſtiſcher Künſtelei unterging, hatte andy die Juris⸗
prudenz als ſelbſtſtaͤndige Wiſſenſchaft ihren Aufſchwung genommen. Im
den Kaͤmpfen zwiſchen dem republikaniſchen und dem monarchiſchen Prinzip
4) Defien Elegienkranz Sulpicia gerechten Anſpruch hat, für das anmuthigſte
Product der roͤmiſchen Literatur zu gelien.
ge
36.
wurde der Grundftein zu jenem römiſchen Mechtögebäude gelegt, weldies
fpäter unter Juſtinian durch die große Gefegedfammlung (Pandekten) feinen
Abſchluß fand, — ob zum Heil oder Unheil der Menichheit, wollen wir bier
dabingeftellt fein laſſen. |
Die großartigen Anregungen, welde durd die Kriegszüge Alexanders
des Großen und fodann unter der Herrichaft der Ptolemäer in Aegypten bie
Realwiſſenſchaften empfangen hatten, wurden erft recht fruchtbar unter dem
römifhen Weltregiment, welches die Auffaffung der Natur als eines großen
Ganzen ermöglichte. Strabon und Claudius Ptolemäus cultivirten die
Geographie, und das aſtronomiſche Syftem des Legteren ift bis auf Koper⸗
nifus in Geltung geblieben. Auch Botanik, Zoologie und Phyſtologie er⸗
fuhren vielfache Förderung und der raftlofe Beobachtungseifer des älteren
Plinius machte in feiner Historia naturalis zuerft den Verſuch, die ganze
fihtbare Schöpfung als ein Ganzes zu behandeln. Diefe Männer der
Wiſſenſchaft waren die Glüdlichflen unter den damals Lebenden. Die reinen
Naturgenüffe neidete ihnen Niemand und ihr Geift fand Feine Zeit, in den
rings um fie Elaffenden Höllenpfuhl politifcher und fittlicher Fäulniß zu bliden.
Aber leider Lienen alle Segnungen der Eultur unter einem verfunfenen
Geſchlechte nur zur Verweichlichung und weiteren Förderung phyſiſcher und
moralifcher Auflöfung und Zerfegung. Das römifche Weltreich war ent»
ftanden, um die Weltreligion zu ermöglichen. Nachdem diefe geflegt, mußte
es als ein fürderhin zweckloſes Ding zertrümmert werden. Denn überall
. in der Geſchichte dient das Stoffliche nur tem Geiftigen. Der ideale Zweck
baut Weltreiche und wirft fie nieder. Das rein Materielle war niemals
Zweck des weltgefchichtlichen Prozeſſes und wird es niemals fein.
Drittes Kapitel.
Blick auf die Bhilofophie bes Alterthums.
1.
Unfere Einleitung in die Darftellung des Chriſtenthums zu vervoll⸗
ſtaͤndigen, tft e8 unerlaͤßlich, einen rafchen Blick auf die Gefchichte der an⸗
37
tifen Philofophie zu werfen. Jedoch genügt die Betradhtung der religidien
und fittlihen Seite derfelben für unferen Zweck, welcher darauf gerichtet ift,
in Erfüllung eines früheren Verſprechens ?) die Entwidelungen der religiöfen
Idee in den antiten Philofophemen nachzuweiſen und aud dadurch zur rich⸗
tigen Würdigung bes Chriſtenthums eine Stufe mehr zu bauen.
Wenn wir bedenken, daß die griechiiche Philoſophie zuerft in Klein«
aften (Milet) auffam, daß fle Anfangs, in der jonifhen Schule, fih auf
dentende Naturbetrahtung (Phyfik im alten Sinne des Wortes) gründete,
dag Thales von Milet, ihr anerfannter Stifter, geb. um 670 vor Chr.,
den Auf feines außerordentlichen Wiſſens befonders feiner Reife nad Aegyp⸗
ten verdankt haben fol, wie dann auch Pythagoras (blühte 540—500
vor Chr.) erft nad) Tangen Reifen durch den Drient und Aegypten mit feiner
Philoſophie auftrat: fo können wir nicht annehmen, der griechiſche Genius
habe feine Philofophie ganz originell aus ſich felbft heraus erzeugt, fondern
müffen vielmehr der Anficht Beiftimmen, es habe derfelbe mit Zugrunde-
legung orientalifcher und ägyptifcher Ideen über Die Natur philofophirt 2). Die
wenigen damals unter den Griechen vorhandenen Kenntnifje in der Natur-
wifjenfchaft hätten, ohne folche Anregung von außen, fehwerlich zum For⸗
fen nad dem Urgrund der Dinge angeregt und die Philofopheme der
joniſchen Schule erinnern allzu deutlich an tie kosmiſchen Götterbegriffe der
Aegypter, als daß dieſe Aehnlichkeit eine ganz zufällige fein fünnte. Des
Thales Lehre, der Urftoff aller Dinge ſei das MWaffer, aus deffen Verdich-
tung und Verdünnung fie hervorgegangen feien und immerdar hervorgehen,
wie nahe ſteht fle der ägspptifchen Lehre von Neith, ber Urmaterie, welche
als ſchlammiges Waffer ſelbſtthätig fchöpferifche Kraft in ſich Hatte, aus wel⸗
der die ganze Welt hervorging ?).
Allerdings ein geeigneterer Boden zur Entfaltung des philofopbifchen
Gedanfens ald der Orient und Aegypten war der helleniſche. Gier barg
keine Priefterfafte die höhere Weisheit in ängftlicher Verhüllung, bier galt
41) Thl. n, ©. 199.
2) Wir wiſſen recht wohl, wie fehr wir damit gegen die Meinung Solcher vers
ſtoßen, welche, eine Art Zionswächter des Hellenismus, Hellas für Lirect vom Hims
mel gefallen oder wenigftens für ein mit einer himmlifhen Mauer gegen die ganze
übrige alte Welt abgefchlofienes Stüd Boden auszugeben lieben. Sie haben gerade
fo recht, wie Andere, welche glauben, die Weltgefchichte habe eines fhönen Morgens
das Chriſtenthum plößlich aus dem Aermel gefchüttelt.
3) Bol. Thl. II, ©. 16-18.
38
die Freiheit der Individualitaͤt auch im Denken über die goͤttlichen Dinge
und das Arbeiten mit Begriffen war dem griechiſchen Geiſte nicht weniger
geläufig als die kuͤnſtleriſche Darſtellung ber Schönheitsideale. Daraus ex⸗
klaͤrt es ſich, daß in ber vorchriſtlichen Welt Hellas die claſſiſche Heimqt
der Philoſophie wurde.
2.
Die Lehre des Thales, mit welchem die joniſche Schule hegiunt, haben
wir beseitd angedeutet. Sein Nachfolger Anasimander von Milet (570
vor Chr.) fegte ald Urgrund der Welt die räumlich unbegränzte Materie,
welcher die Gottheit ald belebende und bewegende Kraft innewohne. Anarte
mened von Milet (548 vor Chr.) nimmt als ben Urgruud der Welt bie
ätherartige unfichtbare Luft an und nennt dieſe das urfprünglid Göttliche,
welches fich in mehrere Götter individualiſtrt habe. Nah Heraklit von
Ephefug (um 500 vor Ehr.) if der ewig ſich bewegende feurige Aether Urs
grund der Welt. „Alles im Fluß“, ewiges Werden und Vergeben, heißt
die Bormel feiner Weltanfhauung. Die Hemmung biefer Kraftbewegung er⸗
zeugt den Stoff; wo die Hemmung aufhört, löſt ſich der Stoff in feine
Kräfte auf und dieſe kehren in ven Zuſtand des reinen Aethers zuriuf, Der
seine Aether, in die Verdichtungen hinein ergoflen und darin rein (unver
bichtet) erhalten, iſt die Weltvernunft und heißt in den einzelnen Körpern
Seele, feien e8 Seelen der Menſchen oder der Götter, Die ewige Bewe⸗
gung des reinen Aethers if abſolute Nothwendigkeit, in welche, wie fte fich
auch in ten Schickſalen offenbare, man fc ergeben muß, um ben Namen
eined Weifen zu verdienen. In beſtimmten Weltperioden erfolgt eine allger
meine Auflöfung in den feurigen Aether, Weltuerbrennung,
Die eleatifche Schule Hat ihren Nomen von Elea, einer Heinen Stabt
in Unteritalien. Als ihr Stifter ericheint Zenophaned von Kolophon in
Jonien (um 555 vor.Chr.). Außer ihm find zu nennen Parmenides und
Zenon, beide aus Elea. Vorzüglich in der Abficht, die unwürdigen Vor⸗
ftellungen von der Gottheit zu bekämpfen, ſprach Xenophanes den berühm⸗
ten Sag aus: „Die Bottheit ift dad Eind und Alles.“ Der Berückſichti⸗
gung werth ift fein Eühnes Auftreten gegen die Untbropomorphiömen der
Volföreligion 1). Als abſolute Eigenfhaften der Gottheit nennt er: Ewig⸗
1) Bgl. Thl. II, ©. 200.
39
Seit, Unpeichrönftheit, Unveraͤnderlichkeit, zeing Geiſtigkeit, Selbſtbewußt⸗
ſein, Selbſtgenügſamkeit. Parmenides (um 456 nor Ehr.) bat mehr bie
ꝓhyſitkaliſche Seite des Syſtemẽ ausgebildet. Sein Grundgedanke lautet:
„Das Sein (die Gottheit) allein iſt, allea Uebrige iſt Nichtſein, bloßer
Schein, alſo alle Wewegung und Geſtalt der Dinge, alle Schickſale u. |. f.
gehören ind Gebiet des Sinnestäuſchung.“ Ban Zenon erwähnen wir, daß
er die Menfchenfeele für die Harmonie der vier Elemente und nur. infofern für
göttlich gehalten, ald in ihr das euer, dag reinfte Element, vorherrſche.
Das pothagorätiche Syſtem, nad Pythagoras non Samos (580 —508
vor Chr.) genannt, von feinen Schülern, nicht von ihm ſelbſt her Nachwelt
überliefert, wendet fih dem Religiös⸗Sittlichen noch weit ernftlicher zu alg
felbft das eleatifche. Ihm zufolge gibt es drei Urgründe der Welt: die
Gottheit, die beichaffenheitölofe Materie uud den leeren Noum. Bon ber
rein geifligen Gottheit wird die Materie zu den verichiedenften Atomen ge⸗
bildet, nad) den harmonifchen BVerhältniffen ber Stereametrie. Das Dode⸗
taëder iſt die Form ber Aetheratome, melde ald Weltieele alle Körper
durchdringen und auch als einzelne Seelen erſcheinen. Die Gottheit hin«
wieder durchdringt die einzelnen Seelen wit ihrer unmittelbaren Kraft, dar
her die Menichenfeele aus einem gernünftigen, der Gottheit angehörigen, und
aus einem unvernünftigen, dem bloßen Aether. angehörenden Theile beſteht.
Daß beide Theile in völliger Harmonie mit einander ſtehen, foll des Men⸗
ihen Streben fein, und bis biefes Biel erreicht iſt, muß die: Seele vers
ſchiedene Körper durchwandern, um endlich zur Gotibeit, welche in ber
Sonne ihren Sig hat, einzugehen. WS Ausflüſſe des Gottheit, ähnlich
ber Menſchenſeele, aber höhern Stufen angehärtg, werben bie Götter, Där
monen und Halbgötter betrachtet. Auch Empedoklet qus Agrigent (um
449 oor Ghz.) lehrte Die Serlenwonberung und zwar ip, daß die Seelen,
urſprünglich Sind mit per Gottheit, Pflanzen⸗, Thier⸗ und Menfchenkörper
zur Strafe durchwandern müffen, nach deren Abbüßung fie wieder mit ber
Batibeit yereinigt werben. Das Eine Urweſen ber Belt if} der Sphaͤros,
hie aus den vier Elementen beſtehende Kugel, weiche die Philia (Freund⸗
haft, Liebe) als Gottheit zufammenhält, während in den Elementen die
Bwietradht waltet. Die auseinander gegangenen Elemente neu vereinigend,
bildet die Philta die Tebendige Welt.
Zum förmlichen Atheismus gelangt die Philoſophie in der Atomiftif
bed Demofrit von Abdera (geb. 470 vor Ehr.); denn feing Dogmen über
40
bie Götter in den Zwifchenräumen ber verſchiedenen Weltſyſteme Yaflen ſich
in feiner Theorie nirgends unterbringen, was unter Andern der Atomiftiker
Diagoras mit Hefonderer Offenheit ausgefproden. Die ®rundprinzipien
der Welt find nad) Demofrit die Atome, untheilbare Stofftheildhen von vers
fhiedener Geftalt und Größe, der leere Raum und die bewußtlofe Noth«
wendigfeit, welche die Atome in Bewegung fett und aljo die Welt bildet.
Diefem Materialismus gegenüber machte Anaragoras von Klazomenä (geb.
500 vor Chr.) den Nus (voüc), d. 1. die göttliche Vernunft, geltend,
welche durch Entmifhung der das Chaos erfüllenden Atome die Welt ges
bildet und fortwährend weiter bildet. Der Nus erfheint nicht nur als Bes
weger, fondern auch nad Zwecken bandelnder Bildner der Stoffatome zur
lebendigen Körperwelt.
Mit Anaragoras fehen wir die philoſophiſche Verarbeitung der aͤghp⸗
tifchen Ideen erſchöpft. In feinem Nus iſt ein ganz geiſtiges, einheitliches
und doch der Welt frei gegenüberftehendes Wefen gewonnen, defien Begriff
bereit den alten Ideenkreis überfchreitet. Es folgte nun die Skepſis, um
durch Niederreißen einen neuen Aufbau vorzubereiten. Wie ſie ſich zur
Religion verhielt, ergibt fih aus den Stichwörtern ihrer zwei Hauptreprä«
fentanten, von denen der eine, Gorgiad, und zuruft: „Nichts iſt wahr! ®
der Andere, Protagorad, noch viel impertinenter: „ Alles ift wahr! * 2).
3.
Dem metaphuftichen Materialismus trat der ethifche nach, dem theore-
tifchen der praftifhe. Die Skeptiker, unter dem Namen der Sophiften
heute noch übel berüchtigt, gingen foweit, die allgemein geltenden fittlichen
Speen als ſchlaue Erfindung der Schwächern zum Schube gegen das natürs
liche Recht des Stärfern darzuftellen und die jeweilige Laune des Einzelnen
zum Gefeg alle Thuns und Laflend zu erheben. Kritias, der Schlimmfte
unter den dreißig Tyrannen Athens, verfocht die Freiheit com Sitten⸗
geſetz fogar mit der Behauptung, ſchlaue Staatömänner hätten den Götter⸗
glauben erfunden, um durch den Glauben an ſolche unfihtbare Zeugen von
Vebertretung der Gefege abzufchreden. Ueberhaupt betrachteten Kritias und
2) In feinem Buch über die Götter äußerte Protagoras unter Anderm: „Bon
ben Böttern kann ich nicht wiflen, ob fie find, oder ob fie nicht find; denn Vieles
hindert uns, das zu willen, fowohl die Unflarheit der Sache, ale die Kürze des
menfchlichen Lebens.”
4
Genoſſen die moralifchen Gefege nur als nach und nach aufgedrungene bürger-
lihe Geſetze und erklärten demgemäß jede Einfchränfung bes natůrlichen
Triebes für naturwidrig.
Dem Unweſen der Sophiſterei trat auf dem Gebiete der Philoſophie
zuerſt Sokrates (geb. 469 vor Chr. zu Athen) mit Erfolg gegenüber. Er
hat kein Buch geſchrieben, ſondern nur durch Darſtellung ſeiner ſittlichen
Geſinnung in Lehre und Wandel gewirkt. Es iſt ſchwierig, feine eigen⸗
thümlichen Kehren Larzuftellen, ohne in Platonismen zu verfallen, weil
Platon in feinen Dialogen den verehrten Lehrer redend einführt. Wo Xeno⸗
phon die Lehren des Sofrates entwidelt, ift zwar eine Vermengung mit
platonifhen Sägen nicht zu beforgen, aber auch hier Feine Vollſtaͤndigkeit
zu erwarten. Die Gottheit foll Sokrates aufgefaßt haben ald ewige, all⸗
gegenwärtige, allwifjende reine Vernunft, welche die Eörperliche Welt har⸗
moniſch und vernunftgemäß gebildet, damit die Menſchenſeelen felbftfländig
und frei die Glüdjeligkeit erwerben Eönnen. Die wahre Glückſeligkeit aber
befteht nach Sokrates in der durch Wiſſenſchaft und fittliche That erworbenen
Seelenfreudigfeit. Das Dämonton, diefe innerlihe Stimme, welcher So⸗
krates fo gewiſſenhaft Taufchte, feheint er für eine Eingebung der Gottheit
ſelbſt, die in einzelnen Lebensfällen ald Schutzgeiſt der Seele gegenwärtig
fet, gehalten, fomit auch den andern Weiſen und nach Weisheit Streben-
den zugeſchrieben zu haben.
Mehr und minder einfeitig verfolgten die fofratifche Richtung bie
Schule der Kynifer, geftiftet von Antiſthenes aus Athen, die Eyrenaifche
Säule, geftiftet von Ariſtipp in feiner Vaterftadt Kyrene, die megarifche,
geftiftet von Euflided aus Megara, und die elifh » erethrifche, welche letztge⸗
nannte für unfern Standpunkt ohne Bedeutung ift. — Antiſthenes hob bes
fonder8 hervor die vernünftige Einrichtung der Welt, wodurd fie geeignet
fei, die ſittlichen Zwecke des Tugendhaften zu verwirklihen. Im Hinblid
auf diefe fittliche Weltorbnung der Gottheit ſprach er feinen Hauptſatz auß:
„Xebe der Natur gemäß!” — Da aber die Kyniker befonders das freiwillige
Entbehren der äußern Güter für Tugend, nur das Gute für fhön, nur das
Böfe für häßlich erklärten, fo machten fte fih in ihrem Außerlichen Auftres
ten vielfacher Mebertreibung ſchuldig, am meiften Diogenes von Sinope, der
befanntlih Tange Zeit in einer Tonne wohnte und mit gutem Grund den
Spignamen „der rafende Sofrates“ erhielt. Im Gegenſatz zur kyniſchen
Auffaffung des Lebens hielt die Eyrenaifche für gut, was bie unabläfflg bes
42 .
wegte Seole zur fanften Ernegung bes Luft bringe; für böſe, was fie ſchmerz⸗
lich aufrege. Denn eines bayerhaften Pergnügens Genuß ſei das höchſte
But und die Tugend nichts Anderes als die Fäbigfeit, ſolchen Genuß Ih
zu verichaffen. Die megariſche Schule hefinirte Die Gotthieit ald Dad unver⸗
fnderliche Bute.
Höhere Ehren noch ermuchien dem Solrated durch ben Ruhm ſeineß
Schülers Ariſtokles, mit dem Beingnien Platan, geb. 429 nor Chr. Dier
fer geniale Mann begriff die Gottheit als das vollkommen Byte, als der
jelbftbewußten Urgrund aller Dinge, ohne und jedoch genägenden Aufſchluß
zu geben, ob von dieſem Urgrund wie Die ewigen Ideen T) fo and die Mar
terie audgegangen fei. Die aus Bermittlung Beider gefchaffene Welt ſtattete
die Oottheit mit einey vernünftigen Seele (, Weltteele”) aus, damit fle hie
höchſte Vollkommenheit erreiche. Leber dem ganzen Weltverlauf waltei
Gott als Vorſehung, die auch das Kleinfe nicht unberückſichtigt läßt, Die
Seele des Menſchen, weil mit Vernunft begabt, iſt göttlicher Ngtur. Wer
nor ſie in den Leib eintritt, ſchaut ſie in der Sdeglwelt die ewigen Ideen au
und erinnert Ach ihrer wieder währenh bes irdiſchen Daſeins. Durch
Weisheit und Tugend erlangt fie nach dem Tode ein glückſeliges Long in
dem ihr verwandten Geſtirn. Die Böfen müſſen His zu ihres Läuterung
Thierleiber durchwandern2). Auch unglüdlige Schidfale müſſen nad
Gottes Weltordnung dem Guten zum Beſten dienen, da fie feine Seek
Jäntern ; nur der Böfe gebt ig Unglück unter. Die. Verbindung ber un«
fiexblichen, Seele mit dem flerbligen Leibe zu erklären, nimmt Plato 959
Mittelweſen eine aus feinen Körpertbeilen gebildete ſterbliche Seele an,
welche zwei Kräfte, Much und Begierde, befigt. Demgemäß entſpricht bex
unſterblichen Seele die Tugend ber Weisheit, der ferblichen entſprechen bie
Rugenden ber Tapferkeit und der Selbfibehesrihung. Die Haxmonie dieſer
drei, welche den Menfchen zur Gottähnlichkeit erhebt, iſt die Gerechtigkeit,
Dad Streben nach dem Guten und Schönen, welches den Menfchen mit der
Gottheit verbindet, und das zeine Wehlgefallen an dem Guten und Schö⸗
nen, welches andere Menſchenſeelen ziert, nennt Plato die Liebe. Die
Götter hält er für die vernünftigen Seelen der leben Planeten und Dog
dirſterne.
9— ®. i. i ſelbſtſtändig gedachte Gattungsbegriffe, die Urbilder der Dinge.
2) Doch ſchließt ſich Platon anderwärts in dieſem Punkt den Vorſtellungen des
San an (Eipfion und Tartaros , vgl. Thl. II, &, 187-188).
43
PPlato gründete tie Philoſophenſchule der Älteren Akademie, welche
nadı feinem Hingang zunaͤchſt yan feinem Neffen Speufippoß geleitet wurde.
Diefer Platoniker beſtimmte die Gottheit al& das Ureins, den Grund de?
Seins und der Zahl. Die Seele betrachtete er gewiflermaßen als einen
Spielball der Daͤmonen, von denen bie einen fie zum Guten, bie andern
zum Böſen bewegen. Xenofrates von Chalkedon, geb. 397 vor Chr., ar⸗
beitete durch fein Philoſophiren begeitg ſtark dem fpätern Neuplatonismus
por. Gott, Ichrte er, ſchuf zuerſt die Ideglwelt, Dann die Moterie, hierauf
zum Serrfcher über die Ipealwelt' eine männliche, zur Herrſcherin über
Die Materie eine weibliche Gottheit, die Weltfeele. Diefe Beiden erf voll»
bringen die Weltbildung, fchaffen die Dämonen, die Menfchenfeelen u. |. w,
In feinem Beſtreben, die platonische Lehre möglichſt in mathematijche Bor
meln zu faflen, nannte er die Seele eine fich felbf} bewegende Zahl.
Dieſe Akademifer erfcheinen unbedeutend im Vergleich mit Dem größ⸗
ten Schüler Platons, Ariftoteles von Stagira in Thrakien, geb, 384 vor
Bhr., der hinwieber Alerander den Großen feinen Schüler nannte. Die
platouifche Ipeenlehre verwarf er zwar vollſtaͤndig; was er jedoch an beren
Stelle jegte, hat neben ihr bis auf unfere Lage herab gleich maͤchtig auf die
Entwidlung der Vhilofophie eingewirft. Die Gottheit des Ariſtoteles if}
der abjolute Geiſt, dad Denken des Denkens, der erfie Beweger, emige
Tätigkeit ihrem Weſen nach und doch felber ewig unbewegt, ſelbſtgenüg—⸗
fan, dad ewig felige Leben, dad Gute an ih. Ihr gegenüber ſteht die
zaumlich ausgedehnte, zwar hefchaffenhettälofe, aber bildungsfühige Materie. .
Die Gottheit wirft zunachfi auf biefelke pin als „reine Form“ (Morphe);
i8 Die. Materie yon der Korın jo durchdxrungen, daß Iegtere in ihr zur trei⸗
henden Lebenskraft wird, wie z, B. beim Samenkorn, fo. wird die Form
zur „Energie,“ nad vollendeter Geſtaltung der Materie enblih zur „ Enten
lechie“, d. 5. Zweckhollendung, dem Organismus inwohnender, an ihn
yollftändig ausgeführter Zweckbegriff. Ob auch die Matsrie qus Gott here
vorgegangen, darüber finden wir bei Ariſtoteles eben ſo wenig einen gen
nauen Ausſpruch wie bei Platon. In Beider Syflem fühlt mar immer noch
den dualiftiſchen Haren. Die Serfe iR die Eytelechie des menſchlichen
Körperd und leitet als folde die Ernaͤhuung, Empfindung und Bewegung,
Zu Alledem empfing fle yon der Gottheit unmittelbar Die Bernunft, welche
mit dem Körper und den nigdern Seelenthätigfeiten in keinem natürlichen
Aufommenhang fight. Als göttliche Vernunft allein if} Die Seele unßerh⸗
44
lich, fle hängt in diefer Beziehung nicht am Leibesleben und fo wird fle auch
vom Tode des Leibes nicht berührt. Für das höchſte Gut erklärt Ariftoteles
die Glückſeligkeit, worunter er die innerliche Befriedigung in angemeffener
"Verwendung der dem Menſchen verlichenen Fähigkeiten und Kräfte verſteht.
Tugend iſt ihm die Wertigkeit, bet jeder einzelnen Handlung bie vernunft⸗
gemäße Mitte zu finden, das Zuviel (z. B. Verſchwendung) und das
Zuwenig (Geiz) zu vermeiden. Des Ariſtoteles nüchterne und gründliche
Weltanſchauung, ſein auf Empirie gegründetes Denken ließen in ſeinem
Syſtem keine Daͤmonologie aufkommen.
Bon Ariſtoteles ging die peripatetiſche Schule aud, ſo genannt von
den Spaziergängen in den Säulenhallen, welche das Lyceum (Lykeion) des
Ariſtoteles zierten. Die Peripatetiker philoſophirten noch weniger ſelbſt⸗
ſtaͤndig ihrem Meiſter nach, als die Akademiker. Wir haben und daher
nicht weiter mit ihnen zu beſchaͤftigen.
Auch der Blüthezeit helleniſcher Philoſophie fehlte e8 nicht an Skep⸗
tifern. Unter ihnen heben wir hervor Pyrrhon aus Elis, einen Beitge-
nofien Aleranderd des Großen. Er drang auf Zurüdhaltung jedes ent-
fchtedenen Lirtheild über die Dinge und Ereigniffe der Außenwelt, weil bie
finnlihe Auffaffung des Menfchen fehr unzulänglih, derſelben alſo nicht
leichthin zu trauen ſei.
4,
Durch den ethiſchen Anftoß einerfeitö, welchen die Philofophen durch
Sofrates erhalten, andererfeits durch Abnahme ber fuftembiltenden @eifles-
kraft nach Ariftoteles Fam in die Philoſophie der Trieb nad möglichfter
Popularifirung und bald wurde fie, als dad allgemeine Verderbniß und
Elend mit dem römifhen Weltreih um ſich griff, Troft und Zufludt aller
ebleren Naturen, den gemeineren freilih, mie einft den Sophiften, ei
Werkzeug, die legten Reſte höhern Glaubens und frommer Scheu in ihrer
und Anderer Bruft auszutilgen.
Theils aus der Weltanfhauung des Heraflit, theils aus derjenigen
der Kyniker bildete ſich die ftotfche Schule, deren Grundfäge von ihren drei
Stiftern, Zenon, Kleanthes und Chryſtppos, gemeinfhaftlih ausgebildet
wurden. Die Bekenner der Stoa badıten ſich Bott und Materie ald Eine
untrennbare Wefenheit, innerhalb welcher nur der Unterſchied Statt findet,
Daß Gott, zugleich als Atherartiger Wärmeftoff und als vernünftige gütige
45
Borfehung gefaßt, das Active, Weltbildende, die Materie, als befchaffen-
heitslos gedacht, der paſſive Stoff der Welt if. Wie die Seele dem Kör-
per, wohnt Gott der Welt inne. Die Stoifer fehauten daher die Welt an
als „ein großes Lebendige." Wie derNaturlauf von Bott vernünftig und
fittlich gut geleitet wird, fo foll auch der Menſch feine Glückſeligkeit in vers
nünftigem und fittlic gutem Handeln finden; das heißt „übereinftimmend
mit der Natur leben“, wie der Stoifer oberfte Regel lautet. Es gibt nur
Eine wahre Tugend, die Weisheit, in welcher ſich die fittlihe Erfenntniß,
die Mäßigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit vereinigen. Neben guten und
böſen nahmen die Stoiker auch „gleichgültige * Handlungen an. Bon den
vernunftwidrigen Gemüthöbewegungen der Begierde, Furcht, Treude und
Traurigkeit foll der Weife frei fein. Die irdiſchen Güter, Reichthum,
Macht u. f. w., weil ſie fowohl zum Guten, als zum Böſen angewendet
werden fönnen, find ihm etwas Gleichgültiges. Endlich nahmen die Stoifer
periodifche Weltverbrennungen und neue Weltfhöpfungen an. Die Weifja-
gung ehrten fie als Offenbarung ter Gottheit. Ihr Pantheismus, im Les
ben alle rein perfönlichen Zwede verwerfend, Tieß Feine Unfterblichkett der
Seele zu.
Den geraden Gegenſatz zum Stoicismus flellt der Epikuräismus dar.
Epifur, geb. 342 vor Chr. in Attifa, bildete aus den Prinzipien der ato—
miftifhen und der Eyrenaifchen Schule folgende Weltanfhauung: — Es
gibt zweierlei Grundurfachen der Welt, die Atome, unzählig, von fehr ver-
fchiedener Geſtalt und Größe, mit urfprünglicher Bewegung (fenfrechter Fall),
und den leeren Raum. Durch ihren ſenkrechten Ball geratben die Atome
aneinander und bilden alfo die Körper. Die Götter, zwar menſchlich ge=
ftaltet, doch ohne feften Körper und menfchliche Bebürfniffe, Ieben in den
leeren Zwifchenräumen der Weltkörper ein ſeliges far niente, unbefümmert
um Alles, was in der Welt vorgeht, — begreiflih, die Atome fchaffen ja -
für fie! Die Seele des Menſchen befteht au8 vier Arten von Atomen, deren
feinfte, in der Bruft wohnend, da8 Empfinden und Denken. verrichtet, Mit
dem Tode hört die Seele auf, zu eriftiren; man fühlt ihn nicht, darum
fhaudert auch der Weije nicht vor ihm, Des Lebens höchfter Zweck ift
Wohlbefinden, denn Died entipricht der menfchlihen Natur, während die
Unluft derſelben widerftreitet. Körperliche Schmerzlofigfeit und unge»
trübte Heiterfeit zu erſtreben, ift echte Lebensweisheit, Alles, was zu die⸗
fem Ziele führt, wahre Tugend, namentlich die Freundſchaft.
46
Mährend die Beiden vorgenannten Schulen am meiften Anhänger ges
Wannen, ſuchten die neueren Akademiker, wie Arkefllaos von Pitane (farb
341 vor Chr.) und Karneades aus Kyrene, der 155 vor Chr. als Ge⸗
fandter nach Rom reifte, die platonifch-fokratiiche Richtung mit geringen
Erfolg weiter zu bilden. Beide neigten fih der Skepfis zu, indem ſte be⸗
Haupteten, nach Sokrates und Platond etgentlither Meinung müffe der ver⸗
nunftbegabte Menfch fein Höchftes Intereffe im Forſchen felber finden. Dem
gemäß Ichrte Arkeftlaos, man könne die Urgrimde der Welt weder nad
ihrem Dafein noch Weſen noch Verhältniß genau erkennen und dürfe alfo
feine beſtimmten Behauptungen darüber aufſtellen. SKarneades, an einem
fihern Maaßſtab der objectiven Wehrheit verzweifelnd, ſtellte eine Wahr⸗
ſcheinlichkeitslehre auf.
Die Peripatetiker dieſer Periode waren faſt nur gelehrte Erklärer der
ariſtoteliſchen Lehren und Schriften. Des hiſtoriſchen Intereſſes wegen
nennen wir von ihnen den Kritolaos aus Phaſelis, welcher mit Karneades
nach Rom reiſte, und Andronikos von Rhodus, welcher die durch Sulla's
Eroberung von Athen nach Rom gekommenen Schriften des Ariſtoteles ord⸗
nete und bekannt machte.
Den Skepticismus des Pyrrhon und der neueren Akademiker vollen⸗
dete Cicero's jüngerer Zeitgenoſſe, Aeneſidemos von Knoſſos auf Kreta.
Wegen der ewigen Veränderlichkeit der göttlichen Subſtanz, behauptete et,
dürfe keine Anſicht auf alleinige Geltung einer andern gegenüber Anſpruch
machen, Gegen die Gültigkeit ded Begriff von Urſache und Wirfung
machte er zehn Zweifelögründe geltend, hierin ahnlich dem engliichen Skep⸗
tifer David Hume, deſſen Kritik der Urſache jo anregend auf Kant ge—
wirkt bat.
6.
Zu den Römern fam die Bhilofophie durch die Geſandtſchaft der
Athenienſer, von welcher wir bereit8 zwei Mitglieder genannt Haben ; das
Dritte war der Stoifer Diogenes von Seleufta. Zwar hatte fihon Enntus
pythagoraͤiſche Säge in feine Gedichte eingemifcht ; aber e8 war bis zu jener
Geſandtſchaft bei vereinzelten Anklängen geblieben. Anfangs war die Phi⸗
Iofopbie bei den Römern, wie die Griechen und griechiſches Weſen über-
haupt, verachtet. Nach und nad) warb fie wenigftens als ein Mittel höherer
#1
Bildung, dann fogat vor Eingelnen als eine Duelle der Glüͤckſeligkeit ange
fiber. Am meiſten Anhänger fand, wie begreiflih, der Epikataͤismus.
Der Stoa huldigte Cato der Jüngere; ebenſo Cicero, was die praktiſche
Seite feiner Anſichten bettifft, während er ſich in theotetiſchen Fragen der
neueren Akademie zuneigte. Er war nicht. der Ginjige, ten man um fo
gemiſchter philofophifcher Anfichten willen einen Eklektiker nannte.
Jede Zeit des Verfalld in der PHilofophie bringt ſolcher oberflächliher Denker
eine Menge hervor. Als vollftändiger Anhänger der afademifhen Schule
wird der befannte Lucudus genannt, Den Steptifern ſchloß ſich Agrippa
an, deſſen Zeitalter freilich ungewiß if. Man nimmt-an, er habe um
Chrifti Zeit gelebt. Er beförberte den Verfall der Philofophie, indem er
auf die Verjchiedenheit ihrer Syſteme aufmerkſam machte, die Subjectivität
ber Vorftellungen, die Hypotheſenſucht, Die Girfel im Beweiſen an allen
Spftemen tadelte, aber bei Alledem nichts Befferes aufzuftellen wußte,
In der nachchriſtlichen Zeit finden wir nichts als mannigfache Ent-
artung der bergebrachten philofophiichen Syfteme. Der Epikuräismus warf
auch feine ruhig feligen Götter Über Bord, verläugnete alle Sittengefege, ward
aus einer Philoſophie Entfhuldigungsgrund aller Laſter und ging unter
im Schlamm äußerfter Gemeinfeit. Der Stoicismus feinerfeitS hatte con»
fequenter Weile zur Rechtfertigung des Selbftmordes geführt. Unverän⸗
dert pflanzte er fich nur in Wenigen fort, wie z. B. in Bafllides, dem
Lehrer des Antonin. Umſchrieben und vielfach abgeändert ward er durch
Seneca, Mufontus Rufus, Epiktet, Arrian und den Kaifer Marcus Aus
relius. Auch eine neuere Eynifche Schule tauchte auf, welche in Demetriuß,
Seneca’8 Breund, und Demonar aus Kypern (2. Jahrh. nach Ehr.) Freis
heit von Furcht und Hoffnung als ihren oberften Grundſatz aufftellte, und
in Peregrinus Proteus zu orientalifcher, vermuthlich erheuchelter, Schwaͤr⸗
merei ausartete. — Wir finden ferner noch fogenannte Platoniker, In
welchen der Einfluß orientalifcher Ideen bereits unverkennbar bervortritt.
So Ichrte der früher genannte Plutarch von Chäronen die Weltfeele, daB
Princip des Böfen, und die Materie ald gleich ewig neben Gott, dem Prin⸗
zip des Guten.
Indifher Weisheit rühmten fich bereits die Neupythagoräer, deren
Zahlenlehre auf die Geltung einer magifchen Wiffenichaft Anſpruch machte.
Zu ihnen zähle man den befannten Apollonius von Tyana, welden die
48
heidniſchen Briechen Chriſto gern gegenüberflellten. Dielem mannigfacdhen
dogmatifchen Unfinn begegnete der Arzt Sertus Empirifus aus Mytilene
(Ende ded 2. Jahrh. nah Ehr.) mit feiner Fühlen Skepfis, die er als eine
Art Heilkunde der von philofophifchen Irrthümern angegriffenen Geiſter bes
trachtete. In jeinen Werken faßte er fo ziemlih vollftändig zulammen,
was Treffendes gegen die dogmatifirende Philoſophie von jeher gejagt
worden war.
Den letzten Anlauf, bereitö im Kampfe gegen das Ehriftenthum, nahm
die antife Philofophie im Neuplatonismus, zu deffen Erzeugung fie bie
altindifcheägyprifche Emanationslehre 1) zu Hülfe rief. Bei ihrem Abſchluß
fehrte alfo die alte Philoſophie, gleihfam , um noch Kraft zu gewinnen für
die Tegten Athemzüge, zu ihrem Mutterfchooße, wenn auch nicht zu den
gleichen Ideen zurüd, mußte aber erfahren, daß auch dort feine wahre
Lebenskraft mehr vorbanten war. Dap.nicht blog Indien, fondern wirklich
aud Aegypten den Neuplatonifern wieder Ideenftoff lieferte, darauf weit
bedeutſam fchon der Umfland, daß das aͤgyptiſche Alerandrien der Haupt⸗
fig des Neuplatonidmus wurde. Selbft die jüdischen Neuplatonifer find von
Alerandrien ausgegangen. Don biefen iſt und ſchon im erflen Kapitel einer
begegnet, Philo. Hier nun haben. wir des, um 220 nad Chriſtus ent-
flandenen Geheimbuches der Effäer zu erwähnen, der Kabbala. Ihr zufolge
fol von Gott, dem unerfchaffenen Urlicht, zuerfi Adam Kadmon, der erſt⸗
geborne Sohn Gottes, göttliche Vernunft und Meſſtas zugleih, ausge⸗
gangen fein, fodann zehn Lichtfiröme, Sephirot, aus denen ſich vier Welten
bildeten: die Höchfte Geifterwelt, die der noch unförperlichen, aber ſchon
niedrigeren Geifter, die der verförperten Engel und die finnlih wahrnehme
bare Welt. Der Menſch ift beftimmt, durch immer höher fleigenden Ver⸗
fehr mit ben Geiftern in den Buflänten der Verzüdung (Efftafe) zur
Anfchauung Gottes zu gelangen,
Zur eigentlih alerandrinifchen Schule gehörten Ammonios Sakkas,
Plotinos, Porphyrios und Jamblichos. Durch Legteren kamen befonders
bie fogenannten hermetifchen Schriften auf, d. i. eine Sammlung altägyp-
tiſcher Offenbarungen, welche von dem ägpptifchen Gott Hermes Trisme⸗
1) Die Emanationslehre befteht, wie Jedermann weiß, darin, daß nach ihr eine
Gottheit von der andern ausfließt, erzeugt, nihterfchaffen wird. Vgl. Thl. I,
©. 109, und Thl. 11, ©. 19.
giſtos 2) Herrühren follten. Jambliches farb um 333 nad Chr. — Die
Lehre ded 205 n. Chr. geborenen Plotin war in Iren Grundzügen fol⸗
gende: — Gott if} die ewige und unveraͤnderliche Güte, Urquuell alles Seins.
Ihm entfließt zuerfi der Mus, tie goͤttliche Bernunft, ald Geſammtheit
der Ideen gedaht. Dem Nus emanirt die Weltfeele, deren höherer Thetl,
der Logos, die Ideen des Nus auffaßt und von ſich ausgehen läßt den nie⸗
drigeren Theil, die ‘empfindende Seele, welder hinwieder die nach den
Ideen die Welt bildende Naturkraft (Phyſis) entfließt. Die unterfie, aus
der Phyſis gefommene Emanation, iſt die Materie, aus weldyer die Welt
gebildet wird. Außer der Weltſeele find dem Nus noch die indiriduellen
Seelen entflojfen, zu welden die Götter erfien Ranges in der Idealwelt,
die zweiten Ranges vom Pirflernhimmel bid zum Monde, die Dämonen
unter dem Monde und die Menichenfeelen gehören. Diefen bildet Die
Phyſis ihre Körper aus der Materie. Wenn vie höhern Kräfte der Seele zu
den niedrigen gänzlich herabgezogen werden, fo muß fe nach dem Tode Thier⸗
und jelbft Pflanzen körper durchwandern. Durch die Tugenden, deren
höchſte die myſtiſche Vereinigung mit dem Ans if, wird die Seele zu ihm
in ihre urfprünglide Heimat zurüdgerührt: — Bropheritches Schauen
(Mantit) und Zauberfraft (Magie) find ſchon hienieden mit jener Gottinnig⸗
Brit ungertrenalicy verbunden.
Noch weiter ward die Emanationdlehre von den atbentenfligen Neu⸗
ylatonifern getrieben. Diele traten aber erſt nadı dem Siege des Ghriften«-
thums auf. Don ihnen feien genannt Plutarch von Athen (350—430
nah Ehr.), Broflus von Konftantinopel (412—485) und Simplicius,
Der die Aufhebung der athenienfifchen Philoſophenſchule durch Juſtinian
(529) erlebte. Obgleich die athenienſiſchen Neuplatoniker wieder etwas
mehr Gewicht auf wiflenfchaftlihe Form des Beweiſes legten, jo hatten
doch auch ihre Philoſopheme gar keinen wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang.
Der ganze Neuplatonisnud ohne Ausnahme war phantaftiihe Träumerei;
von einer philoſophiſchen Bearbeitung der Erfahrungdgrgenflände, vom
wiffenichaftlicher Ableitung der Begriffe, von zmwingender Logik ift Feine
Spur darin. Das gemeinfame Merkmal diefer Epigonenphilofophie war
dad Wunderbare oder vielmehr Wunderliche, theoſophiſche und theurgifche
Düftelet. Die augenfcheinliche Tendenz ging auf Stiftung einer Religions⸗
2) Wahrſcheinlich Tat, einer von den zwölf Göttern des zweiten Geſchlechts,
Schirmgott der ägyptifchen Wiſſenſchaft. Vgl. Thl. I, &. 23.
Scherr, Geſch. d. Religion. II, 4
50
pbilofophie, welche dem Chriſtenthum Oppofition maden follte. Aber
e8 war das Alles nur noch das Stammeln und Lallen des vor Alter
Eindifch gewordenen Genius von Hellas. Geftorben zwar ift damals die
Philoſophie nicht, aber zu einem langen, langen Schlaf hat ſie fich nieder⸗
gelegt.
Diertes Kapitel.
Das eben Sein.
1.
Wir eröffnen die religtonsgeichichtliche Darftellung des Chriſtenthums
mit der Schifverung des Lebens und der Lehre Jeſu von Nazaret, nach den
Schriften des neuen Teftamentes, indbefondere nad Anleitung der Evange⸗
lien. Was die katholiſche Kirche außer dem Inhalt des N. T. als
hriftliche Lehre geltend macht, wird ſich in der Bolge ald Lehrentwicklung
fpäterer Zeiten ausweifen, als urjprünglicye Lehre des Chriſtenthums läßt
fih einzig und allein ter Inhalt des N. T. fefthalten. Auf der andern
Seite können wir ebenfowenig berüdfichtigen die Behauptungen der neueften
proteflantifchen Theologenfchule,, welche e8 mit ihren Forſchungen nach ter
echten Lehre Jeſu jelbft, im Unterſchied von den Lehrauffaffungen ber Apoftel,
bis jegt zu feinem wiſſenſchaftlich feſten Refultate von irgend höherer Be—⸗
deutung gebracht bat. Auch ift der Streit über Echtheit und Abfuffungs«-
zeit der neuteflamentlichen Schriften noch fo fehr in der Schwebe, daß wir
auch hier Feinen-Boden finden, auf welchem wir feften Buß fallen fönnten.
So dürfen wir denn von unferem parteilofen Stantpunft aus bei Betrady=
tung der Lehre Ieju weder von einer paulinifchen Tendenz des Lukas, noch
von einer ebionitifchen tes Matthäus, noch von einem Lehrgegenſatz zwifchen
Johannes und den drei erften Evangrliften (Synoptifern) Notiz nehmen ;
fondern wir müffen vielmehr als Lehre Jeſu faffen, was uns in den Evans
gelien als Ausſpruch Ieju dargeboten wird. Was Hingegen in der Ge=
fhichte und Den Briefen der Apoftel gelehrt wird, muß bei aller Ueberein—
flimmung mit tem Sinn und Geifte des Meifters von deſſen ſelbſteigener
51
Lehre getrennt betrachtet und an die Spitze der Lehrentwicklung ge
ſtellt werden.
Das Leben Jeſu angehend, hat bekanntlich die Kritik daran noch mehr
herumgearbeitet und gibt ed in der Literatur beinahe fo manches „Leben
Jeſu“, als es fchreibfertige Theologen gab feit dem Auftreten von David
Briedrih Strauß. Die Bemühungen der Harmoniften aber, wie der nega⸗
tiven Kritifer, auf dem weiten Gebiete der Wahricheinlichfeit Eonnten uns
nur zu der Anficht bringen, das Leben Jeju möchte in den Evangelien, troß
der in denielben zu Tage tretenten Widerſprüche, doch mit nıchr Hiftorifcher
Treue dargeftellt fein, als in fänmtlichen Büchern über das Leben Jeſu 1).
Zudem ift unfere Aufgabe bier keineswegs, uniere ſubjective wiſſenſchafiliche
Anſicht über den eigentlichen Verlauf des Lebens Jeſu geltend zu machen,
fondern einfach objectio Darzuftellen, wie nach übereinftimmenden Nachrichten
der driftlihen Neligionsurfunden das Leben Jeſu verlief. Wo die Evan
gelien in weientlichen gefchichtlihen Angaben, wie 3. B. in Betreff ber
Meijen Iefu nach Jeruſalem, einander widerſprechen, Da werden wir, ohne
zu entſcheiden, die verſchiedenen Angaben aufführen.
2.
Die Geburt Jeſu, des Sohnes der Maria, für teilen Vater Joſeph,
der Zimmermann von Nazaret, ein Mann aus dem Geſchlechte Davids,
galt, wird jo ziemlich allgemein in das Jahr 754 nad) Erbauung der Stadt
Nom geſetzt. Da jedoch der dionyſiſchen Zeitrechnung, nach welcher das
genannte Jahr beſtimmt iſt, ein Fehler von 4 Jahren zu viel nachgewieſen
werden kann, fo fällt die Geburt Jeſu eigentlich in das Jahr 750 nach
Roms Erbauung.
- Hinfihtlich Der wunderbaren Erzeugung Jeſu aus dem heil. Geifte
ohne Zuthun eines Mannes flimmen Matthäus und Lufas überein; Io»
hannes faßt diefen Gegenftand ganz in philoſophiſcher Weiſe. Demgrmäß
finden wir aud bei Matthäus und Lukas allein jene Erzählungen, welde
4) Wir brauchen faum zu bemerken, daß ber Ausdruck „hiftoriiche Treue” cum
grano salis zu verfiehen ſei, d. h. wir nehmen an, daß die Verfafler unferer evanges
lifhen Quellen in guten Treuen gefchricben haben. Ebenſo wenig brauchen wir zu
wiederholen, was wir fchon an fo vielen Stellen unferer Arbeit über den Nimbus des
Munterbaren, womit die mythenbildende Volksphantaſte Die Berföntichfeit aller Pro⸗
pheten, Religionsfifter und Heilande umgab, zu fagen Gelegenheit hatten.
4 %
52
die Geburt des Welterlöferd mit dem Schimmer himmliſcher Ericheinungen
verherrlichen ; bei Matthäus den Stern, der die Magier aus dem fernen
Morgenlande herbeiführt, einen Ausdruck der damals allgemein verbreiteten
Meiftashoffnungen, bei Lukas die Engelericheinung, melde den Hirten auf
dem Felde die göttlihe Würde und Sendung des Neugebornen offenbart.
Ausschließlich diefen beiden Evangeliſten eigen find auch die, übrigend von
einander abweichenden, Gefſchlechtsregiſter, mittelft welcher die Abkunft
Jeſu dur Iofeph von David abgeleitet wird. — Markus beginnt fein
Evangelium ohne alle dieſe Vorbereitungen fofort mit dem Auftreten JIo⸗
Hannes bed Taͤufers. Die Flucht der Aeltern Jeſu mit dem Knäblein nad
Aegypten und ihre Rückkehr nach Serodes I. Tode erzählt Matthäus allein.
Dagegen hat Lukas einen Bug ‚aus der Jugendgeſchichte Jeſu aufbewahrt,
der die überraſchenden Bähigfeiten des Geiſtes und den tiefreligiöfen Zug
des Gemürhes Jeſu ſchon in feinem zwölften Altersjahre erkennen läßt.
Bon da haben wir feine Nachricht mehr über Jeſus, bie er, mit dem ges
feglich beftimmten dreißigften Altersjahr zum Lchrer des Volkes (Rabbi)
herangereift, fih von Iohanne® dem Täufer im Jordan die Weihe zu feinem
welterneuernden Werke eriheilen läßt. Johannes nämlich, der Sohn des
Priefterd Zacharias und der Eliſabeth, einer Verwandten der Maria (nad
Lufad), war im 15. Negierungsjahr des Kaijerd Tiberius aufgetreten in ber
umliegenden Landichaft des Jordan, im Hinblick auf die baldige Erfcheinung
des verheißenen Meſſtas Buße predigend, aber auch durch jeine harte Lebens⸗
weife die Strenge feiner Predigt an ſich felbft darſtellend. Er kündigte ſich
ausdrüdlich als den Vorläufer des Meſſias an, ertheilte Die Taufe im Jordan
theild als Sinnbild der angelobten Buße, theild als vorbereitente Weihe
zum Eintritt in das nahe Mefflasreih, und ward vom Volfe (mit Aus⸗
nahme der Schriftgelehrten und Prieſter) allgemein für einen Propheten ge⸗
halten. Ungeſcheut fprach er feinen Tadel über den blutſchänderiſchen Ehe
bruch des Herodes Antipad aus, ward deßhalb ind Gefängniß geworfen
und fpäterhin auf Anftiften der durch feinen Tadel mitbetroffenen Herodias
enthauptet. Bei der Taufe Iefu im Iordan hatte Johannes ibn ald den
verheißenen Meiftas erfannt ; da er jebodh neben feiner geiſtigen Auffaffung
auch noch weltlihe Vorftellungen vom Meſſtas und deffen Neiche beibehal«
ten, fo fandte er aus dem Gefängniffe zwei jeiner Jünger an Jeſus, der
feine Miene machte, den Thron Davids wieder aufzurichten, mit der Frage:
„Biſt du, der da kommen foll, oder müflen wir auf einen Andern warten? *
ui
| 53
worauf ihn Joſus auf .feine uͤbermenſchlichen Thaten verwies mit der An⸗
deutung, ein weltliches Auftreten, irdifche Größe liege nicht im Zwecke feiner
Sendung. — Jeſus ſelbſt, bevor er auftrat, zog ſich mach den Berichten
der Spnoptifer in die Wüßte zuruͤck, we er vierzig Tage und vierzig Naͤchte
faſtete. Dafelbft kam die Verfuhung über ihn in dreifacher Weile, ver⸗
bunden mit wunderbarer Entrüdung van Ort zu Ort; er überwand fie voll»
fländig. Auf den Verſuchungsmythus ſpielt auch der GHebräerbrief (4, 15)
an, indem e8 dafelbft heißt, Jeſus fei in allen Dingen verfucht worden, wie
wir, dod ohne Sünde.
Bevor wir nun auf dad öffentliche Wirfen Iefu eingehen, haben wir
über die wichtige Frage nad jeiner Vorbildung eine kurze Bemerkung zu
machen. War er wirklich jemald in Aegypten, fo ift er in ſehr jugendlichem
Alter, gleich nad) Herodes I. Tode, in ‚feine Heimat zurüdgefehrt. Als
Knabe Eonnte er Feiner andern Bildung theilhaft werden als einer folchen,
wie man fie in den Synagogen und bisweilen im Tempel zu Jeruſalem fi
anzueignen Gelegenheit hatte. Als Jüngling hingegen mag er, weil feine
genane Belanntihaft mit dem Alten Teflament Kenntnip ber he braͤiſchen
Sprache vorausſetzt, die damals gewöhnliche Bildung eines Rabbinen em⸗
pfangen haben. Es möchte erlaubt ſein, dieſe Bildung mehr noch eine
ungewöhnliche, ſehr umfaſſende zu nennen, im Hinblick auf die lauten per⸗
fiihen, brahmaniſchen, chaldaͤiſchen und ägyptiſchen Anklänge im Chriſten⸗
thum. Wie ſie hineingekommen, ſteht dahin. Der Einfluß jener Glau⸗
bensſyſteme auf den Bildungsgang Jeſu iſt hiſtoriſch nicht nachzuweiſen, um
fo weniger, da ſich die Verfafſer der Evangelien aus naheliegenden Grüns
den wohl gehütet haben, nach diefer Seite hin Etwas verlauten zu lafien,
Ein unmittelbarer Zuſammenhang der Lehre Iefu mit irgend einer Religion
oder Philofophie läßt fih nur in Beziehung auf das Alte Teftament erwei⸗
fen; aber es ift hiebei wenigflens an die Modificationen zu erinnern, welche
der Moſaismus durch das babyloniſche Exil erlitten hattet).
3.
Jefus trat auf mit der froben Borfchaft: „Das Reich der Himmel iſt
genahet! Thut Buße und glaubet dem Evangelium!" — Er Iehrte in den
Spnagogen am Sabbath, auf Bergeshöhen, an den Ufern des Sees Gene«
4) Bol. Thl. II, ©. 118 fg.
54
faret, in der Eindte, wie im Tempel zu Jeruſalem; felbft beim fröhlichen
Mahle entquollen Morte der Weisheit feinen Lippen. Welchen außerordents
lihen Eindrud feine Reden auf die Zeitgenoffen machten, fehen wir in den
Evangelien vielfah angedeutet. „Er redete als Einer, der Gewalt hat,
und nicht wie die Pharifäer und Schriftgelehrten.“ Es bezeugten auch die
Diener der Hohenpriefter, vergeblich abgefantt, ihn gefangen zu nehmen:
„Noch nie hat ein Menfc fo geredet, wie dieſer!“ Nach den übereinftim-
menden Berichten der Evangelien wurde aber die Wirkung feiner Lehre
mächtig unterftügt durch zahlreihe Erweiſungen übermenjchlicher Kräfte.
Er Heilte blind und lahm Geborne, Stummen verlich er Die Sprache wies
der, befreite Blutflüſſige, Mondſüchtige, Wahnfinnige von ihren Leiden
und machte Ausiägige rein, Alles augenblicklich, durch ein bloßes Wort,
feloft einmal durdy bloße Berührung ohne fein Vorwiſſen 1). Er wird dar
geftellt ald Herr über alle Mächte ter Natur durch göttliche Geiſteskraft.
So in den Erzählungen vom verdorrenden Seigenbaum, vom Wandeln auf
den Waſſer, von der Stillung des Seeflurmes, von der Verwandlung des
Waſſers in Wein, von der Speifung der Fünf» und Viertaufende. Jeſus
felbft berief ſich ſowohl dem Täufer, als feinen Gegnern gegenüber auf jeine
Wunderwerfe ald Bürgſchaft feiner göttlichen Sendung). Sogar Todten⸗
erwefungen werden mehrmals von Iefu erzählt: die Erwecung feines
Freundes Lazarus, des Jünglings zu Nain, der Tochter des Iairus. Mit
Alledem verband Jeius cine vollendete Reinheit des Herzens und Wandels,
die wirffamfte Befräftigung feiner Sittenlehre, jo daß er feinen Wider
fadyern Die Stirne bieten durfte mit den zuverfichtlichen Wort: „Wer unter
euch kann mich einer Sünde zeihen? * |
A.
Der Plan, an deſſen Erfüllung Jeſus mit hingebender Liebe und un«
ermüdlichem Eifer arbeitete, war, ein Reich Gottes, auch Reich der Himmel
genannt, auf Erden zu gründen, d. h. eine geiſtige Gemeinſchaft ins Leben
zu rufen, deren Glieder alle, durch gegenſeitige brüderliche Liebe und kind⸗
liche Liebe zu Gott ald ihrem Himmlifchen Vater vereint, einander beiftehen
in Bekämpfung alles Böſen, in Börderung ihres zeitlichen Wohlergehens
1) Maith. 9, 20—22.
2) Matth. 11, A und 8. Joh. 5, 36.
55
in ter Vorbereitung auf das höhere Geifterleben jenſeits des Grabes. Die
hiwmliſchen Güter, deren alle Glieder des Reiches theilhaft werden follten,
find Berzeihung der Sünden, Friede des Herzens, der Beiftand des heiligen
Geiſtes zu allem Guten und das ewige Leben in feliger Verklärung. Buße
und Glauben bezeichnete er als die Erforberniffe zum Eintritt in das Reich
Gotted. Er verbehlte übrigens nicht, daß dies Reich nur nah und nad
unter Den Menſchen verbreitet werden könne, und daß auch Unwürdige äußer«
lich in diefe Gemeinſchaft eintreten werden, — Erſteres im Gleichniffe vom
Senfforn, Lebtered im Gleichniſſe vom Unkraut des Adler,
Bon dem angedeuteten Plan erfüllt, durchwanderte er das Land nad
allen Nichtungen, empfängliche ®emüther für fein Reich zu gewinnen.
Jenes fhönfte Wort des Alten’ Teflamentd !) in Erfüllung dringend, neigte
er fi den Armen und Unterdrüdten („Mübfeligen und Beladenen *), ten
Berftoßenen und Berachteten im Volfe zu („Zöllnern und Sündern*), und
wenn bier eine Aeußerung perfönlichen Gefühls Taut werden darf, fo fagen
wir, daß es der fhönfte Moment im Leben Jeſu war, als er mit himm⸗
liſchem Erbarmen die Ehebrecherin gegen ihre heuchlerifchen Anfläger in
Schutz nahm. Bon den Prieftern und Schriftgelehrten, ſowohl phartfätfcher
als fadtuzaiicher Partei, fühlte er ſich abgefloßen, zumal die meiften der⸗
felben theild aus gelehrtem Dünkel, tHeils aus Tugendſtolz von Buße und
Glauben nichtd wifjen wollten. Dafür hatte er an Nikodemus und Joſeph
von Arimathea, zwei angefehenen Männern, von denen der Erftere Mit-
glied des Synedriums war, zwei Breunde, welde nad feiner Kreuzigung
durch ihre muthige Treue die Apoftel beichämten.
5.
Der Apoſtel (Sendboten), welche Jeſus zu Gehülfen ſeines Werkes
ausgewählt hatte, waren zwölf. Von dem weitern Jüngerkreiſe, aus wel⸗
chem er einmal ihrer flebenzig zur Predigt ded Evangeliums audfandte,
4) Und er fam gen Nazarct, da er erzogen war, und ging in die Eynagoge nadı
feiner Gewohnheit am Sabbath und fand auf und wollte lefen. Da warb ihm dars
gereicht das Buch tes Propheten Jeſaia, und da er es aufſchlug, fand er die Stelle,
wo gefchrieben ſteht: — Der Geiſt des Herrn iſt bei mir und er hat mich gefalht und
geſandt, zu verfündigen bie frohe Botichaft den Armen, zu Heilen die wunden Herzen,
zu pretigen den Gefangenen, daß fie [g8 fein follen,, und ven Blinden, daß fie ſehen,
und ben Urterbrüdten, daß fie frei und ledig fein follen. Lukas 4, 16—18.
ſind fie zu unterfcheiven als die zwolf Vertrauteſten, denen nad feinem
Dingang von ter Erde die Reituug ber gläubigen Gemeinde und der evan⸗
gelifgen Miffton anvertraut war. Mit feltener Menſchenkenntniß Hatte
Jeſus die Zwoölfe ausgewählt, hie Einen unter ihnen (Petrus und Andzeas)
vom Bifchergewerbe, einen Andern (Matthäus), der freilich erſt nach des
Meifters Hingang eigentlicher Apoftel wurde, von ter Bollftätte wegberufen.
Das ehrenvolle Vertrauen Jeſu bat. einzig Judas von Iskara getäufct.
Mit dem prophetiſchen Blick auf jein Kreuz ging Jeſu erſt ein Licht auf über
den wahren Charakter diejes Mannes. — Indem aber der Meifter feine
Lehre meift in fprüchwörtlicher oder parabolifher Form vortrug, wurde er
jelbft von den Apoſteln nicht immer verſtanden. In folchen Fällen erklärt
ihnen Jeſus Alles aufs Einläßlichſte. Es ſcheint, als habe er dieſe Korm
der Rede gewählt, um das Volk zum Nachdenken anzuregen und die Em⸗
pfänglichen darunter zu veranlaflen, Daß fie Durch Fragen ihm perſönlich
wäher träten?). Beſonders lange dauerte ed, umd zwar ganz begreiflicdher
Weiſe, bis ſolche einfache Menfchen, wie die Apoflel waren, das Reich
Gottes rein geiftig aufzufaſſen vermochten. Ihre weltlichen Borfellungen
bierüber riefen bisweilen Rangftreitigfeiten unter ihnen hervor, „welcher
son ihnen der Erſte fein werde im Reiche Gottes“, und naive Bitten Ein«
gelner (der Zebebälden), „er möge fie in feinem Meiche au feiner Rechten
und Linken figen laſſen“ . Dann ermahnte der Meifter zur Demuth,
welche geiftig am meiſten erhöhe und in feinem Meidye zur oberften Hoheit
verhelfe. Kurz vor feinen Heimgang fragten fie ihn noch: „Her, wirft
du zu diefer Zeit dem Volke Israel das Reich wieder herftellen ?”
Bon den Sendboten feines Evangeliums verlangte Jeſus, fle müßten
diefem Beruf Alles opfern, fich demfelben ohne Rückhalt hingeben in frei=
williger Armuth und Entbehrung. Er verlangte Died auch von dem weitern
Süngerfreife,, welcher unter Oberleitung ber Apoftel diejelbe Aufgabe hatte.
Daran gewähnte er feine Nachfolger, indem er mit ihnen auf feinen Reifen
gemeinfchaftliche Kafle führte, aus welcher auch Almofen gegeben wurden
amd deren Derwalter Iudas Iskariot war. Die Menge, welde ſich zu
feiner Nachfolge drängte, fuchte Jeſus nit nur nicht zu tänfchen, er ver⸗
nichtete vielmehr ihre weltlichen Hoffnungen betreffend feine Nachfolge bald
1) Bgl. Matt. 13, 11-16,
2) Matth. 18, 1—B. 20, 20—28,
67
Einzelnen, ‘bald einer ganzen Verfammlung gegenüber mit ſchneidenden
Worten 3), überall auf die rein geiftige Beichaffenheit feines Reiches hindeutend.
Unter den zwölf Upofteln felbft waren die Drei vertrauteften Jeſu
Petrus, Jakobus und Johannes. Dieje drei allein waren Zeugen feiner
die Auferfiehung vorbildenben - Verflärung auf dem Berge. Den Simon,
zubenannt Kephas oder Petrus (Fels), hatte Jejus offenbar zum Haupte Der
Apoftel beftimmt. Nah Johannes (1, 43) hatte Jeſus tem Simon glei
beim erften Zufammentreffen den bedeutungdvollen Beinamen gegeben ; nad)
Matthäus (16, 16 fg.) verleiht er ihm dieſen Beinamen auf das Bekenntniß
hin: „Du bift der Ehriftus, der Sohn des Iebendigen Gottes!“ und zwar
mit den Worten: „Du biſt' Petrus, und auf diefen Fels will ich meine
Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werten ihn nicht überwältinen .“
Mir finden dann aud in der That den Petrus in der Apoftelgeihichte immer
ald den Erften der Npoftel. Am Pfingftfefte tritt er allein und guet mit
der Predigt des Evangeliums vor das Volf.
6.
Mit feinem Plan, das Reich Gottes auf Erben zu gründen, bing
genau zufammen dad Auftreten Jeſu ald das Haupt dieſes Reiches, nämlich)
ald ter Chriſtus oder Meſſias, der Befalbte Gottes, womit die Be⸗
zeichnungen „Sohn Gottes, Sohn Davids“ im N, T. ganz die gleide
Bedeutung baben. Aus. der Brage des Kafaphas an Iefum: „Bit du
der Chriſtus, der Sohn tes lebendigen Gottes?“ erhellt, daß die Juden
jener Beit glaubten, der Chriſtus werde Gottes Sohn fein. Man gedachte
biebei wohl der Stellen in Pſalm 2, 7: „Der Herr hat zu mir gejagt:
Du bift mein Sohn; heute babe ich dich gezenget;* ferner bei Jeſaia 9, 5,
wo der verheifene Netter genannt wird „ſtarker Bott“; endlich bei Daniel
I) Marf. 8, 34. Matih. 8, 19-22. Joh. 6, 68. 66. Ruf. 14, 2538.
4) Diele Hier nicht vollfländig angeführte Stelle ift es befanntlih, worauf
die Gewalt des Papftes (als Nachfolger Betri) fih gründe. Die Auslegung der
ganzen Stelle V. 17—19 lautet: „Du wirft die Hauptflüge der Chriftengemeinde
fein und diefe wird von der Macht des Vöfen nie überwunten werden. os bu hies
nieden an das Reich ter Himmel binden (in daflelbe aufnehmen) wirt, das wird auch
im Himmel demielben angehören, und was du auf Erden davon trennen wir, wird
auch jenjeits von demfelben getrennt bleiben. Darin beftcht vie „Schlüffelgewalt“
Petris. —
58
7, 13—14, wo der Menihenfohn, dem alle Gefchlechter und Völker und
Zungen ewig dienen follen, in den Wolfen de8 Himmels herniederkommt.
Was den orientalifchen Brauch angeht, welcher Liefer Bezeichnung des
Meiflas zu Grunde liegt, fo berief ſich Jeſus felbft Darauf (Joh. 10, 34),
daß Pialm 82, 6 die Häuptlinge des Volkes Götter genannt werden. 8
fällt die mit der morgenländiihen Anſchauung zufamnen, wonad die
Könige — (und der Meſſtas follte ja ein König fein) — Gottes Stellver⸗
treter auf Erden waren. Im Uebrigen war feine Idee vom Meſſias
der hergebrachten diametral entgegengejegt. Sein Neid follte Fein welte
liches fein und demnach auch nicht vermittelft ded Schwertes, fondern ver⸗
mittelft des Geiſtes begründet werden. |
Der ihm Far bewußte Unterichied zwifchen tiefer Auffaflung des Meſ—
flasthumd und der populären fcheint ſtets eins der Hauptmotive ſeines Hanse
delnd geweſen zu fein. Daher hat er es auch vorfichtiger Weiſe vermieden,
fi) auetrüdlih al8 ten Ehriftus zu befennen, bevor er feinen befannten
feierlichen Einzug in Jerufalen hielt. Er begnügte ſich, als Chriftus zu
lehren und zu wirfen, um fo Jedermann fehen und hören zu laffen, was
von dem verheißenen Gottesreiche zu erwarten und was von dDemielben nicht
zu hoffen fei._ War dad Gottesreich einmal geiftig aufgefaßt, fo mußte die
geiftige Auffaffung aud auf den Meſſias übergeben und er Tann ald Meſſias
erkannt werden, ohne daß er fih ausdrücklich dieſe Würte brilegte. Wäre
er aber fofort mit Behauptung feiner Chriftuswürte aufgetreten, jo hätte
die Menge ibn wahricheinlich mit Gewalt zum Könige maden wollen, das
dur aber feinen Hauptzweck vereitelt und ſich felbft vorzeitig ind Unglück
geftürzt. Jeſus wollte den weltlichen Meſſiashoffnungen nicht von ferne
Nahrung darbieten,, eben fo wenig e8 wagen, Tenjelben gleich Anfangs ent⸗
gegenzutreten,, fondern fein Volk allmälig zur wahren Auffaffung ter Meſ⸗
flaswürde erziehen. Daß er diefen Plan verfolgte, beweift feine Srage
an die Apoflel: „Wer fagen die Leute, daß ich ſei?“ Die Antwort fiel be=
kanntlich unrichtig aus, worauf er die Apoftel ſelbſt um ihre Meinung fragte
und von Petrus die richtige Antwort erhielt. Nah Marf. 8, 30 und Luk.
. 9, 21 verbot er dann den Jüngern ernfllih, Jemand zu jagen, daß er der
Ehriftus fei, und wenn Befefjene ihn Sohn Botted nannten, legte er ihnen
Stillfhweigen auf).
1) Mark. 3, 11. Luk. 4, 4.
59
Mit dem Einzug in Ierufalem begann Jeſus den Iegten. entfcheidenden
Abſchnitt feines meſſianiſchen Werkes. Er ging mit prophetifcher Gewiß⸗
heit feinem Tode entgegen und brauchte von da an feine Würde nicht mehr
zu verfchweigen. Auf dem @felsfüllen, begleitet von ben Iüngern, hielt
er feinen feierlichen Einzug, dadurch ſich finnbildlih al8 den Meſſias Fund
zu geben. Das Volk, durch die Art feines Einzuges an die meſſtaniſche
Stelle beim Propheten Zacharias 2) erinnert, verfland die Kundgebung und
begrüßte ihn als Meiftad mit dem Rufe: „Hoflanna dem Sohne Davids!
Bepriefen fei, der da Fonımt im Namen des Herrn! Geprieſen ſei im
Namen des Herrn dad fommentde Reich unferd Baterd David !* Sie ahnten
nicht, daß;er komme, ſtatt des Thrones die Richtftätte zu befteigen und eine
Dornenkrone auf fein Haupt zu feßen. Daher die Wuth der Enttäuichung,
als"fte ihn gebunden vor Pilatus fahen: — „Kreuzige, Ereuzige ihn!*
Nah feinem Einzug in Jerufalem nannte er ſich im prophetifchen Gleichniß
von den Weingärtnern Gottes Sohn, und zwar feinen Gegnern gegenüber,
welche hierauf die Anflage der Gottesläfterung gründeten.
7.
Mir find in diefer Darftellung betreffend Behauptung der Chriſtus⸗
würde von Seiten Jeſu den Synoptifern gefolgt; unferm Verſprechen ges
mäß haben wir jedodh auch die ganz abweichende Erzählung des Johannes
zu geben. Dieſem zufolge hat Jeſus nicht bloß eine, Sondern drei Reifen
nach Jeruſalem unternommen 1). Bei Gelegenheit ter erftien nahm er die
energiihe Neinigung des Tempeld vor und zwar unternahm er dieſe Reife
unmittelbarnad feinen erften, bei der Hochzeit zu Kanaan verrichteten, von den
Synoptikern nicht erwähnten Wunder. Seinen feierlihen Ginzug in Ierus
jalem ald Meſſias laßt ibn der vierte Evangeliſt nach der dritten Feſtreiſe
halten. Bei Johannes wird Jeſus gleich von vornherein ald Meiflad aner-
fannt, indem diefer Evangelift ſchon im Kap. 1, 42 den Andreas zum
Simon fagen läßt: „Wir haben den Meiflad gefunden”. Der Samariterin
2) Rap. 9, 9. Frohlocke laut, o Tochter Zion! Jauchze, o Tochter Jerufalem !
Eiche, zu dir fommt dein König, der Gerechte, der Heiland. Demüthig iſt er; er
reitet auf einem Efel und auf dem jungen Füllen der Efelin.
1) Die Synoptifer verlegen den Hauptfchauplag des Wirkens Jeſu nach Galiläa
und laſſen ihn nur das eine Mal, wo er den Tempel reinigt und hierauf den Kreuzes⸗
tod erleidet, nach Serufalem kommen.
60
am Brunnen gibt ſich Jeſus ſofort als den Meſſias zu erkennen, nimmt
auch von den übrigen Samaritern die Anerkennung als Chriſtus entgegen,
und bei ſeinem zweiten Aufenthalt in Jeruſalem urtheilt bereits ein Theil
des Volkes: „Er iſt der Chriſtus“ 2). Ganz offen endlich nennt ſich
Jeſus Gottes Sohn Joh. 10, 30 und 36, ebenfalls während! ſeines zweiten
Aufenthaltes zu Jeruſalem. Deßwegen findet ſich im ganzen Johannis-
evangelium Feine Spur von einem Verbot, ihn als den Chriſtus befannt zu
maden, und das Bekenntniß Petri 3) iſt ganz anders erzählt, ale in r ben
Eynoptikern 4,
B. .
Gewöhnlich nannte fih Jeſus den „Sohn des Menſchen“, dadurch
andeutend, daß er der Menfchheit angehöre mit feinem Leben und Sterben
und ald Menſch unter Menſchen wantle. Wir wollen daher, bevor wir dem
Ausgang feiner Schickſale ſchildern, noch von feinen Verbältniffen zu den
verſchiedenen Klaflen feiner Zeitgenofjen und ber reinmenſchlichen Seite ſeines
Charakters reden.
Als Brüder Jeſu werden Jakobus, Joſes, Simon und Judas genannt;
ſte waren natürlich alle jünger ald er. Auch Schweſtern hat er dem Mar⸗
tus (6, 3) zufolge gehabt. Anfangs glaubten feine Brüder nit an ihn).
Jeſus war von Haufe aud arm; feine Aeltern hatten bei der Darftellung
im Tempel nur Tauben für ihn opfern können. Das Geſchick, in Dürftige
feit großzuwachſen und arm zu leben und zu fterben ‚ bat er mit den meiften
wahrhaft guten und großen Menſchen getheilt. Die rechten Helden ber
Menfchheit finden nie ihren Kohn; wahrfheinlich, weil Fein Lohn ihrem
Verdienſte gleihfomnt. Sefus nahm feine Bezahlung für feine Heilungen,
dagegen ließ er fich gaftfreundliche Einladungen: und freiwillige Gaben von
2) Joh. 7, 4.
3) Joh. 6, 66— 71.
4) Ganz confequent finden wir die Notiz, das Volk habe Jeſum zum Könige
machen wollen, audy nur bei Johannes (6, 18).
1) Joh. 7, 5. Man bat mit diefer Stelle die der Synoptiker, wo Maria und
die Brüder mit ihm reden wollen, aber von ihm abgewieſen werden, in Verbindung
gebracht, als Hätten ihn Mutter und Brüder von feinem fühnen Auftreten abzumahnen
geſucht. Bol. Mark, 3, 31. Als die Kirche das Mariatogma fo zu fagen zur Bafis
ber gamen Dogmatit machte, mußten. in Folge eines exregetiichen Machtipruches die
Brüder Jeſu zu „„Betiern‘‘ und die Schweftern zu, Baſen““ werben.
61
Selten der Gläubigen bereitwilfig gefallen. Selbſt von Pharkfäern ließ er
fih einladen, zeigte ihnen jedoch dentlich, daß er feinen Schmaus mit
Schmeichelei bezahle. Don einem Sonderling hatte er durchaus Nichts an
fih; er aß und tranf wie gndere Leute und mußte in Bolge deffen erfahren,
wie die Scheinheiligen ihn einen Freſſer und Weinſäufer“ ſchalten 2). Bon
feinen Jüngern verlangte er fein regelmäßige8 Faſten, noch die Beobachtung
Fleiner Ceremonien, eben fo wenig eine durch pharijätiche® Üleglement be⸗
engte Sabbathäfeier. Freiſtanig fegte er fich über dergleichen Engherzige
feiten hinweg und gab zu verfiehen, daß man, von einem neuen Geiſte er⸗
füllt, der alten Formen nicht mehr benöthigt fei?). Es iſt geradezu köſtlich
zu hören, wie er bei jeder Gelegenheit die Formenreiter, Wortflauber und
Geremontermeifter geißelte. Seiner Strenge nach diefer Seite hin entſprach,
wie Schon berührt worden, fein mildes Erbarnen mit Schwäche und Fehl.
Unerbittlih gegen die Tugendheuchler, war er gegen Irrende in Wort und
That voll liebevoller Großmuth, und Humaneres als feine Parabeln vom
verlorenen Schafe und vom verlorenen Sohn mag nicht gefunden werden.
9.
Neben diefem humanen Zug in feinem Charafter fällt der weltbürger-
Tihe auf, welcher zur fjüdiihen Bornirtheit und Engherzigkeit einen fo
ſchönen Gegenſatz bildete. Seinen periönlicdhen Wirkungskreis zwar be⸗
ſchräänkte Jeſus auf Paläftina, aber ſeinen Jüngern gab er Auftrag und
Vollmacht, „bis an die Gränzen der Erde” die frohe Botſchaft zu tragen.
Wo er bei Nichthebräern Vertrauen und Glauben fand, empfand er dop⸗
“ pelte Befriedigung und zu wiederholten Malen hat er geweiffagt, daß fein
Reich unter den Heiden größere Ausbreitung gewinnen werde als unter den
Juden !). '
Trotzdem kann es feinem Zweifel unterliegen, daß er auch patriotiſch
fühlte, und deßhalb ein Regiment, wie das des „Fuchſes“ Heroded 2), von
Herzen verachtete. Die welthiftorifche Miſſion Roms muß ihm Mar geweſen
fein, denn er ließ feinen Haß gegen die Römer bliden. Im Gegentheil,
in der befannten Gedichte von dem Zinsgroſchen anerkannte er ausdrücklich
— — — — —
2) Matth. 109, 19. |
3) Marf. 2, 22. Luk. 8, 37.
4) Matth. 8, 5—12. 185, 21-28. 21, 43. Joh. 10, 16.
2) Luk. 13, 31 und 32. \
62
die Berechtigung der römiſchen Weltherrichaft, flellte aber zugleih dem
Mömerreih ein Gottesreih entgegen, dem politiſchen Realismus den reli⸗
giöſen Idealismus.
Mit einem die Tiefen der Weltgeſchichte durchdringenden Blicke erkannte
er ſeine Lehre als das hiſtoriſche, allein lebenskraͤftige Ergebniß des Hebrais⸗
mus, dieſen aber, getrennt von dem Chriſtenthum, als einen der hiſtoriſchen
Entwicklung zum Opfer geweihten, abgeſtorbenen Organismus. Dieſer
große Gedanke blickt aus den wenigen Worten, die Jeſus auf dem Beg zum
Kreuze ſprach: — „Wenn dad am grünen Holze geichieht, was wird am
dürren geſchehen?“
| Ein folder Monn mußte Beinde haben: das ift der Lauf der Welt.
Wie jeder ungewöhnliche Charakter, wurde er viel geliebt, aber mehr noch
gehaßt. Seine erklärten Feinde waren befanntlidy die meiften Priefter und
die Schriftgelehrten phartfäiicher wie ſadduzäiſcher Partei. Zunächſt fühlten
fih beide Sekten von ihm abgefloßen durch den Gegenfag feiner Lehre gegen
beide. Die Pharifäer fonnten ihn nicht verzeihen, Daß er ihrem Gere-
monienwefen entgegentrat, bejonderd daß er die Sabbathfeier jo menſchlich
frei auffaßte ?); die Sadduzäer hingegen Argerten ſich, daß er mit fo großem
Erfolge die Unfterblichfeit der Seele lehrte. Noch mehr erbitterte die
Pharifaer fein Umgang mit Zöllnern und Sündern, feine Kühnheit, womit
er vor allem Volk die phariſäiſche Heuchelei entlarnte, feine Ermahnungen
zu Bejcheidenbeit, Demuth und Herzensreinheit. Nicht wenig plagte fie
ferner der Neid wegen feiner zahlreichen Heilungen, weldje fte der Beihülfe
Beelzebubs zuichrieben, und wegen der großen Volfömenge, die ſich zu feinen
Lehrvorträgen drängte, ihm fogar in die Wüſte folgte. Am Herzen der
Phariſäer und Sadduzäer nagte die öffentliche Beſchämung, welche fle da=
vontrugen, fo oft fie Jeſus durch häflige Fragen ind Gedränge zu bringen
ſuchten. Begreiflih, daß Neid und Rachſucht diefer Mächtigen balt die
Entdeckung madıten, Religion und Staat feien in Gefahr. Die Pharifäer,
denen es fonft auf einen Aufruhr mehr oder weniger nicht anfam, fürdhteten
auf einmal das Einfchreiten der Römer, wenn man den Rabbi von Nazaret
länger gewähren .laffe, und legten in der Unklage vor Pilatus eine diefem
ſelbſt erftaunlihe Loyalität gegen den Kailer an den Tag. Die ganze Ma-
nier, womit die jüdifche Priefterfchaft die Prozedur gegen den großen Re—
3) „Der Sabbath ward um des Menſchen willen, nicht wc Zuufh um des
Sabbaths willen‘. Mark. 2, 27.
63
former einleitete und turdführte, ift Hinlänglich charakterifirt, wenn man
fie eine mufterhaft priefterlich-diplomatiiche nennt. Sid darüber zu ercifern,
if fein Grund. Die jüdiſche Prieſterſchaft thar nur, was in ähnlichen
Fällen jete Prieſterſchaft gethan hätte und thun würde 4).
10.
Sämmtliche Evangelicn erzählen, daß Jeſus die Art feines Leidens und
Sterben lange vorausgeſehen, felbft zu wiederholten Malen vorausgefagt,
und Daß er die Pläne ſeiner Beinde, wie dad Vorhaben ded Judas gekannt
babe. Sie beridyren ohnedies noch viele andere Prophezeiungen Jeſu, unter
welchen fi) beſonders diejenige auf die Zerftörung Jeruſalems auszeichnet,
welcher eingetent fi die Chriflen, als das Kriegägewitter heranbraufte,
aus Ierufalen entfernt und nad Pella geflüchret Haben. Meift bezogen ſich
Jeſu Prophezeiungen auf das Shidjal feined Reiches auf Erden, wie z. B.
in den Gleihniffen von Senfforn, vom Unfraut ded Aderd, vom Sauer
teig, vom Nege, von den Weingärtnern. Einen prophetifchen Blick in
die Tiefen des menjchlihen Herzens jchreiben Jeſu alle Evangeliſten zu;
Sohannes läßt ihn außerden dem Nathanael und der Samariterin am Brunnen
Thatfahen aus ihrer Vergangenheit enthüllen. Ein Verfud, den Meifter
von feinem Entichluffe, freiwillig Dem Kreuze entgegenzugeben, abzubringen,
ward von ihm mit Entſchiedenheit zurücyewiefen 1). Uber, ob er auch
längft feinen Entſchluß gefaßt, hatte er in Gethſemane furz vor feiner Ge—
fangenncehmung nod) einen harten Kampf zu beftchen, biß der Icgte Todes⸗
fhauer feiner menſchlichen Natur überwunden war. Daß Jeſus freiwillig
ſeinem Tode entgegenging, finden wir überall betont als einen Umſtand, der
für die Geſtaltung der Erlöſungslebre von höchſter Bedeutung ift?). Als
Gedächtnißfeier feines erlöjenten Leidens ftiftete er in der Nacht, bevor er
gefingen genommen ward, dad Abendmahl. Johannes erwähnt der Stif-
tung deffelben nicht, ſondern gibt an deffen Stelle die Erzählung vom Fuß—
waschen. Kurz vor der Stiftung des Abendmables entlarote Jeſus feinen
Verräther mit jener ftillen Traurigfeit und Geiſteshoheit, weldye den Elen=
ben ſchnell aus Tem Kreije der Getreuen wegicdeudhte.
4) „Der Jude (Keger) wird verbrannt!’ Darin ſtimmen Kajaphas, Torques
mada und Calvin brüterlich mit Leſſing's Patriarchen überein.
4) Mark. 8, 27-33.
2) Matth. 20, 28. 26, 52—856. Joh. 15, 13. 10, 17—18.
64
Es war am Abend des Donnerſtags in der Woche, in welder die
Juden daß Feſt der ungeiänerten Brode feierten, als Jeſus mit den Apoſteln
das ledte Paffahlamm af. Nach der Stiftung des Abendmahls fagte er den
Apofteln ihre Schwäche und Berftreuung, dem Petrus ſeine Verlaͤugnung
voraus, aber Keiner wollte ihm glauben. Dann ſchloß er die Feierlichkeit
mit einem Lobgeſang und zog naͤchtlicher Weile mit den Apoſteln hinauf an
den Oelberg, in den Baumgarten Bethfeinane. Hier verharrte er tn Ge⸗
bet, bis die Sendlinge des hohen Rathes, geführt von Judas, ſich zeigten.
&r floh nicht, fondern ging ihnen mit gefaßtem Muthe entgegen. Judas
machte der nach ihm benannten Sippfchaft Ehre durch den Verrätherkuß,
wemit er den Meifter Eennzeichnete als den, welden die Motte zu ergreifen
habe. Ihm warf Jeſus mit fanften Worten den Verrath, den SKriegerm
die Feigheit ihres nächtlichen Einherſchleichens vor, mahnte Die Apoftel von
aller Gegenwehr ab und ließ fich geduldig vor dad Synedrium führen ?), Die,
falfchen Zeugen, welche man gegen ihn vorbrachte, widerſprachen ſich; erſt
als Jeſus freiwillig und muthig befannte, er fei ter Chriſtus, fanden fle
einen Grund, nämlich Gottcsläfterung, das Todesurtheil über ihn zu fällen.
In Gegenwart des hohen Rathes, vielleicht von Rathsqliedern ſelbſt 4).
ward Jeſus nun aufs Empörendſte mißhandelt.
Da das Synedrium zu jener Zeit ein Todesurtheil zwar fällen, aber
ohne Beiſtimmung des römiſchen Landpflegers nicht vollziehen durfte, ward
Jeſus vor den Richterſtuhl des Pontius Pilatus geführt. Dieſer erkannte
nach einigen kurzen Fragen ſeine Unſchuld und ſuchte ihn zu retten, obwohl
Jeſus ihm mit dem sollen Bewußtſein meſſtaniſcher Würde antwortete und
fi in feiner Weife zu irgend einem Widerruf oder zu einer Bitte herbeis
lieg. Daß während der Verhandlung des Pilatus Gemahlin infolge eines
warnenden Traumes Fürbitte für Jeſus einlegen ließ, erzählt Matthäus,
daß Pilatus ihn zu Herodes geſendet habe, berichtet Lukas allein. Als die
öffentliche Erklärung der Unſchuld Jeſu und ſodann die Zumuthung an das
Volk, den Angeklagten ledig zu bitten, Nichts half, ſondern die von den
Synedriſten aufgewiegelte Menge, nah Urt einer urtheilsloſen, niedere
trächtigen Menge, ſtets lauter ihr: An’d Kreuz mit ihm! ſchrie, übergab
3) Nur Johannes erzählt, Jeſus fei zuerft zu Annas, dem Schwirgervater des
Kajaphas, ins Verhör geführt worden. |
4) Matth. 26, 66-67. Mark. 14, 64—68.
Pilatus ben Berurtheilten feinen unerbittlihen Feinden zur Ginrichtung,
damit nicht etwa ein Aufruhr entflande. Zugleich aber wuſch er, nach Art
der Achfelträger, vor allem Volke feine Hände, diefer fombolifchen Hand⸗
lung die Worte beifügend: „Ich bin unfdhuldig an tem Blut diefes Ge⸗
rechten ; ſehet Ihr zu“ 5).
Gottesläfterung und Aufruhr gegen den Kaiſer in Anmaßung ter
Königswürde über Judäa, das waren die zwei Klagepunfte, welche der bohe
Rath vor Pilatus gegen Jeſus geltend gemacht. Um den erften dieſer Punkte
hat fi der Zandpfleger, in fouverainer Verachtung defien, was die Römer
jüdifchen Aberglauben zu nennen gewohnt waren, ficherlih wenig befüm-
mert ; der zweite mußte ihm ald DBerleumdung ericheinen, da er aus Erfah-
rung wußte, daß tie Ankläger Ieju jonft gar nicht jo eifrige Anhänger des
Kaiſers waren, wie fie ſich fett anftellten. Obwohl ihn alio die bloße
Furcht zur Verurtheilung Jeſu bewog, überließ er ihn doch ſchutzlos der
Rohheit feiner Kriegsknechte, welche, der Chriftuswürde jpottend, ihn
einen Purpurmantel umhingen, eine Dornenfrone auffegten, ein Rohr als
Szepter in die Hand gaben, die Kniee vor ihm beugten und ihn dann wies
derbolt anſpieen und ſchlugen. Unmittelbar vorher hatte Pilatus, nad)
römiſcher Sitte, ihn noch geißeln laſſen. Johannes freilich läßt diefe
Geißelung und Berfpottung der Verurtbeilung vorangehen und erzählt,
Pilatus habe den Mighandelten in jeinem erbarmungswürdigen Zuftande dem
Volke vor Augen geftellt, Mitleid für ihn zu erregen 6).
Nachdem Jeſus die ganze Nacht hindurch den Verhören und Mißhand—
[ungen auögefegt geweien, ward er zur Kreuzigung hinaudgeführt. Simon
von Kyrene, der eben vom Felde kam, mußte von Den Mauern der Stadt
bis nad) Golgotha dem Ermatteten dad Kreuz tragen”). Die Klage Jeſu
über die Mütter Ierufalemd während feiner Hinausführung iſt dem Evans
gelium des Lukas eigenthümlich ®). Laut den ſynoptiſchen Evangelien ward
Jeſus Morgend um 9 Uhr, nad Johannes Mittags um 12 Uhr inmitten
zweier Mörder and Kreuz geichlagen. Den betäubenten Myrrhenwein wies
er zurüd, ertrug die Qual des Kreuzes mit ftiller Geduld, betete für bie
5) Matth. 27, 24.
6) Joh. 19, 1— 8.
7) Johannes erwähnt diefes Umfangs nicht, :fondern läßt Jeſum das Kreuz
felber trage >
8) Luf. 23, 28,
Scherz, Geſch. d. Religion. III. 5
66
höhnenden Todfeinde um Vergebung, empfahl dem Johannes feine Mutter
Maria, tröftete den reumüthigen und gläubigen Mitgefrenzigten?). Drei
Stunden hatte Jeſus am Kreuze gelitten, da kam eine Finſterniß über das
ganze Land, welche von 12 bis 3 Uhr währte. Man fihreibt dieielbe, da
das Paſſah immer zur Zeit des Vollmonds gefeiert ward und eine Sonnen⸗
finfterniß um den Vollmond unmöglich ift, auch weil nach den Synoptikern
der Borhang im Tempel von oben bis unten entzwei riß, nach Ratthaͤus
aber ein Erdbeben flattfand, den auffleigenden Dünfen und Staubwolken
bed erfchütterten Erdbodend zu. Gegen dad Gnde der Finſterniß begann
Jeſus mit lauter Stimme den 22. Pſalm zu beten: „Wein Gott, mein
Gott, warum haft du mich verlafſen!“ Der nahende Tod unterbrad ihn.
Sein letztes Wort war: „Es ifl vollbracht! Vater, in deine Hände hefeble
ich meinen Geil!” . |
Johannes thut weder der Binfterniß, noch des angeführten Gebetes
Erwähnung. Seiner Darftellung zufolge rief Iefus: „Mich dürfte!“
worauf ihm ein Schwamm voll Effig gereicht wurde. Nach dieſer Labung
endete er mit dem Furzen Ausruf: „Es iſt vollbracht!“ Johannes fügt diefer
Erzählung hinzu, daß ein Kriegsknecht, um zu prüfen, ob Iefus wirklich
ſchon todt wäre, ihn mit dem Speer in die Geite geflohen habe.
So ſehr alle dieſe Darftelungen von einander abweichen, Sefus von
Nazaret leidet und flirbt vor unjern Augen mit ungetrübter Hoheit des
Geiſtes. Seinen Leichnam erbat fih Iofeph aus Arimathea von Pilatus
und beftattete ihn niit Beihülfe von zwei gläubigen Frauen in feinem eignen, .
in Felſen ausgehauenen Grabe. Johannes nennt aud den Nifodemus als
Theilnehmer an der Beftattung Iefu. Preitag Abends vor 6 Uhr war das
Grab gefchloffen. Matthäus berichtet, Pilatus Habe auf Betrieb der Hohen⸗
priefter und Pharifäer eine Wache vor die Gruft gelegt. Wenn bdiefes in
der Abſicht geihah, allfällige Demonftrationen der Anhänger des Gefreu=
zigten an feinem Grabe zu verhindern, fo war es fehr überflüffig. Die
Jünger waren entmuthigt, zerftreut, ſchon bei der Gefangennehmung Jeſu
entflohen. Selbſt der Fels (Petrus) hatte in ber ſchweren Prüfung ge-
wanft und feinen Meifter verleugnet, während der Verräther Judas fidy
verzweifelnd den Tod gegeben. Das Werk Iefu fhien mit feinem Leben
vernichtet. r
.———
9) Wir haben hier die verfchiedenen Darſtellungen zuſammengefaßt. Matthäus
11.
Daß bie zerſtreuten Apoſtel und Jünger ſich wieder janımelten, Helden:
fraft und Todesmuth gewannen, Dad Evangelium durch den Erdkreis zu
verbreiten, ſchreibt das Neue Teſtament der Auferfiehung Jeſu von den
Tobten zu. Die Nacht vom Ffeitag auf den Samſtag, den großen Sah—
barh und Die darauf folgende Nacht hindurch Tag er im Grabe. Am Sonn-
tqg frühmorgens, ale etliche Jüngexinnen zum Grabe kamen, fanden fe
Daffelbe offen und den Leichnam Jeſu nidt mehr darin). ngelerichei«
nungen jedoch verfündigten ihnen. die Auferflehung des Gefreuzigten.
Hierauf erfebien Der Auferflandene Einzelnen, Die das große Greigniß ten .
Apoſteln verfündigten ; aber ihre Erzählung fand feinen Glauben, bis Jeſus
ſelbſt den verſammelten Apoſteln erſchien. Soweit flimmen Die Berichte
überein. Die einzelnen Erſcheinungen Jeſu aber werten ſehr verſchieden
erzählt. Die meiften derielben hatten in: Jerufalem und deſſen Umgebung
fatt; nur Matthäus und Johannes berichten auch von Erſcheinungen in
Galiläa2). Irfus war aus dem Grabe auferftanden, aber jein Körper
zeigt nicht mehr ale Kigenichaften eines menschlichen Leibeg. Bei ver
ichloffenen Thüren tritt er plöglic mitten uuter Die Apoftel, von ten Zweien
in Emmaus, die ihn lange nicht erfannt, „kommt er ungeſehen hinweg.“
Ungeachtet der Verwundungen am Kreuze erſcheint er bald in Jeruſalem,
bald in dem entfernten Galilän. Vierzig Tage nah der Auferſtehung
endlich fchwebt er zun Himmel empor, wie Paulus annimmt 3), mit vers
Elärtem Leibe. Cr aß während Ter vierzig Tage nur noch, um zu zeigen,
Daß er fein £örperloies Geſpenſt feit). ine klare Reihenfolge ter Er-
fcheinungen Jeſu läßt fid) aus den Evangelien nicht herſtellen; Paulus hin⸗
und Markus ſagen ſreilich, beide Mitgekreuzigien hätten Jeſus verhöhnt. Johannes
chweigt über das Benehmen derſelben.
1) Es iſt ein tiefſchöͤner Zug in den evangeliſchen Berichten, daß fie die Anz
hänglichfeit der Frauen an den Gefreuzigten über Tod unt Grab hinaus fortdauern
laflen.
2) Bei Markus verheißt zwar ber Engel auch) Erſcheinungen in Galiläa, aber
es wird deren feine austrüdlich angeführt.
3) Philipp. 3, 21.
4) Luk. 24, 3643,
5%
68
gegen macht den Verfuch einer ſolchen Darflellung 5), welche jedoch mit ben
Berichten der Evangelien auch nicht leicht zu vereinbaren iſt.
Die Himmelfahrt, welche vom Oelberg bei Ierufalem aus gefchehen
fein foll, finden wir in den Evangelien und Briefen häufig angedeutet, fürm-
ih erzäpft nur in den Evangelien des Markus und Lufad und in der Apo⸗
ftelgefchichte. Jedenfalls war die Auferſtehung und göttliche Erhöhung Sefu
allezeit die Grundlage der apoftolifchen Predigt). Bei den Erfcheinungen
vor den Seinigen wirfte Jeſus befonderd auf Befefligung des Glaubens und
Ermuthigung Hin, ertheilte den Apoſteln Vollmacht zur Ausbreitung des
Himmelreiches auf Erden, fegte die Taufe ald Zeichen der Aufnahme in die
Gemeinfchaft der Gläubigen ein, verhieß die Ausgießung des heil, Geiftes,
ber die Sendboten des Erangeliumd erleuchten, tröften und mit Wunder⸗
fräften ausrüften werde, und ordnete an, daß die Gläubigen vereint in Je⸗
rufalem diefe Feuertaufe erwarten follten”?). Lukas hebt in den even bes
Auferftandenen befonters hervor die Belehrungen, wie fein Leiden, Sterben
und Auferfiehen in den Schriften des A. T. geweiflagt fei. Als Pfingften,
das Erndtefeft der Juden, erichienen war, Fam unter Sturmgebraufe in Ge-
ftalt feuriger Zungen der heil. Geift auf die verfammelten Gläubigen her⸗
nieder, wandelte ihr Innerfled um und verlich ihnen bie verheißenen Wun⸗
dergaben, unter denen in der Apoſtelgeſchichte befonders die Sprachengabe
hervorgehoben wird. Bon da an und zwar fofort begannen die Apoftel die
Verfündigung des Evangeliums 8),
85) 1. Kor. 18, A—8,
6) 1. Kor. 15, 1 — 11. Apoſtelgeſch. 4, 9— 11. 5, 30— 31. 23, 6—9.
7) Nach Johannes verheißt Jefus den Heil. Geift vor feiner Kreuzigung und teilt
denſelben nad der Auferfiehung durch Anhauchen mit. 20, 22. Die Stellen
Matth. 10, 20 u. Luk. 11, 13 enthalten feine wirflihe Weiffagung des Pfingſt⸗
wunders.
8) Von ſeinem erſten Auftreten an bis zur Ausgießung des Geiſtes umfaßt das
ganze Wirken Jeſu ungefähr drei Jahre. Sein Tod wird demzufolge in das Jahr 783
nah Roms Erbauung gefegt (nach Lionyfifcher Zeitrechnung in das Jahr 787).
— —
Fünftes Kapitel.
Die Lehre Jeſu Chriſti.
1.
Jeſus nannte feine Lehre mit Einem Wort das Evangelium). In
welcher Form er feine Lehren vortrug, haben wir zum Theil bereitd erwähnt,
machen aber hier noch aufmerkffam auf die Paradorie vieler feiner Ausſprüche,
welche darin befteht, daß durch Uebertreibung in den Ausdrüden der dem
Sprühmwort inwohnende Gedanfe um fo fchärfer hervorgehoben wird. Das
(Scheinbar unfinnige) Paradoxon iſt vornämlich beftimmt, das Nachdenken
anzuregen und irgend einen gewichtigen Gedanken in der Seele des Leſers
oder Zuhörer tüchtig zu befeftigen. Wer nicht im Stande ift, Paradorien
zu verftehn, wird an Ausfprüchen Jeſu, wie Matth. 5, 29 — 30; 39 - 42;
19, 24. Luk. 6, 30. Joh. 6, 53 — 56, ſchweren Anftoß nehmen.
Größere Lehrvorträge Jeſu finden ſich beſonders zahlreich im Johannes⸗
evangelium. Bon hoher Wichtigkeit ift die Bergpredigt Matth. cap. 5— 7,
welche bei Lukas?) in bedeutend veränderter Geftalt erfcheint, dort aber freie
lich als eine auf der Ebene gehaltene Rede bezeichnet wird. Man bat fie,
nicht unpaflend, das Geſetzbuch des Neiches Gottes genannt.
Was den Inhalt der Lehre Iefu betrifft, fo müffen wir zuvörderſt von
derfelben einen Vorſtellungskreis, welcher mit ihrem Ideengang in Feiner
nähern Beziehung fteht, in ten Auafprüchen Jeſu nur nebenhin berührt wird
ud ohnedies größtentheild der Weltanfchauung des Neumoſaismus ange-
hört, zu befonderer Betrachtung ausfcheiden. Wir meinen die Borftellungen
betreffend die böfen Geifter. Wir fehen den Teufel und die Damonen ganz in
den Sprachgebrauch der damaligen Zeit eingegangen, jo daß man dad Wort
Teufel oder Satan oft ausſprach, ohne an das benannte Wefen felbft zu den⸗
fen. „Er bat einen Teufel! * hieß fo viel ald: „Er ift verrüdt!" Sefus
fel6ft bezeichnet ‚den Judas Iskariot als einen Teufel und dem Petrus ruft
4) Die frohe Boiſchaft (svayy&luov).
9) 6,17— 49.
70
er einmal zu: „Hebe dich weg von mir, Satan“ 3)! Die Wahnfinnigen
und Mondfüchtigen zwar behandelte Jeſus ald von Teufeln Befeflene, indem
er fle, al8 wohnten wirklich Teufel in ihnen, befhalt. Wir haben aber auch
eine Stelle, wo er von dem Ein- und Ausziehen böfer Geifter ganz bildlich
redet, um anſchaulich zu inalben, wie der Menſch, wenn er nach der Beſſe⸗
rung in die Sünde zurückfalle, weit ärger werde, als zuvor), Ob Jeſus
feine Warnung: „Simon, Simon, fiehe der Satan hat euer begehrt, euch
wie den Waizen zu ſieben!“ buchſtäblich oder biltlich gemeint habe, follte
nicht allzufchwer zu enticheiten fein). Ohne allen Zweifel bildlich zu ver-
ftehen ift der Ausſpruch: „Ich fah den Satan wie einen Blitz vom Simmel
fallen *®). Die beiden legtgenannten Ausfprüce Jeſu, verglihen mit feinem
Wort bei Johannes (12, 31): „ Jetzt ift das Gericht dieſer Welt, jest
wird der Kürft dieier Welt hinaudgeworfen werden !* weifen nun allerdings
tarauf bin, Jeſus habe eine feinem Reich feindliche, periönliche Macht des
Böien angenommen, Den Fürften diefer Welt nennt er als feinen und fet«
ned Reiches Gegner auch bei Johannes (14, 30 und 16, 11). Ganz ans
ders erfcheint der Satan in dieſer Auffaſſung, als in jener, wo er unter
dem Namen Beelzebub als „ Oberfter der Teufel” genannt wird 7). Xebtere
tft aber die Auffaffung der Bhariläer, auf welche ſich Jeſus nur um der
Widerlegung willen einläßt. Obigen Stellen bei Johannes und Matthäus
(12, 31) zufolge betrachtete Iefus den Satan als das gerade Gegentheil
des heil. Geiftes, welcher die Glieder des Gottedreiches befeelt, wie der Sa—
tan die „Kinder biefer Welt.” Im Gleichniffe vom Saͤemann ftellt Jeſus
den Teufel dar ald den, der das Wort Gottes aus den Herzen der. Leichtfer-
tigen hinwegnimmt, im Gleichniſſe vom Unfraut des Ackers als den Feind,
der Unkraut unter den guten Waizen des Gottesreiches fäct. Die Stelle, wo
der Teufel wirklich als Fürft der böfen Engel bezeichnet wird, hat Matthäus
3) Joh. 6, 70. Marf. 8, 33:
4) Matth. 12, 43 — 48. Luk. 11, 21-26.
8) Luk. 22, 31..
6) Luk. 10, 18. Vielleicht eine Anfpielung auf Sefaia 14, 12: — „Wie bift
du vom Himmel gefallen, du Morgenftern, Sohn der Morgenirötfe!" Da Morgen:
ftern Yateinifch Lucifer heißt, fpätere Ausleger aber dieſe Stelle des, Fefain nicht, wote
fie follten, auf Babel, fondern, eben geftügt auf jenen ähnlichen Aueſpruch Jeſu, auf
ben Satan bezogen, fo erhielt derſelbe auch ben Maen Bacifer.
7) Maith. 9, 34. 12, 24 — 37.
71
allein 8). Sie dürfte Daher wohl als eine Akkommodation an die herrſchen⸗
den Zeitvorftellungen, vielleicht auch als fubjective Auffaffung des Evange-
liften betradjtet werden. — Merkwürdig ift ſchließlich noch Die Stelle®), wo
Jeſus die ungläubigen Juden Kinder. des Teufeld nennt, weil fie die Werfe
bed Zeufeld hun, ber „ein Menfchenmörber war von Anfang und der Vater
aller Zügen. * Auch Hier läßt fich die geiftigere Auffaſſung des Teufels nicht
verfennen ; feine Weſenheit ericheint wie in allen übrigen Stellen ver Evans
gelten, wo Jeſus über ihn redet, mit Ausnahme von Matth. 25, 41, ganz
ethifch genommen. Cine förmliche Lehre über die böſen Geiſter hat Jeſus
nirgends gegeben und in den hauptiächlichen Xehrvorträgen erwähnt er ihrer
gar nicht. Wie nahe Tag die Erwähnung des Teufeld, als Iefus ſprach:
„Aus dem Innern des Menfchen, aus dem Herzen kommen hervor die böfen
Anfhläge und verunreinigen den Menſchen!“ Eben darum find die Aus⸗
ſprüche der Apoſtel betreffend den Teufel auch nicht jehr häufig. Im zweiten
Brief Petri wird bei der Schilderung des jüngften Tages des Satans nicht
gedacht und Jakobus fagt in feiner Epiftel (1, 14) unverhohlen: „Ein
Jeder wird verfucht, wenn er von feiner eigenen Luft (alfo nicht von Teufel)
gezogen und angelodt wird. ”
Aus Alledem dürfte vieleicht der Schluß gezogen werden, daß die Vor⸗
flelung vom Teufel und von den Dämonen urfprünglic nicht fo ganz we«
fentlich zur Lehre Chriſti gehört habe, wie fanatifche Liebhaber des Teufels
und der Verteufelung behaupteten und behaupten. Wäre es dem ruhigen
Culturhiſtoriker erlaubt, gelegentlich von der Vergangenheit hinweg einen
verachtungsvollen oder firafenden Blick auf die Gegenwart zu richten, fo
müßten wir freilich fagen, daß dermalen ganz augenicheinlich jene Sorte von
Teufeln, welche man dumme nennt, in ber Ehriftenheit außerordentlich ſich
breitmachen.
2.
Grundlage der Lehre Jeſu Chriſti iſt die Annahme einer allgemeinen
Erlöſungsbedürftigkeit der Menſchen. Dieſe Annahme baftrt auf
der Vorausſetzung einer allgemeinen Sündhaftigfeit der Sterblichen.
Ob fich diefe Borausfegung vor der Vernunft rechtfertige oder nicht, das zu
unterfuchen ift nicht unjered Amtes: wir hatten nur die bezeichnete Grund⸗
8) Matth. 25, 4.
9) Joh. 8, 30 — 44.
72
lage anzugeben und haben im Weitern den Um⸗ und Aufriß des Lehrgebäu-
bes zu entwerfen, welches auf diefer Bafis fich erhob.
Bon der Herridhaft der Sünde alfo, welche ſich kundgibt in der Schwäche
des fittlihen Willens, in Unterdrüdung der fittlichen Breiheit und in Ver⸗
blendung betreffend das Heil der Seele, muß der Menſch erlöft werden und
darum ift es notbwendig, daß er feine Schwäche und Verblendung erkenne,
nach höherem Licht und höherer Kraft fih fehne. Die zu ſolcher Erkenntniß
gelangt find, preift Jeſus felig in der Bergpredigt: — „Selig find bie Ars
men im Geifte; denn ihrer ift das Meich der Himmel!“ Er ermuntert fle
auch zum Gebet um jene höhere Kraft: — „Wie follte nit der Vater den
heiligen Geiſt geben denen, die ihn (darum) bitten? *
3.
Jeſus erkannte aber gar wohl, daß Fein Menich völlig ſündlos, d. 5.
fittlih vollfonmen werben könne. Er verwarf zudem die jüdijche Borftellung,
durch gute Werke Iaffe fih vor Gott irgend ein Verdienſt erwerben, und rief
daher feinen Jüngern zu: „Wenn ihr Alles werdet gethan haben, was euch
befohlen war, follet ihr jagen: Wir find unnüge Knechte; denn wir tha=
ten nur, was wir zu thun fhuldig waren.” Da ed nun dem Menichen uns
möglih iſt, auch nad der Berzeihung feiner alten Sünden vor Gott ganz
gerecht zu werden, fo verfündigte Iefus den Glauben als Erfaß der fitt-
lihen Vollkommenheit, als diejenige geiftige Macht, welche dem Menfchen
Brieden der Seele und ewig feliged Leben von Gottes Gnade erwerbe.
Der Glaube in dem umfaflenden Sinne, wie Jeſus Chriftus ihn Tehrte,
ift ein ganz neuer religiöfer Begriff. Er wird im grichifchen Tert des N. T.
immer ausgedrückt durd ein Wort, welche eigentlih Vertrauen bedeutet,
und Vertrauen ift allerdings der von Jeſu geforderte Glaube feinem Wefen
nah. Wenn Jeſus einem Geheilten zuruft: „Dein Glaube hat dir gehol-
fen!“ fo erfcheint dieſer Glaube offenbar ald flarfed Vertrauen auf Jeſu
göttliche Würde und Macht von Seiten der Kranken. Bum Glauben gehört
ferner, was man im gewöhnlichen Sprachgebrauch darunter verfteht, die
Worte eines Sprechenden, Worte Jemandes, im betreffenden Fall die Lehren
Jeſu, für wahr zu halten. In diefem Sinne fpriht Chriſtus: „Thue ich
nicht die Werfe meines Vaters, fo glaubet mir nicht 1)!* Der Glaube
1) 305. 10, 37. Vgl. Luk. 22, 67.
73
nimmt demnach ebenſowohl die Meberzeugung, als das Gemüth in Anfprud;
er durchdringt den ganzen Menichen, weil aus wahrer tiefinnerlicher Ueber⸗
zeugung auch ſtets ein lebendiges Vertrauen, weiches fich nad dem Inhalt
der Ueberzeugung richtet, hervorgeht. “Der Glaube an Gott und der Glaube
an Chriſtus iſt ein und derfelbe?). Sein Inhalt läßt fi fo ausdrüden:
In der Vieberzeugung, daß der allmächtige Gott unfer himmliſcher Vater und
Jeſus, fein eingeborner Sohn, unjer alleiniger Erlöfer und Seligmader if,
vertrauen wir auf Gottes Madıt, Weisheit, Liebe und Gnade und bauen
darauf, daß wir dur Chriſtus Frieden auf Erden und ewige Seligkeit im
Himmel erlangen 3).
4.
Den Glauben an Gott, dad Vertrauen auf ihn fuchte Jeſus wejentlich
dadurch zu wecken, daß er dad Verhaͤltniß Gottes zu den Menſchen ald dad
des Vaters zu den Kindern beſtimmte. War in den Schriften des Alten
Teftamentes nur fehr felten 1) Gott als Vater aufgefaßt, fo ericheint er da⸗
gegen im Munde Jeſu vorzugsweife als folder. „Unjer Vater!” ift der
Titel, unter welchem das berühmte Gebet Chriſti Gott anrufen lehrte. Nicht
häufig und nur Verſtockten gegenüber betonte Jeſus die ftrafende Geredhtig-
feit Gottes, während er defto häufiger Gottes väterliche Liebe und Fürſorge,
Gnade und Barmherzigkeit hervorhob.
Jeſus ift von Bott gefendet, dad Verlorene zu ſuchen und felig zu ma⸗
hen. Der Vater Tiebt die, welche feinen Sohn lieben und an deflen Sen⸗
dung glauben ). Auf Iefu Bitte gießt Bott den heiligen Geift auf die
Gläubigen aus 3). Daß Gott inbrünftiged Gebet erhöre, lehrt das Gleich⸗
niß vom ungerechten Richter. Wer Buße thut und an Ehriftum glaubt, audy
feinen Mitmenfchen jede Beleitigung verzeiht, dem ſchenkt er Verzeihung der
Sünden und ewiged Leben. Den Unbußfertigen und Ungläubigen läßt er
Beit zur Bekehrung. Sterben fie, wie fie gelebt, fo fallen fle in die ewige
Strafe, welde über die Verſtockten zu verfügen vom Vater dem Sohne über-
2) Joh. 12, Ad; 14, 1.
3) ©. d. Belegfiellen bei Mark. 11, 22— 26; 16, 16. Maith. 7, 21; 17,
20; 21, 22. Luk. 17, 6. Joh. 5, 24; 7, 38— 39; 8, 38—40; 12, 36;
14, 12.
1) 3. B. bei Maleach. 2, 10.
2) Joh. 16, 27.
3) Joh. 14, 16— 17.
74
geben 4). Die Juden, welche von jeher ihre Propheten verfolgt und ge⸗
tödtet haben, wird Bott nach der Kreuzigung des Sohnes mit vernichtendem
Strafgeriht heimſuchen und fein Reich andern Völkern geben >). Jeſus wird
von Gott getrieben, für die Erlöfung der Welt Marter und Tod zu erleiden;
das iſt fein ewiger Rathſchluß). Die Liebe und Gnade Gottes in feinem
Lehen und Leiten, nicht nur mit Worten, zu verfündigen, erfannte Jeſus
als. feinen Beruf: „Wer mich geſehen bat, der hat ben Vater gefehen. *
„®laubet mir, daß ih im Bater bin, und der Bater in mir iR”). * Weußer-
licher Dienſt, religiöfe Uebungen, denen das Herz ferne bleibt, gelten vor
Gott Nichts. „eher hin und lernet, was e8 heiße: Ich (Bett) will Barm⸗
herzigfeit und nicht Opfer.” Die aus Prahlerei Almofen geben und beten,
„haben ihren Lohn dahin 8). Niemand darf Gott im Gebete nahen, er
habe ſich denn zuvor mit feinem Bruder verföhnt 9). Das Gebet: des Selbfl-
gerechten weift er von ſich ab; den Demürhigen nimmt er gnädig an. Das
lehrt und dad Gleichniß vom Pharifäer und Zöllner. Ueberhaupt: „Gott
ift ein Geift, und die ihn anbeten, follen ihn im Geifte und in der Wahr⸗
heit anbeten.” Auf die rein geiftige Natur von Gottes Wefen weifen alle
Sittenlehren Chrifti unverfennbar hin. Die vollfommen reine Idee von
Gottes Heiligkeit findet ihren Ausdrud in der Moral Jeſu, welche ja nichts
Anderes, ald den Willen Gottes darftellen foll. |
Da Iefus fo oft vom „DBater im Himmel * redet, möchte es fcheinen,
er babe den Himmel ald die außsfchliegliche Wohnung Gottes betrachtet.
Dod das innige Gottesbewußtſein Iefu („der Vater ift in mir”), fein Aus⸗
ſpruch: „Bitte den Vater, der im Verborgenen ift* — und endlich das Apo⸗
ftelwort: „Gott iſt nicht ferne von unfer einem Jeden; denn in ihm leben,
fireben und find wir” — weifen beutlid genug auf Gottes Allgegenwart
bin, fo dab die Bezeichnung „Vater im Himmel“ nur dazu beftimmt fein
kann, einerfeitö die Erhabenheit Gottes, anderfeitd den Simmel als Offen⸗
4) Bergl. die Barabeln vom Unkraut des Aders und vom Netze, dazu bie Erzaͤh⸗
lungen vom „reihen Mann und armen Lazarus“ und von den Reihen, „deſſen Feld
viel Frucht getragen", und Matih. 25, 46. Soh. 5, 24.
5) Maith. 21, 33 — 44.
6) Matth. 20, 28. 26, 39. 34.
7) 30h. 14, 9—10.
8) Matth. 6, 1— 8.
9) Matth. 5, 23—24. Mark. 11,28.
75
barungdort feiner höchſten Herrlichkeit anzudeutei. Aus feiner unnahbaren
Erhabenheit laͤßt fich aber Bott zu den Menſchen liebend, verſöhnend, rets
tend hernieder. Cr hat feinen eingebornen Sohn gefendet, Die abgefallene
Menſthheit geiftig zu erneuten, ein ſeliges Gottesreich in ihrer Witte zu ſtif⸗
ten, fle wieder zu ihrer ewigen Beftimmung und zur Aehnlichkeit mit ihm,
dem Allheiligen, zurüczuführen. Die nun den Sohn bereitwillig annehmen,
durch Buße und Glaͤuben in fein Rei eintreten und Ihrem Schöpfer aͤhnlih
werden, nimmt er wieder als ſeine Kinder an. Dieſe Vorſtellung tritt ung
entgegen im Gleichniſſe vom „berloriien Sohn“ Und in den Ausſprüchen:
Liebet euere Feinde u. ſ. f., auf daß ihr Kinder ſeid eueres Vaters im
Htinmel ſ0)12 Selig find die Friedferligen; denn fle werben Gottes Kin⸗
der heißen: „Die, welche gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen, find
den Engeln gleich und find Kinder Gottes * 11), Die irdifhen Schickſale der
Menſchen beſtimmt Bott nicht immer nad dem Maße ihrer Tugend. Wen
ein Unfall trifft, {ft deswegen noch nicht fündhafter, als der Verſchonte 12),
Manche zwar flraft Gott mit äußerlichem Elend, damit fie fich befiern 19),
ader manchen ſchweren Sünder läßt er im Weltgluͤck ungeftört ſchwelgen bid
dh feinen Tod; dann jedoch tritt Die Vergeltung ein 14). Hinwieder müffen
oft gute und fromme Menſchen hienieden Armuth, Elend, Verfolgung lei⸗
den; wenn fie Dad aber mit Gottergebung und Geduld ertragen, werden fle
im Simmel ewig belohnt 15),
5.
Die Kehren Jeſu über feine eigne Perſon und Würde Haben wir großen⸗
theild im vorhergehenden Kayitel behandeln müſſen. Es bleibt und hier
demnach nur nachzutragen, wie er fein Verhältniß zu Gott nüher deſtimmt.
Sein Wohnen in Gott vor der Menfchwerbung (PBräeriftenz) Hören wir ihn
nach der fonoptifchen Darftellung nur infowett andeuten, daß er fügt, er fei
„son Gott gefendet* ; bei Johannes hingegen wird die Präeriftenz von Thin
ſelber gelehrt in bein deutliden Andfprädhen: „IA bin vom Vater ausge
10) Maich. 8, AS.
411) Luk. 20, 35 — 36.
12) uf. 13,18,
13). Joh. 8, 14.
44) Luk. 16, 19 — 31.
15) Bol. obige Stelle; dazu Matth. 6, 11 — 12.
%
— ——
76
gangen und in bie Welt gefommen; wiederum verlafle ich die Welt und gebe
zum Vater.“ „Wahrlih, ich fage euch: Ehe denn Abraham war, bin id
geweſen.“ Auch das Verhältnis des Weſens Iefu zum Weſen Gottes findet
ſich, von ihm ſelbſt näher bezeichnet, nur bei Johannes: „Ic und ber
Bater find Eins." „Wie der Vater in ſich ſelbſt Leben hat, fo hat er au
dem Sohne verliehen, in fich felbft Leben zu haben.“ Er ift die vollkom⸗
mene Offenbarung Gottes in menſchlicher Geftalt: „Wer mich geſehen hat,
der bat den Vater geſehen.“ Die Spnoptifer enthalten Ausſprüche, in
denen Iefus auf feine göttliche Herrlichkeit nach der Erhöhung von. der Erbe
« hinweift1); auch bezeichnet er fich bei ihnen wie bei Johannes ald den Richter
der Lebendigen und Todten )Y. Als Sohn Gottes fchreibt er fich Die Voll»
macht zu, Verzeihung der Sünden und ewiges Leben zu fpenden 2), und will
feine Lehre als das Wort Gottes angefehen wiflen 4).
Hier iſt nun der Ort, davon zu handeln, wie Jeſus fein Verhältnig
zu den Propheten des alten Bundes auffaßte. Er bezeichnete fi als den,
welchen die Propheten dem Volfe Israel verheißen hätten. Daß fie den Meſ—⸗
flad einen König genannt, deutete er ganz in geiftigem Sinne, wie er ja
auch das Neich Gottes, die neue Theofratie, rein geiftig auffapte. „Mein
Reich,“ antwortete er dem Bilatus, „ift nicht von die ſer Welt. Erſt
durch die Auferſtehung bet er die eigentliche Herrſchaft über fein Reich an⸗
getreten ; denn erft nach diefem Ereigniß fprach er die Worte: „Mir ift alle
Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden.* Diele Reich umfapt alfo
Himmel und Erde, nicht blos das Land Jsrael oder den Erbfreis, wie tie
Propheten geweiflagt. Sein Reich auf Erben regiert Chriftus vom Simmel
herab: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an dad Ende der Welt *5),
Er regiert e8 durch den heil. Geift, der jein Stellvertreter auf Erden ift ©).
Die Stellen der Propheten, welche er auf fein Leiden und Sterben bezogen
baben muß, find, genau im Zufammenhang betrachtet, gar nicht, auch Feine
einzige, über den Mefitas geredet. Das iſt ein unbeftreitbares Reſultat der
altteftamentlihen Auslegung. Aber Jeſus hielt fi gar nidht an den Buche
4) Matth. 26, 64. Mark. 14, 62. Luf. 22, 69. Maith. 28, 18.
2) 30h. 5, 21 und 27. Matth. 24, 29— 51.
3) Matth. 9, 2—8. Luf. 5, 18 — 36. Joh. 10, 27 — 29.
4) 306.12, 40 — 80. 7,16. Matih. 21, 33 ff.
5) Matih. 28, 20.
6) 30h. 16,7. 13 — 18, uf. 24, 49.
77
ftaben, fontern an den Geiſt, nit an die Perſon, fondern an die Idee.
Die in den Propheten audgefprochenen Ideen von flellvertretendem Leiten und
fleghafter Auferftehung waren ihm Weiffagung auf die fpätere Verwirklichung
derfelben in höherm Sinne. Daß Jeſus died Verbältniß fo aufgefußt, daß
er überhaupt den Propheten gegenüber einen fehr freien Standpunft einge⸗
nommen, dafür haben mwir zwei ſchlagende Beweife. Der erfte ift, daß Jeſus
auf die Brage der Jünger, warum nad Ausjage der Schriftgelehrten Elias
der Vorläufer des Mefftas fein müfle, die merkwürdige Antwort gab, Jo⸗
hannes der Täufer fei Eliad geweien”). Man fleht, die Idee des Borlän-
fer war in Johannes verwirklicht; in diefem Sinne nannte Jeſus ihn den
Elias. Der zweite Beweis ift jene Streitfrage Jeſu an die Pharifäer:
„Wenn David jelbft den Mefflad feinen Herrn nennt, wie ift er denn jein
Sohn")? Jeſus fheint aus diefem Wideripruh den Schluß gezogen zu
haben, der Mefftas fei dem Fleiſche nad der Sohn Davids, dem Beifte nad)
Gottes Sohn, eine Lehre, die bei den alten Propheten nirgends audge-
ſprochen ift. |
Wie Iefus fagte: „Der Bater iſt in mir“ —, fo hat er ſich aud ein
Innewohnen des heiligen Geiftes zugefchrieben 9). Im Weiteren bezeichnete
er denfelben ald die Verheißung des Vaters für feine Gläubigen und fchrieb
ihm die Kraft zu, Troft zu geben, in alle Wahrheit zu leiten und ein neues
Leben in der Seele zu entzünden 1%). Zuſammen ‘genannt finden fidh der
Bater, der Sohn und der Geift in dem einzigen Ausſpruch Jeſu: — „Gebet
bin und machet zu Jüngern alle Völker, und taufet fie auf ven Namen des
Vaters, des Sohnes und des heil. Geiſtes!“ Matth. 28, 19. ine eigent-
lihe Dreieinigkeitslehre bat Jeſus nicht aufgeftellt. Sic; felbft und
den heil. Geiſt hat er allezeit dem Vater untergeordnet, niemals gleich ge⸗
ſtellt. Er betrachtete ſich und den heil. Geiſt ausfchließlich als Werkzeuge
Gottes zur Erlöfung der Menſchheit. Kosmifche Bedeutung hat er weder ſich
felbft noch dem heil. Geiſte beigemeffen.
6.
Daß Iefus als Mittel zur Erlöjung der Menfchheit feine Lehre und fein
. Borbild betrachtete, erhellt aus vielen feiner Ausfprüce, beſonders aus
— —
7) Matth. 17, 9— 13; vergl. Matth. 11, 14 und Maleach. 4, 8.
8) Maith. 22, A — 46,
9) Luk. 4, 18. Joh. 20, 22.
10) Job. 3, 3— 8. Apoſtelgeſch. 1, 8 und andere fchon angeführte Stellen.
=
benen, die zur Befolgung ſeiner Lehre, zur Nachahmung ſtineg Finn und
Wandels auffordern). Ya Vollendung feines Erlöfungswerfes jebod IR
ihm offenbar fein Reiten und Sterben erfchienen. „Des Menſchen Sohn ift
nicht gefommen, daß ihm gedient werbe, jontern dag er diene und fein Le⸗
ken zum Löfegeld gebe für Viele,“ d. h. er gibt fein Leben bin alß ſtellver⸗
tretendes Opfer für Viele, indem er den Tod erleidet, damit jeue Vielen
den geifligen Tod, das ewige Verderben nicht erleiden müflen. Bei der Ein-
jegung des Abendmahld ſprach Jeſus (nacı Lukas): „Mehmet, eſſet, dae
iR mein Leib, ber für euch hingegeben wird,“ und (mad Matthäus):
„Trinket aus diefem (Kelch) alle; denn das ift mein Blut, Das Blus des
penen Bundes, weldes für Viele vergofien wird zur Verzeihung ber Sün⸗
den.“ Demgemäß erklärte Jejus fein Leiden und Sterben ald eig yon Gott
durch ihn gegebened Pfand des neuen Bundes, kraft deſſen Gott dem Buß⸗
fertigen und Gläubigen Die Verzeihung der Sünden ſchenke, gleich wie beim
Abschluß eines Bundes zwiichen Menſchen dad Blut des Dabei geſchlachteten
Opferthieres als Pfand für die Erfüllung der gegebenen Verſprechungen
galt. Die Rede Jeſu bei Iohgnues über das Eſſen ſeines Fleiſches und das
Frinken feines Bluted bezieht ſich weientlid auf Pie gläubige Annahme dieſes
goͤttlichen Gnadenpfandes. Daß Gott ſeinen Sohn hingibt in Schmach,
Schmerz -und Tod, iſt her höchſte, aber nothwendige Beweis, daß er den
Bußfertigen. und Gläubigen wirflih WBerzeihung „der Sünden und ewiges
Leben ſchenke. Die Gewißheit Der göttlichen Gnade verichaffe id nur durch
meinen freiwilligen Tod, dag war, ſcheint es, der Grundgedanke Jeſu, ald
er ſprach: „Ich laſſe mein Leben für Die Schafe" — und: „Größere Kiche
bat Niemand, als die, daß Einer fein Leben für feine Freunde läßt." Dar
her ift fein Tod ein Opfer der Liebe zu den Menichen, cine That Des Ge-
horſams gegen Bott. Das Abendmahl joll in allen Gläubigen dad Gedaͤcht⸗
nig dieſer liebevollen Hingabe auffriiben und zugleich Dant und Gegenliebe,
auch brüderliche Liebe zu einander in ihnen erwecken: „Thut dieſes zu mei—
nem Gedächtnifle! * „Das ift mein Gebot, daß ihr einander liebet, wie ich
euch geliebt habe*2). Durch den Tod Jeſu wird Gott verherrlichet, weil
darin feine Gnade ihre hoͤchſte Offenbarung findet: „Nun ift des Menſchen.
— —
1) Matth. 7, 24—27. Joh. 8, 81. Matth. 16, 24 — 28. Joh. 13, 18.
Zuf. 14, 25 — 27.
3) Ich 18,12. Dan beachte den Zyfammenpang mi V. 13.
. 79
Sohn verherrlichet , umd Gott iſt verherrlicht im ihm. IR nun Gott in ihm
verherrlicht, jo wird Gott ihn auch in ihm felbft verherrlichen und wird ihn
bald verherrlichen.“ Für Jeſus ift der Tod am Kreuze der Eingang zu ſei⸗
ner königlichen Herrlichkeit 3), der enticheidende Sieg über die Macht des
BDöfen in der Welt). Durch feinen Tod geht er zum Vater und bercitet
den Seinen himmlische Herrlichkeit®), für das irdiſche Leben ſchon tie Gabe
des heil. Geiſtes 6). Mit dem Tob am Kreuze endet fich das Erlöſungswerk
ded Menſchenſohnes: „Es if vollbradt I”
7.
Der Hingebung Jeſu ensipriht, den evangeliichen Berichten zufolge,
feine Auferwedung vom Tode durch Gott. Es liegt Hierin die Beftätigung
und Garantie, daß Jeſus wirflid ale Opfer des neuen Bundes geftorben,
daß feine Hingabe in Reiten und Tod das von Gott gegebene Pfund der
Sündenvergebung, ter Rettung vom Verderben, des ewigen Lebens fei:
— „Alfo mußte Chriftus leiten und von den Todten auferſtehen am dritten
Tage, und in feinem Namen Buße und Verzeihung der Sünden gepredigt
werden allen Völkern von Jeruſalem aus *1),
Mer nun nach diejer göttlichen Beflätigung des am Kreuz gefchloffenen
neuen Bundes „nicht glaubt, der wird verdammt werden“ 2). Begründet
erfcheint nun auch das Wort: „Wer fein Leben um meinetwillen verliert,
der wird e8 gewinnen ® 8); ebenfo: „Ich bin die Auferftehung und dad Les
ben ; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich ſtürbe“; und: „Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: Niemand fommt zum Vater,
als nur durch mich. *
Der Tod und die Auferfichung Jeſu fcheinen nach feinen Ausiprüchen
wefentlich dazu beftinnmt, die Menichen zum Glauben an Gottes verzeihente
Gnade zu erwecken, dadurch aber zu einem geheiligten Wandel thrilß zu ver-
pflichten,, theild zu ermurbigen. Gott verzeiht dem Bereuenden, und ver⸗
—
3) Matth. 26, 64.
4) Joh. 12, 23— 33.
5) Joh. 12, 32. 14,2 —A.
6) Joh. 16, 7.
1) Luk. 24, 46— 47, Bol. Ich. 13, 32.
2) Marf. 16, 16.
3) Maith. 16, 28.
80
leiht ihm ſelbſt Durch feinen Geiſt Beiftand zu einem neuen, befferen Wan⸗
del und führt ihn dadurch feliger Unfterblichkeit entgegen, — dies Bewußt⸗
fein fol durch Sefu Tod und Auferfichung dem Menfchen eingehaucht werben.
Bon jenem Iudengott aber, der nun einmal ein Opfer feines Grimmes ha-
ben muß, denfelben an jeinem eignen Sohne fühlt und dann erft verzeihen
fann, von diefem Wejen voll inneren Widerſpruches weiß Iefus, falls wir
feine in den Evangelien enthaltenen Reden nicht etwa unrichtig auffaflen,
Nichts In Iefu Ausſprüchen glauben wir überall den Sinn zu finden,
‚ daß Gott von vorneherein Fein ewig zürnender Moloch⸗Schaddai feit),, ſon⸗
dern ein verjöhnliches und gnädiges Weſen. Diefer Auffaffung zufolge,
welche ſich freilich Seitend der molodhiftjichen Blut- und Opfertbeorie des
modernen Pietisnus Feines Beifall8 zu erfreuen haben dürfte, follte durch
den Kreuzedtod Jeſu nicht der Gott, jondern der Menfc umgeflimmt wer-
den. In der Paſſionsgeſchichte Chriſti bezieht fi) unferes Erachtens Alles
auf eine Umgeftaltung des religidjen Bewußtjeind. Durch den Glauben an
die Bedeutung des Todes und der Auferfiehung Chrifti wird den Menichen
die Erlöfung von Sünde und Tod zu Theil. In diejem fubjectiven
Sinn alfo bat Jeſus durch feinen Tod Verzeihung der Sünden und ewiges
Leben für die Menihen erworben. Daß die Verzeihbung der Sünden
objectiv von Gott nit erſt durch Jeſu Leiden und Tod erfauft werden
mußte, beweifen am beften die wiederholten Zuficherungen Jeſu an Zeitges
noſſen: „Dir find beine Sünden vergeben ;“ und die Lehre: „Wenn ihr
den Menschen ihre Fehler vergebet, fo wird euer himmliſcher Vater euch auch
vergeben, — Ausfprüde, die er lange vor feinem Leiden und ohne alle
Hinweifung auf feinen Tod gethan. |
8.
Wie Jeſus das Reich Gottes auffaßte, haben wir ſchon in feiner Le⸗
bensgeſchichte berührt, fofern nämlich dieſe Auffaflung feinen zum Heil der
Menſchheit befolgten Plan bedingt. Was aber Jeſus über dad Weſen, Die
Beichaffenheit und das Wachsthum des Reiches Gottes lehrte, zumal in fo
vielen Gleichnißreden, muß hier, wo es ji rein um Gedanken, nicht um
Thaten handelt, in Kürze zufammengefaßt werben.
Jeſus redet von dem Reiche Gottes oder Reich der Himmel in zwei⸗
4) Bol. Thl. II, S. 126 — 138.
81
fahen Sinn, bald in Hinfiht auf feine äußerliche Erſcheinung, bald in
Hinficht auf fein wahres, tunerliches Weſen. Die das Evangelium äußerlich
angenommen haben, bilden zufammen das Neid Gottes auf Erden feiner
äußerlichen Erfcheinung nach. Eben wegen dieſer blos äußerlichen Annahme
bleiben viele Glieder des Reichs innerlich doch „Kinder des Böſen“, nur
die innerlih Umgemwandelten find die wahren „Kinder des Reiches.“ Uns
würdige wird es im irdiſchen Meich Gottes geben bis and Ende der Welt;
dann aber werden fle von den wahren Kindern des Reiches ausgeſchieden und
ind ewige Verderben geftürzt. Dies finden wir gelehrt in den Gleichniſſen
vom Unkraut des Ackers und vom Nege (Matth. Kay. 13). Auch das Gleiche
niß vom Gaſtmahl 9) lehrt die Verwerfung ter Unwürdigen aus dem Gottes⸗
reich unter dem Bilde des Goftes, „der Fein Hochzeitliches Gewand an hat *
und deswegen „binausgeworfen wird in die Finſterniß.“ Das Reich tes
Himmels breitet fihb aus unter heftigem Widerſtand der Verſtockten: —
„Von den Tagen Johannes tes Täufers bis jegt (da Chriſtus redet) Teibet
das Neid; der Himmel Gewalt, und die ihm Gewalt anthun, nehmen ed
weg” (nämlich fie verhindern Viele, in daffelbe einzutreten). Zuerſt wird es
den Juden angeboten; diefe aber weifen e8 von fh, und jo wird ed den
Heiden übergeben. Das lehren die Gfeichniffe vom Gaflmahl und von ten
Meingärtnern. „Es werden von Aufgang und Niedergang, von Mitters
nacht und Mittag Diele fommen und im Reiche Gottes zu Tiſche fien *2).
Unfceinbar klein ift der Anfang des Reiches Gottes, unmerflich fein
Wachſen, aber e8 wird ſich gewaltig auöbreiten über die Erde. Dies wird
anschaulich gemacht in den Gleichniſſen vom Senfforn und von der Saat des
Feldes 5). Wie der Sauerteig die Mafje des Mehls, fo wird das Neid
Gottes die Maffe der Menfchheit durchdringen und veredeln ). Das Reich
Gottes ift in dieſem Gleihnig ganz fo innerlich als die Gemeinichaft der
Gläubigen und Erldften gefaßt, wie in dem Ausſpruch: „Das Reich Gottes
fommt nicht fo, daß man es merken möge. Man kann nicht fagen: Siehe
hier! oder: ftehe Dort! denn fiehe, das Reich Gottes ift innerhalb eurer."
Zu der nämlichen Auffaffung des Reiches Gottes gehören die beiden Stellen
Joh. 3, 3—5: „Wenn Jemand nit geboren wird von oben herab, fo
41) Maith. Kap. 22.
2) Luk. 13, 29. Vgl. Matıh. 8, 11 ff.
3) Matth. 13, 31 — 32. Mark. A, 26 — 29.
4) Matth. 13, 33.
Scherer, Geſch. d. Religion. II, 6
82
Tann er das Reich Gottes nicht fehen* und: „Wenn Iemand nicht geboren
wird aus Waſſer und Geift, jo kann er in das Reich Gottes nicht eingehen “5),
Als Gemeinſchaft der Gläubigen und Erlöften genommen, umfaßt dad Reich
Gotted Himmel und Erde, worauf fhon der Name „Reich der Himmel“
hinweift: — „Es werden Biele kommen und mit Abraham, Ifaak und Ja⸗
kob im Reich der Himmel zu Tifche figen* 6). Die Seligfeiten, welcher man
im Reiche der Himmel genießt, werden nicht nur hier, fondern auch in ben
Gleichniſſen vom Gaſtmahl und von den 10 Jungfrauen unter dem Bilde
der Freuden einer Mahlzeit anfchaulih gemacht. Weil ſolche Seligfeiten im
Reiche Gottes verheißen find, darum ſuchen auch fo viele Unwürdige in das⸗
felbe einzutreten. In der That, die Freuden des Himmelreiches follen an«
Ioden ; aber wer ihrer theilhaft werden will, muß im Stande fein, um des
Himmelreiches willen nöthigenfall8 Alles aufzuopfern, wie in den Gleich
nifien vom Schatz im Ader und von der Perle gelehrt ift”). „Nöthigen-
falls“, haben wir gefagt; denn Chriftus Hat in Bezug auf die zeitlichen
Güter geäußert: „Trachtet zuerfi nach dem Reiche Gottes und feiner Ge⸗
rechtigfeit, jo werden euch diefe Dinge alle Hinzugethban werden. * Er heißt
auch nicht allein bitten: „Es fomme dein Reich!“ fondern zudem: „Gib
und unfer tägliches Brot! *
Buße und Glauben find, wie wir ſahen, nöthig, um in das Reich
Gottes gelangen zu können. Demuth, Sanftınuth, Friedfertigfeit, Stand⸗
haftigfeit in ungerechter Verfolgung, Verföhnlichkeit und Herzensreinheit
zeichnen die Glieder des Himmelreiches auf Erden aus. Darauf weiſen die
Seligpreifungen der VBergpredigt, fowie das Gleichniß vom gütigen Schuld⸗
herrn und bartherzigen Knechte hin, welchem gemäß aus dem Reiche Gottes
Jeder, der nicht verzeihen will, verftoßen wird. Aus Alledem erhellt, daß
Jeſus durd Stiftung des Gottesreiches nicht, wie Mojed, direkt eine neue
foziale Ordnung aufzuftellen gedachte, fondern eine foldhe Umänderung viel⸗
mehr der geiftigen Macht feiner Lehre überließ.
Als Zeichen der Aufnahme in das Außerliche Gottesreich fette Jeſus
die Waffertaufe ein®),. Daß diefe nicht die Aufnahme in das innerliche
8) Das Wafler ift hier Sinnbild der Taufe, welche dem Gläubigen ertheilt wird
als Zeichen, daß ex durch den Glauben in das Reich Gottes eintrete.
6) Matth. 8, 11.
7) Matth. 13, 44 — 46.
8) Matth. 28, 19.
83
Gottesreich bedeute, gab er zu verfiehen durch die Worte: „Wer glaubt
und getauft wird, der wird felig werden; wer aber nicht glaubt, der wird
verdammt werden.” Hätte er gefagt: „Wer nicht getauft wird, der
wird verdammt werden, — dann wäre die Taufe allerdings die Aufnahme
in das innerliche Gottesreich.
9.
Bon äußerſter Wichtigkeit und unberechenbarer weltbiftorifcher Wir⸗
fung war zweifeldohne der Grundſatz Jeſu, alle Menjchen ohne Unterſchied
der Abflammung, des Ranges und Vermögens feien in fein Reich berufen,
alle Völker zu Gliedern deſſelben beftimmt. Daß die Religion Jeſu alle
Menſchen als Kinder eines Vaters, ald Theilhaber einer ewigen Beſtim⸗
mung einander gleidh wertbet, daß fie alle Menfchen einander als Brüder
betrachten und lieben heißt!), — darin liegt ihr großer welthürgerlicher
und: demofratifcher Charakter. „ES foll eine Heerde werden und ein
Hirte" 2), d. h. die Menfchheit joll ein Organismus, eine Familie fein.
Selbft den Ungläubigen und Böfen gegenüber gebietet Die ganze Bergprebigt
Liebe und Großmuth, fchonende Duldung befonderd die Stelle Luk. 9, |
49 — 56. Verſchiedenheit des Glaubens entbindet von den Pflichten der
Näcftenliebe nicht; ſonſt hat dad Gleichniß vom barmherzigen Samariter
feinen Sinn.
10. Br
Noch erübrigt aber, die ſchwierigſte Seite der Lehre Jeſu vom Reiche
Gottes darzuftellen, nämlich das, was in den Evangelien von den legten
Dingen gefagt iſt.
Unvermuthet wird Chriftus in himmliſcher Herrlichkeit herniederfommen
auf Die Erde, zu richten über die Lebendigen und bie Todten. Da wird
alled Böfe für immer audgerottet, indem die Unbußfertigen und Ungläu«
bigen, von den Kindern des Neiches gefondert, in die ewige Strafe ein-
gehen. Die Kinder des Meiches aber werden „Ieuchten wie die Sonne im
Meiche ihres Vaters 1), ähnlich den Engeln an Geftalt, unfterblich
fortan 2). Gewaltige Zeichen werden dem großen Tage vorangehen; der nie
41) Luk. 10, 35— 37. Matth. 22, 39; 7,12.
23) Joh. 10,16. Bol. 17,20 — 21.
4) Matth. 13, 43.
2) Matth. 22, 30. Luk. 20, 34. — 36,
6*
berfommende Meſſtas wird alle Todten aufesweden, ſei's zum Gericht, ſeis
zum feligen Xeben, und wer die ihm verliehenen Geiftesfräfte nicht zur Foͤr⸗
derung des Meiches angewandt hat), wer in thörichter Sicherheit dahin⸗
gelebt, flatt zu wachen und zu beten *), wer Chrifte blos dem Namen nad
angehangen 5), wird ebenfowohl von der Herrlichkeit des Reiches ausge⸗
ſchloſſen, als der ganz Ungläubige. Belohnt und in einen höhern Wirs
kungskreis verfegt werden hingegen Alle, die ihre Kräfte wohl gebraudt
haben). Selig werben felbft die noch, welche erſt in fpätern Lebensjahren
durch Bekehrung in das wahre Gottesreich eingetreten find”). Die ges
naueften Lehren über das jüngfte Gericht finden ſich Matth. 25, 31—46
und Luf. 21, 25—- 33. Von den Apofteln heißt e8, fie werden, auf Thro⸗
nen figend, die zwölf Stämme Israels richten ®). In den poetifch erhabenen
Schilderungen vom Herniederkommen des Menſchenſohnes iſt mehrfach auch
der Engel als feiner Begleiter gedacht. Der Ort, wohin die „ Kinder des
Böſen“ verwiefen werden, wird bezeichnet als die Hölle, Gehenna 9), „wo ihr
Murm nit flirbt und ihr Beuer nicht erlöfcht *, — eine Schilderung, deren
bildliher Sinn fi nicht verfennen läßt. Der nämliche Ort wird bezeichnet
als die „Außerfte Finfterniß, wofelbft jein wird Heulen und Zähneflappern *,
was an die althebräifche VBorftellung von der Unterwelt, Scheol, erinnert 10).
Man bat fih zwar verfucht gefühlt, dieſe beiden Orte als zwei verfchledene
zu betrachten, in dem Sinne, daß die blos Leichtfertigen in den Scheol, die
erklaͤrten Böſewichter allein in die Gehenna verwieſen werden; aber dieſer
Unterſchied laͤßt ſich nicht durchführen. Vielmehr weiſt die verſchiedene Be—
zeichnung des Strafortes auf bildliche Veranſchaulichung der ewigen
Strafe hin.
3) Vgl. das Gleichniß von den Talenten. Matth. 25, 14 — 30..
4) ©. das Gleichniß von den 10 Jungfrauen, Matth. 28, 1 — 13.
5) Maith. 7, 22 — 23.
6) S. das Gleichniß von den Talenten.
7) ©. das Gleichniß von den Arbeitern im Weinberge. Matt, 20,1— 16.
8) Matth. 19, 28. Luk. 22, 28 — 30.
9) Die Schenna, eig. das Thal, wo früher dem Moloch Opfer verbrannt wor⸗
den, galt den fpätern Juden als Dit der ftrafenden Vergeltung nad) dem Tode, warb
aber nicht mehr als "ein auf ber Oberfläche der Erbe befindlicher Ort betrachtet.
Matth. 5, 29— 30; 25, 42. Dal. 13, 41—42. Luk. 16, 23 — 24.
10) Matth. 8, 12; 25, 30. Meber die althebr. Vorfiellung vom Scheol vgl.
Thl. II, S. 116.
8
Die Zelt, wann er herniederkommen werde zum Weltgericht, bezeichnet
Jefus zwar als unbeftiimmt, doch nahe bevorſtehend: „Dieſes Geſchlecht
wird nicht abgehen, bi8 Alles geſchehen ſein wird. Den Tag aber und bie
Stunde weiß Niemand, auch die Engel im Himmel nicht, fondern allein
mein Vater.” Die dringenden Warnungen vor thörtchter Sicherheit, welche
Jeſus in den ſynoptiſchen Evangelien fo häufig ertheilt, weiſen deutlich auf
baldiges, wenn auch überrafdendeB Eintreten des Jüngften Gerichtes 11).
Bekanntlich ift dad jüngfte Gericht bis heute nicht eingetreten; alfo bat ent»
weder Iefus tn feiner Zeitbeſtimmung ſich geirrt oder die Apoftel haben ihm
mißverſtanden. Letzteres wird im 2. Briefe Petri (3, 8— 9) unverkenn⸗
bar angedeutet. Durch diefe LUinficherheit der Auffaffung betreffend die Zeit‘
des jüngften Gerichtes iſt auch viel Undlares in die Unfterblichkeitsiehre über-
haupt bineingefommen. Daher werden uns theils folche Ausfprüce Jeſu
überliefert, welchen zufolge bie Todten fchlafen bis zur Auferſtehung am letz⸗
ten Tage 12), theils ſolche, die uns Tehren, die Seele komme gleich nach dem
Tode an den ihr gebürhrenden Ort12). Bel der Annahme, Jeſus habe das
Weltgeriht als nahe bevorflehend angekündigt, fühlte man ſich natürlich
micht veranlaßt, über den Zufland ver Seele gleich nah dem Tode genauere
Beflimmungen zu ſuchen, und fo find wahrfcheinlich etliche Ausſprüche Iefu,
bie fich näher darauf bezogen, verloren gegangen. Die unauslöſchliche Sehn⸗
fucht der Jünger nad) dem Eintritt des vollendeten Meſſtasreiches erklärt hin⸗
laͤnglich, warum fie des Mekſters Ansiprüche betreffend die Beit des Welt⸗
gerichted mißverſtehen Fonnten.
11.
Es ift bereits nachgewielen worden, daß Jeſus auch ein änßerliches
Gottesreich auf Erden habe fliften wollen, als defien Glieder alle diefenigen .
betrachtet werden, welche die Taufe auf den Namen bed Vaters, des Soh⸗
ned und des heil. @eiftes empfangen haben, Er felbft hatte ja ſchon ges
tauft 1) und aus Juͤngern und Jüngerinnen eine Gemeinde der Auserwähl«
ten (2eximöte, ecclesia) gebildet. Nur einmal zwar, in jener oben anges
füßrten Stelle, wo dem Petrus die, Schlüffelgewalt * übergeben wird, hören
11) Maith. 24, 48 — 81. Mark. 13, 33 — 37. Luk. 21, 34 — 36.
42%) 306. 6, 39-40; 8, 28-29,
413) Luk. 16, 22—23; 23,43.
1) 305. 3, 26.
wir Jeſus die Ekkleſta nennen; aber dies hindert kaum, anzunehmen, Sefus
babe wirklih die chriſtliche Kirche als äͤußerliches Gottesreich, als neue
Theokratie unter den Menfchen geftiftet. Gegenüber den Ausfprücden auf
einen baldigen Eintritt des Weltgerichte weifen die Gleichniſſe vom Un⸗
Fraut des Ackers, vom Senfkorn, vom Sauerteig, vom Wachſen der Saat,
fowie der Ausſpruch: „Siehe, ich bleibe bei euch alle Tage bis an das Ende
ber Welt* auf ein längeres Fortbeſtehen der chriſtlichen Kirche auf Erden
bin. Vermuthlich Hatte Jeſus unter dem baldigen Eintreten feines Reiches
auf Erden die Ausgießung des heil. Geiſtes verflanden, wodurd er feiner
Univerfaltheofratie auf Erben daB rechte Lebenselement zu ihrem
Fortbeſtehen mitzutheilen gedachte, nach welder die Jünger erft als ges
ſchloſſene Gemeinde auftreten und dieſelbe vermehren Eonnten. Mit der
Geiftesmittheilung, dem eigentlihen Schöpfungsakt bes Gottesreiches auf
Erden in ſelbſtſtaͤndig Außerlicher Ericheinung, mochte wohl der Eintritt des
Reichs in feiner überirdiichen Herrlichfeit verwechfelt werden. Darum fin«
den wir bei den Synoptikern jo feltene Berheißungen des heil. Beiftes und
jo häufige Berfündigungen des nahenden Weltgerihts, während dem
Johannes letztere durchweg fehlen, erftere hingegen der überwiegenden Mehr»
zahl nach angehören 2).
12.
Für fein äußerliches Reich auf Erden nun ift die erhabene Sittenlehre
Jeſu wefentlich beftimmt. Er entwirft in berfelben ein ideales Bild, wie
jedes Mitglied feines Reiches zu werden ſich befireben folle. Jede feiner
Sittenlehren ift Gottes Wille an die Kinder feines Reiches, Geſetz, in der
univerfalen Theokratie1). Wir dürfen aber bie Sittenlehre Jeſu als allges
mein befannt vorausfegen. Ihr Verftändnig erfordert weniger genaue Be⸗
kanntſchaft mit ter Schrift. Da außerdem eine einläßliche Darftellung der⸗
felben den Raum dieſes Buches überfehritte, fo müffen wir und begnügen,
die merkwürdigften Seiten dieſes Moralcoder hervorzubeben.
In der Bergpredigt (Matth. 5, 17—48) hebt Jeſus gefliffentlich her⸗
vor, welche Sittengeſetze der alten, nationalen Theokratie noch gefehlt
haben. Da wird das Unvollſtaͤndige ergaͤnzt und Manches, was im alten
2) Die Stelle bei Joh. 5, 28 ff. Hält die Zeit des Weltgerichtes ganz unbeſtimmt,
faßt überhaupt den Gegenſtand ganz anders, als die Stellen der Synoptiker.
1) Matih. 5, 19.
87
Geſetze noch erlaubt war, verboten, So verbot Moſes nur die vollendete
Sünde: Mord, Todtfchlag und Ehebruch. Jeſus dagegen verbietet jchon die
fündhaften Tendenzen und Vorſpiele: Streit- und Schmähfucht, fowie die
Beihäftigung der Einbildungskraft mit wollüftigen Bildern und mahnt zu
Nachgiebigkeit, und zu entfchtedenem Kampf wider die Gelüfte des Herzens
(3. 21—30)., War es im alten Bunde erlaubt, ſich unter beliebigen
Vorwänden von feinem Weibe zu fheiden, wenn man ihr nur im „ Scheides
brief“ die Gründe jhriftlich angab, fo bezeichnete Jeſus den Ehebrud als
einzigen Scheidegrund und den als einen Ehebrecher, der eine um dieſes
Grundes willen Gefchiedene zur Ehe nehme (DB. 31— 32), Bei einer ans
dern Gelegenheit 2) verordnete er zudem deutlich genug die Ehe zwifchen
einem Manne und einem Weibe (Mogonamie), während im alten Bunde
die Vielweiberei erlaubt war. Schon diefe eine Verordnung ift für das
foziale Leben der Chriftenheit von unermeßlicher Tragweite geweien. Das
durch ward das Weib von der orientalifchen Sklaverei befreit und zur gleich«
berechtigten Gefährtin des Mannes, zur Hausfrau im rechten Sinne er
hoben ?),
Das alte Wiedervergeltungsrecht (jus talionis) hob er auf und gebot,
lieber zur erſten eine zweite Kraͤnkung hinzunehmen, als Böſes mit Böſem
zu vergelten (V. 38— 42). Die im A. T. wenn auch nicht ausdrücklich,
2) Matth. 19, 3—8. Marl. 10, 2—12.
3) Es ift jedoch unerläßlich , hier anzumerken, daß erft mit der Seit, wo die gers
manifchen Völker die welthiftorifchen Träger des Chriſtenthums wurden, die foziale
Stellung der Frau factifch eine würbigere ward, als fle im orientalifchen und griechiſch⸗
römifchen Alterthum gewefen. Die urgermanifche Heilighaltung des Weibes (vgl.
Thl. II, S. 339), verbunden mit dem Auffommen des Mariaculis, war es, welde
die Frau mit dem Manne auf die gleiche Stufe menſchlicher Geltung erhob. Die
Anſchauung der Evangelien vom Weibe ift doch durchſchnittlich noch eine fehr oriens
talifchsrohe. Die Apoftel, in ihrer Uebertreibung der durch das Chriſtenthum ges
prebigten Entfinnlichung des Menichen, hielten ja die Che mehr nur für verzeihlich
als für raͤthlich. So bekanntlich ſelbſt Paulus. Bit der asketiſchen Bewunderung
des ledigen Standes flieg dann noch die Verachtung des Weibes ins Aberwißige. Die
meiften Kirchenväter fahen die Ehe geradezu als etwas Unreines, alfo Verdammliches
an. Gie,liebten es, in den ſchmutzigſten Ausdrüden von ber Verbindung zwifchen
Mann und Weib zu fprechen. Das Beifpiel der Ehelofigkelt Jeſu verleitete file zu
Schlußfolgerungen, wie fie der Bloͤdſinn nicht bloͤdſinniger aufftellen könnte. Wenn
alfo irgendwo, fo ift die Eniwicklung des Chriſtenthums in Betreff des Verhaͤltniſſes
von Mann und Weib eine fruchtbare geweſen.
88
doch indirect gegebene Erlaubniß, den Feind zu haffen, verwarf er, und
fegte an deren Stelle dad ganz neue Gebot großmüthiger Feindesliebe
(B. 43—44). US die zwei höchſten Gebote bezeichnete er die Liebe zu
Bott und zum Naͤchſten, weil in ihnen die Erfüllung aller übrigen Gebote
Iteget). Die biöher verfannten paffiven Tugenden, zumal Selbftverfäugs
nung und Demuth, hob er nahdrüdlich Hervor, jene als die rechte Nachfolge
feiner, diefe ald die wahre Hoheit und Stärfe des Geiſtes5). Hinwieder
ermahnte er auch zur Standhaftigfeit in ungerechter Verfolgung, zu muthi«
gem Vertrauen auf Gott und warnte vor feiger Menſchenfurcht, wie vor
allzugroßer Aengſtlichkeit betreffend den Lebensunterhalt). Klugheit ſogar
empfiehlt er feinen Jüngern, wie er auch felbft Klugheit Gibte, wo fie
dem Gewiflen nicht zuwider war”). Ein Hauptgrundfag der Lehre Chriſti
ift ferner, die geiftigen Güter Höher zu achten als die leiblichen, die
bimmlifchen Höher als die weltlichen ): „Niemandes Leben befteht darin,
dag er viele Güter Hat." Gleichwohl fol man die zeitlihen Güter nicht
- verachten, fondern fie zur Wohlthätigkeit anwenden und ald Beweiſe der
göttlihen Vatergüte wertbhalten®), Endlich nennt Jeſus als Hülfs-
mittel zu einem gottgefälligen Wandel das Gebet und die Wachſam⸗
feit über ſich felbft, auch das Faſten. Aber nicht als aͤußerliches Wert
ohne innerlihen Exrnft fol Beten und Faſten geübt werden, und eben fd
wenig die Wohlthaͤtigkeit aus bloßer Eitelkeit; ſonſt haben ſte keinen Werth
vor Gott 10). Geſinnung, Glauben und Wandel müſſe einander entſpre⸗
chen: das Heißt Gott verehren im Geiſte und in der Wahrheit: „Der gute
Menfch bringt aus dem guten Schage feines Herzend das Gute hervor und
ber böje Menſch bringt aus feinem böfen Schage Boͤſes hervor ; Denn an der
Frucht erfennt man den Baum. *
4) Matih. 22, 37—A0,
5) Matth. 16, 24; 7, 13—14. uf. 9, 46—48; 22, 26.
6) Matih. 5, 11—12; 6, 2534; 10, 38.
7) Maith. 10, 1617. Luk. 16, 8. Ioh. 2, 28.
8) Matth. 6, 1921. uf. 12, 18—21.
O) Luk. 16,9. Matth. 6, 26-30.
.. 410) Matth. 6, 148.
— — — —
Sechſtes Kapitel.
Entwicklung der chriſtlichen Lehre in den Kirchen,
Confeſſionen und Sekten.
1.
Der Umſtand, daß Jeſus kein Wort von ſeiner Lehre ſchriftlich der
Nachwelt überliefert hatte, Die bildliche, paradoxe und unzufammenhängenbe
Form feiner Lehre, endlich die Verſchiedenheit ihrer Auffafſung je nad) der
Individunalität feiner Sünger, — das Alles hatte zur nothwendigen Folge,
daß die von ihm ausgeſprochenen religiöfen Ideen ſchon in den Tagen ber
Nipoftel den Lauf einer weit ausfehenden Entwidlung begannen. Da. war
Behufd der Verbindung zwiſchen den einzeln ausgeſtreuten Ideen des Mei⸗
ſters noch fo Mandyes zu ergänzen, zu erſchließen, und weil die Apoftel,
auch der fpäter berufene Paulus, ſich erfüllt wußten vom heil, Geifte, be⸗
trachteten fie die aus der Lehre Iefu gezogenen Folgerungen, jowie ihre Aus⸗
legung feiner Sprüche und Gleihniffe, mit vollfier Ueberzeugung als das
Evangelium des Meifters feibft 1), fogar bei Lehrgegenkänden, über weiche er
fich nicht ausgeſprochen hatte. Die Ueberzeugung von der Cchtheit ihres
Evangeliums gründeten die Apoſtel, da noch feine Meligionsurfunden über
die felbfteigne Lehre Chriſti gefehrieben waren, auf ihre Erinnerung an feine:
Ausfprüche, indem „der heil. Geiſt fle erinnere an Alles, was Jeſus ihnen
gefagt habe" 2). Paulus berief ſich in dieſer Hinſicht theils auf den heil.
Geiſt, der in ihm jet, theils darauf, daß auch er den Herrn geſehen habe 2).
Auf die Autorität der Apoftel fügte fih im Weiteren die Autorität der
mündlichen Ueberlieferung von den Apoſteln, welche zunächſt Die unmittels
baren Schüler derfetben in Unſpruch nahmen. So entfland die Iradi«
tion ald Duelle der Ariftlichen Lehre. Später, als Niemand mehr ſich
einen anmittelbaren Schüler der Apofel nennen Tonnte und ed unſicher ge=
1) 1. Kor. 7, 40. Apoſtelgeſch. 11, 12; 4b, 28.
2) Joh. 14, 26; 16, 19.
3) 1. Kor. 9, 1.
90
worden ſchien, wer den heil. Geiſt habe oder nicht, nahm man an, der heil.
Geiſt werde ſich wenigſtens durch eine Verſammlung der angeſehenſten
Kirchenlehrer ausſprechen, und auf dieſer Baſis erhob ſich das Anſehen der
das Lehrſyſtem weiter bildenden Kirchenverſammlungen, Concilien?). Zu⸗
letzt war es den römiſchen Biſchöfen vorbehalten, die Autorität der apoſto⸗
liſchen Tradition für ſich allein in Anſpruch zu nehmen und dieſelbe, im
Fall eines Widerſpruches, höher zu ſtellen als die Beſchluͤſſe der Concilien.
Damit war entweder die Offenbarung des heil. Geiſtes in der Kirche ge⸗
läugnet oder es entſtand ein Widerſpruch zwiſchen der apoſtoliſchen Tradi⸗
tion und dem Geiſte des Herrn, woraus dann leicht die mißliche Schluß⸗
folgerung ſich ergeben konnte, die Einwirkung des heil. Geiſtes ſowohl als
der Tradition auf nachapoſtoliſche Lehrentwicklung ſei nur eine Illuſton,
wenn nicht etwas Schlimmeres. Ein Hauptanlaß zu ſo weit gehender
Selbſttäuſchung war jedenfalls, daß man die mündliche Tradition, nach⸗
dem ſie einerſeits durch die Einführung der Coneilien, andererſeits durch
den Abſchluß eines kirchlich anerkannten Kanons des Neuen Teſtamentes
hiſtoriſch überwunden war, noch immer zwiſchen beiden geltend zu machen
beliebte. Beſonders bei den fpäter hinzugefommenen Dogmen wird deutlich
genug hevvortreten , daß oft ein nicht fehr Heiliger Geiſt bei ihrer Sanction
mitgewirkt hat.
Nach diefen Bemerkungen verfähreiten wir Dazu, die Geftaltung ber
Lehre Chriſti in den chriftlichen Kirchen zu verfolgen. Natürlich ift nicht
beabfichtigt, eine vollfländige Dogmengefchichte zu jchreiben. Wir geben
nur die Hauptzüge. Doc wird fih bei aller Kürze und bei firenger Feſt⸗
haltung unferes culturbiftoriihen Standpunktes nicht ‚vermeiden lafſen,
fammtliche Lehrgegenfäge zu berückfichtigen, aus deren Kampf das lirchliche
Dogma hervorgegangen.
2.
Zur Weiterentwicklung der Lehre Chriſti hat der Apoſtel Paulus
vornaͤmlich in zwei Richtungen beigetragen: für's Erſte durch feine Lehre
von der Rechtfertigung durch den Glauben, welche Chriſtus ſelbſt nicht in
diefer deutlichen Form ausgeſprochen zu haben fcheint, firs Zweite. durch
die Lehre von der Onadenwahl, von welcher aud einzelne Anklänge in den
4) Als Muſter derfelben mochte bie Apoftelverfammlung in Ierufalem angeſehen
werden. Apoͤſtelgeſch. 18, 1—29.
91
- Ausfprüden Chrifti felbft, wenngleich nicht in fo fchroffer Geftalt, zu finden
find. Daß Paulus den zum Chriſtenthum übertretenden Heiden die Cere⸗
monien des mofatichen Geſetzes, zumal die Beſchneidung, erließ, und biefe
äußerkihen „Werke * als unnöthig zum Heil bezeichnete, im Gegenfat zur
fireng judaiſirenden Partei unter den Chriften, deren Glieder nachmals
Ebioniten genannt wurden, — das war nur bie nothwendige Folge⸗
rung aus ſeiner Lehre von der „alleinigen Rechtfertigung durch den Glauben,
nicht durch Werke, damit nicht Iemand fih rühme*1), Was für ein
Glaube das jet, der vor Gott vechtfertige, darüber läßt Paulus Niemand
im Unklaren, der die Stelle lieft: „In Chrifto vermag einzig der Glaube
Etwa? , der durch die Kiebe wirkſam ift*2). Die Begründung diefer Lehre
findet fih vornaͤmlich im Briefe an die Galater und in demjenigen an bie
Römer 1, 17 6i8 7, 25. Der Gedankengang der Begründung ift unge⸗
fähr folgenter: — der Menſch wäre ſchuldig, das ganze Geſetz Gottes ohne
die geringfte Ausnahme zu halten. Eine einzige leifefte Uebertretung jchon
raubt ihm die Gerechtigkeit vor Gott und kann durch Feine nachherigen
guten Werke aufgehoben werden. Da nun alle Menſchen Sünder find, fo -
find fle audy alle ungerecht vor Gott und können durch ihre beften Werke
feine Rechtfertigung erlangen, müßten mithin den Fluch der Lebertretung
tragen und in das Berderben fallen, wenn Bott fich ihrer nicht erbarmıt
hätte. Der aber öffnete aus freier Gnade einen neuen Weg zur Rechtferti⸗
gung, den Glauben an Jeſus Ebriftus, feinen. Sohn. Wer an dieſen
glaubt, der erfüllt Alles, was Bott im neuen Bunde von dem Menfchen
verlangt und wird daher vor Gott fo gerecht, als wäre er ganz rein von
Sünden. Durd den Tod Jeſu nämlich ift die Strafe der Sünde ftellver«
tretend für und erlitten, fomit für uns aufgehoben und der Gerechtigkeit
Gottes genug gefchehen. Aber eben der Glaube an diefe Kraft des Todes
Chriſti macht uns theilpaft der Freiheit vom Fluch der Sünde, von der
Strafe des Geſetzes. Hinwieder zieht durd den Glauben der heil. Geiſt,
das neue Keben in Chriſto, Chriftus felbft in uns ein und durchbringt uns
immer mehr, jo daß wir als nee Geſchöpfe nicht mehr uns felbft, jondern
Gott und Chriſto Ieben. Der Heil, Geiſt erweckt ja die Liebe zu Gott und
Chriſto, das neue Leben ift ein Leben in der Liebe, tiefe aber die Erfüllung
1) Gphel. 2, 8—9.
2) Salat. 8, 6; 6, 18; vgl. 1. Kor. 13, 2.
*
92
bed Geſetes. Darin vollendet ſich die Rechtfertigung vor Bott: wir find
zur Kindichaft Gottes gelangt ®).
Die Unterfuhung nun, woher der Glaube eigensfi fomme, führt zu
ber Xehre son der Gnadenwahl (Prädeftination). Die Beranlaffung,
diefe Lehre zu entwideln, war die Trauer des Pauhrs über den Yinglauben
der Juden umd die patriotifhe Hoffnung, fle würden fich einſt doch noch be⸗
fehren. Das ſchwebte ihm ſchon vor, als er die berühmte Stelle Röm. 8,
28-39 niederſchrieb, denn diefe leitete ihn fofort zur Betrachtung des Ver⸗
Hältniffes, in welchem damals die Juden zum Reiche Gottes flanden. Nicht
in der beſten Uebereinſtimmung mit den Ausſprüchen Chrifti (Matth. 8,
12—21, A3— 44) lehrt Paulus, Gott habe die Mehrzahl der Juden nur
darum gegen den Slauben verftodt, damit die Heiden eingeladen würden
in dad Reich Gottes. Set aber erft Die Vollzahl der Heiden eingetreten,
fo werden auch die Juden, von ihrer Berftodung befreit, Dur den Glauben
in das Reich Gottes gelangen. Died wird begründet dur die Lehre von
der Gnadenwahl. Gottes Gnade iſt frei, durch Feines Menſchen Thun oder
Lafien beftimmt. Die feine freie Gnade auserwählt, erweckt er zum Glau⸗
ben, die fie nicht außerwählt, verftocdt er gegen den Glauben, d. h. macht
ihnen denfelben unmöglih 4). Auf die Frage: „Warum zürnt und denn
Gott, daß wir nicht glauben?” antwortet Paulus: „Menſch, wer bil du,
der du mit Gott haderſt?“ d. 5. Lie freie Gnadenwahl Gottes ift vollig uns
erflärbard) ; denn „unergründlich find feine Gerichte und unerforſchlich feine
Wege.” In diefer Schärfe hat Ehriftus die Prädeftination nirgends gelehrt,
wenn auch einige feiner Ausſprüche auf eine Gnadenwahl hindeuten, wie
z. B.: „Viele find berufen, aber Wenige auderwählt" — und „Niemand
fann zu mir kommen, e8 ſei ihm denn gegeben von meinem Vater. *
Der Brief des Jakobus, rühre derjelbe her son wen er wolle, ſtellt der
Nechtfertigung „dur den Glauben allein” gegenüber die „Rechtfertigung
3) Bol. 1. Kor. 9, 2152. Kor. 5, 19; 5, 18; 1. Kor. 3, 16 fg.
4) Röm. 9, 14—18.
5) Vol. Römer 8, 26 fg. Mit der Lieblofigkelt des Rauliniſchen Dogma's
von der Gnadenwahl contraftiet übrigens ſehr fchön das befannie 13. Kapitel des
4. Korintherbriefes. Es wird da (B. 2) ein Glaube ohne Liebe geradezu verworfen.
Bon derartigen Gegenfägen und Widerſprüchen flrogen überhaupt, wie Jedermann
weiß, die neuteftamentlichen Uxfunden. Die Theologie may diefe Begenfägt und
Widerfprüce zu vermitteln ſuchen, die Tulturgeſchichte hat fie zu nottren.
%
aus den Werken"). Den Glauben ohne die Werke nennt er tobt und ver-
gleiht ihn mit einem entfeelten Leibe. Hier iſt offenbar der Glaube als ein
bloßes Fürwahrhalten genommen, nisht im Paulinifchen Sinne.
3.
Als eine wichtige Weiterentwidlung der Lehre Jeſu erfcheint ferner bie
Logosidee des Johannes, welche ſich beſonders im erſten Kapitel feines
Evangeliums darſtellt. Dad Weſen Jefu wird bier aufgefaßt als „das
Wort (Aöyog), welches von Anfang an in Gott war, durch welches alle
Dinge geworden, welches endlich in Iefus Chriſtus menjchliche Geſtalt anges
nommen.” Daß dabei an ein Wort im gewöhnlichen Sinne nicht gedacht
werben kann, verfteht fih wohl von ſelbſt. Dieſes Wort, der Logos, be⸗
zeichnet, denken wir, das Ideal, nad) welchem Gott die Welt, und zugleich
das fittliche Ideal, nad) welchem er ken Menſchen ſchuf, ald wirkfamer Wille
Gottes gedacht, daher ed auch ald dad „Licht und Leben" bezeichnet wird
und Chriſtus ald das verwirklichte göttliche Ideal des Menjchen erſcheint.
Diefe Lehre erinnert zwar nicht undeutlich an die Logoslehre des Alerandri-
ners Philo, laßt fich aber gleichwohl vielleicht noch anders al8 aus dem Ein-
fluß alerandrinifcher Meligionsphilofophte erklären, Chriſtus felbft hatte
feine Lehre oft mit befonderm Nachdruck fchlechthin ale „dad Wort “ bezeich-
net), auch ald dad „Wort Gottes" 2). Es kam hinzu, daß Gott nad) der
moſaiſchen Urkunde und den Palmen durch fein Wort die Welt erfchaffen,
Jeſus jelbft aber durch feine Zeichen ſchöpferiſche Kräfte an den Tag gelegt zu
haben ſchien. Diefe drei Umftände zufammengefaßt mit dem weiteren, daß Jeſus
fich felbft Gottes Sohn genannt, erklären die Entflehung der Logoslehre für ſich
allein hinlänglih. Nähme man aber an, das Evangelium Iohannis fei wirf-
ich unter alerandrinifhem Einfluß zu feiner Logoslehre gekommen, fo ließe
fich nicht wohl begreifen, warum es gerade in der Zeit, wo der Kampf gegen
den wirflich aus alerandrinifchem Einfluß Hervorgegangenen Gnoſticismus am
beftigften entbrannt war, fo allgemeine Firchliche Geltung erringen Tonnte.
Sp viel ift jedenfalls fiher, da die Logodidee die erfte religions⸗philo⸗
fophiiche Auffaffung des Weſens und der Perfon Chriſti if.
Außer ihr findet fich in den kanoniſchen Schriften des N. T. noch eine
6) Sat. 2, 14—26.
41) Matih. 13, 21—23. Marl, A, 14. Joh. 12, 48.
2) Luf. 11,8.
94 | ®
andere, nicht von Chriſtus felbft ausgeſprochene Lehre, welche ſich aber auf
fein Erlöſungswerk bezieht. Wir meinen die Lehre con dem Herabſteigen
des geftorbenen Chriftus in die Unterwelt (1. Betr. 3, 18—20 und 4, 6),
den Scheol der Hebräer, um den in der Sündflut Umgekommenen das Evan- -
gelium zu predigen und fie dadurch zu erlöſen 3), Daraus hat denn das
apokryphe Evangelium Nikodemi ein Herabfahren Chriſti zur wirklichen
Hölle, dem Orte der Verdammniß, gemacht und d hierüber die aberwißigften
Dinge erzählt.
4.
Die judatfirende Partei unter den Ehriften, fhon von Paulus: in
“feinen Epifteln eifrig befampft, führte den Kampf ein volles Jahrhundert
hindurch, biß fie fich ihrer Mehrheit nach zu einer Ausgleichung herbeiließ.
Ihre Mitglieder Tiebten e8, fich ald „die Armen diefer Welt” (Ebioniten)
zu bezeichnen, welcher Name der halsſtarrigen Minderheit nad erfolgter
Ausgleihung ald Seftenname blieb. Die Einen behaupteten die Verbind«
lichkeit des altteftamentlichen Geſetzes ſammt der rabbinifchen Tradition für
die Chriſten, die Milderen ließen einen Profelgtengrad der Heidenchriften
zu. Das Chriftenthum galt ihnen demzufolge nur ald dad vervollkommnete,
univerfell gewordene Iudenthum. Feſthaltend am Meiftasbegriff Täugneten
fie die Ewigkeit des Weſens Chrifti und behaupteten theils, ex fei nur der
Sohn des Joſeph und der Maria, theild, er fei in der Iungfrau Maria er
zeugt durch den heil. Geift. Als Urkunde ihrer Anfichten find befonders
die Glementinen erwähnenswerth, deren Lehren übrigens nicht weit von
Gnoſticismus entfernt ſcheinen.
Der Paulinismus ſagte aber dem qrifllichen Bewußtſein weit mehr-
zu, da er durch die Lehre von der alleinigen Rechtfertigung durch den Glau-
ben an Jeſus Chriſtus und daherige Verwerfung des Gefeged und der Rab⸗
binen Ehrifto exft feine volle welthiftorifche Bedeutung gab und das Ehriften-
thum, vom Judenthum befreit, zur Selbftftändigfeit erhob. Um jo höher
wurde feitdem das Wefen Chrifti felbft geftellt und die Logoslehre, welche
biefem Erforderniß entſprach, brachte bald die völfige Ueberwindung bes
Ebionitismus zu Stande. Kaum jedoch begannen die Ehriften hierüber ſich
3) Die Stellen Eph. 4,9. Roͤm. 10, 7. Apoftelgefh. 2, 27 können unferes
Erachtens nur vermöge eregetifcher Düftelei hiehergezogen werben.
4 95
zu einigen, fo regten auch ſchon die religionsphilofophifcgen Syſteme der
Gnoftifer das Beſtreben an, die gegebenen Lehren des num emanziptrten
Chriſtenthums in are Begriffe zu faffen, und fo mächtig wirkte durch ihn
das hellenifche Element, der Drang nach begrifflicher Darftellung, daß fort»
an eine Xehre nach der andern vorgenommen ward, um in allgemein aner-
kannte begriffliche Form gebracht, d. h. zum Dogma geflaltet zu werden,
Zuerft entfland aus Veranlaffung der Logodlehre der Streit zwiichen
den Subordinattanern und Monardianern. . Die Erften hielten
Chriſtus für ein ſchon vor feiner Menſchwerdung perfönliches, Bott eben⸗
bildliches, aber demfelben untergeordneted Weſen. Die Legtern betrachtes
ten CHriftus entweder als bloßen Menfchen, durch den göttlichen Geift in
der Jungfrau Maria erzeugt, oder für eine Offenbarung und Erfcheinung
Gottes felbft auf Erden. Diejer Streit, fehon feit Mitte des 2. Jahrhunderts
begonnen, endigte mit dem Siege der Subordinatianer und kirchlicher Ver⸗
werfung der beiden gegnerifchen Anftchten.
Bevor aber das Verhältniß zwiſchen Gott, Ehriftus und dem heil.
Geifte jeine Eirchlich ausgeprägte Form erhalten konnte, follte noch ein an«
derer weit heftigerer Streit die Chriftenheit bewegen.
Meber die Behauptung der von dem Presbyter Arius geftifteten
arianiſchen Partei, der Logos ſei einft durch den göttlichen Willen aus Nichts
geihaffen worden, erſtes Geſchöpf und Weltfchöpfer, daher nur ähnlichen
Weſens mit dem Vater, flegte auf der Synode zu Nicäa die Partei des
Biſchofs Alerander und ded Diakons Athanafius. Aber nur durch
Fatjerlihen Machtſpruch ſetzte diefelbe als vechtgläubig durch die Formel:
„Chriſtus ift der eingeborne Sohn Gottes, erzeugt aus dem Wefen des Va⸗
ters, Gott aus Gott, Licht aus Licht, erzeugt, nit erihaffen, gleichen
Weſens mit dem Vater” 2). Dies gewaltthätige Verfahren war der Grund,
warum der Streit nur um fo heftiger entbrannte und neue Parteien ſich
bildeten, die ſemiarianiſche, welche behauptete, „der Logos fei zwar von
Ewigkeit aus dem Wefen des Vaters gezeugt, aber ihm doch nur weſen s—
ähnlich“, — und die der Anomoier, welche alle göttlihe Wefenheit
Chriſti Taugnete. Die Synode zu Konftantinopel entfchied zum zweiten
Mat den Sieg der Athanaflaner 2); aber die Arianer fanden ihnen noch
1) 3. 3. 328.
2) 3.3. 381.
d
% | . |
Jahrhunderte lang in gleicher, oft überlegener Stärke gegenüber, bis end⸗
lich die ganze Kirche Das athanaſiſche Befenntnig annahm. Die Synode
son Konflantinopel war e8 auch, welche die Weſenggleichheit des Heil.
Geiſtes mit Gott dem Vater nad) Tangjährigem Schwanfen der Meinungen
hierüber fefließte. Damit war dad Dogma der Dreieinigfeit abgefchlofien
ind zwar jo: „Ein Gott, in ihm drei Perjonen, der Vater, und bie von
ihm auögehen, der Sohn und der heil. Geiſt. Ihr Gemeinfames tft Die
göttliche Weſenheit; aber jede hat ihre Eigenthiunlichkeit, Durch welche fie .
Perſon iſt.“ In dem nad Athanaflus genannten Symbol wird dieſe Drei⸗
einigkeitslehre ald Summe des chriſtlichen Glaubens feflgefegt und von ihrer
Annahme die Seligkeit abhängig gemacht, natürlich geftügt auf die Lehre
von der Nechtfertigung dureh den Glauben, den man jedody damals bereits
nicht mehr im paulinifchen Sinne verftand. Damit Fam der Entwiclungd-
kampf der Logosidee für eine Weile zur Ruhe. Uber der theologifche Zank
ruhte deßhalb nicht: — es erhob ſich fofort der pelagianifche Streit.
5.
Pelagius behauptete: Die fittliche Willendfreiheit ift dem Menfchen
angeboren, das Böſe hingegen fo wenig, ald das Gute. Die Sündhaftige
feit erjcheint daher, nur als gewordener Zuſtand, nicht ald urfprüngliche
Berderbtheit der Menfchennatur. Alle Menjchen find durch Gotted Gnade
zur Seligfeit beftimmt und berufen. Je nad feiner Vorherſehung, wie
die Menfchen die natürlichen und geoffenbarten Mittel zum Heil benugen
werden, bat Gott dieſe Mittel unter die Menſchen verjchieden auöges
theilt. Es gibt verfchiedene Grade der Befreiung von der Sünde und ſo⸗
mit auch des Verdienſtes vor Gott. Diefen entfprechen verſchiedene Stufen
der Seligfeit. Die höhere, das Himmelreich, fann nur durch Gefeg und
Evangelium errungen werden, die niedrigere, als Vorbildung zu berfelben,
auch von foldyen, die weder Gefeg nod Evangelium fennen, nämlih von '
Heiden und Kindern, auch ohne die Taufe. Letztere Stufe nennt Pe—
lagius das ewige Leben. Gerechtfertigt wird ber Menſch nicht durch Bei—
meflung fremder Gerechtigfeit, fondern dadurch, daß er ſich zu dem Grabe
ber Tugend erhebt, welchen zu erreichen ihm nad den verliebenen Gaben
und Heildmitteln möglich ift.
Dagegen lehrte Auguftinus: In Adam haben alle Menfchen ges
97
fündigt 1). In Folge des Sändenfalls- der Menfcheneltern. ift Die Menſchen⸗
natur völlig verderbt an Seele und Leib, hat alle fittliche Freiheit einge⸗
büßt, feine Kraft mehr zum Guten, einzig zum Böſen. In Allen Herricht
die fleifchliche Begier (ganz allgemein gefaßt) und bringt Alle unter die
Knechtſchaft der Sünde. So viel an un liegt, können wir nichts Anderes
als die Verdammniß verdienen. Nicht nur den Gang zur Sünde und bie
Sünde jelbft, auch die Sünden Schuld haben wir von Adam ererbt. Die Erb⸗
fünde ift Strafe und nothwendige Folge des adamitifchen Sündenfalle. Als
Sünder und Berdammte werden wir geboren. Nun aber beihloß Gottes
unerforjchlicher, freier Wille, durd Chriſtus einen Theil der Menſchheit zu
erretten. Gott erwählte einen Theil ver Menfchen, nicht alle, daß ihnen
durch Geſetz und Evangelium die Möglichkeit des Heild gegeben werde.
Unter diefen erwählte er wieder nur einen Theil; denn die Taufe, welche
alle Chriſten empfangen, verichafft ihnen bloß die Erlaffung ver Erbfünden-
fchuld, befreit fie jedoch nicht von dem innerlichen Bortwirfen der Erbfünde.
Einer vorher beftimmten Anzahl ter Getauften wirt dann noch die innerliche,
verborgene Wirfung des Heil. Geiſtes verliehen ald die wirkſame Gnade
Gottes, welche Erleuhtung und Heiligung, dadurch aber Rechtfertigung und
feligmachende Gerechtigkeit ſchafft. Unwiderſtehlich ift diefe wirffame Gnade
in Folge von Gottes Allmacht. Die fle jedoch nicht empfangen, fallen, wie auch
die ungetauften Kinder und die Heiden, in die ewige Verdbammniß. Dem⸗
zufolge hat Gottes unbedingt freier Wille von Ewigkeit: her unabänderlich
die Einen zur Seligfeit, die Andern zur Verdammniß beflimmt. Bon einem
Verdienſt des Menfchen vor Gott fann mithin feine Rede fein, nicht einmal
bon einem eigenen Mitwirfen zu feiner Seligfeit: Gott thut Alles.
Auf der allgemeinen Synode zu Ephefus wurden die Belagianer ver⸗
dammt 2), allein ungeashtet ſeines Sieges wollte der Auguſtinismus in feiner
Schroffpeit weder unter den Glietern ter orientalifchen noch ter occidenta⸗
liſchen Kirche recht Wurzel ichlagen. Ja, gerade aud dem Schooße der abend⸗
laͤndiſchen Kirche, welche den Auguſtinismus geboren, trat bald der Semipes
lagianismus hervor und wurde allmälig zur berrichenden Macht, auf Grund
der vermittelnden Anſicht: die firtliche Kraft des Menfchen jei durch Adams
Fall zwar nicht völlig verdorben, hingegen geſchwaͤcht. Die Gnade könne
4) „In den Eenden Adams“, druͤckt ſich Auguftinus aus.
29) 3.3.43.
Scherr, Gef. d. Religion. IH. 7
angensmmen oder auch zurädigewiefen werben ; jedoch vermöge ‚der Menfch
ohne fie gar Nichts. Die ſtrenge Praͤdeſtination (Borherbeſtimmung zur Gelög-
Seit oder Berdammnig) wart fallen gelaffen, ebenio auch jedes Verdienen
ber Seligkeit. Dem Pelsgianismus gegenüber hob man befonber& hervor,
dag die Wirkfamfeit der Gnade weſentlich am die Heilſmittel der Kirche
Ghriſti, zumal an die Taufe gebunden ſei.
6.
Während fid) die Enticheidung des pelagianiichen Streiteö vorbereitete,
erbob fi der nefterianifche, gleichfam als ein Kanıpf zwifchen den beiden
großen Schulen des Orients, Antiochien und Alerandrien. Er betraf bie
göttlihe und menjchlide Natur EHrifti in ihrem Verhaͤltniß zu einander.
Neſtorius betrachtete die Nenſchwerdung Ehrifti ald ein Wohnungnehmen
der göttlihen Netur in der menfchlidden. Beide wirken zufammen zu dem⸗
felben Zwede , find aber nur mit einander verbunden, nicht zur Einheit ver-
fhmolzen, fo dag Ehriflus zwar eine einheitlihe Perſon ift, in derm
Schickſak jedoch dad Eine nur feine menſchliche, das Andere nur feine gött-
liche Natur in Aniprub nahm. Cyrillus von Alerandrien ftellte dem
entgegen die förmlidie Menfhwerbung bed Logos in Chriſtus, Die gegen-
feitige Durchdringung und Berfchmelzung feiner beiden Naturen. Chriſtus
it der Gottmenſch, in welchem fi die göttlichen und menſchlichen
@igenfchaften gar nicht mehr von einander unterfhheiden laſſen. Selbſt fein
Leib ift den Logos eigenthümlidy geworden. Die oben erwähnte Synode
zu Epheſus verdammte die Lehre des Neftorius. Die Gottmenfchlichkeit
Chriſti nach Eyrillus blieb fortan allgemein anerkannte Kirchenlehre; aber
bie Sekte der Neftorianer befteht noch Heutzutage im Orient.
An dieſem Streite über die Raturen Chriſti Hatte jedoch die griechiſche
Spigfindigkeit no nicht genug. Eutyches, Archimandrit in Konſtan⸗
tinopel, wagte die Lehre von der Vereinigung beider Naturen fo weit zu
treiben, daß er behauptete, bie menſchliche Natur Chriſti fei in der gött«
lichen völlig aufgegangen und mit ihr zu einer Ratur geworden. Nach
mannigfachen vorangegangenen Schwankungen ward durch die allgemeine
Synode zu Chalcedon 1) feftgefegt: Zwei Naturen find unvermiſcht, aber
- auch ungertrennli in der einen Perfon Chriſti vereint. Die alexandri⸗
4) 3.3. 481.
9
niſche Richtung, welche bie göttliche Natur Eyrifi einieitig hervorgehoben,
ohne jedod ganz dem Euthches beizuſftimmen, nahm an diefem Beſchlufſe
Auſtoß und erhob fi Dagegen als monophyſitiſche Vartei. Obwohl
jelbft wieher in verfchiedene Richtungen zerfallend „ blieb fie Doc fo mächtig,
daß man fie mit der Kirchenlehre zu verfühnen juchte durch den Sag: Chri-
flus habe zwar zwei Naturen, aber beide äußern ſich nur in einem Willen.
Das rief aber uur wieder den monotheletifden Streit hervor. Den
Abſchluß dieſer Meinungskämpfe über das gottmenſchliche Weſen und Wollen
Chrifti bildete endlich der Beſchluß ter 6. dkumeniſchen Synode zu Konſtan⸗
tinopelD), welcher ald Kirchenlehre geltend machte: Verſchiedenheit der bei⸗
den Naturen Eprifti ungeachtet ihrer Vereinigung, demnach in phyſiſchem
Betracht eigentlich zwei Willen Chriſti, einen göttlichen und einen menſch⸗
lihen, nur in moralifher Hinfiht Einheit Diefer beiden Willen. Die
Monophyfiten ihrerjeitd nahmen feinen Antheil mehr an diefer letztgenann⸗
ten Fixirung der Firdlichen Lehre. Seit 536 bildeten fie in Aegypten die
koptiſche, feit Anfang des 6. Jahrh. in Aflen die armeniſche Kirche
und feit Mitte deffelben Jahrhundert in Syrien und Mejopotamien die Me-
ligiondgemeinichaft der Jakobiten.
Bon den Streitigkeiten, welche das Verhältniß der Perfonen der Drei⸗
einigfeit zu einander betreffen, fallen die beiden legten in das 8. Jahrhun⸗-⸗
dert. Die eine, gegen Die Adoptianer, warb nur innerhalb der abend-
ländiſchen Kirche durchgefochten. Zwei fpanifche Biichöfe nämlich hatten die
Lehre ausgebildet, feiner menfchlihen Natur nach fei Ehriflus nicht ur⸗
ſprünglich Gotted Sohn, fondern von Gott zu feinem Sohne angenommen,
adoptirt. Diefe Lehre ward auf der Synode zu Aachen 3) verworfen und da⸗
gegen aufgeftellt, Chriſtus fet auch nach Annahme der menſchlichen Natur,
hinſichtlich beider Naturen eben fo urfprünglich Gottes Sohn, wie vor der
Menfchwerdung. Der Sohn Gotted und der Sohn ber Jungfrau iſt der⸗
ſelbe; denn auch die menfchlihe Natur Chriſti Hat Maria durch göttliche
Beugung empfangen. Der zweite Streit, entflanden zwifchen ber morgen»
und abendlaͤndiſchen Kirche, zu deren Trennung er Vieles beitrug, betrifft
das Verhaͤltniß des Heil. Geifled zum Vater und Sohne. Shen im
8. Sahrhundert viel auf Synoden des Abendlandes verhandelt, warb bie
2) 3. 3. 68081,
3) 3.3. 799.
7%
100
r
Lehre der römifchen Kirche, der heil. Geift ſei nicht nur vom Vater, ſondern
auch vom Sohne audgegangen, von Ver durch den Patriarchen Photius
1. 3. 867 nach Konftantinopel berufenen Synode der griechifchen Kirche ver⸗
worfen und Hierauf Bann und Entjegung über den Papft ausgeſprochen.
Jede der beiden Kirchen blieb bei ihrer Lehre bis auf den heutigen Tag.
Die übrigen kirchlichen Streitigkeiten, welche auf Feſtſtellung des Dog«
mas Einfluß Hatten, betreffen nur noch Gegenftände des Eultus, nämlich
die Bilderverehrung und da8 Abendmahl. — Vergeblid war eine
Reihe griechifcher Kaiſer gegen die Bilderverehrung mit Gewalt eingefchritten
und hatte Die Synode von Konftantinopel unter Konftantinus Kopronymus 4)
diefelbe verworfen: die Anhänglichfeit der Menge an dieſe finnliche Manier
der Religiondübung wurde dadurch nicht zerftört, um ſo weniger, da der
Bilderdienſt an Rom einen Rückhalt hatte. Bei den Zuſtänden am byzan⸗
tinifchen Hofe muß es auch ganz in der Ordnung befunden werden, Daß
dem Bilderdienft dort durch zwei rauen zu vollftändigem Triumph vers,
bolfen wurde3). In der abendländiſchen Kirche Fonnte dieſe Verheidung
des Chriſtenthums erft fpäter durchgefegt werden. Namentlich adoptirte bie
germanifche Kirche, nachdem fte fih lange dagegen gefträubt 8), erft im 10.
Jahrhundert die von Rom gewollte Bilderverehrung.
Der Abendmahlöftreit, durch die Verwandlungslehre des Paſchaſtus
Nadbertu angeregt, bewegte die abentländifche Kirche allein. ‚Hatte ſchon
Papft Gregor der Große in irgend einer Dogmatifchen Verzückung flatt des
Abendmahlsbrotes plöglich einen blutigen Finger in feiner Hand gefehen,
galt zudem als Firchliche Lehre, daß auch der Leib Chriſti unmittelbar von
Gott gezeugt, aljo göttlicher Eigenfchafien ebenfalld theilhaft fei: fo lag es
nicht mehr fern, die bisher buchftäbliche Auffaffung der Worte: „Das ifl
mein Leib, dad ift mein Blut!” zu vertaufchen mit ber Lehre, daß bei ber
Beier des Abendmahls das Brot und der Wein in wirkliches Fleiſch und
.Blut Chrifti fh verwandle, indem Gott den Leib Chrijti flet3 von Neuem
4) 3.5. 754.
85) Durch die Kaiferin Irene, welcher zu Gefillen im Jahre 787 die Synode von
Nicaͤa die Bilder als Gegenftände Firchlicher Verehrung anerkannte, und durch bie
Kaiferin Theodora, welche im Jahre 842 ein förmliches Siegesfeft der Bilderverehrer
fiftete,
6) Die von Karl dem Großen berufene Synode von Frankfurt (im Jahre 794)
Hatte fich entfchieden gegen den Bilderdienft ausgefprochen.
101
erzeuge, wie einft im Leibe der Marie. Daburd werte, lehrte Radbert,
das Abendmahl theils zu einem ſteks ſich wiederholenden Verſöhnungsopfer,
theils zu einer ſtets erneuten Menſchwerdung Chriſti, letztere freilich im
Leibe des einzelnen Chriſten. Zuerſt traten Rabanus Maurus, Ratram⸗
nus und Scotus Erigena gegen dieſe Lehre auf, und der Streit blieb damals,
im 9. Jahrhundert, ohne kirchliche Entſcheidung. Als aber zu Anfang des
11. Jahrhunderts Berengar von Tours neuerdings gegen die Verwandlungs⸗
lehre Oppoſition erhob, war die öffentliche Meinung ſchon ſo ſtark für die⸗
ſelbe eingenommen, daß Berengar durch ſeinen Freund Gregor VOL nur mit
Noth vor dem Anathema errettet werden Eonnte. Die Lehre des Paſcha⸗
fiud erhielt volle Firdliche Sanction im Glaubensbekenntniß der großen
Lateraniguode unter Papft Innocenz IM. im Jahre 1215.
T.
Während nun die Grundzüge des kirchlichen Glaubensſyſtems durch
förmliche Veſchlüſſe der öfumenifchen und ſpäter ter fpeztell griechiſchen und
abendländiichen Synoten ſich ausbildeten, entwidelten fich neben ihnen
die übrigen Dogmen meift in ftillerer Weife durch tie Schriften der Kir-
Yenväter, deren Anſehen die öffentliche Meinung für ihre Kehren gewin⸗
nen konnte. Aber auch die fpätern Theologen nahmen an Liefer Kortbils
bung der Lchren noch Theil und ebenfo betingte theils der jeweilige Zuftand
des fittlich-religiöfen Lebene unter den chriſtlichen Völfern, theils das In⸗
tereſſe der Hierarchie, endlich die Umbildung der ſocialen Verhältniſſe die
Richtung , welche die Lehrentwicklung einſchlug. Wir ſehen uns daher ge⸗
nöthigt, jede einzelne Glaubenslehre in ihrer Entwicklung bis dahin zu ver⸗
folgen, wo wir oben abgebrochen haben, naͤmlich bis zum Beginn des
Scholaſticismus in der abendländiſchen Kirche, welcher das Dogma als bes
reits Abgeſchloſſenes mit Huͤlfe ariſtoteliſcher Denkformen zu durchdringen
und zu begründen ſuchte. Zugleich weiſen wir darauf bin, daß in ber
orientaliſch⸗ griechiſchen Kirche die Dogmengeftaltung mit dem Bilderftreit
ihr Ente erreicht, um erft nah der Reformation wieder einen ſchwachen
Anlauf zu nehmen, während in der abendländifch- römiſchen Kirche der
Scholaftieisnrus nur eine neue großartige Bewegung in der Lehrentwicklung
vorbereitete. |
Die alten chriſtlichen Kirchenlehrer oder Kirchenvaͤter, wie man ſie zu
nennen gewohnt iſt, find keineswegs anzuſehen als Solche, die ihre Lehren
102
allein aus den chriſtlichen Bewußtſein herausgebildet Hätten. Cie waren
beinah alle mit den Philofophemen der Alten bekannt, befafien claffiſche
Bildung und legten nicht felten eine große Originalität philofopbticher oder
auch, wie z. B. Tertullian,, phantaflereicher Anfchanung an den Tag. Erft
bei den Kirchenlehrern nach Auguftin fangt man dieſe Eigenfchaften zu vers
mifien an. Die Kirihenlehrer vor Angufin waren die Wortführer der
katholiſchen oder kirchlichen Partei gegen die Gnoſtiker und andere Häre-
tiker, fowie der Ehriſten überhaupt gegen Iuden und Heiden. Begreiflich
daher, daß fie viele chriſtliche Lehren im Gegenſatz wider die Genannten
als Ausdruck ves kirchlich⸗ chriſtlichen Bewußtfeind genauer formuliren
mußten.
Nach diefen Bemerkungen beginnen wir die Darftellung der einzelnen
Lehren in ihrer Entwidlung mit der Lehre von Gott, feinen Elgenſchaften
und feinem Verhaͤltniſſe zur Welt.
8.
Inwieweit Chriſtus felbſt die altteſtamentliche Idee von Bott verbolle
fommnete, haben wir geſehen. Er gab fie meiſt in Form populärer Bor«
ftellung. Den Uebergang zu eigenfliher Begriffsbeſtimmung erkennen wir
mit befonderer Deutlichleit in den Schriften des Apoſtels Paulus, wie im
Ceangelium und den Briefen Johannis. Nicht zufällig, denn in den.
Schriften dieſer beiden Richtungen treffen wir zugleich die theologiiche Spe⸗
enlation Aber das Weſen Chrifti und fein Erlöfungsweit. Hatte naͤmlich
Gott durch die Erſcheinung Chriſfti im praftifch weligiöfen Bewuftfein eine
ganz; andere Stellung genommen, als zuvor, Tv mußte mit dem Erwachen
des Denkens über Chriſtus auch Das begrifflice Denken über Bott begin«
nen, und je nad) dem Chriſtus gedacht ward, mußte auch der altteſtam ent⸗
liche Gotteßbegriff umgeflaltet werden. In den Anfichten der Gnofliker,
der Montaniften und Ebioniten nuangirte ſich derſelbe mannigfaltig %). Im
. 4) Die Gueſtiker Ichrten, wie belannt, einen Weltſchoͤpfet, welcher nicht Goti
ſelſt Sei, und ein Bonewiglaiifein ter Materie neben Bolt. Die Montaniſten und
Cbioniten accentuirten die Perfönlichkeit Gottes fo flark, daß fie ihm auch einen Körper
beilegten. Auch der Kicchenvater Tertullian (Presbyter zu Karthago, fl. 220)
neigte ſich diefer Anfiht zu. Dagegen verfchafften die Rirchenväter Origenes (um
328 Presbyter zu Ehlarea) und Elemen®, Haͤupier der alexandriniſchen Schule, ihrer‘
188
Algemeinen jedoch wurde Bott im panlinifhen Sinme*) als Inbegriff alles
Seienden gefaßt und wurde dabei, ebenfalls nach Paulus’ Vergang 3), bie:
Unerforſchtichten ſeines Weſens betont.
In Betreff der Eigenſchaften Gotted richtete man n fein Augenmerk bes
fonderd anf die Allgegenwart, welche mät ber Perfönlichkeit Gottes, und
auf die Allwiffenheit, welche mit der Freiheit des Menſchen nicht leicht ver⸗
einbarlich fchten. Gleichwohl warb an beiden feftgehalten. Die Erfhaf-
fung der Welt and Nichts ließ Die Kirchenlehre durch den Logos vermittelt
werben. Der beibnifchen Lehre von der blinden Nothwendigkeit im Kauf
der Schickſale ward eine väterliche Vorſehnng, den gnoftifhen Syfemen,
weiche die Entfledung der Welt alß einen Abfall von der Gottheit betrach⸗
teten, ein gütigeö und weifed Walten Gottes In der Welt gegenübergeftrllt.
Auch unter den Streittgfeiten über das Weſen Chriſti und fein Verhältniß
zu Bott behauptete fich jene pauliniſch⸗platoniſche Anficht von der Unbegreif⸗
lichkeit des göttlichen Weſens und feiner abſoluten Exhabenheit über alles
Endliche, zumal durch Baftlius den Großen, ©regor bon RHffa und Gregor
von Nazianz. |
9.
Die Lehre von der Erlöſung und von der Verſöhnung zeigte in den
exſten Iahrhunderten ebenfalld noch viel Schwanfendes, Die Gnofiker,
ihrem tualifiichen Standpunkt zufolge, faßten die Erlöfung als eine Bes
freiung aus den Feſſeln der Materie, die Ebtoniten ald Wiederherfichlung
der reinen Iheofratie, Origenes nach dem Vorgang ded Evangeliums Jo⸗
hannis als das Erjcheinen des göttlichen Ebenbildes, von weldem über bie
Menschen eine neue, göttliche, fittlich wiebergebärende Kraft audgegangen:
ſei. Mehr an Paulus flo fh, was die Verfühnungslehre betrifft, die
Genugthuungs⸗ (Satiöfactiends) lehre in ihres gnoſtiſchen und kirchlichen
Geſtaltung an. Nach der gnofiichen Anſicht, zumal des Marcion, befreite
Jeſu Tod die Menfchen aus der verberblicden Gewalt des von Gott unter«
ſchierenen Weltſchöpfers, indem er jenen, den Gott ter Gerechtigkeit, zwang,
Die gegen den fündenreinen Jeſus durch Bewirkung feines Todes begangent
— — —
Vorſtellung von Bott als einem reinen koͤrperloſen Geiſt (abſolutes Denken) die Herr⸗
ſchaft im kirchlichen Bewußtſein.
2) „Bon ihm und durch ihn und in (zu) ihm find alle Dinge.“ Roͤm. 11, 36.
3) Rim. 11, 33. Bol. 1. Kor. 2,9. und 1. Uimeih. 6, 15-40,
104
Ungerechtigkeit zu fühnen, welche Sühne in der Aufhebung des Verderbens
für die Ehriften beſtehen follte. Die Kirchliche Lehre ſogar hielt den Tod
Sefu nicht für eine Genugthuung gegen Gottes Gerechtigkeit, fondern für
ein vom Teufel begangenes Unrecht, welches denfelben nötbigte, fein Hecht
auf die fündigen Menfhen fahren zu lafien. Origenes vollends ſah Die
Seele Jeſu für ein dem Teufel bezahltes Löfegeld an, wodurch aber der
Teufel getäufcht worden, da er daflelbe annahm, ohne zu wiſſen, daß ihm
über die Seele des Gottesſohns Feine Macht zuſtehe. Anderfeits freilich
hielt fih Origenes an den Standpunft des Gebräerbriefed und betrachtete
Jeſus als den ewigen Hohenpriefter, weldyer aus Liebe zu Gott ſich felbit
zum Opfer dargebracht habe zur Tilgung ber Sündenſchuld aller vernünfe
tigen Wejen und verſöhnend in diefem Sinne fortwirfe bis zum Ießten Tage. _
Das folgente Zeitalter Hielt in Auguftinus und Gregor von Nyffa an
der Lehre von der Erlöfung durch rechtliches Verfahren, beziehungsweife
durch Betrug gegen den Teufel, feſt, doch erhob ſich Gregor von Nazianz
gegen ein dem Teufel bezahltes Löſegeld, während Andere flatt des Teufels
den perfonificirten Tod als die betrogene Partei binftellten. Ferner ward
in bibliſchem Sinne dad Leiden Chrifti als flellvertretend für die Strafe der
Sünter gefaßt und ihm, als tem Leiden des Gottmenfchen, ein unend-
licher Werth beigemeflen. Bei aller damaligen Hochftellung des Wefens
Ehrifti Hat man durch die ſtrenge Prädeftinationslehre doch der umfaffenden-
Bedeutung feines Erldfungswerfed großen Abbruch gethan. Vergleichen
wir übrigens die damalige Erlöfungslehre mit derjenigen der Evangelien,
ſo ftellt fih heraus, daß in Tegterer mehr althebräifche, in erfterer mehr
römiſche Rechtsbegriffe hervortreten, wie fpäter in der Erlöfungslehre
des Anfelm von Canterbury fich die germaniſchen Rechtsbegriffe geltend
machen.
Die dritte Periode konnte in ihren Wortführern, Gregor 1.1), Iſidor
von Sevilla und Johannes Damascenus, ebenfowenig von der juridifchen
Erlöſungs⸗ und Sühnungstheorie loskommen und Scotus Erigena fand
mit feiner abweichenden Lehre zu hoch über feiner Zeit, daber vereinzelt im
Meer tes Zeitbewußtfeins.
Ueber tie Lehre von der Perfon Sri ift bei diefer Gelegenheit noch
einiges Bemerkenswerthe nadyzutragen. — Da die Gnoftifer fi die Suͤnd⸗
1) Roͤnuſcher Bifhof 800-604,
105
Iofigfeit Chriſti nur erflären Eonnten durch Die Annahme, er ſei von jeber
Berührung mit der Materie, dem Prinzip des Böſen, frei geblieben, fo
waren ſie zu der Behauptung genöthigt, die irdifche Dafeindform Ehrifti jet
eine bloß Scheinbar menfchliche geweien (Dofetismus), fet ed, daß
fein Leib aus überirdifhen Stoff gebildet war und nur menſchlich ſchien,
wie die Ginen annahmen, jei e8, daß fein Leib wirklich irdiſch, aber. nur
von der Taufe im Jordan bie zum Eintritt des Leidens ald Außere Hülle
zum Bwede menichlicher Mittheilung angenommen war, wie die Mehrzahl
der Gnoſtiker glaubte: M @
Dem gegenüber hielten bie Kirchenlehrer, damit ihnen nicht am Ende |
die ganze evangeliſche Geſchichte verflüchtigt werde, fireng an der. Xehre,
Jeſus Chriſtus fei als wahrer, wirklicher Menſch don der Jungfrau Maria
geboren. Man ſchrieb ihm einen wirklichen Menſchenleib zu und bald, un⸗
geachtet der pauliniſchen Lehre, daß „in Chriſto die Fülle der Gottheit leib⸗
haftig wohne“ und ungeachtet der Logoslehre, auch eine wirkliche Menſchen⸗
ſeele. Nachdem die Streitigkeiten über die Trinität und das Weſen Chriſti
mehrmals nahe an den Doketismus geführt, und ſogar die Formel „Gott
hat gelitten“, ſowie die Bezeichnung der Maria als „Gottgebaͤrerin“ ortho⸗
dor geworden, nachdem das Zeitalter der ökumeniſchen Synoden ſelbſt den
Leib CHrifti zum göttlichen Logosleibe erhoben, blieb dennoch die Wirklich“
feit der menſchlichen Natur Ehrifti im Allgemelnen unumſtößliches Dogma
der Kirche.
10.
Was die Lehre von der Menſchenſeele angeht, ſo finden wir in
der aͤlteſten Zeit als herrſchende Anſtcht Ten Spiritualismus, d. h. die An⸗
ſicht, die Menſchenſeele ſei ganz geiſtigen Weſens. Als die Haupteigen⸗
ſchaften derſelben betrachtete man ſittliche Freiheit und Unſterblichkeit. Schon
damals waren aber in Hinſicht auf die Entſtehung der Menſchenſeele drei
Anſichten mit einander im Streite: — 1) Die Seele habe ſchon vor ber
Zeugung eriftirt (Präeriften;); 2) die Seele fei bei der Zeugung von Gott
geſchaffen worden (Creatianismus); 3) die Seele fei durch tie Zeugung
von den Eltern auf dad Kind übergegangen (Traducianismus). Noch lehrten
die meiften Wortführer,, die Sünde fei den Menfchen nicht angeboren,, fon«
hern entftche Durch den freien Willen des Einzelnen.
Die göttlicye Ebenbildlichkeit des Menfchen vor. dem Sündenfall ward
106
in der zweiten Periode der Kirchenväter in fo weitem Sinne geſußt, daß
man fle fogar als eine Herrſchaft über die Irbiiche Schöpfung betrachtete.
Dur den Sündenfall ging fie für Adam und alle feine Nachlommen
verloren. Wie fee die Freiheit des Menſchen burg den Sieg beb
Aaguftinismus an kirchlicher Anerlennung verlor, haben wir oben geſchen.
Dark) den Semipelagianismus der öffentlichen Meinung geſchützt, durfte
ſpaͤterhin Johannes Damascenud gleichwohl behaupten, durch den Schadens
fall Habe der Menſch zwar einzelme Zuͤge der göttlichen Ebenbildlichkeit, doch
die Freiheit und Kraft zum Guten nicht eingebüßt. Folgorichtig je nach
ber Anficht von ber Freiheit des Menfchen und ber Entfichung der Sünde
faßten die Kirchenlehrer auch Die Aneignung des in Chriſtus gegebenen Heils
durch den Menfchen auf. In der Alteflen Zeit galt der rechtfertigende
Glaube für völlig abhängig von dem Entſchluß des freien Willens; ein
reiner Wandel nach den Vorbild Chriſti ward ald nothwendige Frucht defe
felben gefordert. Die Snoflifer, die Auhänglichfeit an ihre phantaſtiſchen
Philoſopheme mit dem Glauben verwechfelud, waren die Einzigen, welche
das Fürwahrhalten als allein felig machend binftellten und verächtlich auf
die Werke herabfaßen. Aber auch Die katholiſche Richtung wich ihrerfeits:
bereit nom Paulinismus Daburd ab, daß fie eine Verdienſtlichkeit ber
Werke annahın und meinte, man fönne vor Bott durch gewiſſe Werte mehr
thun, als man fhuldig fe. Auguſtinus vermodte durch feine Lehre, daß
der Glaube einzig die Wirkung der unwiderftehlichen Gnade Gottes fei und
durch die Liebe rechtfertige, dieſer judaifirenden Richtung nicht zu wehren;
ebenjo wenig Jovinianus) und Andere, welche die befondere Verdienſtlich⸗
feit der Werke beſtritten. Faſten, jungfränlider Stand und dergleichen
Aenperlichkeiten galten dem kirchlichen Bemußsfein num einmal für verdienſt⸗
lich und dieſer Geiſt der Werkheiligkeit nahm im ber Kirche immer mächtiger
überhand, bis er in der Lehre vom Ablaß auf bie Eipige getrieben wurde.
11.
Der Begriff von der Kirche ſcheint in. früheften Zeiten ſich der Lehre
Ehrifti vom äußerlichen Gottegreich angefchloffen zu haben. Gegenüber ben
4) Ein römischer Asket, wegen feiner Oppofition gegen die Berdienftlichkeit der
Werke 388 aus der Kirche geſtoßen. Auguflinus war, wie allbefannt, Biſchof zu
Sippe, 395430. |
107
Montaniſten 1), welche in der heche die Berwirflihung des geiftigen, inmmer«
lichen Gottesreiches auf Erden zu ſehen verlangten, ſowir hernach im Gegen⸗
faß gegen die Rovatianer ), welche die Wiederaufnahme der Gefallenen
verweigerten, hielt die katholiſche Richtung feſt an dem Beiſpiel bes
Apoftels Paulus, ker den Korinthern einen reumüthigen Blutſchaͤnder zur
Wiederaufnahme empfohlen 3) ımd überhaupt Milde gegen die Gefallenen
geprebigt Batte4), und faßte jomit die Kinche als eine allgemeine Bil⸗
dungsanſtalt der Seelen für dad ewige Leben, nicht als bloße Ge⸗
meinfchaft der ſchon Geheiligten. „In der Kirkhe findet der ſündige Menfch
fein Heil; wo die Kirche, da iſt auch der Geiſt Gottes; außerhalb ver.
Kirche ein Heil”. In diefe Formeln faßten zumal Irenäus 5) und Cy⸗
prian 8) das katholiſch⸗kirchliche Bewußtſein. Da die Kirche nit nachgeben
wollte, bildeten die Montaniſten und Rovatianer Sekten und betrahteten
ſtch, wie gegenwärtig noch alle Seftiver, als die „Meinen, griechiſch
Katharoi (zadapol), woraus für alle Sektirer der Name Katharer
entftanden iſt ). — Der Wiederaufnahme Gefallener in die Kirche ging
eime ſtrenge öffentliche Buße vorher. Die Kirchenbuße in ihren fpätern
Unnimderungen ward aber nach und nah zum aͤußerlichen Werk, welchem
man neben dem Slauben reihtferfigende Kraft zuſchrieb. Im auguſtiniſchen
Zeitalter warb der novatianiſche Streit nochmals erneut durch die Dona⸗
tiſten 8), welche die Untreuen (3. 8. die in irgend einer Met unter den Ver⸗
folgungen den Glauben verfäugnet Hatten) und die offenbaren Sünder von
dee Kirche ausſchließen wollten. Sie wurden befonders von Anguftinns be⸗
kampft. Diefer aber, fowie Die ganze katholiſche Richtung, Art wicht min⸗
4) Der Phrygier Montamus, aller Sekten Bater, verkuͤndete um 170 ſich
[HR als die lebendige Offenbarung des MWaraklet (des Droͤſters, einer vom heiligen
Geiſt unterſchiedenen Himmelokraft), durch welche Die. Kirche zur mahren Gereinde Dex.
Heiligen vollendet werden ſolle.
2) Novatian, Presbyter i in Rom um 251.
3) 2. Kor. 2, 1—11.
4) Bal. 6, 1—.
5 Biſchof zu Lyon 177-—208.
6) Bifchof zu Karihago 348.
7) In deuticher Eorrumpirung „Reger,* ale Bezeihnung aller nichtorthodor⸗
lirchlich Glaͤubigen, daher auch von den Katholiten auf alle Nichtkalholiken und ums
gelehrt von viefen auf jene angewendet.
8) So genannt nach ihrem Stifter. Donatus, Biſchof in Numibien um 311.
108
der als die Donatiften an dem Irrthum, wer zur fihtbaren Kirche gehöre,
fei dadurch auch ein Glied der unfichtbaren Kirche, des innerlidden Gottes⸗
reiches. Man bebachte nicht, daß unter den jegigen Verhältniſſen die alt»
hergebrachte Bezeichnung der Kirche ald der „Einen, heiligen, allgemeinen‘
nicht mehr am beften paſſe. Vergeblich hatte. Tertullian, ungeachtet feiner
Eingenommenheit vom Montanismus bierin feiner Beit voraudeilend, auf
den Unterſchied zwifchen der fichtbaren und der unflchtbaren Kirche hinge⸗
wiefen. Es galt für gleichbedeutend, von der Kirche audgeftoßen und für
einen ber Verdammniß Geweihten erklärt zu werden. So blieb die Lehre
von der Kirche und bildete Die Grundlage der Hierardhiichen Theorie des
Mittelaltere. — Die Lehre von der Kirche bedingte im Weitern weſentlich
auch diejenige von den äußerlihen Gnadenmitteln, Sacramenten. Se
fefter man die Kirche als die alleinige Heildanftalt glaubte, je Eräftiger man
ihr „Geftiftet- und Durchdrungenſein“ vom heiligen Geift, geftützt auf das
Pfingſtwunder, betonte, deſto höhere Kraft mußte man auch den äußerlichen
Gnadenmitteln, welche die Kirche verwaltete, beimeflen.
Von Anfang an war man einftinnmig in Auffaflung der Tauf e nicht
bloß als einer aͤußerlichen Caͤrimonie zur Aufnahme in die Kirche, ſondern
als einer inwendigen, Wiedergeburt, Erleuchtung und Heiligung durch den
heiligen Geiſt,“ womit von Seiten des Täuflings dad Glaubensbekenntniß,
von Seite des Taufenden die Sandauflegung fich verband. Eben dieſer Bes
griff von der Taufe erregte jedoch bi8 ind 2. Jahrhundert hinein Meinungs
verfihiedenheiten betreffend die Kindertaufe, welche, nachdem fie bereitö kirch⸗
liche Sitte geworden, Tertullian noch befämpfte, und zwar ganz confequent,
da er unter der Kirche die Gemeinschaft der wirklich vom Geift Geheiligten
verftand, Die Kindheit noch für das Alter der Unfchuld anſah und dafür
hielt, die Kinder könnten Chriſtus noch nicht erfennen. Es mag fein, daß
bie Apoftel ſchon hie und da Kinder tauften, aber feſtſtehender Brauch war
e8 zu ihrer Zeit no nihtY). Die Kindertaufe ward Firdjlicher Brauch,
einerfeit8 aus Oppoſition gegen die Ebioniten, welche inımer noch die
jüdiſche Beſchneidung beibehalten, anderſeits durch die ſchon mit Origenes
auftauchende Lehre von der Erbfünte. Einmal kirchliche Sitte geworden,
trug ſie dazu bei, die Taufe überhaupt zu einem wunderbaren Myſterium
— — 0
9) Im 1. Korintherbrief (7, 14) werden die Kinder der Glaͤubigen „heilig“ ges
nannt. Bei Entfiehung diefes Documents iſt alfo ber Teufel (der Erbfünte) noch
nicht in den (ungetauften) Kindern gewefen.
-r.
109
zu erheben ; tenn das war ja das Wunderbarfte, daß fie fhon auf die Kin⸗
ber die obengenannten Wirkungen ausüben follte. Am meiflen Bedeutung
erhielt die Taufe dur den Auguflinismus, welcher ja, wie wir fahen, die
Nichtgetauften für verloren erflärte.
Nachdem aus den Liebesmahlen (Agapen) der erfien Chriſten die
eigentliche Abenpmahlöfeier fih ausgefchieden, hieß dieſelbe Euchariftie,
weil man dabei Bott danfte für die verlichene Nahrung, nach dem Vorbild
Ehrifti bei der Einfegung des Abendmahls, fowie für Die Hingebung feines
Sohnes in den Tod. Juſtinus und Irenäus bezeichnen es als ein Bott
dargebrachted Dankopfer und fprechen bereits die Lehre aus, daß durch die
Abentmahlsgebete mit Brot und-Wein das Fleifh und Blut Chriſti ver⸗
einigt werde. Zertullian dagegen nahm Brot und Wein ald Bild (Figura)
bes Leibe und Blutes Chriſti, Drigened als dad ‚‚nährende und herzer-
freuende Gotteswort, wie Chriſtus felbft das ewige Wort (Xogo8) ift.‘‘
Auch das Abendmahl ward jchon frühzeitig ala Myſterium geehrt, und zwar
als ſolches, wodurd der Chrift theilhaft werde der Verzeihung der Sünden
und des ewigen‘ Lebens. In der folgenden Periode Tagen die finnbildliche
und die myſtiſche Auffaffung des Abendmahls ohne Eirchliche Enticheidung
immer noch miteinander im Streite. Die Teßtere blieb noch jegt bei einer
Art Mifhung der irdifchen Stoffe mit dem Fleiſch und Blute Ehrifti als
des Logos ftehen. Die eigentliche Berwandlungslehre gehört erft dem Pas
ſchaſtus Ratbertus an. Un die Vorftellungen vom Danfopfer ſchloß fich in
der Abendmahlölehre der zweiten Periode bereitd diejenige von einem Sühn⸗
opfer, fo daß das Abendmahl als eine Wiederholung nicht nur der Menſch⸗
werbung , fondern auch bed verfühnenden Todes Chrifti erſchien. Die Ver⸗
wandlungslehre des Radbertus hatte ihre Erhebung zum Dogma bejonders
dem Glanze zu verdanken, welchen fle der Machtvolllommenheit der Kirche
zu verleihen ſchien. — Neben Taufe und Abendmahl wurden ſchon vor
Anfang des 7. Jahrhunderts die Salbung und Handauflegung, die Priefter-
weihe und die Ehe ald Sacramente bezeichnet.
12.
Der Betrachtung der Lehre von den legten Dingen haben wir einen
Blick auf die Vorftellungen von den Engeln und Teufeln vorauszu⸗
fchiden.
In Anfnüpfung an die Stelle im 2. Petrusbrief (2, A), wo die Teufel
110
als gefallene Enge bezeichnet werben, gakten bie Engel ſchon in der älteften
Beit ald fitelich freie Weſen, wie die Menſchen, jebod mit höheren Kräften
begabt. Der altıeflamentlihen Vorftellung von den Engeln al Boten und
Dienern Gottes zufolge theilte man ihnen, je nad) den verſchiedenen Graden
ihrer Würde, verſchiedene Aemter zu und dachte He bald ald Schußgeifter
einzelner Menſchen, bald ganzer Gemeinden und ganzer Völfer. Chriſtus
felbft Hatte ſchon von Schugengeln der Kinder geredet, und die Offenbarung
Johannis fprady von Engeln einzelner Gemeinden, wie von folden, die über
Naturkräfte gefeßt feien!). Die Teufel ihrerfeitö erfchienen im Kampfe des
Ehgiitentfumd gegen das Heidenthum der chriftlihen Phantafle ald Vor⸗
fampfer Des letztern. Ihrem Einfluß wurde die Verehrung der alten Göt⸗
ter, wie die Sittenlofigfeit, der Aberglaube, das Zauber» und Wahrfager«
wefen ber Heiden zugeichrieben. Die hriftlichen Märtyrer fegten den Sieg
Ehrifti über die teufliſchen Gewalten fort und wurden daher bald den Engeln
als Mitkämpfer zur Seite geftellt.
Auf jener Synode zu Nicka, welche den Engeln fammt den Heiligen
Anrufung, der Trinität allein Anbetung zugefland, ward den Engeln,
geflügt auf die Ausfprüche vieler Kirchenväter, ein feiner Körper aus Aether
und Licht zugeichrieben ; die große Lateranſynode 1215 ſprach ihnen dagegen
alle Körperlichkeit ab. Die hierarchiſche Stufenordnung der Engel ward
sorzugsweife durch Gregor den Großen in der katholiſchen Kirche verbreitet.
Sie unterſcheidet, theild nad altteſtamentlichen, theild nach paulinijchen
Stellen 2), in 3 Ordnungen 9 Arten der Engel, unter weldyen befonderd die
Eherubim und Seraphim, die Thronen und Erzengel hervorzuheben find.
Der Fall unter den Engeln ward theild von Hochmuth, theild von
gegenfeitiger Verführung abgeleitet, bis zum 5. Jahrhundert auch aus der
Liebe zu Töchtern der Menichen 2). Später ließ man den Iegteren Grund
fallen und hielt im Uebrigen die neuteflamentliche Anfchauung von Satan
und feinem Reiche feft, welches dem Reiche Gottes gegenüberftehe und deſſen
Werke zu zerftören Chriftus gekommen ſei ).
1) Matth. 18, 10. Offenb. Joh. 2, 1—17; 16, 2—5, 10 - 12, 18., Gegen
bie hierauf baſirte Verehrung der Engel fheint die Stelle Offenb. Joh. 19, 10 ges
richtet zu fein.
2) Jeſ. 6,2. Kol. 1,16. Epheſ. 1, 21. 4. Theſſ. 4, 16.
3) Benef. 6, 2. Bgl. 1. Kor. 14, 10.
4) 1. pi. Joh. 3, 8.
111
13.
Nach den früher angeführten Ausſprüchen Chriſti, nach dem Wort des
Paulus (Philipp. 1, 23), endlich nach 1. Petr. 3, 19 und 20 nahm man
in der älteften Zeit an, die Seele des Guten gehe gleich nach dem Tode ins
Paradies, die des Böfen in die Unterwelt, Hades, Scheol. Die Aufer
ftehung erwartete man erft beim Wiederkommen Chriſti zum Weltgericht.
Noch lebendig zeigte fich der Reſt jüdiſcher Mefftashoffnungen in der
baldigen Erwartung des taufendjährigen Reiches, welches Chriſtus auf
Erden fliften würde und in welchem die Frommen herrſchen follten
(Chiliasſsmus).
Zwar hat ſchon Origenes, geſtützt auf das N. T., dem Chiliasmus
im kirchlichen Bewußtſein jede Stütze genommen; aber dennoch hat faſt jedes
Jahrhundert noch ſeinen Weltuntergangspropheten hervorgebracht und dazu
Thoren, die ihm glaubten. Nach dem Vorgange des Paulus lehrte Ori⸗
genes eine Wiederbringung aller Dinge Y. Im 2. Brief Petri iſt eine
Verbrennung der Welt, aus welcher ein neuer Himmel und eine neue Erde
hervorgehen ſollen, verkündigt 2).
Im folgenden Zeitraum lehrte Auguſtinus, auf alt und neuteflamente
liche Ausſprüche 3) geflügt, eine Abbüßung der hienieden noch nicht hin⸗
reihend gefühnten Sünden in Beuerqualen vor Eintritt des Weltgerichtes,
Diefer Glaube an dad „Fegefeuer“ ward im 6. Jahrhundert durd
Gregor ten Großen in der Kirche berrichend. Wie in der erften Zeit, ward
die Auferftehung aud in der auguſtiniſchen Periode bald mehr bald weniger
finnlih aufgefaßt, die Seligkeit nad Matth. 5, 8 ald „Anſchauen Gottes‘
befinirt, die Ewigfeit der Verdammniß nad, dem Weltgericht durch Augu⸗
flinus begründet, durch Diodor von Tharjus 4) und Theodor von Mopfue«
ftia 5) beftritten. Das folgende Zeitalter hielt an der Ewigfeit der Höllen-
ftrafen feft. Scotus Erigena erneute, auch bier ohne Einfluß auf das
1) 1. Kor. 18, A— 28.
2) Kap. 3,3. 10—13. Vgl. mit diefer Stelle die Dogmen der perfifchen und
ber germanifchen Religion über die fchließliche Verbrennung und Wiedererneuung der
Belt, Thl. I, S. 181; Thl. II, S. 330-333.
3) Makkab. II, 12, A3—46. 1. Kor. 3, 18.
4) Biſchof 378—98.
5) Biſchof 393—429.
112
kirchliche Bewußtfein, die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge. Seit
Origenes galt die Zeit der Wiederkunft Chriſti zum Weltgericht im kirch⸗
lichen Bewußtfein allgemein für völlig unbeſtimmt.
14.
Im Mittelalter begann die Entwidlung der Kirchenlehre zu floden.
Die Scholaftiker hatten ala bloße Schultheologen , die das überlieferte Dogs
menmaterial wifjenichaftlich zu ſyſtematiſtren fuchten, wenig Einfluß auf
die Geftaltung des Dogma's, weil dieſes ſich meiſt nur- noch im Interefie der
Hierarchie weiterbildete. Wir müffen daher die nähere Würdigung bed
Scholaſticismus dem Kapitel über die hriftliche Wiffenfchaft vorbehalten.
Der Hauptpunft, wo wir eine Einwirkung des Scholaſticismus auf
die Kirchenlehre wahrnehmen , ift die Verfühnungätheorie. Nach germanis
hen Ehr- und Rechtöbegriffen ftellte Anfelmus von Canterbury 1) folgende
Satisfactions⸗ (Genugthuungs-) Ichre vom Tode Ehrifti auf: — Durch tie
Sünde hat der Menfch Gottes Ehre verlegt; foll er nun ſelig werden, fo
inuß er Gott Genugthuung dafür Teiften, vermag es aber nicht. Diefe Ges
nugthuung ,. ald Herftellung der Ehre Gottes gefaßt, übernahm Chriſtus,
der Gottmenſch. Er litt, weil er jündlofer Menfh war, unfhuldig, daher
ftellvertretend für die fündigen Menfchen, die Strafe der Sünde, den Tod,
Dadurch, und weil Chriſti Tod zugleich eine freiwillige That ald des Got—
tesſohnes, fomit von unendlihem Werthe war, ift die Ehre Gottes wieter«
bergeftellt, zugleich Gottes Gerechtigfeit erfüllt, und fo fann nun Gott den füns
digen Menſchen die Strafe der Verdammniß erlaffen und die Seligfeit ſchenken.
— Diefe ganze Theorie ward zwar nicht zum Dogma erhoben, Dafür hatte ſte
aber zur Folge, daß trog des Widerflandes von Seiten Bernhards von
Glairvaur und Anderer die alte Lehre vom Recht des Teufels auf die ſün—
digen Menfchen überwunden ward und durch Thomas von Aquino auch die
Lehre von der Unendlichkeit ded Verdienſtes Chrifti die päpftliche Anerken—
nung erwarb 2).
Die fchon vorhandene Werfheifigfeit de8 Zeitalters fand ihre Begrün=
dung in den Syſtemen der Scholaftifer, zumal des Thomas von Aquino,
Der Glaube erhält jeine rechtfertigende Kraft nur durch Die Liebe, hieß es;
1) Starb 1109 als Erzbifchof daſelbſt.
2) Durch eine Bulle Clemens’ VI., 1343.
-\
113
die Liebe aber zeigt fi in ben Werfen. Daher find bie, zumal von ber
Kirche vorgeichriebenen Werfe, Zaften, Ulmofengeben, Wallfahrten, Ger
ſchenke an die Kirche u. f. w., verdienſtlich, fle erwerben bie Gerechtigkeit
vor Bott. — Ur, fehr alt, wie wir gefehen haben, waren die Lehren, daß
die fihtbare Kirche die Gemeinfhaft der Heiligen fet und daß man vor Gott
mehr thun könne, als man zur Seligfeit nöthig Habe. Daraus geitaltete
fih im Mittelalter die Anſchauung von einer Solidarität der Kirchenglieder
in dem Sinne, daß Diejenigen, welde zu viel. thun für ihre Seligkeit,
durch ihren Ueberfluß an guten Werfen den Mangel berer erfegen können,
welche zu wenig thun. Da nun zu erfterer Klaſſe Hauptfächlich die März
tyrer und übrigen Heiligen zu gehören ſchienen, fleigerte fich die Verehrung
derſelben bis zur Verehrung ihrer körperlichen Ueberrefte (Reliquien),
denen man wunderbare Kräfte beimaß?). Aus dem großen Schatz der
überverdienftlichen Werfe fpendete Die Kirche dem Sünder um Geld (— das
follte gefprünglich eine Buße fein —), fo viel er zur Tilgung feiner Sünden
fhuld bedurfte, und verficherte ihn dann durch Abfolution der Verzeihung
feiner Eünden. Das war der Ablaß. Begreiflih Hinderte die vom
Bapft bevollmächtigten Ablaßfrämer Nichts, Verzeihung ſelbſt für noch zu
begehende Sünden zu verfaufen, und das kirchliche Bewußtjein der rohen
Maſſe fträubte fich dagegen keineswegs.
Das Mittelalter hat auch die Behauptung von ber Freiheit. der „längſt
verehrten Gotteögebärerin” Marta von der Erbfünde aufgeftellt. Hierüber
führten dann die Dominikaner als Thomiften (Anhänger des Thomas von
Aquino) und die Franziskaner als Scotiften (Anhänger des Scotus) einen
höchſt erbaulichen Streit, welcher ein merfwürdiges Licht auf die Erfüllung
mönchiſcher Keujchheitögelübde geworfen bat. Da die Freiheit von. der
Erbfünde mit dem Ausdruck „unbefledte Empfängniß“ bezeichnet
3) Der Reliquiendienft, im fpäteren Mittelalter bis zur Tollheit gediehen (f. u.),
fand übrigens ſchon frühzeitig ſarkaſtiſchen Widerſtand. Ein byjantiniſcher Boet,
Chriſtophoras, richtete 3. B. ſchon um 650 eine Anzahl fatirifcher Samben gegen die
fhwunghafte Reliquienfrämerei, welche ter Mönd) Andreas damals trieb. Nachdem
der Satirifer dem Moͤnch vorgeruͤckt, derfelbe habe bereits 10 Hänte des Märtyrers
Profopios, 15 Kinnbacken des heiligen Theotoros, 8 Füße des heiligen Neftor, A
Köpfe des heiligen Georg und 5 Brüfte der heiligen Barbara, die er demnach zur
Hündin made, in den Han bel gebracht, verfpricht er, ihm noch viel werthvollere
Reliquien, z. B. den Daumen des dreimal feligen Henoch und das Gefäß Elias des
Thisbiten, umfonft zu liefern. |
Scherr, Geſch. d. Religion. III. . 8
114
wurde, fo kann man ſich denfen, in weldhen Liebenswürdigkeiten die Mönde
beider Barteien ſich erihöpften*). Der Streit ift bis in die zweite Hälfte
tes 19. Jahrhunderts unerledigt geblichen. Da aber Haben wir es felber
erlebt, daß Bapft Pius IX. Die unbefledte Empfängniß der Maria zum
katholiſchen Dogma erhob.
Zur Zeit des Petrus Lombardus 5) erhielt die kirchliche Lehre von ten
Sacramenten ihren Abihluß, indem deren ſteben fejlgeftellt wurden:
Zaufe, Birmelung, Beichte, Abentmahl, Ehe, Priefterweihe,
Icgte Oelung. Mit Beftiegung der Trandjubftantiationslehre ward das
Abendmanl zum Opfer (Meßopfer), wobri ter Pricfter jedesmal Leib
und Blut Chrifli aufs Neue zum Sühnopfer für Die Sünten der Welt dar⸗
bringt. — Der Papſt, als Inhaber der Tratition von Petrus und Paulus
ber, ward von der Kirche ald untrüglicher Stellvertreter Ehrifti auf Erden
anerfannt und von Da an auch der Öruntfag firengfter Unduldſamkeit gegen
die Ketzer aufgejtelle und beobadıtet. Denn je fefter die Einheit der Kirche
äußerlich geworten, deſto gewaltthätiger mußte Dad Intereſſe der Aufrecht-
haltung dieſer Einbeit ib geltend madhen. — In Hinſicht der Lehre von
den legten Dingen hielt Die Kirde am Fegefeuer und ter Ewigkeit der Höl⸗
Ienftrafen fi. Durch Scelenmeffen glaubte ſie die Abgefchiedenen fchneller
aus Tem Fegefeuer befreien zu können. Tem Ablaß ward fogar bin und
wieder tie Mache zugeichrichen, augenblidlih aus dem Fegefeuer zu erlöjen.
Gerne epferte ja Die Liebe der Hinrerblichenen ibren Icgten Pfennig, um
die verftorbenen Eltern, Geſchwiſter und Freunde der Feuerpein zu ledigen.
15.
Faſt bei jedem Schritt der Kirche in der Weiterentwidlung des Dog«
ma's hatte jich eine arößere oter Fleinere Partei, Die nicht mit demijelben
einverftanten war, von ihr loßgetrennt. Als aber Die Lehrentwidlung nach
und nad) ind Stoden gerieth, wandte fih ter Blick Vieler auf tie Vergan⸗
genbeit und ihr religiöſes Vewußtſein trat in Widerſpruch nicht mehr bloß
mit einzelnen Lehrbeſtimmungen, ſondern mic der Geftaltung und Tem Lehr—
ſyſtem ter Kirde im Ganzen. Schon feit dem 9, Jahrhundert ſoll fih in
4) Tie heilige Brigitta hatte Bifionen für, Lie heilige Katharina gegen die unbe=
fleckte Empfaͤngniß.
8) Biſchof von Paris, 11809.
115
den Bergthälern Biemonts ein Bölflein von der weitern Entwicklung der
Kirche in Lehre, Eultus und Hierarchie fern gehalten Haben. Dort fanden
die Anhänger des Petrus Waltus!), Walbdenfer genannt, nachdem fie
in Bann getban worten, die allgemeinfte und bereitwilligfte Aufnahme für
ihre Lchren. Anfangs nicht daran denfend, fi von der Kirche lodzureißen,
anerfannten fie dieſelbe erft dann nicht mehr als die ädıte Kirche Chriſti,
nachdem ihnen verboten worden, einander ohne Zuziehung von Geißlichen
im Evangelium, auf welches fie Glauben und Leben gründeten, zu unter«
richten. So waren fle die erften Vorläufer der Reformation, die Erften,
weldye die Schrift höher ftellten ald die Tradition der Kirche.
Auch die Myftifer des Mittelalters halfen, indem fle das religidje Be—
dürfniß mit dem Geifte des Evangeliums flatt mit den Dogmen und Geris
monien der Kirche zu befriedigen juchten, die. Reformation vorbereiten. Der
Dominifaner Meifter Eckart ) und feine Ordendgenoffen, die berühmten
Pretiger Johannes Tauler?) und Heinrich Seuffe (Sufo®), ferner der
von Nikolaus von Bafel geftiftete, in Oberdeutfchland und weit den Rhein
binab verbreitete Gcheimbund der „Gottesfreunde“ ®), dann die von Ger-
hard Groot in den Niederlanden geftiftete Gefellfhaft der „Brüder des
gemeinſamen Lebens,“ aus deren Reiben Thomas von Kempen (fl. 1471)
hervorgegangen, des weltberühmten Buches „De imitatione Christi“ Autor,
— endlich der unbekannte Verfaffer ter aus dem Ende des 14. oder dem
Anfang des 15. Jahrhunderts flammenden „ Deutjchen Theologie* — alle
tiefe gründeten die Neubelebung der Religiofttät auf Chriftum felbft und
die geiftige Gemeinfhaft mit ihm, woturd das Anfehen der Heiligen und
der kirchlichen Ceremonien als SHeildvermittler im Volksbewußtſein bedeu⸗
tend herabgefcgt wurde, ohne daß Die genannten Prediger ed felber beab-
ſichtigten. Weit verbreitet, obwohl ihwerlid, wie Johannes von Müller
meint, von geflüchteten Manichäern berrührend, waren unter @remiten,
1) Bürger von yon, aufgetreten um 1160.
2) Starb um 1328 in Eöln.
3) Starb 1361 in Etraßburg.
4) Eturb 1365 in Ilm. .
8) Ucber tie bis neuchtens noch fehr dunfel geweſene Geſchichte der „Gottes⸗
freunde“ vgl. K. Schmidt in der Feftichrift „„Bafel im 14. Jahrh.“ ©. 263 fg.
und 3 Falke in der ‚‚Zeitfche. für teutfche Kulturgeichichte‘‘, 1856, Maiheft,
©. 495 fg. '
g*
116
Beghinen, Begharden und Beharden des Mittelalters rationaliftifch = freie
Meinungen fowohl über die Kirche, wie über die Würde Chriſti felbft ®),
verbunden mit einer an Pantheismus flreifenden Naturreligion 7).
Theils ein freiered Denfen der Geifter im Allgemeinen, theild neue
Dekanntfchaft mit den faft vergeflenen Schriften des alten und neuen Teſta⸗
mentes in ihren Urſprachen war durch die Neubelebung der clafftihen Studien
von Italien aud angeregt worden. Hier hatte um die Mitte des 14. Jahr⸗
hunderts Petrarca die römifchen, Boccaceio die griechiſchen Claſſiker wieder
aus ber Vergefienheit hervorgezogen. War auch die von Letzterem gemein
fhaftlih mit Leontius Pilatus zu Florenz eröffnete griecifche Schule bald
wieder in Verfall geratben, fo brachte der byzantinifche Gejandte Emanuel
Chryſoloras, welder, an der Rettung Konſtantinopels verzweifelnd, in
Italien eine neue Heimat gefucht und gefunden, das Studium der griehijchen
Elafjiker noch während des nämlidhen Iahrhuntert3 neuerdings in Auf—
nahme, Der Hof der Medici in Blorenz ward der Mittelpunft der an bie
Claſſiker fih anfnüpfenten humaniſtiſchen Biltung, welde ſich von ta
auch nad) dem übrigen Europa verbreitete, überall die möndiich verfinfterte
Welt erhellte und befonderd in Deutfchland Lie bedeutentften Geifter für ſich
gewann. Die Ueberſetzung des Platon durch Marſtlius Ficinus war der
erfte Keim einer neuen Richtung in der Philofophie: ed erhoben fidh Die
Platoniker als freie gegen die im Dienft der Kirche ftchenden Schulphilo-
fophen, die Scholaftiter.
Bon der griechifhen und römiſchen Literatur vermittelte Johannes
Reuchlin 8) den Uebergang zur hebräiſchen. Nachdem er ſich von Juden die
Kenntniß ter hebräifchen Sprache erworben, erforjchte er die Schriften des
alten Teſtamentes in der Urfprade und verbreitete mit Eifer Diefen neuen
Zweig theologifcher Gelehrſamkeit unter feinen Beitgenoffen. Von nun an
wurde die Erklärung ter alt und neuteftamentlichen Urkunden in ihren Urs
ſprachen eine Hauptaufgabe der Theologen von humaniftifcher Richtung und
führte die Begabtern zu immer bedenflichern Vergleichungen der Kirchen
6) Auch ein Anderer, als Chriftus, Fönne Gottes Sohn werden; denn der gute
Menſch fei der eingeborne Sohn Gottes, Ichrte hie und da die ‚geheime Religion‘‘.
7) Aud in der Laus fei Gott, wie im Menfchen, fagten nad Johannes Vitos
duranus die thurgauer Begharten. Die Bezeihnungen Begharden und Beghinen
ſtammen bekanntlich von dem altteutfchen Verbum bedgan, beien.
8) Sebürtig aus Pforzheim, 1455 — 1822.
117
Iehre und Kircheneinrichtung mit der Schrift. Die biöher gebrauchte, ob⸗
wohl von der unwiſſenden Geiftlichfeit ebenfalld wenig gefannte, Tateinifche
Bibelüberfegung, Vulgata genannt, erlitt, da man jetzt die Originale
verſtand, ihres verderbten Terted wegen Anfechtungen von allen Seiten,
Bon 1460 an jehen wir in Deutjichland, Frankreich und Italien Bibelüber-
jegungen erjcheinen und der Schrift wandte ſich fhon damals zu, wer immer
mit den Firchlich-religiöfen Zuftänden unzufrieden war 9).
Der Geift des Humanismus, in den clafftihen Studien wieder aufgelebt,
durch die um die Mitte des 15. Jahrhunderts von unferem Johannes Guttenberg
erfundene Buchdruckerkunſt mit raftlofen und unhemmbaren Schwingen ver⸗
ſehen, dann durch Reuchlins philologiiches Genie zuerft auf die Schriftfor«
[hung gewandt, diefer Geift regte ſich glorreich insbeſondere in feinen deut—
chen. Trägern 19). Er zumeift Hat jene tiefeinfchneidende Kritik des mittel«
aterllichekirchlichen Glauben? und Lebens angefacht, auf welcher die Refor⸗
mation fußte.
16.
Aber fchon vor der humaniftifchen Bewegung und außerhalb ihrer Kreife
waren Vorläufer der Reformation aufgetreten, welche vom kirchlich-theologi—
ſchen Standpunft aus gegen firdhliche Mißbräuche kühn eifernden Tadel erhoben,
einen Tadel, der feldft einen vollftändigen Brudy mit tem Papſtthum Feined«
wegs ängfllich mied. Freilich gelang e8 der Kirche vorerft noch, die Tauteften
diefer reformatorifchen Stimmen im Rauche des Scheiterhaufend zu erſticken.
Arnold von Brescia — ein Schüler Abälards, 1155 zu Nom ver-
brannt — war weniger wirkſam durd feinen an manichäifhe Anſchauungen
erinnernden Myſticismus als vielmehr durch feine energijchen Beſtrebungen,
die Verfaffung des Elerus nad dem Vorbilde der apoftoliihen Einfachheit
zu reformiren. Er ſah den Glanz, den Reichthum und die Macht der Cleri—
fei, diefe Quellen ihrer Ueppigfeit und zum Theil des kirchlichen Verfalls
überhaupt, mit voller Ucberzeugung als ein Werk des Teufeld an, lehrte,
daß ten Geiftlichen Feine weltlichen Güter gebühren und drang auf die Ruͤck—
febr zur Simplizität der apoftoliichen Kirche. Die weltlihe Macht des Pap⸗
ſtes fchaffte er mit Hülfe der Römer ab und Tieß ihm nur das kirchliche Re—
— — ——
9) Wir werden im Kapitel von der chriſtlichen Wiſſenſchaft die einzelnen Bibel⸗
uͤberſetzungen vor Luther anführen.
10) Bon diefen, wie von den Humaniften überhaupt, haben wir an fpäterer Stelle
mehr zu reden, in den Kapiteln von chriftliher Wiflenfchaft und Kunfl.
118
giment, den Zehnten und freiwillige Gaben der Gläubigen, bis ihn bie
@iferfucht des neu errichteten Senated in einem fchnöten Bergleih ten
"Bapfte preis gab. — Johannes Wicliffe, feit 1372 Profeffor der Theo⸗
Iogie in Orford, Iehrte und fchrieb gegen das Papſtthum, den Miß⸗
brauch des Banned, dad Möndthum, die Ohrenbeichte, den Ablaß,
den Heiligen - und Bilderdienſt und die Lehre vom Fegefeuer. Auch trat er
gegen die Trandfubflantiation auf mit der Behauptung, Chriſtus fei nur
geiftig im Brot und Wein ded Abendmahles gegenwärtig.
Durch Wieliffe's Schriften angeregt, beftritt Johannes Huf!) die
Entziehung des Kelches beim Abendmahl, und flellte, im Uebrigen feſthal⸗
tend am fatholifhen Dogma, die Lehre auf, die wahre Kirche, deren Haupt
Chriſtus allein, fei die Gemeinſchaft der von Ewigkeit zur Seligfeit vorher⸗
beftimmten Chriften und nur in diefer üben die Saframente thre erlöſende
Kraft. — Girolamo Savonarola, der „Prophet von Ylorenz 2), ver⸗
fündigte eine allgemeine, gründliche Neformation der Kirche, die von Flo⸗
renz ausgehen werde. Er bewirkte turd feine Predigten in genannter Stadt,
wenigftend vorübergehend, eine firenge Sittenreform und Ichrte, geſtützt anf
das Evangelium, das Heil nicht durch die Heiligen, nod durch eigne Werke,
fondern durd die Gnade Gottes in Chriftus fuchen. Den über ihn geiprodes
nen Bann erflärte er für kraftlos ald Verlegung des höchſten Gebotes, der
Liebe, und appellirte fterbend von dem irdiichen Papft an den himmliſchen,
Jeſus Chriſtus.
Mochte ſich die Kirche dieſer „Ketzer“ gewaltſam entledigen, immerhin
konnte ſie ſich nicht verhehlen, daß ſelbſt von Seiten treuefter Anhänger
ſchon lange lauteſte Klagen über die freſſende Verderbniß erhoben worden.
Der Minorit Alvarus Pelagius forderte und hoffte um 1330 die Wieder-
geburt der Kirche vermittelfi neuer Heiligung der päpftlichen Würde in ber
Öffentlichen Meinung. Peter d'Ailly (ft. 1425), ald Wortführer der gallis
Fanifchen Kirche, verlangte Behufs einer Reform der Kirde an Haupt und
Gliedern eine allgemeine Kirchenverſammlung. Ebenſo Johanned Gerfon,
feit 1395 Kanzler der Univerfität Paris, welder zugleid) das Studium der
4) 1415 auf dem Concilium zu Conftanz verbrannt. Aus Beranlaflung diefes
„Keberbrandes“ entftanten der furchtbare Huffitenkrieg und die Sekte ver Utraquis
fen, welche den Kelch auch den Laien darbot. Auf die Keldyentziehung werden wir im
vächlten Kapitel zurückkommen.
2) Verbrannt 1408,
199
Schrift und Berbefferung der Volkserziehung empfahl. Nikolaus von Cla⸗
menge (fl. 1425) ſchilderte mit glühenter Beredtſamkeit die Verſunkenheit
‚der Kirche, verfündigte das ihr nahende Gericht und fah ihre alleinige Ret⸗
tung in geiftiger Erneuerung und tiefer Demüthigung. Und wirklich, die
allgemeinen Goncilien kamen endlich, bauptfähhlich veranlaßt durd Die gegen«
feitige Verfluchung dreier Gegenpäpfte, durch das große Schis ma. Zu
Gonftan; ward ein neuer Bapft, Martin V., gewählt, jedoch die Reformation
fel6ft auf ein neues, binnen fünf Jahren abzuhaltendes Coneil verfpart.
Aber erſt 1431 verfammelte fich daffelbe in Bafel. Als nun diefes mit der
Meformation Ernft machen wollte, ward es durch die Schlauheit und Ge⸗
waltthätigfeit de8 Papſtes Eugenius V. allmälig in eine einfeitige Partei⸗
ftellung gedrängt und mußte ſich zulegt auflüfen, ohne Die angeftrebte große -
Reform der Kirde durchgeführt zu haben. Den Grundſatz jedoch, daß ein
allgemeines Concil über dem Papſt flehe, hatten diefe Kirchenverfammlungen
fefigeftellt und dieſer Grundfag, verbunden mit der allgemeinen Mipftim«-
mung gegen die römifche Gurie, wurde ein neued und mächtiged Motiv der
Neformation, welche endlich in Deutfchland durch Die Ausfchreitungen des
Ablaßhandels, in der Schweiz durch die freie Predigt de8 Evangeliums ge⸗
gen dad Verderben in Kirche und Staat zum Ausbruch gebracht wurde.
17.
In Hinftht der Lehre Eehrte die Reformation theild zum Auguftinis-
muß, theils zu den Anſchauungen der erflen Jahrhunderte nad) Chriſtus zu⸗
rück. Dem Anſehen der mündlichen Tradition, welche die Kirche für fich in
Anſpruch nahm, ftellte fie mit Erfolg die Autorität der Schrift, zumal des
neuen Teftamentes, gegenüber und behauptere, ausſchließlich auf die Vibel
Glauben und Leben gründen zu wollen. Anfangs war fie nicht gewillt, den
Glaubendzwang der kirchlichen Tradition mit demjenigen des Buchſtabens
zu vertauſchen, fondern nahm der Schrift gegenüber das Necht der Aus⸗
legung in Anſpruch, wobei ſie fich jedoch ausdrücklich gegen das Hineinirayen
fubjeetiver Meinungen in die Schrift erklärte. Da jedoch hiemit die Ber-
nunft, ohne daß man ed merkte oder merfen lafjen wollte, zum Maaßſtab der
Schrift erhoben worden war, geberdete fich die Befreite in den Lehren der
Wiedertäufer, ſowie etlicher frei geſinnter Theologen (z. B. des Johannes
Denck, Michael Servet, Sebaſtian Franck) etwas überkühn, und ſo ordnete
denn beſonders die lutheriſche Richtung die Vernunft dem Glauben unter,
120
die obrigkeitlih anerkannten Parteien ftellten Glaubensbekenntniſſe (Sym-
Sole) auf und die unbändigen Geifter wurden bald dem Symbolzwang
unterworfen. Dieſer, obwohl nur in der Iutberifchen Kirche zur abfoluten
Herrfchaft gelangt, ging nämlih auch auf die zwingliſch-calviniſche Kirche
über, äußerte ſich vorzüglich hart in den Befchlüffen der Dordrechter Synode
und gewann jelbft in der reformirten Schweiz bedeutenden Einfluß, freilich
nicht in dem Maaße, wie bei den Rutheranern, Daß fih mit dem Spmbols
zwang aud der Buchflabendienft vereinigte, erhellt am beutlichften aus der _
Formula Consensus eeclesiarum Helvelicarum reformatarum, 1675 von
dem züricher Profeſſor Heidegger verfaßt, worin ald Glaubensartifel geltend
gemacht wird, daß felbft die Vocalzeichen des hebräifchen Textes des A. T.
vom heil. Geiſt eingegeben feien Y.
Die proteftantifche Kirche beider Nichtungen Eonnte deffenungeadhtet
nit umhin, grundjäglic immer die Schrift über ihre Symbole zu ftellen.
Der Streit beider Richtungen über einzelne Xehren wies unaufhörlich und
gewaltig auf die Verſchiedenheit der Schriftauslegung hin. Daher blieb das
Prinzip der prüfenten Vernunft, wenn aud öffentlich mipfannt, im Ver⸗
borgenen lebendig als das wahre Prinzip der Reformation überhgupt. Bon
der Kirche verftoßen, ward es, theild als philofophirende, theils als objectiv
audlegende Vernunft, in erſterm Betracht zur denfenden Vermittlung bed
Blaubensinhaltes, in Tegterm zur Seftftellung des obfectiven Verftändniffes
der Schrift, Prinzip der freien Wiffenfchaft. Dies ift der Grund, warum
die Kirchenlehre der Zutheraner und Neformirten faft ohne Ausnahme bis
jegt bei den einmal aufgeftellten Befenntniffen geblieben ift, während neben
ihr, Eirchlich zwar geduldet und theilweile unterftügt, aber nicht anerkannt,
die Lehrentwicklung in der Wiffenfchaft ausfchließlich weiter fchritt. Demzu«
folge haben wir im vorliegenden Kapitel nur von den eigenthümlichen Lehren
der Iutherifchen und reformirten Kirche, fowie der Sozinianer und Arminia
ner, endlich von den legten Firchlichen Lehrbeflimmungen der römifchen und
griechiſchen Kirche zu handeln und müffen vie wiſſenſchaftlich theologiſche
Lehrentwicklung nad) der Reformation in dad Kapitel von der driftlichen
Wiſſenſchaft verweifen.
4) Das Punctationsſyſtem, wodurch in der urfprünglich der Vocalbuchſtaben
entbehrenden Hebräifhen Schrift die Vocale bezeichnet werden, fam erſt durch alls
mäliges Einverftändniß der jüdifch maforetifchen Gelehrtenſchulen, jedenfalls nicht vor
dem 6. Sahrh. nach Ehr., zu Stande.
121
18,
Die proteftantifche Kirche in ihrer Geſammtheit hielt feft an den drei
dfumenifchen, oder, wie nıan fie nannte, ächtkatholifchen Symbolen, dem
apoftolifhen, den nicäniſchen und dem athanaſianiſchen!)
Symbol, in welchem fie den reinften Ausdruck der biblifchen Grundlehren zu
finden glaubte. In folgenden Lehrfägen hingegen ftellte fie fich dem gegebe-
nen Fatholifhen Dogma gegenüber: — Die Cchriften des alten und neuen
Teftamented find unter göttlicher Eingebung (Inipiration des heil. Geiftes)
gefchrieben. Der Schrift kann die mündliche Tradition der Kirche an göttlicher
Autorität nicht gleichgeftellt werden. Sie ift die alleinige Erfenntnißquelle des
hriftlichen Glaubens. Jedes firhliche Dogma und jede Firchliche Einrichtung,
welche fich nicht aus der Schrift herleiten Taffen, werden ald Menſchenſatzun⸗
gen verworfen. — Die Fatholiichen Theologen, zuerft des guten Glauben,
alle Lehren und Einrichtungen ihrer Kirche Tiefen fih aus der Schrift ab⸗
leiten, beftritten in der erften Beſtürzung bie oberfle Autorität der Schrift
nicht. Als fie jedoch im Verlauf ded Kampfes mit den Reformatoren eines
Andern belehrt worden, machten fie die Firchliche Tradition, weil diefelbe
‘von den Apofteln herrühre, zu einem Prinzip der Schriftauslegung und
ftellten. fie al8 zweite Erfenntnißquelle der göttlihen Offenbarung neben
die Schrift. In ihrer Oppofition gegen den Calvinismus des Cyrillus Lu—
karis ſchloß ſich auch die griechiiche Kirche der Beſtimmung des tridentiner
Conciliums an: „Die Autorität der Kirche jet fo groß, als die der Schrift.
Beider Anſehen flüge jih gleichmäßig auf das Innewohnen des heil. Geiſtes.
Dad Anſehen der mündlich von den Apofteln her überlieferten Dogmen gelte
fo viel ald das der gefchriebenen.* Nur darin unterfcheidet fich Die griechifche
Kirche von der römischen, daß fle als apoflolifche Tradition allein die Con⸗
eilienbefchlüffe vor der Kirchentrennung anerkennt, währent die römiſche
Kirche eine in ihr immer fortdauernde apoftolifche Tradition behauptet.
Die von den Neformatoren mit dem größten Nachdruck wieder hervor-
gehobene pauliniiche Lehre von der alleinigen Mechtfertigung durch den
Blauben erforderte zu ihrer Begründung wieder ein Zurückgreifen auf den
Auguftinismud in den Dognen von der Erbiünde und von der Onaden«
1) GEs trägt nur den Namen des Aihanaflus, ift aber nicht von ihm felbft verfaßt
“und wird daher nach feinem Anfangswort beſſer Symbolum Quicunque genannt.
'122
wahl 2). Die Erbfünde, ward allgemein angenommen, pflanzt fih fort durch
die natürliche Zeugung, indem, wie die Lutheraner annahmen, die Seelen
felbft durch die Zeugung fortgepflanzt werden (Traducianismus), oder, wie
bie Neformirten lehrten, die Seele bei der Zeugung von Gott neu gefchaffen,
aber durch den fleifchlihen Samen verunreinigt wird (Creatianismus).
Zwingli betrachtete die Erbfünde blos als natürliches „ Gebreften *, welches
der Menfh ohne feine Schuld an fich habe; doch die Iutherifchen und
reformirten Befenntnifle befteben darauf, fie als angeborene wirflide Sünde
und Schuld anzufehen. Daß durch die Erbfünde, obgleich fie nicht zum
Weſen des Menfchen gehöre, doc, die ganze Natur des Menſchen verderbt
jet und er in Bolge derfelben von Natur nur Neigung und Kraft zum Böfen
habe, darin flimmen alle Meformatoren und die Symbole beider proteftan-
tifchen Kirchen überein.
Der conſequenten Aufftellung Zwingli’3 und Calvins, daß Gott die
einen Menſchen von Ewigfeit her zur Seligfeit, die andern zur Verdammniß
beftinnmt habe, und daß demmac auch das Böfe von ihm , vorhergeordnet“
worden fei, hat fich Feine der Befenntnißichriften der Reformirten ftreng ans
geichloffen. Vielmehr lehren fie, Gott habe in Bezug auf den von ihm vor⸗
hergeſehenen und zugelaſſenen Sündenfall die Gnadenwahl vorgenommen,
aber auch in dem Sinne, daß die nicht zur Seligkeit Erwählten, die gütte
liche Gerechtigkeit zu offenbaren, ind Verderben fallen. Die Lutheraner da⸗
gegen Ichren, Gott wolle im Hinblid auf Ehrifti Verdienſt von Ewigfeit
ber, daß alle Menfchen durch ihn felig werden. Wem das Heil in Chriſto
nicht angeboten fei, (3. B. den Heiden) dem gefchehe Dad aus unbekannten
2) Wir bemerken bier gelegentlich, daß die paulinifchzauguftiniiche Doctrin von
ber alleinigen Rechtfertigung durch den Glauben zur Zeit der Reformas
tion auch im Schooße der römifchen Kirche, ganz unabhängig von Luther, ihre Des
fenner,und Märtyrer Halte. Zeugniß dep ift das berühmte Büchlein „Bon der Wohls
that Chriſti“, zuerft in Venedig 1842 erfchienen. Nachdem bdaffelbe in zahllofen
Gremplaren verbreitet und in bie meiften europäifchen Sprachen überfegt worden war,
wurde es, von der römifchen Inquifttion fchon 1548 verdammt, yon der Eurie fo eif-
rig verfolgt, daß man es vollftändig vernichtet und verloren glaubte, bis fo ziemlich
gerade 300 Jahre nach feinem erften Erfcheinen ein italifches Gremplar in der Bücherei
des St. John College in Cambridge wieder aufgefunden wurde. Daß Nonio Pa⸗
leario der Berfafler dieſes Firchengefchichtlich fehr wichtigen Documents war, ift jet
wohl unzweifelhaft. Er wurte um feines Buches willen als fiebzigfähriger Greis zu
Mom verbrannt.
123
Gründen zur Strafe. Wem es angeboten fei, ohne daß es ihn zur Seligkeit
führe, deſſen verfehrter Wille trage Die Schuld,
Die Wiedergeburt oder Bekehrung kann nur Durch Die wirfiame Gnade
Gottes, die der heil. Geift ift, zuftuntefommen. - Hierin ſtimmen alle drift-
lichen Kirchen überein. Daß der Menih vor der Wiedergeburt ichon man⸗
ches Bottgefällige thun könne und das Mitwirken feines freien Willens zur
Wietergeburt etwas Verbienftliches fei, lehrt feit der Reformation die fa=
tholiſche Kirche. Die griechiſche Kirche, von jeher am wenigften vom Au⸗
guftinismus berührt, betont die Minvirkung des freien Willens bei der Be⸗
fehrung am flärfftien: „Die göttliche Gnade erleuchte Alle, wie ein Licht in
die Finſterniß fcheinend; dann werte denen, vie ihr gehorchen und mitwirfen
wollen , die befontere Gnade ertheilt, 'welche fie, mithelfend und die rechten
Kräfte darbietend und Beharrlichkeit wirkend, gerecht und zur Seligfeit be=
ſtimmt madıe. Eine Mitwirkung des freten Willens behauptete auch Melanch⸗
thon, In Bolge des 1558 Tarüber entftantenen ſynergiſtiſchen Streites
zwiichen Amsdorf und Bfeffinger beſtimmte dann die Formula concerliae,
daß nicht nur der erfte Anftoß zur Befehrung von der Gnade ausgehe, fon-
dern Daß auch die Bekehrung von der Gnade allein gewirkt werte, wobei ſich
der freie Wille ganz paſſiv verhalte. Hinwieder beſtimmte daſſelbe Symbol,
dem von Flacius vertretenen andern Extrem gegenüber, daß der menichliche
Milte allerdings die Freiheit habe, die göttliche Gnade anzunehmen oder ihr
zu witerftreben,, welche Freiheit die determiniftifchere reformirte Lehre läng—
nete und die göttliche Gnade ald „unwiderſtehlich“ bezeichnete. —
Durch Die Sünde hat der Menfch das Heil verloren. Wiedergewinnen
kann er es nur durch Rechtfertigung vor Bott. Dieſe fchenft ihm Verzeihung
der Sünden und das Erbe ded ewigen Lebend. Die Rechtfertigung jelber
wird und zu Theil durch Gottes wirffame Gnade, den heil. Geifſt. Von
diefer gemeinfamen Wurzel find wieder verfchtedene Lehrzweine ausgegangen,
deren klare begriffliche Auseinanderjegung die Kämpfe des Reformationszeit⸗
alters veranlaßten. Die Lutheraner und Reformirten lehren mit ängftlich
Durchgeführter Gonfequenz die Rechtfertigung durch den Glauben allein,
nämlich jo: — Zuerſt wirft der heil. Geift eine gründliche Zerknirſchung
bes Herzens über den ganzen fündhaften Zuftand der Seele, hierauf den
®lauben, d. h. das fefle Vertrauen, daß Gott dir um des Verdienſtes
Chriſti willen die Verzeihung der Sünden und das ewige Leben jchenke.
Um dieſes Glaubens allein, nicht zugleich um der guten Werke willen, die
124
als nothwendige Frucht aus demfelben hervorgehen, rechnet dir Gott die
Gerechtigkeit ChHrifti zu. Nicht als wäre der Glaube felbft ein verdienſtlich
Merk, Gott wirkt ihn ja; aber da der wahrbaftige Gott in den Glauben
das fihere Bewußtfein der Begnadigung und Kindfchaft Gottes gibt, fo
gibt er auch die Verzeihung der Sünden, die Kindfhaft und mit ihr das
Erbe ded ewigen Lebens ſelbſt. Der Gläubige aber erfennt und fühlt leben-
Dig die Liebe Gottes, welche in foldher Begnadigung liegt. Dies weckt in
ihm die Eindliche Gegenliebe, deren Folge die Heiligung ift, und fo geht der
rechtfertigende Glaube der Heiligung voran.
Dagegen ſetzt die Eatholifche Kirche die Rechtfertigung, welche fie nicht
für ein bloßes @erechterklären, fondern für ein wirkliches Gerechtmachen
hält, in die Wiedergeburt und Heiligung, flatt in den Glauben. Um des
Verdienftes Chrifti willen wird dem Menfchen die wahre Liebe zu Gott ein-
gepflanzt und mit diefer die Gerechtigkeit Chrifti felbftl. Buße und Glauben
bereiten den Menſchen erſt auf diefe innerliche Umwandlung und fomit auf
die Rechtfertigung vor. Die Rechtfertigung fommt alfo nach dem Glauben,
nit durch den Glauben. Ueberhaupt kennt die Fatholifche Kirche eine
abfolute Necdtfertigung vor Gott nur für die, welde das Geſetz Gottes
nad ihrer Wiedergeburt ganz erfüllen, und fie behauptet, daß dies in der
That möglich fei, weil fle die aus Unwiffenheit oder Uebereilung begangenen
Behltritte nicht für Sünden anfleht. Ja, fle halt ſowohl die guten, aus der
Liebe zu Gott entipringenden Werke, wie die Empfänglichfeit für Gottes
wirfjame Gnade für verbienftlih und Iehrt, ed gebe gewiſſe evangelifche
Näthe (die drei Mönchsgelübde: Unbedingter Gehorfan, Armuth und Ehe—
lofigfeit), deren Befolgung zur Seligkfeit nicht norhwendig und daher ein
überſchüſſiges Verdienſt fet.
Jede wirkliche Sünde muß der Katholik dem Prieſter, als ſeinem geiſt⸗
lichen Richter beichten. Dieſer legt ihm irgend ein Bußwerk auf, wodurch
für die verübte Sünde Genugthuung geſchieht, wie z. B. Faſten, Beten,
Wallfahrten, Almoſenſpenden. Nach vollbrachtem Bußwerk ertheilt der
Prieſter Verzeihung der Sünde kraft feiner Schlüſſelgewalt (Abfolution).
Wer eine Sünde nicht beichtet, kann fie auch nicht büßen, und daher auch
feine Berzeihung derjelben erlangen. Die auf Erden verfäumte Buße muß
im %egefeuer nachgeholt werten. Von der genugihuenden Buße Tann bie
Kirche durch den Ablaß dispenfiren, indem fie, wie ſeines Ortes oben bes
merkt worden, die Genugthuung durch Uebertragung überfchüffiger Ver-
125
dienfte aus ihrem geiftlichen Schage bewirkt. Auch die Qualen des Weges
feuers fünnen aus dem gleichen Grunde durch den Ablaß abgekürzt werben,
Den Gelderwerb beim Ablaß hat das tridentinifche Konzil abgefhhafft. Die
läßlichen Sünden, welde man nit zu beidhten bracht, können entweder
durch freiwillig übernommene Büßungen oder fonft gute Werfe getilgt
werden. "
Mit dieſen Lehren flimmt die griechifche Kicche im Allgemeinen über-
ein; nur verwirft fie das Fegefeuer, den Ablaß und das Bezahlen der Todten⸗
meſſen, faßt auch die tägliche Buße betreffend die läßlichen Sünden in ftren-
gerem Sinn. Den im Mittelzuftand eines gepeinigten Gewiffens befindlichen
abgejchiedenen Seelen bringen die. Todtenmeffen Abkürzung"ihrer Bein nicht,
weil, wie die römijche Kirche lehrt, Gott dadurch für deren ungebüßte
Sünden Genugthuung geſchähe, fondern weilf dur flo, wie durch Gebete
und gute Werfe der Hinterbliebenen, Gott fchneller zur Barmherzigkeit be=
wogen wird..
19.
Die Lehrverfchiedenheit in der Rechtfertigungstheorie erſtreckt ſich auch
auf die mit ihr genau zufammenhängende Lehre vom Werf und Verdienſte
Chriſti. Die Lutheraner und Reformirten betrachten fein Leiden und Ster⸗
ben nad) der Theorie des Anfelmus für ein unendliched Verdienſt des fün-
denreinen Gottmenfchen vor Gott, entfprechend [ver unendlichen Sünden«
ſchuld der Menfchen, fomit ald Genugthuung ſowohl für die Erbfünde, als
für die Thatfünden fammt und ſonders; nur beichränfen die flreng calvini=.
ftiihen Befenntniffe die Genugthuung blo8 auf die Sünden derer, die von
Ewigkeit her zur Seligfeit erwählt feien.
Die Katholifen reden von einem überſchuͤſſigen Verdienfte Chrifti, bes
haupten aber defjenungeachtet, Chriftus habe blos die Schuld der Erbfünde
und die ewige Strafe ber Thatfünden für uns abgebüßt, nicht jedoch Die
zeitlichen und Begefeuerftrafen, welche die Menfchen felber abzubüßen hätten.
Dies erklärt, warum die Fatholifche Kirche, ungeachtet ihrer Rechtfertigungs⸗
Iehre, tie Nothwendigkeit und das Berdienft der Büßungen, der guten
Werke, der Seelenmeflen u. |. w. geltend madt. Es erklärt, warum fie
außer Chriſtus auch die Heiligen zu Mittlern zwifchen Gott und Menſchen
erhebt. Denn da Chriſtus nicht für die zeitlichen und Segefeuerftrafen genug
getban, fo müfjen die Heiligen durch ihre überfchülfigen Verdienſte biefe
126
Genugthunng zumwege bringen, wenn wir ſclbſt un& nicht geirauen ober zu
bequem find, frlber Genugithunng bicfür zu leiſten. Die grichiide Kirche
beihränft zwar tie Genugtthuung Etrifti für unıcre Eünten nicht joweit,
Ichri aber, daß der Menich ohne eigne gute Werke ter von Chriſtus erwor⸗
benen Euntenvergekung nicht thrilhafı werte.
Beireffend tie Berjon Ebrifti haben tie Lutberaner, ihre Abentmahld«
Ichre näber zu begründen, Die neue Lehre von den „beiden Ständen Ehrifli *
aufgebradt und fic iſt ihr ausſchlienliches Gigenthum geblieten. Ter Begriff
ter communiatıo ichomatuıın, d. h. „Miitbeilung der götilidhen Wujeitat,
Krafı, Herrlichkeit unt Wirkung an tie menſchliche Natur in Chrius* ſollte
namlid dazu dienen, das Genichen des wirfliden Fleiſches und Blutes
Ebrifti beim Abendmahl von Eriten Der Gläubigen zu erflären, fonnte aber
ſelbſt ter Bemerkung gegenüber, daß in Dem leidensrollen Lrben und Wirken
Ghrifti auf Erden wenig von den göttliden Eigenſchaften Der Allmacht, Alle
wiffenbeit und Allgegenwärtigfeit zu ſehen jei, nur feftachalten werten durch
die Beflimmung, während Ted Standes der Ernictrigung, von ter
Empfängniß im Mutterlribe bis zur Auferitebung, hate Chriftus dieſe gött⸗
liben Gigenſchaften verborgen und hinterbalten, nad abgelegter Knechtsge⸗
ftalı hingegen, im Zuflante der Erhöhung von ter Anferftchung an offen»
bare er tieſelben vollig, und aud wir werden einſt Ticie feine Herrlichkeit
fhauen von Angeſicht zu Angefidt. Eine „neue ” Xchre nannten wir Die von
ten Ständen Ehrifti, weil Die Kirchenväter wehl von Ernietrigung unt Er=-
böbung Ehrifti geredet haben, jedoch ohne dies auf die Mitibeilung ter
gönlihen Eigenſchafien an jeine menſchliche Natur zu beziehen, noch Den
Austind von „zwei Ständen Ehrifti* zu gebrauchen.
Nach dieien Erörterungen können wir geiroft auf Die Abweichungen Der
Kirchen in Ter Ab: ndmohlälchre übergehen. Das tritentiner Goncil erneute
Die drei hergebrachten Beninmungen uber Dad Abendmahl: — daſſelbe dürfe
von den Laien nur unter Einer Geſtalt genoflen werten, Durch Die Worte
der Conjecration werde die Verwandlung in Fleiſch und Blut Chrifti bes
wirft und es fei eine unblut'ge Wiederholung des Opfers Chriſti turd ten
Priefter (Mebopfer). As eigentliche Communion,, d. h. wenn ed von Ten
Laien geneſſen wird, bringt Tas Abendmahl nur Verzeihung der läßlichen
Sunten und Kraft zur Herligung; al8 Meßopfer Hingegen, wobei der Abende
mahlégennß nur von Seiten des Prieſters flatıfindet, dient es zur Buße
und verſchafft Genugthuung für die ärgiien Totjünten, ſelbſt zu Ounften
127°
Abwefender und Verflorbener. — Bis zur Zeit ihres Streites mit CHrillus
Lukaris hatte die griechliche Kirche nach. Öregor von Nyſſa gelehrt, durch
Einwirkung des angerufenen Chriſtus werden Brot: und Wein des: Abend-
mahles in dem Sinne zu Leib und Blut CHrifti, wie einft durch die Menſch⸗
werbung feine menſchliche Natur vergättlicht worden fei, nämlich durch Alte
nahme der heilfamen Eigenſchaften des Leibed und Blutes Chrifti, nicht im
Sinne fubftantieller, wefentliher Verwandlung. Im Gegenjag gegen Cy⸗
rillus Lukaris aber nahm auch die griechifche Kirche die Transſubſtantiation
an. Aud das Meßopfer gilt in der griechifchen Kirche, nur wird. ihm. Feine
genugthuende Kraft zugefchrieben und tie. Communion auch von den Laien
in beiderlei Geftalt gehalten.
Die Iutherifche Lehre weift Verwandlung und Opferbegriff von Abends
mahl zurüd ynd druͤckt ſich ſo aus: Leib und Blut Chriſti ſind im Wein
und Brotedes Abendmahles weſentlich, wirklich, aber unſichtbar vorhanden;
ſie werden auch von den Unwürdigen mündlich genoſſen, kommen aber in
dad. Brot und den Wein nicht durch Conſecration des Prieſters, ſondern
durch das mächtige Einſetzungswort Chriſti ſelbſt, welches beim Abendmahl
wiederholt wird. Die göttliche Eigenſchaft der Allgegenwart, welche dem
Leibe Chriſti zukommt und feit feiner Erhöhung geoffenbart wird, erklärt
diefe feine leiblidye Gegenwart beim Abentmahle. Chrifti Leib kommt freilich
nicht in die irdifchen Stoffe durch Wiederholung der Einfegungsworte allein,
fondern durd die Communionshandlung im Ganzen, wenn fte vorgenoms«
men wird nad) feiner Einſetzungsvorſchrift. Daher ift Chriftus nicht im Brot
. und Wein, außer wenn fie zur Communion gebraudyt werden. Die Anbes
tung der Hoſtie ift zu verwerfen, nicht minder dad MeBopfer und die Com⸗
munion in Einer Geſtalt. Denen, die das Abendmahl gläubig genichen,
verichafft ed die Gewißheit der Verzeihung ihrer Sünden und des ewigen
Lebens und ſtärkt ihren Glauben. Wer es unwürdig genießt, dem gereicht
.ed zu Gericht und Verdammniß. Unwürdig genießen es freilich nicht die
Schwachgläubigen, fondern, die ohne Neue, Bußfertigfeit, Vertrauen und
gute Vorfäge daran theilnehmen.
Zwingli feinerfeitö faßte befanntlich die Einfegungdworte: „Das tft
mein Leib, das ift mein Blut!" finnbildlih: „Das bedeutet meinen
Leib, bedeutet mein Blut! und Eonnte alfo eine weſentliche Gegenwart des
Leibe Chrifti beim Abendmahl nicht zugeben. Dafür Ichrte er einen geis
ſtigen Genuß tes Leibes Chriſti durch Anjchauung des Glaubens, d. i. eine
128
dankbare, Iebendig vergegenwärtigende, tröftende und erfreuende Erinnerung
an fein erlöfendes Leiden und Sterben, zugleich eine erneute Einfehr Chriftt
in das ‚Herz feiner Gläubigen, Beides vermittelt durch gläubigen Genuß bes
Abendmahles. An Zwingli halten ſich hierin die älteren Symbole der Re—
formirten, die jüngeren mehr an Calvin, welcher zwar die Allgegenwart des
Leibes Chrifti und auch deffen Gegenwart im Abendmahl heftig beftritt, die
Lehre aber fo formulirte: Vermittelſt des Glaubens, alfo für die Ungläus
bigen nicht, finde ein geiftiged Genichen der lebendigmachenden Kraft, welche
dem Leibe Chrifti eigenthümlich fei, und eine geiftige Einwirkung des gan
zen Chriftud auf den Communizirenden beim Abendmahle ftatt; die Ungläu«
bigen empfangen die leeren Zeichen. |
Wie in der Lehre vom Abendmahl, fo auch in der von der Taufe cha-
rafterifiren ſich Katholizismus und Lutherthum in ihrer vorwiegesd myftifchen,
die reformirten Befenntniffe in ihrer rationaliftifch«fpeculativen Richtung.
Die Katholifen befchreiben die Wirkungen der Taufe als Befreiung von der
Schuld der Erbfünde und der vor der Taufe begangenen Thatfünden, jo daß
auch die von der Erbfünte zurüdbleibende Neigung zum Böſen nicht mehr
als Sünde angerechnet wird. Soll die Taufe dieſes wirken, muß ber er-
wachfene Täufling Glauben an das Evangelium haben ; bei Kindern gilt der
Glaube ihrer Eltern, Pathen und der Kirche für ftellvertretend. Da die
Taufe zur Seligfeit abfolut nothwendig ift, fo daß vor der Taufe geftorbene
Kinder verdammt find, fo bat die katholiſche Kirche ſelbſt den Laien Die
Bornahme ter Nothtaufe erlaubt 1). Obwohl nun Lie Lutheraner die Taufe
ebenfalls für nothwendig zur Seligkeit erklären, verwerfen fie doch die Noth⸗
taufe und das erjcheint, wenn man blos auf die Symbole fieht, als eine
Härte gegen Kinder, die vor der Taufe flerben zu wollen fcheinen. ber die
alten Dogmatifer, unter ihnen befonderd Hollatius, fprechen es deutlich aus,
die vor der Taufe Berftorbenen feien um defmillen nicht verloren, weil Die
Taufe von Gott verordnet fei, welcher, wenn er fte felbft unmöglich mache,
noch andere Mittel Habe, zu erlöfen und felig zu madıen. Im Uebrigen
wirft nach Iurherifcher Anſicht die Taufe Verzeihung. der Erbfünde, ohne
doch deren Nachwirkung in Form fündlichen Hanges zu tilgen. Sie wirft
durch den heil. Geift die Anfänge tes Glaubens, ift der Eintritt der gött-
1) Die griechifche Kirche flimmt in Auffaſſung der Taufe mit der römischen
überein.
129
lihen Gnadenwirkung auf die Seele des Chriften. So erfcheint ſie als das
Sarrament der Wiedergeburt. Der Auffaflung Zwingli's zufolge „bringt
die Taufe die wirkſame Gnade nicht mit ſich, fondern die Kirche bezeugt, daß
dem, der fie eınpfängt, Gnade geworden ſei.“ Calvin nahm die Taufe als
göttliches Zeichen und Pfand der Sündenvergebung und der Wirkung bed
heil. Geiſtes zur Wiedergeburt, defien Erfüllung eintrete, fobald im Bes
wußtjein ded Menſchen der Glaube erwacht ſei. Die Kindertaufe verthei⸗
digte er ald Aufnahme der Kinder in Gotted Volk und Familie, verwarf
aber die Nothtaufe ebenfalld, da Gott die vor der Taufe geftorbenen Kinder
durch den heil. Geift von der Erbjünde erlöfe und wiedergebäre.
Darin gingen Lutberaner und Meformirte einig, auf Grund der
Schrift nur Taufe und Abendmahl als Sacramente, d. I. von Gott durch
Ehriftus verordnete Gnadenmittel anzuerkennen. Die übrigen fünf Sacras
mente der römifchen Kirche verwarfen fle als nicht von Chriflus eingefekt.
20.
Betrachten wir jest die Lehre von der Kirche, fo finden wir, daß,
ungeachtet ihrer Trennung von der orientalifcdyegriechiichen und fpäter von
den beiden proteftantifchen Kirchen, die römifche fih für die allein wahre
erklärte. Sie nur fei die einige, apoflolifche, Heilige Kirche Chriſti, außer
welcher fein Heil zu finden, das Reich Gottes auf Erden, deflen fiht-
bares Haupt, als Stellvertreter Chrifti und Nachfolger Petri, der Papſt
ſei. Dieſelbe ausschließliche Geltung nimmt die griechifche Kirche für fich in
Anſpruch, nur daß fle Ehriftus als ihr alleiniges Oberhaupt, deſſen Vikare
bie Bifchöfe feien, betrachtet und ſich die „orthodore * Kirche nennt, wähs
rend tie römifche den Titel der „alleinfeligmachenden * liebt. Die Prote—
ftanten beider Richtungen dagegen juchten fih zum Begriff einer durch die
ganze Chriftenheit verbreiteten Kirche zu erheben, freilich nicht ohne ſchwan⸗
kende Beflimmungen, mit mehr oder weniger Glüd, So gerathen 3.8.
die Lutheraner in Gefahr, ihre eigne Kirche als die allein wahre zu bezeich
nen durch die Beſtimmung, die wahre Kirche fei da, wo das Wort Gottes
und die Saeramente recht verwaltet werben. In ähnliche Gefahr begeben
fich einzelne reformirte Bekenntnifle, indem fie ald Kennzeichen der Achten
Kirche Chrifti bald die rechte Verfündigung des göttlidhen Wortes allein,
bald jammt diejer die rechte Verwaltung der „von Chriſtus felbft eingeiegten
äußern Zeichen, Bräuche und Ordnungen“ nennen. Den Uebergang zu
Scherr, Geſch. d. Religion. 1. 9
130
einer Elarern Begriffsbeflimmung bei den Lutheranern bildet der Ausſpruch
der Apologie des Augsburgifchen Bekenntniſſes: Die Böſen feten nur äußer⸗
lich, nicht innerlid Glieder der Kirche. Daraus geftaltete fich Die Lehre,
die Kirche jei die Gemeinfchaft aller auf Chriſtus Getauften, die durch das
Wort und die Sacramente verbunden und gebeiligt find oder noch geheiligt -
werben follen., alfo im weitern Sinne eine Gnadenanſtalt. In ihr fei aber
enthalten die innerliche Kirche, d. t. die Gemeinfchaft der innerlich durch
den Glauben mit Chriftus verbundenen Chriften, der wahre geiftige Leib
Chriſti. Noch deutlicher bezeichneten Zwingli und Calvin die allgemeine
fichtbare Kirche als die von Chrifto geftiftete Bemeinfchaft aller Getauften
und unterſchieden diefelbe von der unjichtbaren Kirche als dem unflchtbaren
Reiche Gottes, beitimmten auch, die unftchtbare Kirche zerfalle nicht, wie bie
fihtbare , in verfchiedene Partikularkirchen ?).
Beide proteftantijche Kirchen betrachten Chriſtus, der Feines fichtbaren
Stellvertreter8 bedürfe, als das unfichtbare Haupt der allgemeinen Kirche.
Beide fammt der römischen Kirche untericheiden zwifchen einer ftreitenden
und triumpbirenden Kirche 2), deren erflere auf Erden, deren letztere im
Himmel gedacht wird ; nur darin von einander abweichend, daß die Prote-
ftanten die Schledhten und Böſen nicht zur flreitenden Kirche rechnen, wie die
römtfche Kirche. Immerhin wird die Kirche auf Erden, wie man ihren Bes
griff faflen möge, als flreitend wider das Reich diefer Welt gedacht.
21.
Die Lehre von den guten und böſen Beiftern hat in der luthe—
riichen Kirche weit höhere Berüdfichtigung gefunden, als in der reformirten.
Defien ungeachtet Hat die, freilich in der deutfchen Schweiz nicht angenom«
mene, gallifanifhe Gonfeffion dem Dogma von den Engeln und Teufeln
einen befondern Artikel gewidmet: „Gott hat auch die unſichtbaren Geifter
gefchaffen, von denen bie einen Eopfüher ind Verderben flürzten, Die andern
im Gehorſam verbarrten. Jene, durd eigene Bosheit verborben, find Die
immerwährenden Feinde alled Guten und daher der ganzen Kirche, diefe,
durch Gottes reine Gnade bewahrt, dienen dem Ruhm der Kirche und dem
1) Dadurch wird alfo auch den Mitgliedern der gegnerifchen Partikularkirchen
ein Antheil an dem unfichtbaren Gottesreiche eingeräumt, eine Regung von Toleranz,
die insbefondere bei Calvin auffällt.
2) Ecclesia militans und ecclesia triumphans.
131
Heil der Erwählten.“ Das Wirken der Engel und Teufel auf den Men-
hen wurde aber von den reformirten Befenntnifien und Theologen darum
weniger hervorgehoben, weil die Lehre, daß Gott audy das Böſe, den Fall
der Engel und Menfchen, freilich in anderer Weiſe ald das Gute, vorber-
geordnet, nidht bloß zugelaſſen habe, zu den Hauptgrundfägen des
reformirten Syſtems gehört, während die Lutheraner die Entflehung des
Böfen nur theilmeile vom Satan und theilwelfe vom freien Willen des
Menihen herleiten. Die Iutberifchen Symbolifer find neueftens deſſen
- bewußt worden, daß fle mit ihrer Dämonenlehre nahe an Dualismus ftreis
fen. Der’ Teufel ald dad Haupt ter gefallenen Engel fleht mit feinem
Neiche dem Reiche Gottes Tämpfend gegenüber. Die ganze nichtchriftliche
Welt ifl ihm unterthan, auch die Chriftenheit Tann fi vor ihm nur fchügen
durch Gottes Wort und Iebendigen Glauben. Alles Uebel, alles Böfe auf
Erden rührt von ihm her. Durch jeine Lift hat ex ſchon die erflen Men-
fihen verführt, deren Nachkommen nun zur Strafe in feine Gewalt gegeben
find, aus weldyer fie nur durch die Taufe erlöf worden find. Go wäre
alfo der Uinterfchied zwifchen Ungetauften und Getauften diefer: gegen Iene
übt er Gewalt, gegen Diefe mannigfaltige Lift. Dem Volksglauben, daß
man mit dem Teufel um Reichthümer, Beihülfe zur Unzucht, und ähnliche
Süßigfeiten einen Bund machen könne, feheint Luther im großen Katechis-
mus nicht ganz abhold zu fein. Möglicherwetfe können ihn feine herenrich-
terlihen Nachtreter auch mißverftanden haben !). Don den guten Engeln
wird gelehrt, fie feien Schuggeifter und Fürbitter der Brommen, den Men⸗
ſchen an Weisheit und Heiligkeit überlegen, aber deßwegen noch keine Ver⸗
ehrung verdienend.
22.
In der Lehre von den legten Dingen unterſcheiden ſich die prote-
ftantifchen Kirchen von der Eatholifchen und griechtichen hauptſächlich da⸗
durch, daß jene bie Zeit der Vorbereitung auf die Seligfeit auf das irdiſche
Dafein beihränten, und demnach glauben, Jeder fomme unmittelbar nad)
dem Tode in den Zuftand, der ihm gebühre, entweder in die ewige Selig-
feit oder in die ewige Verdammniß, — dieſe hingegen lehren Mittelzuflände
1) Bol. den Zufammenhang der Stelle in Müllers ſymboliſchen Büchern der
“ evangelifch = lutherifchen Kirche, ©. 387.
9 *
132
nach dem Tode, durch welche die nicht ganz der Seligfeit noch ganz der Bers
dammniß Würdigen ihre-Sünden vor Eintritt des Weltgerichtes abzubüßen
haben. Die griechifche Kirche verwirft dabei das Fegefeuer und die Wir⸗
fung der Meſſe zur Genugthuung für die ungebüßten Sünden über das
Grab hinaus. Denen, die für ihre bereuten Sünden noch eine Zeitlang
im Jenſeits geftraft werden, kann man von Gott durch Gebete, Todten«
meſſen und gute Werke fehnellere Verzeihung verfchaffen; aber felbft die
Frommen gehen nicht ſogleich zur.vollen Seligfeit ein. Die römifche Kirche
hat im tridentiner Concil ihr Anathema ausgeſprochen über Alle, die irgend -
einem reuigen Sünder jo vollfommene Verzeihung beimeflen, daß er im
Begefeuer nichts mehr abzubüßen hätte. Die unbußfertig in Todſuͤnden Ge⸗
fterbenen werden zwar aud von der römiichen Kirche ſofort ewiger Ver⸗
dammniß überwiefen, ebenfo die ganz Heiligen dem Himmel; aber hin—
fichtlich der vor der Taufe verfiorbenen Kinder redet fie von einem beſondern
Ort der Unfeligkett gerade über dem Fegefeuer, über welchen ſich hinwieder
derjenige Himmel befindet, in welchem bie vorchriſtlichen durch Chrifti
Höllenfahrt erlöften Srommen wohnen.
Darin flimmen alle Kirchen überein, daß Chriſtus am jünagflen Tage
wieder erfcheinen wird, die Todten zu erweden, über fie und die noch Lebenden
Gericht zu halten. Dann werden die Gerechtfertigten ihre ehemaligen Leider
in verflärter Geſtalt wieder erhalten und fo der ewigen Seligkeit genießen,
welche im „Schauen Gotted von Angefiht zu Angefiht” beſteht. Die
Teufel und die Ungerechtfertigten hingegen werden ewiger Verdammniß über
liefert 1). Die Proteftanten bezeichnen in Bezug auf die Todten das Welt-
gericht als das öffentliche Gericht, welches das gleich nach dem Tod erfolgte
verborgene Gericht beftätige. Unter den Reformirten wurden nach Calvin
und Beza's Vorgang Gradunterſchiede in der Seligfeit und Verdammniß
zugegeben, auch zeigte ſich fpäterhin eine Hinneigung zur Lehre von ber
MWiederbringung aller Dinge, da Gott fein werde Alles in Allen, zumal
nad) 1. Kor. 15, 26 ff. Mit dem jüngften Gericht tritt zugleich das Ende
der Welt ein‘, welches die belgische Confeſſion nach 1. Betr. 3, 7 als eine
Läuterung der Welt durch Feuer darftellt.
1) Im Kapitel von der chriftlihen Kunft werden wir fehen, wie die Volks: und
Dichterphantafle das Dogma von der himmliſchen Seligfeit und der höllifchen Ber:
dammniß geftaltete.
*
133
23.
Die geiftige Bewegung des Reformationdzeitalters rief, ſowohl wäh-
rend ihres Derlaufes ala in ihren ſpaͤtern Nachwirkungen, eine Menge von
Seften hervor, von denen wir nur bie Soztnianer, Armintianer
und Ianfeniften bier näher ind Auge faflen, — die beiden, erfteren
Selten, weil ihre abweichenden Lehren in ſyſtematiſchem Zufammenhang
ſtehen, die Tegtgenannte, weil fie die einzige Erfcheinung diefer Art inner⸗
halb der römiichen Kirche nach der Neformation iſt 1).
Mas Lälius Sozinus von Siena, feit 1551 in Züri, von eigen«
thümlicher Auffafjung des Chriſtenthums in friebliebender Stille für fi
ausgedacht, entwickelte jein Neffe Fauſtus Sozinus zum Syſtem und fand
Anhänger für daffelbe unter den Unitariern Polens 2). Dafelbft fliftete er
die Kirhengemeinfchaft der Sozinianer, deren Hauptfig Krakau war,
Der Sozinianismus tft ein moralifivended, rationaliſtiſches Syflem. Die
Erbfünde läugnend, ftellt. e8 als Folge des erſten Sündenfalld nur die allges
meine Sterblichkeit der Menſchen und ihre angeborene Geneigtbeit zur
Sünde auf. Dabei iſt aber doch dem Menſchen fo viel Willensfreiheit geblie-
ben, daß er fih ver Sünden hüten fann, wenn er will; doch bedarf er zur
Erfüllung der Gebote des göttlichen Beiftandes, welcher durch Gottes Wort
und unmittelbare, göttlihe Erleuchtung des Herzens jedem Chriften zu
Theil wird. Demzufolge gibt e8 feine andere Präbeflination, als die, daß
Bott die Gläubigen und Gehorſamen zum ewigen Leben, die Ungläubigen
und Ungehoriamen zur ewigen Verdammntß beftimmt hat, und zwar hängt
biefelbe nicht von Gottes Vorſatz allein, fondern auch vom günftigen oter uns
günftigen Erfolg feined Wortes bei den einzelnen Individuen, vom Wollen
und Thun des Menichen ab. In Harmonie mit dieſen Sätzen fteht die
merkwürdige Lehre der Sozinianer von der Berfon Chriſti. Chriſtus war
bloßer Menfch ohne göttliche Natur noch Weſensgleichheit mit Gott (Ebio⸗
nitismus); ungeachtet er von Gott jelbft im Echvoße der Jungfrau Maria
erzeugt worden und vollfommen ſündlos geweſen. Da er ald Menich das
Göttliche nicht erfennen konnte, mupte er, feine göttliche Lehre zu empfans
—
1) Der übrigen Sekten, welche mehr nur in vereinzelten Punkien von der kirch⸗
lichen Doctrin abweichen, wird im Kapitel über tas Kirchenwefen gedacht werten.
2) Unitarier (von unitas) find Chriſten, weldye das Dogma von der Dreis
einigfeit verwerfen.
134
gen, nad 30h. 3, 13; 6, 36, 8, 28 vor dem Antritt feines Lehramtes
in den Himmel entrücdt werden. Obwohl er nicht anders fonnte, ala Gott
gehorchen, ward er zur Belohnung feiner Mühſale und Leiden zur echten
Gottes erhoben, mit Macht über alles Erichaffene befleidet und fo zum
wahren Gott, weldem nähft dem Vater Anbetung gebührt, umgewandelt.
Das joll und, die wir ungeborjam fein können, mächtig zum Gehorſam
‚gegen Gott aufmuntern. — Bon Sacramenten wollen die Sozinianer
Nichts wiffen. Sie betrachten diejelben einfach al8 Geremonien, bie Chri⸗
ſtus angeordnet, laſſen aud die Taufe nur für befehrte Iuden und Heiden
gelten, für Ehriftenkinder fei fte unnöthig. Die Einfegungsworte des
Abendmahls nehmen fie bildlich und betrachten ed weſentlich als Gedächtniß⸗
mahl und Danffeier für die durch Chriftus erworbenen Gnadengaben. Nach
dem Tode eriftiren die Seelen zwar fort, aber ohne Bewußtſein bis zur
allgemeinen Auferftebung , wo dann die Seelen der Srommen-andere, neue,
verflärte Zeiber empfangen und mit biefen zur ewigen Seligkeit eingeben,
während die Böfen, weil ihnen ein neuer Leib verfagt wird, gänzlicher Ver⸗
nichtung anheimfallen. Merfwürdig ift hiebei die philoſophiſche Anſchau⸗
ung, daß Seelen ohne Leib kein Bewußtfein haben Fünnen.
Im Schooße der niederländiſch reformirten Kirche, deren Glaube
wefentlich unter Calvins Einfluß ftand, erregte die Wiederbelebung der
Zwinglifchen Anfichten über Erbfünde und Abendmahl durch Arminius,
feit 1603 Brofeflor in Leyden, eine heftige Spaltung , welche, zulegt auf
politifches Gebiet hinübergeipielt, mit der Ausftoßung der Arminianer oder
NRemonftranten 8) aus der Kirche durch die Synode von Dordrecht (1619)
endigte. Nach dem Tode ihred Hauptgegnerd, Morig von Oranien, wur⸗
den die Arminianer im Lande geduldet und errichteten ein eigened Kirchen
weien. Eigenthümlich ift ihnen die Lehre, dag Ehrifti Genugthuung für
die Sünden der Welt nur durd göttliche Gnade zureichend fei und dem
Gläubigen nicht die Gerechtigkeit CHriftt, ſondern um Chriſti Verdienftes
und Gehorfamd willen die Gerechtigkeit überhaupt zugerechnet werde.
Ebenſo ſchreiben fle Dem Glauben weientlih tn Hinfiht der ihm entſprin⸗
genden guten Werke rechtfertigende Kraft zu.
Was ſchließlich den Janſenismus betrifft, ſo knüpft fi derſelbe als
— — —— ...—
3) Sie nannten das Betenntniß, welches fie fchon 1610 ben nicderlandiſchen
Staͤnden vorlegten, die Remonſtranz, daher ihr Parteiname.
135
an feinen Anfangepunft, wie Jedermann weiß, an das Buch, in welchem
Cornelius Janſe 4) den auguftinifchen und pelagianifchen Lehrbegriff mit zu«
flimmender Betonung des erfleren erörtert und damit zugleich die Moral bes
Jefuitismus angegriffen hatte. Dieſes Buch ward nach feines Verfaflers Tode
von einem feiner Freunde herausgegeben und durch Papft Urban VIII. als
Feßerifch verdammt (1642). Don daan begann, befonders durch fo begeifterte
Männer wie Du Berger und Anton Arnault angefacht, der faft hundertjährige
Kampf der Ianfeniften gegen die Jeſuiten als Vertreter der auf die Spige
getriebenen Werkheiligfeit, bis 1719 der Janfenidmus in den Niederlanden
ein eigned Kirchenwejen gründete. Der Ianfenismus, deſſen glänzendfte
Polemik Blaife Pascal durch feine berühmten „‚Lettres Provinciales‘ 5)
geführt Hat, Tieß die Einrichtungen der römischen Kirche unangefochten, nur
beftritt er die Verbienftlichfeit der Werke und erhob die fittlihe Wiederge-
burt durch den Glauben und die Heildanftalten der Kirche zur alleinigen Be«
dingung der Nechtfertigung vor Gott. Die Machtvollkommenheit des Pap⸗
ſtes focht er nur inſofern an, als der Papſt fich ein untrügliches Urtheil über
rein wiſſenſchaftlich-hiſtoriſche Fragen, wie z. B. Janſe dieſen oder jenen Satz
wirklich gemeint habe, erlaubte. — Die janſeniſtiſche Doctrin, von den Paͤp⸗
ſten beſonders wegen ihrer Verwandtſchaft mit den proteſtantiſchen Lehren ge⸗
fürchtet, unterlag in ihren Beſtrebungen, die römiſche Kirche ſittlich zu refor⸗
miren, weil fie verfannte, daß das römiſche Dogmengebäude, fo, wie es
war, fiehen oder fallen mußte. Innerhalb dieſes Gebäudes eine, und wenn
auch nur rein fittliche, Reform verſuchen, dad war ein Irrthum, welchen
die Sanfeniften mit vielen Schmerzen und Thränen bezahlten. Die Jeſuiten,
flüger, energifcher und confequenter als ihre Gegner, mußten über bie janfe
niftifche Halbheit triumphiren und die Zerftörung der idyllifchen Ianfeniften-
colonie Portroyal durch die Dragoner Ludwigs des DVierzehnten (1709)
war nur eine Ginichärfung der alten Xehre, daß man den Despotismus nie
ungeflraft reizt, wenn man weder den Willen no die Kraft Hat, ihn ganz
zu Boden zu werfen, |
4) Get. als Biſchof von Ypern 1638. ,
8) Der vollftänrige Titel diefer Streitbriefe, welde, 18 an der Zahl, vom
Januar 1656 bis zum März 1657 erfchienen, lautet: Les Provinciales, ou lettres
&crites par Louis de Montalte à un Provincial de ses amis et aux R. R. P. P. Jesuites
sur la morale et la politique de ces peres. — Blaife Pascal ift geboren zu Efermont
41623 und flarb zu Paris 1662. Seine ‚‚Pensdes‘‘, worin er, was er in den Lettres
polemiſch ausgeführt, philofophifch zu begründen fuchte, erfhienen 1687.
136
Siebentes Kapitel.
Der Cultus.
1.
Bir find im rorigen Abichnitt der innerliben Pegriitdentwidlung
tes Glaubens ter drifllihen Gemeinde Schritt für Erin nachgegangen.
Jetzt liegt und ob, auch Lie äuperlihe Entwidlung dieſes Glaubens aufzu-
zeigen. Temzufolge ſchließt ſich an tie hiſtoriſche Tarftellung der Kirchen-
Ichre, mit terielben parallel gehend, tie Geſchichte Ted Eultus, welcher ja
nur die öffentlihe Kundgebung des jeweilig in Der Gemeinde vorbantenen
Glaubens durch Diele iſt. Erſt in fpäteren Zeiten begegnet uns eine Ab⸗
irrung des Cultus von dieſem feinen uriprünglichen Weſen, intem einzelne
gottestienflliche Handlungen (wie 3. B. Taufe, Abendmahl, Iegte Oelung)
außerhalb ver veriammelten Gemeinde verrichtet werten 1).
Wie aber in unjerer Betrachtung der Lehrentwidlung tie abweichenten
Meinungen ver zahllojen Sekten nicht ſpeziell berüdfidhtigt werben fonnten,
fo audy nit in ter Geſchichte des Eultus die jektirerijch = gotteötienftlichen
Hoımen. Das Wichtigſte hierüber wird jedoch in der Beichichte des Kirchen—
weiens jeine Stelle finden. Eben jo wenig läßt fi Hier ihon die dem Eul-
tu8 tienende Kunft näher ind Auge füflen, denn audy Diejer Gegenftand er-
fordert feine eigne, in fi abgerundete Darftellung. Läßt es ſich ferner
nicht beflreiten, daß Die Entwidlung des Kirchenwefend nad feiner äußern
und innern Seite weientlih auf die Zortbiltung des Cultus eingewirkt hat,
fo kann doch um deßwillen in diejem Kapitel noch nicht genauer auf tie
Entſtehung und Audbildung der Hierardie oder auf die Ausbreitung der
Kirche unter der Heitenwelt eingetreten werden. Endlich haben wir, un-
ferer Begriffsbeftimmmng getreu, auch gewiffe, cultifchen Gandlungen ähn-
liche Aeußerungen des flttlichereligiöjen Volkslebens, wie 3. B. die Geifler-
und Zänzerzüge des Mittelalters, vom Gebiete des Eultus außgefchieden.
Nachdem wir fo dad zu behandelnde Gebiet abgegränzt haben, bleibt
— —
1) Die Taufe Neubekehrter durch die Apoſtel außerhalb ter Gemeindeverſamm⸗
lung kommt hier begreiflih nicht in Betracht.
137
und ald Meft ver Vorarbeit noch feine Eintheilung. Am bequemften wird
ſich wohl die Entwicklung des Cultus darfiellen Iafien, wenn wir ihn bes
trachten nach Zeit, Inhalt und äußerlicher Erſcheinung, fo daß wir zunädft
eben von den heiligen Zeiten, fodann von der Liturgie, d. i. den einzelnen
gotteödienftlihen Handlungen in ihrer georbneten Reihenfolge, und endlich
von den Außerlichen Hülfamitteln, wodurch man mehr umd mehr die Wir
fung des Eultus auf die Gemüther zu unterflühen ſuchte. Wie nämlich der
Eultus zuvörderft Ausdruck des Glaubens der Gemeinde ift, fo bat er in zwei«
ter Linie die eben fo wichtige Bedeutung eines weſentlichen Mittels zur Be⸗
lebung des Gemeindeglaubens, zur Förderung geiftiger Einheit der Ge⸗
meinte. Die Entwicklungsſtufe, welche der Eultus je in einem gegebenen
Zeitalter erreicht, veranfchaulicht daher zugleich, wie der kirchliche Glaube
beichaffen tft, und durch welche Mittel man benfelben beleben zu können
meint, — ein unmwillfürliches Zeugniß bes fittlich-religtölen Zuſtandes, in
welchem fich das jeweilige Zeitalter befindet, von dieſem fich jelber vor den
Augen der Nachwelt außgeftellt.
2.
Eigentliche Formen des Cultus Hatte Ehriftus nicht verordnet, wohl
aber theils durch fein eigened Beifpiel theild durch Empfehlung gemeinfamen
Bebetes und Einfegung des Gebächtnißmahles für fein Leiden und Sterben
feine Gemeinde zu gemeinfamem Austrud bes ihr innewohnenden reltgiöfen
Lebens angewielen ?). So finden wir denn die Gemeinde der erfien Chriſten
nach der Erhöhung des Meifterd einmüthig verfammelt, verharrend in Ge⸗
bet und Flehen, fchon vor der Geiſtesausgießung. Nachdem diefe erfolgt
und die Geneinte ſchon bebeutend angewachfen war, verfammelten ſich Bie
Mitglieder täglih im Tempel zur Andacht, und hielten in Privathäuſern
ihre gemeinichaftlichen Mahlzeiten, Später Agapen, Liebedmahle genannt 2).
Nah dem Borbild Ehrifti Iobten fie bei jedem Mahle Gott in gemein«
ſchaftlichem Gebet, jowohl für die zeitlichen Gaben, als für die durch Chri⸗
ſtum vollbrachte Erlöjung. Außerdem feierten die erften Chriften, io lange
fie bloß zu SIerufalem eine Gemeinde bildeten und größtentheils aus ehe⸗
maligen Inden beftanden (Iudenchriften),, die fämmtlichen jüdischen Feſttage
1) Matth. 18, 1920.
2) Apoftelgefch. 1, 14; 2, 4647. Agape (aͤycinn) von dyanalı (ayanda
und dyanlw, vom Stamm äydu), ich ſchaͤtze Hoch, verehre, liebe.
138
fowie auch den Sabbath. Uber die Entflehung von Ghriftengemeinden in
beidnifchen Städten hatte auch die Gmanzipation des Chriſtenthums vom
Mofaigmus in Hinficht des Eultus zur nothwendigen Folge. Für Ges
meinden , die ganz aus ehemaligen Heiden beftanden, hob Paulus die Beob⸗
achtung der Tage, Monate und Jahre, welche nach jüdiſchem Beleg für
heilig galten, auf 5), Gemifchten Gemeinden rieth er, e8 folle in An⸗
fehung der Seterzeiten jede Partei die andere unangefochten bei ihrer Weiſe
lafien, ob man bie jüdiſchen Feſte und heiligen Tage feire oder nicht, Beides
folle um Ehrifti willen geſchehen ))Y. Wahrjcheinlich hatten auch die Ges
meinden außerhalb Jeruſalems Anfangs täglich ihre -Zufammenkünfte. Ein»
zelne Tage der Woche wurden erft als heilige hervorgehoben, als die Zahl
der Chriften für tägliche Zufammenfünfte zu groß und ber Gegenfag gegen
das judenchriftliche Element immer fchroffer ward.
In der unmittelbar. nachapoftolifchen Zeit treten als Faſttage unter den
Heidenchriften hervor Mittwoch, Freitag und Samflag, Die beiden erfteren
zwar nur bis Mittagd 3 Uhr gefeiert, ber Teßtere insbeſondere von der
tömifchen Kirche im Gegenſatz gegen die Sabbathfeier der Judenchriſten als
Safttag gehalten. Mittwoch und Freitag galten dem Andenken an daß Lei⸗
den und Sterben Chriſti. Der Sonntag, ald Auferftehungstag Chriſti,
war fodann der vierte, der fröhliche Feiertag. An den genannten vier
Tagen der Woche pflegten fih, zumal- während ber Verfolgungszeiten die
chriſtlichen Gemeinden entweder bei Nacht oder um Die Morgendämmerung
zum Gotteöbienfte zu verfammeln.
Durd die Verordnung des Kaiferd Konflantin, woburd am Sonntag
alle weltlichen Geichäfte mit Ausnahme dringender Feldarbeiten und ber
Breilaffung der Sklaven unterfagt waren, wurde der Sonntag zum Haupt«
feiertag der Woche erhoben. Als das Abendmahl zum Meßopfer geworden,
wurde an allen Werktagen um 12 Uhr Mefle gelefen. Die Mefle ver-
drängte nad) und nad den andern Gottesdienft an ten Werktagen. Den
Beſuch der Meſſe und Litanei am Mittwoch, Freitag und Samflag in der
Brohnfaften gebot aber die Synode zu Mainz allem Bolfe, nachdem die
Theilnahme an ten Wochenmeflen geringer worden. Die Reformation
machte ihrerfeitö den Wochenmeflen, wie der Meffe überhaupt und den Faſt⸗
“ tagen, ein Ende. Dafür wurden in der lutherifchen und reformirteg Kirche,
3) Gal. A, 9—10.
4) Röm. 14, 4—6. Kol. 2, 16—17.
139
freilich ohne daß man ſich an die althergebradhten Wochenfafttage band,
Wochengottesdienſte mit Predigt, Gebet und Geſang eingerichtet, welche ſich
in einzelnen Ländern noch bis Heute erhalten haben. Als Wochenfaſttag
hat fich bei den Katholiken ber Freitag behauptet. Auch der Aſchermittwoch
erinnert noch an das chriſtliche Alterthum, wo, wie bereits bemerkt, jeder
Mittwoch ein Faſttag war. Wie die Feſtſetzung der Wochenfeiertage, ſo be⸗
ſtimmte das Leiden und die Verherrlichung Chriſti auch die jährlich wieder⸗
kehrenden Hauptfeſte mit ihren Feierzeiten. Dem Andenken an das Todten⸗
opfer Chrifti weihten die kleinaftatiſchen Gemeinden den 14. Tag bes
Monats Nifan 5), indem fle Chriftus als das wahre Paflahlamın betrach⸗
teten. Biel nun ſchon die Zeit dieſes chriftlichen Feſtes mit dem jüdifchen
zufammen, fo mußte vollends die Aehnlichfeit der Namen beider Befte
(Paichafeft vom griech. muoyeıv, leiden, und Paflahfeft vom hebr. pasach,
übergehen, sorübergehen) einen jchweren Verdacht auf Vermiſchung des
Jüdischen mit dem Ehriftlichen erwedten. Daher erhob fid unter den übrigen
Theilen der Kirche, welche am Sonntag nach dem erften Brühlingsvollmond
die Auferftehung und am Freitag vorher den Tod Ehrifti feierten, beſonders
die römische Kirche gegen jene Beflzeit der Kleinaitaten und um 190 drohte
ihnen bereitd der römiſche Biihof Victor mit Auffündung der Kirchenges
meinichaft, ein Benehmen, weldes man in jenem Beitalter noch mit der
lauteften Mißbilligung zu züchtigen wagte. Erft die Synode zu Nicaͤa er⸗
ledigte diefen Streit zu Gunften der römifchen Kirche. Weit 325 ift die
Beitbeftimmung für Charfreitag und Oftern in der ganzen Kirche fich gleich«
geblieben. Dem Auferfichungdfefte ging übrigens eine vorbereitende, der
Betrachtung des Leidens Chrifti gewidmete Baftenzeit voran, welde, ans
fangs in den verfchiedenen Theilen der Kirche von ungleicher Dauer, endlich
übereinftinmend auf 40 Tage feftgefegt wurte. Jeder hohe Feſttag ward
mit einer Nachtfeier (Vigilia) eingeleitet. Später nannte man aud das
Singen gewiffer Palmen nebft den Gebeten am Vorabend des Allerfeelen«
tage® oder" einer wichtigen Todtenmeſſe Vigilien.
Bevor das GChriftenthum fich unter die Germanen verbreitete, hieß das
Bert des Todes und der Auferftehung allgemein Paſchafeſt, welcher Name
85) Nifan hieß der erſte Monat der Hebräer, welcher mit dem erften Neumond
nach der Tags und Nachigleiche des Frühlings begann. Der 14. Nifan flel daher
um die Zeit des erſten VBollmondes nach dem Acquinoctium. An dieſem Tage feierten
die Juden das Paſſahfeſt.
140 ’
fih bei den romanifchen Bölfern erhalten hat. Bet den Deutſchen aber er-
hielt das Auferftehungsfekt den Namen Oflern (engliih Easter) von ber
Frühlingsgättin Oftara (angelfähftich Eastre ©), deren Feſt gefeiert wurde,
fobald man das erfle Veildhen gefunden. Das Zufammentreffen dieſes chriſt⸗
lichen Feſtes mit dem heidniſchen Frühlingsfeſte in der Zeit und theilweiſe
auch im Sinne mag die Verbreitung des EhriftentHums unter den Ger-
manen nidyt wenig gefördert haben. Auferfiebung war ja die Loſung beider,
An das Kreuz und Auferſtehungspaſcha ſchloß ſich eine Beflzeit von 50 Tas
gen, Pentekoſte, deren Iegter Tag ald das hohe Pfing ſtfeſt anfangs allein
hervorgehoben ward zum Andenken an die Ausgießung de heil. Geiſtes.
Dieje 5Otägige Feſtzeit feierte die Verherrlichung Chriſti, welche von der
Auferftehung an eingetreten. Im 4. Jahrhundert wart aus dieſer Feſtzeit
no der vierzigfte Tag als Feſt der Himmelfahrt hervorgehoben?), Die
Pentekoſte traf mit der den ganzen Monat gehaltenen Waifeier der Ger⸗
manen zujammen. Die Beiftedausgiegung vom Himmel ber fand bei ihnen
um fo Schneller Anklang, da ſte an ein Herntederfteigen der fegnenden Götter
auf die Erde während des Blüthenmonds Mai geglaubt hatten, Darum
find auch fo viele der heidnifchen Bräuche, welche die Maifreude Fundgeben,
im chriftlichen Deutfchland bis auf diefen Tag lebendig geblieben. — Als
Nebenfeier erjcheint im nadapoftolifchen Zeitalter dad Epiphanien=-, d.h.
Eriheinungsfeft Chriſti, vielleicht zuerft von den Gnoftifern audgegangen,
weldhe am 6. Iaguar .die Verbindung des Logos mit dem Menfchen Jeſu bei
feiner Taufe im Jordan feierten. Die Kirche feierte während der drei
erfien Jahrhunderte denfelben Tag zum Andenken, dab das Innewohnen des
Logos in Jeſu ‚bei der Taufe geoffenbart worden. In Bolge der Lehrbes
flimmungen über die Gottgleichheit des Weſens Chriſti und deſſen Verbin⸗
dung mit der menfchlichen Natur ſchon im Mutterfeibe verbreitete ſich gegen
Ende des A. Jahrhunderts von der römiſchen Kirche aus die Feier der Ge—
burt CHrifti, ald Erſcheinung ded Logos im Fleiſche, am 25. December.
Der Epiphanientag ward daneben ald Tauffeft begangen. Im 7. Jahr⸗
hundert erhielt auch der erſte Januar feine Bedeutung ald Feſt der Beichnei-
dung Chriſti, und unter den Proteflanten iſt am Neufahrötag noch Tange
Dank gefagt worden für das foftbare, weil auch erlöfungskräftige Tröpf- _
lein Blut, welches Jeſus bei jeiner Befchneidung verloren. Die vier—
6) Bol. Thl. I, S. 299. |
7) Geftügt auf Apoſtelgeſch. 1, 3.
141
wöchentliche Borbereitungszeit auf Weihnachten, der Advent, ward dur
Gregor den Großen feſtgeſetzt, to daß nun eine dritte Beflzeit, deren Mittels
punkt das Geburtöfeft Chrifti, dauernd von Ende Nonember bis zum
6. Ianuar, abgeſchloſſen neben den Beiden andern fland. Im Abendlande
trat mit dem Ende des 4. Jahrhunderts eine allmälige Aenderung in der Ber
deutung des Epiphantenfefled ein: e8 wurde bezogen auf die Erfcheinung der
Weiſen aus dem Morgenlande, worin ja ebenfalld ein Offenbarwerden der
göttlichen Weſenheit Jeſu lag. Im Uebrigen fiel auch die chriſtliche Wei h⸗
nacht mit einem Feſt des germaniichen Heidenthums zufammen, mit dem
Julfeft®), welches nadı dem Fürzeften Tag gefeiert, die Wiedergeburt ber
Sonne froblodend begrüßte. Hier alfo Wiedergeburt des allbelebenden
Tagesgeſtirns, dort Wiedergeburt der Menſchheit durch Einkehr des Gött⸗
Tichen in ihr. Der deutſche Chriſtbaum mit jeinen fchimmernden Lichtern
fomboliftrt anmuthig die Verfchmelzung diefer Ipeen.
3.
Die vorerwähnten drei Feflzeiten bildeten feit dem Abichluß der dritten
die Grundzüge des Kirhenjahres, an welche fih, zunädhft audgehend
von der Verehrung der Märtyrer (Blutzeugen), im Lauf der Zeiten eine
Menge anderer Feſte und Beiertage anfchlofien. Denn, wie das Heiden»
thum1), wollte auch das Chriſtenthum neben dem Gottespdienft feinen
Hervencult haben, Diefer chriſtliche Heroendienft erhiehereine reiche und
reichfte Entfaltung, als die Kirche, nach erlangter Herrfchaft im römifchen
‚Weiche, der allmäligen Abſchwaͤchung des religiöfen Lebens unter ihren
Sliedern Halb bewußt geworden, zu den beldenmüthigen Opfern der Vers
folgungszeit als zu Heroen aufzublidlen begann. Zuerft freilich feierten nur ein«
zelne Gemeinden die Todedtage ihrer Märtyrer auf deren Gräbern ald Tage
ihrer Geburt zum höhern Leben in der Herrlichkeit (natalicia). Allein da
die paulinifche Lehre von der Unverdienftlichfeit ber Werke praftifch inımer
mehr in Bergefjenheit gerieth, da ſchon Origenes ed fr annehmbar erklärte,
daß „alle Hingeichiedenen Heiligen die Liebe gegen die auf Erden Zurüd«
geblieberien bewahren und diefe durch ihre Bürbitten vor Gott vertreten ;*
‚ ba er fogar behauptete, „wie wir durch das theure Blut des Herrn erfauft
worden, fo können wohl auch Etliche durch das theure Blut der Märtyrer
8) Vol. Thl. U, ©. 388,
4) Bol. Thl. II, S. 183 fg. und ©. 300 fg.
142
erfauft werden;* da endlich Cyprian und Euſebius 2) in diefen Ton ein-
flimmten: fo Eonnte es nicht fehlen, daß-an den Martyrertagen bald ein
wahrer Heroencultus geübt wurde.
Jede Kirche verehrte ihre beſondern Heiligen und hatte daher ihre be⸗
fondern Märtyrertage. Das Zuſammenſchließen der geiammten Kirche zu
fefterer Einheit rief confequent dem Befte aller Märtyrer in der griedgifchen
Kirche am Sonntag nah Pfingften, das Feſt aller Heiligen in der römifchen
Kirche am 1.November hervor. Mit der ſteigenden Vergottung Chriſti wäh.
rend der Streitigfeiten über feine Logodnatur wuchs ſodann auch Tas Anſehen
feiner Mutter Maria und dies hatte die Einfegung von zwei Marienfeften
zur Folge, des „engliſchen Grußes“ oder „Mariä Verkündung“ am
25. März, und des „Kirchgangs“ oder „Mariä Reinigung” am 2. %e-
bruar. Späterhin fügte die germanifche Kirche nach der zuerfl von Epipha⸗
nius 3) verbreiteten Sage, daß die verftorbene Maria vor den Augen der
Jünger in den Himmel erhöht worden, das Feft „Mariä Himmelfahrt * am
15. Auguft, hinzu. Schon 1140 feierten die ritterliden Domherrn von
Lyon das Feſt der „unbefledtten Empfängniß Mariä”, welches aber erft im
14. Iehrhundert allgemeine Verbreitung fand.
Hatte man nun einmal den fpäteren Märtyrern ihre Ehrentage gege-
ben, fo durften billig die Apoftel nicht vergeflen werden, um fo weniger,
da man felbjt den Opfern des bethlehemitifchen Kindermordes, als Märtyrern
für Ehriftus, dee 28. December, „der unfchuldigen Kindlein Tag”, weihte,
Als Natalitie der Apoflel Petrus und Paulus brachte das auf dieſe feine
Hauptmärtyrer, flolge Rom den 29. Juni in allgemeine Aufnahme, dazu
das Feſt des Lehrſtuhls Petri, „Petri Stuhlfeier* den 22. Februar zum
Andenken des Tages, da der Herr dem Petrus die Schlüffelgewalt über⸗
geben. Endlich ward als Gedaͤchtnißtag Iohannes des Täufers ter 24. Juni
feftgefegt und fortan gefeiert. Daß diefer Tag befonders in Deutfchland zu
fo großem Anfehen gelangte, erklärt fich daraus, daß er zwſammentraf mit
dem altheidniſchen Feft der Sommerſonnenwende.
An den Heiligendienſt ſchloß ſich ſpäterhin der Reliquiendienſt, und
auch dieſer dat feine Feſte gefunden in der „Kreuzerhöhung“ am 14. Sep⸗
2) St. 340 ala Biſchof von Bäfarea.
3) Seit 367 Biſchof von Conftantia auf Eypern, der Vater aller Kegerriecher,
ausgeitattet mit der merkwürdigen Gabe, Dinge zu fehen,. die nicht find, und Ber:
dammte zu wittern, wo noch Geiſt und Leben waltete.
143
tember zu Ehren des von Kaifer Heraklius angeblich wieder eroberten 2) und
in der „Kreuzfindung* am 3. Mai zu Ehren des von Helena, der Mutter
Konftantins, angebli wieder aufgefundenen Kreuzes Chriſti. Auch den
Engeln ward ihr @ultustag.e Im 7. Jahrhundert feierte Rom zuerft das
Beft des Erzengeld Michael und die Deutichen nahmen daſſelbe zum Erfag
für ihre Wodandverehrung willig an. Nach den Engeln erhielten ferner,
von Glugny aus, auch die armen Seelen ihren Gedenktag. Seit Anfang
des 11. Jahrhunderts feiert Die Kirche am 2. November das „Belt aller
Seelen" zu ihrer Erlöfung aus dem Fegefeuer. Endlich durfte die Kirche
ihrer eignen Verherrlichung gedenken. Papft Urban IV. erhob 1264 dag
„Fronleichnamsfeſt“, weldes bisher in feinem ehemaligen Sprengel Lüttich
gefeiert worden, zum allgemeinen Kirchenfefte. Der Triumph des Glaus
bend an die Verwandlung der irdifchen Stoffe beim Abendmahl war ja
jelbftverftändlich der Triumph der Kirche felbft, welche durd, jenen Glauben
den Gipfel des Anſehens und der Madıt über die Gemüther erzeichte. Einen
ganz andern Sinn haben die „Kirchweihfefte”, welche von jeder Gemeinde
ſchon in derjenigen Beriode gefeiert wurden, wo ber Kirchenbau fich erſt recht
zu entwideln begann. Da wird nicht die Kirche als religiöfe Gemeinfchaft
verherrlicht, fondern die Erinnerung an die Einweihung des Kirchengebäubes
aufgefrifcht und die Freude am Cultus überhaupt auögetrüdt. Unter den
Kirchweihfeſten ift eins der befannteften das der „ Engelweihe“ zu Einftedeln
in der Schweiz. — Sehr einträglicy für die paͤpſtliche Curie wurde die Ein«
führung der „Subeljahre* durch Bonifaztus VIII., welder feftiegte, Daß
alle 100 Jahre den bußfertigen Befuchern der Apoftelfirchen in Rom, den
Mömern 30, den Bremden 15 Tage lang vollkommener Ablaf für die Sün«
den. des ganzen Lebens ertheilt werde. Das geſchah 1300 nah Chriſti
Geburt. Noch beſſer fpeculirten die folgenden Päpfte, von denen Clemens VI.
das Jubeljahr alle 50, Urban VI. alle 33 und Paul U. alle 25 Jahre
wiederfehren hieß. .
Nach der Neformation haben fih von den bier genannten Feſttagen
in der Iutherifchen Kirche erhalten der Kirchweihtag und der Allerfeelentag,
jegt Todtenfeſt genannt ; von den Heiligentagen, befonder8 in Würtemberg,
Peter und Raul, Johannis des Täufers Tag, Stephanus, Mariä Ber
Fündigung und Reinigung, anderwärtd auch Michaelis als Engel» und
4) Heraflius ließ das Kreuz auf Golgatha wieder aufrichten, daher „Kreuzer⸗
hoͤhung.“
144
Kinderfefl. Unter den Reformirten findet ſich nach größere Ungleichheit.
Bon den Heiligentagen, deren Feier bie und da geblieben ift, nennen wir Stes
pbanus, Johannes, Peter und Paul, Maria Verkündigung. Leitend bei ber
Abihaffung von Weiertagen war das Sichabwenden der Reformation vo
der Legende. Die meiften beibehaltenen Feſte und Heiligentage gründen fi
anf die heil. Schrift. — Die lutheriſche und reformirte Kirche feiern das
Jubiläum der Reformation, von 1517 an gerechnet. Erſtere hat ihre
jährliche Neformationsfeier tbeild am 31. Oktober, theils am 25. Juni;
die reformirte Schweiz, mit Ausnahme von Graubündten und Thurgau, am
Dreifaltigkeitöfonntag. — Die Baftenzeiten der Eatholifchen Kirche wurten
in den proteflantifhen auf Bußtage eingefchränft.
A.
In dem Gottesdienfte der erften Ehriftengemeinde zu Ierujalem fehen
wir bereits alle Hauptfeiten des @ultus, wie ihn die fpätere Entwicklung der
Kirche fortbildete, enthalten: das Gebet, die Predigt und bie Ver⸗
waltung der Sacramente. Die Chriftengemeinde machte damals
noch Elite große Bamilte aus, welche in den täglichen Liebesmahlen die Ge⸗
meinſchaft des leiblichen. und geiftigen Lebens zugleich barftellte. Der
Mpoftelgeichichte zufolge darf mit einiger‘ Sicherheit angenommen werben,
e8 habe in der apoftolifchen Zeit zweierlei religiöſe Berfammlungen gegeben,
bie einen zur Abhaltung der Liebesmahle, die mit Dankgebeten für bie ir«
diſche Speife und die Wohlthat der Erlöfung dur Chriſtus verbunden
waren und in der Beier des Abendmahles ihren Abichluß fanden, Die andern
zur Erbauung der Gemeinde durch Borlefen von Stellen des A. X. und Bors
träge derer, die fih vom Geifte zum Reden getrieben fühlten!). Bei den
Heidenchriften fcheinen bie Liebesmahle nicht fo häufig gefeiert worden zu
fein, obwohl fie auch bei ihnen mit dem Abendmahl verbunden waren.
Merkmürdig iſt der in Korinth eingeriffene, von Paulus gerügte Mißbrauch,
daß daſelbſt nach altgriechifcher Sitte bei Gaftmählern Jeder feine befondern
Speifen und Getränke mitbrachte und für fich allein genoß, wodurch ber-
1) Auch in den heidenchriſtlichen Gemeinden burfte früher reden, wer ſich dazu
getrieben fühlte, bis Paulus dem Redeeifer bes fchönen Gefchlechtes ein Ende machte
mit dem berühmten: ‚‚Taceat mulier in ecclesia!‘‘ (Das Weib fehweige in der Ges
meinte!) Bermuthlich fchien Gefahr vorhanden, es möchte der natürliche Redetrieb
der Frauen nach und nach mit dem Antrieb des Geiftes verwechfelt werden.
145
eigentliche Zwed der Agapen, die Darftellung brüderlicher Gleichheit Aller
durch Genuß der gleichen einfachen Speifen, vereitelt zu werben drohte 2).
Paulus war e8 ebenfalls, der dem „Zungenreden * in der Gemeindeverfamm«
lung ein Ende machte, weil dies für die Wenigften verftändliche Neben in
der Verzüdung, wobei der VBerzüdte ganz in fein eignes religiöſes Leben
verfunfen war und der Außenwelt völlig vergaß, nicht zur gemeinfamen Er⸗
bauung dienen fonnte, fondern in die Einfamfelt paßte ?).
Die Privathäufer, in denen die Chriftengemeinden ſich verfammelten,
entiprachen den jüdiichen Synagogen. Wehnli verhielt e8 ſich mit ber
Benugung de8 A. T. zur Erbauung auch diefe Art der Andachtsübung Schloß
fih dem jüdiſchen Eultus an, nur daß auch aus den Apofryphen des A. T.
vorgeleſen ward, ‚und mit der Schriftbetrachtung freie Predigt des Evange-
liums oder Vorleſen eines Paulinifchen Briefes, Letzteres freilich zuerft nur
bei den Heidenchriften, abwechfelte. Schon in der apoftolifchen Zeit ertön⸗
ten Lobgefänge, meift Pialmen, deren Gebrauch wieder dem jüdifchen Eul-
tu8 entlehnt war, wie denn Chriſtus felbft nach vollendetem Pafſſahmahl mit
den Jüngern einen Lobgeſang gelungen hatte Beim Scluffe des Lie⸗
besmahles, welches wahrjcheinlich aus dem jüdiſchen Paſſahmahl bervorges
gangen, ward zum Gedächtniß des Todes Chriſti und zur Erneuerung ber
geiftigen Gemeinichaft mit ihm) nach feinem Beifpiel das Brot gebrochen
und unter Alle vertbeilt, und der Kelch voll Weines machte die Hunde.
Das war die urfprüngliche Abendmahldfeier bei Juden = und Heitendriften.
Wo bereitd eine Chriftengemeinde befland, ward die Taufe Neubefehr-
ter ebenfalla in der Berfammlung vorgenommen und zwar auf den Qlauben,
daß Iefus der Chriſtus, Gottes Sohn fei. Darin allein fcheint urjprüng«
lich das bei der Taufe abzulegende Glaubensbefenntniß beftanden zu haben.
Das fogenannte apoftoliihe Symbolum ift bedeutend fpäter entflanden und
bat auch feine Geftalt mehrmals gewechielt, bis es fidh in der gegenwärtigen
Form firirte. Vor dem A. Jahrh. zeigen fich nur unſichere Spuren befielben.
Die ältefte Formel finden wir bei Marcellus von Ancyra (337). Sie ent«
2) 1. Ror. 11, 17—22.
3) Welches eigentlih die Sprache der „Zungenredenten“ geweſen, darüber if
man gegenwärtig noch nicht einig. Paulus erlaubt übrigens das Zungenreden in ber
Berfammlung unter der Bedingung, daß Leute mit der Gabe, es auszulegen, da feien.
4. Kor. 14, 27 und 28.
4) 1. Ror. 10, 16.
Scherr, Geſch. d. Religion. IM. 10
146
hält zwar bereitö alle Artikel, aber es mangeln noch viele nähere Beſtim⸗
mungen 5). Außer diefer brachten die folgenden Zeiten noch ſechs andere
Zormeln hervor, deren legte, dem griechiſchen Pfalter des Papftes Gregor J.
entnommen, das apoftolifche Bekenntniß in feiner gegenwärtigen Form mit
Ausnahme des Artifeld von der Höllenfahrt, flatt deſſen ein Hernieberfleigen
in die Unterwelt gelehrt wird, enthält, Unſer apoftolifhes Symbol flammt
mithin aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts. Die Kirche machte von die⸗
fem Glaubendbefenntnig Gebrauch bei der Taufe von Kindern und Katechu⸗
menen ; es ward auch bei der Abendmahläfeier und in der griechifchen Kirche
vollends bei jedem Gottesdienſt verlefen.
8.
Sehen wir im apoftolifhen Zeitalter den Cultus, als gemeinfames
Opfer der Herzen vor Gott, no im innigften Zufammenbang mit dem fitt«
lich⸗religiöſen Leben der Ehriften überhaupt, fo fängt in der nachapoſtoli⸗
. Shen Periode bereit die Trennung des Cultus vom fittlichereligiöfen Leben
an und das Folgende wird zeigen, daß mit ber wachlenden Entfaltung des
Cultus in Formelweſen und Schaugepränge auch jener Riß immer Elaffen«
der wird.
Daß die Abhaltung der Agapen auf den Sonntag befchränft wurde,
läßt fi zwar aus dem Anwachſen der Gemeinden begreifen; daß aber auch
eine Abſchwaͤchung der brüderlihen Liebe und des Gleichheitsgefühls zu den
mitwirfenden Urſachen gehörte, erhellt daraus, daß die Agapen ſchon zu
Anfang des 5. Iahrhunderts aufgehört Hatten. ine weitere Abweichung
treffen wir bei ber Feier des Abendmahles ſelbſt. Beror nämlich Die Ger
meinde betete um den heiligen Geift, Daß er ihr Brot und Wein zum Leib
und Blut Ehrifli machen möge, brachte fie mit feierlichem Lob⸗ und Dank—
gebet unter Emporhebung des Brotes und Kelches als finnbildlicher Zeichen
5). Wir feben es, aus dem Griechiſchen überfegt, zur Vergleichung hierher. —
„Ich glaube an den allmädhtigen Bott, und an Jeſus Chriftus, feinen eingebornen
Sohn, unfern Herrn, der gezeugt ift vom Heil. Geifte mit Maria, der Jungfrau, der
unter Pontius Pilatus gefreuzigt und begraben worden und am britten Tage aufer-
fanden ift von den Todten, emporgefliegen in die Himmel und fich gefegt hat zur Rech⸗
ten des Vaters, woher er Fommt, zu richten die Xebendigen und Todten; und an den
heiligen Geift, eine heilige Kicche, Berzeihung der Sünden, Auferftehung des Fleiſches,
ewiges Leben.‘
147
fi ſelbſt Gott zum Opfer bar, ein Uct, welcher in der apoſtoliſchen Zeit
nicht vorfam und in ein einzelnes Moment des Gottesdienſtes zuſammen⸗
drängte, was eigentlich der Brundgedanfe des ganzen Botteßdienfled war.
Die noch vorhandenen alten Liturgieen 1), in ihren Beſtandtheilen ge⸗
hörig geficdhtet, fowie die betreffenden Stellen der Kirchenväter laffen erfen-
nen, daß damals der Gottesdienſt fchon ziemlich weitläuftg eingerichtet und
genau formulirt war. Wir verfuchen in Kürze ein Bild von bemfelben zu
entwerfen.
Der Gottesdienft hatte drei Hauptbeftandthbeile, den erbaulichen, an
welchem allein auch die Katechumenen und Büßenden theilnabmen, fodann die
Anbetung oder dad Opfer, endlich die Beier ded Sacramented. Der erfle
Theil begann mit Gebeten für die Katechumenen, die Büßenden und bie
eigentlichen Gemeindeglieder, auch für tie Befeflenen, wenn eö deren gab.
Der Geiftliche betete laut vor, die Gemeinde befräftigte fein Gebet mit lau-
tem Amen oder fonft entiprechenden Worten. Hierauf folgte die Vorlefung
aus der Heil. Schrift bald des alten, bald des neuen Teflamented, woran
Auslegung und Ermahnung ded Geiftlichen fih anſchloß. Die jeweilige
Taufe Scheint am Schluß des erſten Saupttheild vorgenonmen worden zu
fein; denn bevor das „Opfer * begann, mußten die Ungetauften und Büßen-
den fihh entfernen. Worin das Opfer befland, haben wir bereits angeführt.
Es ward eingeleitet mit einem kurzen Segensſpruch über die Gemeinde,
welche denfelben erwieberte, Nun Fam die gegenfeitige Begrüßung mit dem
heiligen Kuß?) und hierauf die Collecte für die Armen 3), meift in Lebens⸗
mitteln beftehend, aus welchen dann Brot und Wein für da8 Opfer und das
Abendmahl ausgefondert wurden, Das Opfer ſelbſt, Euchariſtie, d. h.
Dankfagung, genannt, ward von dem Geifllihen im Namen ber Gemeinde
an einem Tifch, ber ald Altar diente, dargebracht. Das Opfergebet begann
mit der Präfation, einem Wechſelgeſpräch zwifchen dem Geiftlihen und der
Gemeinde. Rad dem erfien Opfergebet fang oder ſprach Die Gemeinde
die Worte des jefaia’fhen Lobgeſangs: „Heilig, heilig, heilig iſt der Herr
— —
1) Liturgie (Asszovpyle) griechiſches Wort für Dienſt im Allgemeinen, Gottes⸗
dienft im Befonderen.
2) Die Geſchlechter fagen aber von einander gefondert.
3) Die Eollecte für die Armen, welche im apoftolifchen Zeitalter in ganz freier
Weile außerhalb der Berfammlung ftatt Hatte, ift hier bereite zum Cultus geworben.
Die Folgen ließen nicht auf ſich warten.
10*
148
Bott Zebaoth! Himmel und Erde find feiner Ehre voll d)!* War der Lob⸗
gefang verflungen, fo erinnerte der Geiſtliche, wie Chriſtus das Gedaͤchtniß⸗
mahl feines Todes eingefegt habe mit dem Befehl, bei jedem Genuß deſſel⸗
ben feinen Tod und feine Auferfiehung zu verfündigen, worauf die Gemeinde
dies in kurzen, feierlichen Worten that. Die Opferbandlung endete mit
der allgemeinen Zürbitte für die Kirche, die Berfolgten, die Kranken, jelbft
für die heipnifche Obrigkeit, und dem Gebet des Herrn. Jetzt erfi kam
als dritter Haupttheil die eigentliche Kommunion, wobei Brot und Wein
unter Abfingen von Hymnen auögetheilt wurden. Mit Dank⸗ und Segend-
gebeten fchloß die Communion. Weil man das einmal gefegnete Brot von
der Kraft des Logos durchdrungen glaubte, ward ed den bei der Gommunion
nicht Anwefenden zugefandt. — Die Taufe beftand damals noch allgemein
im Uintertauchen des Täuflings. Mit ihr verband ſich bereits der Erorcid-
mus, d. 5. dad Herausbeſchwören des Teufeld aus dem Täufling, weldhes
die Iutherifche Kirche beibehalten hat. Mochten das Abſchwören des Götzen⸗
dienfteß bei der Taufe und Die Erinnerung an das Teufelaustreiben durch
Chriftus zur Entflehung des Erorcismus mitwirken, der Hauptentſtehungs⸗
grund defielben Liegt jedenfalls in der damaligen Lehre, daß der Teufel das
Eigenthumorecht über jeden Menſchen befige, der nicht durch Chriſtus erlöſt
worden. Zugleich ward die Taufe theild in Nachahmung der jüdiichen Be⸗
fihneidung, theild um die Wiedergeburt befehrter Heiden und Juden durch
Beränderung des Namens außzudrüden, zum feierlichen Anlaß der Namend«
ertheilung. Da in jener Beit die Kindertaufe noch nicht allgemein und bie
Bahl der Neubekehrten groß war, fo bildeten die noch lingetauften, aber
dem Chriſtenthum Zugewandten eine eigne Klafje, die der Katehumenen.
Dieſe wurden in der äriftlichen Religton mit Zugrundelegung der bei der
Taufe auszufprechenden Befenntnipformel unterwiefen. — Schon in den
Tagen der Apoftel war die Taufe keineswegs immer mit der Handauflegung
verbunden 5), die apoftolifchen Väter verbanden dieſe Handlungen gewöhn-
lich mit einander. Als jedoch das Anfehen der Bifchöfe flieg, nahmen fie
die Handauflegung, durch welche der heilige Geift mitgetheilt werden follte,
als ihr ausſchließliches Vorrecht in Anſpruch. In Folge deſſen Fonnte fie
mit der Taufe nur noch verbunden werden, wenn der Bifchof taufte; früher
4) Sefaia 6, 3.
5) Apoſtelgeſch. 8, 14—17.
149
oder fpäter ward fle aber jedem Betauften ertheilt als „Befräftigung * der
Taufe, Iateinifh Birmelung‘), Schon in der älteflen Kirche wurden bie
Neophyten nach der Taufe mit wohlriehendem Del (Chriſam) gefalbt zu Strei-
tern Chrifti, Im der griechifchen Kirche blieb die Salbung durch den ge⸗
meinen Priefter gleich nach der Taufe; im der römifchen ward fie mit der
Firmelung verbunden unt aljo dem Bifchof zugetheilt. Auch Die Beizies
hung von Pathen ald Zeugen der Taufe flammt aus der nachapoftolifchen
Periode. Bei erwachfenen Täauflingen bürgten fie für deren Aufrichtigkelt,
bei Kindern für eine chriſtliche Erziehung.
Bereits hatte auch die Ehe, weil von Chriſtus ausdrücklich geheiligt,
ihre beſondere Einſegnung, welcher, wie heutzutage noch, die Promulgation
voranging. Die Brautleute wurden nach vollendeter Communion vom Geiſt⸗
lichen vor verſammelter Gemeinde getraut. In die naͤmliche Zeitperiode
weiſen die mit kirchlichen Feierlichkeiten verbundenen Leichenbeſtattungen zu⸗
rüd. Am jeweiligen Todestage eines lieben Hingeſchiedenen ſpendete man
in ſeinem Namen für die Armen oder den Altar, damit ſeines Namens im
Kirchengebet Erwaͤhnung geſchaͤhe. Vom Ende des 3. Jahrhunderts an
wurden, in Erinnerung an altheidniſche Sitte, auf den Gräbern der Mär-
tyrer Mahlzeiten gehalten, wogegen die Kirche lange Zeit zu kämpfen hatte;
denn fie felbft hielt auf den Gräbern der Märtyrer fürmlichen Gottesdienft
unter Geſang, Vorlefen der heiligen Bücher und Gebet um die Fürbitte die-
fer VBollendeten, wie ſchon Cyprian berichtet.
6.
Mit der Erhebung des Chriſtenthums zur Staatöreligion begann das
Hineindringen.der großen Mafjen in die Kirche, dad äußerliche Chriſtwerden
jener gegen das Religiöfe innerlich Gleichgültigen, welche auf Befehl des
Fürſten eben -fo gehorfam den Unendlichen anbeten, wie fle den Priap
füflen. Dies der Erflärungsgrund, warum die bereitd in den Cultus ein«
gedrungenen heidniſchen Elemente von 312 an immer mehr die Oberhand
gewinnen.
Die abergläubigften Vorftellungen mußten in den Cultus eindringen durch
Beiſpiele, wie das des Konſtantinus, welcher ſich mit keinem andern als dem
Waſſer des Jordan wollte taufen laſſen. Daß nicht blos die an das gelobte
6) Bon firmare, bekraͤftigen.
150
Land ſich anfnüpfenden Heiligen Erinnerungen e8 waren, welche die Wallfahr-
ten dahtn hervorriefen, bezeugt der Ausfpruch bes Hieronymust), „nicht das
fet löblich, nur in Serufalem geweſen zu fein, ſondern in Serufalem gut ge=
lebt zu Haben.” Aus den Wallfahrten gingen, wahrfcheinlich Durch den
Einfluß des Biſchofs Ambroſtus von Malland zum allgemeinen Firchlichen
Eultact geworden, die Proceſſtonen oder Bittgänge hervor, ein Brauch, wel⸗
her ſchon im Heidenthum vielfach geübt worden und noch jetzt gelibt wird.
Einft war man unter Vortragung der Götterbilder um die Felder gezogen,
Sructbarfeit zu erflehen; jegt z0g man unter Vortragung des Kreuzes,
fpäter auch der Seiligenbilder und Reliquien, um die Kirchen, an nähere
oder entferntere Orte, um Verzeihung der Sünden, Abwendung oder Auf«
hören der göttlichen Strafgerichte zu erbitten.
Die Kaiferin Mutter, Helena, gab durd ihre Auffindung des vorgeb⸗
Itchen Kreuzes Chrifti dad Signal zum Neliqwienaberglauben, welcher den
angeblichen Kleidern, Gebeinen und andern Veberreften Chriſti und der
Heiligen magiſche Kräfte zuſchrieb. Erft im Mittelalter jedoch wurden bie
Reliquien zu förmlidrer Verehrung in den Kirchen aufgeftellt. — Gegen die
einreißende Verehrung ber Chriftus= und Heifigenbilder durch Niederfallen
und Anbeten eiferte fhon Auguſtinus. Welchen vergeblichen Kampf fpäter
die griechifchen Katfer dagegen unternahmen, haben wir oben erwähnt. Nom
begünftigte hier und immer das Eindringen des Heidniſchen in den chriftlt«
hen Eultus aus „Mitleid mit der Schwäche des unmündigen Volkes“, aus
„pädagogiichen Rückſichten.“ Danf dem Heiligen Umbroflus ward aud die
Anrufung der Engel in den Eultus aufgenommen, weil es unbillig ſchien,
ihnen geringere Ehre zu erweifen, als den Heiligen, um fo unbiliiger, da
man bereits nicht allein Märtyrer zu verehren anfing, fondern auch Solche,
die während ihres irdifchen Dafeins theils durch auffallende Frömmigkeit,
theils durch ausgeſuchte Selbftpeinigungen oder Welffagungen u. dergl. die
Bewunderung ihrer Zeitgenoffen erregt hatten.
Gheterbild und Göttermythus, Hetligenbild und Heiligenlegende, das
läuft einander aufs Schönfte parallel. Es ift daher begreiflih, daß beim
Beginn der Bilderverehrung agch die Erfindung von wunderbaren Geſchich⸗
ten über die Heiligen zur Blüthe gedieh, zumal ſchon die faljchen Evange»
4) Gebürtig aus Stridon, Vorfteher eines Vereins von Eremiten und frommen
„Grauen zu Bethlehem, 331—420.
151
Hen vurch ihre Erzählungen über Chriftus ſelbſt an den Tag gelegt hatten,
wie man kindlich und fromm dichten könne. Das Mittelalter benugte dann
bie ſchon vorhandenen Legenden vielfach zur Erbauung der Gemeinde anflatt
der Predigt über die heilige Schrift, ja feine Mönche Teifteten das Unerreich⸗
bare in felbfleigener Erfindung neuer Legenden über ihre Ordensheiligen.
— Im Uebrigen charakteriſirt e8 den Unterſchied zwifchen dem Cultus ber
griechifchen und dem der römiſchen Kirche während des Zeitraumd vom 4.
bis 11. Jahrhundert, daß in erfterer das erbaufiche, in letzterer das Titur«
gifche Element vorzuherrichen begann. Die griechifhe Geſchwaͤtzigkeit gefiel
fi in fünftlichen, prunkhaften Predigten über die fhlichten Worte der Schrift
und die Kunft des Redners Iohnte lautes Beifallklatfchen feiner gleichgeſtnn⸗
ten Gemeinde. Die römiſche Kirche ihrerſeits hatte den Kirchengeſang,
vornehmlich durch die Bemühungen des Ambrofius, zu einer anerkennens⸗
werthen Stufe fortgebilvet, und feſtſtehende Formeln für das Gebet, für die
Spendung ber Sacramente, für die Wechfelreden zwiſchen dem Geiſtlichen
und der Gemeinde (Kitanei), kurz eine vollftändige Liturgie, geſchaffen.
Aus Altherkömmlichem und neu Hinzugefügtem hatte in der Mitte des
5. Jahrhunderts ſchon Leo der Große ein vollſtaͤndiges, Sacramentarium“
zuſammengeſtellt und ſich bemüht, demſelben allgemein kirchliche Geltung zu
verſchaffen. Mit einigen durch tie Paͤpſte Gelaſius und Gregor I. anges
brachten Veränderungen warb es endlich unter Gregor M. zu allgemeiner
Geltung in der abendlaͤndiſchen Kirche gebracht. Da erft durch dieje Litur⸗
gie die Schlußworte der heiligen Handlung: Ite, missa est! allgemein ges
bräuchlich wurden, fo fdheint das Abendmahl mit dem von diefen Worten
dbgeleiteten Namen „Mefle* erft damals allgemein bezeichnet worden zu
fein. Gregor VI. war es auf, welcher den Völkern des Abendlandes
fammt jener Liturgie das Latein als ausſchlfeßliche Sprade des Tirchlichen
Eultus aufzwang. Nur die Predigt blieb der Landesſprache überlaffen und
ward fpäter von den deutfhen Myſtikern mit großem Erfolg in der Volks⸗
ſprache gehandhabt. Obwohl nun die genannte Liturgie ald vom Apoftel
Petrus überliefert galt, ſahen fih die fpätern Päpfte doch gendthigt, viel⸗
fache Aenderungen an derfelben vorzunehmen, beſonders nachdem durch den
volländigen Sieg der Transfubftantiationsichre daB Meßopfer zum Mittels
yunft des ganzen Gottesdienſtes geworden war. Es müßte jedoch für uns
fern Zweck zu weit führen, die ganze römifche Liturgie, wie fie ſeitdem im
Geltung geblieben, näher darzuſtellen. Die beſte Kenntniß davon gewinnt
152
man durch eigne Anſchauung des katholiſchen Gottesdienſtes. Wir führen
nur noch an, daß die Seelenmeſſen ſchon vor der kirchlichen Feſtſetzung der
Verwandlungslehre eingeführt wurden, daß im 12. Jahrhundert, um ein
Berfchütten des Blutes Chriſti zu verhüten, den Laien der Kelch allmälig
entzogen ward?) und daß, was das Erhauliche angeht, nach der Reforma⸗
tion auch in der Fatholiichen. Kirche die Predigt nach Stellen der Schrift
wieder zu höherer Geltung gelangt iſt.
In Hinfiht des Cultus hat Die Reformation nicht eben zur apoftoli-
ſchen Zeit zurüdgeführt. Statt des Sacramentes ward die Predigt nad
Texten der Schrift zum Hauptflüd und Mittelpunft eines jeden, felbft des
Feſtgottesdienſtes. Die Abendmahlsfeier zog ſich auf beftiinmte Befttage
zurück. Die liturgiſche Einheit hörte auf; jede der Iutheriichen oder refor«
mirten Landesfirchen befigt nun ihre eigene Liturgie, faft jede ihr eigenes
Geſangbuch. Während in der fatholifchen Kirche der Volksgeſang mehr,
wenn nicht ganz zurüdigetreten ift, herrſcht er allein im Iutherifchen und re=
formirten Gottesdienſt. Spuren der Litanei finden ſich gegenwärtig in
Preußen. Das Abendmahl wird bei den Lutheranern am Altar empfangen
(wandelnde Communion), auch hier und da in der reformirten Kirche; in
etlichen Landeskirchen der Iegtern wird e8 von Bank zu Bank ausgetheilt
(figende Communion). Un die Stelle der Firmelung dur den Biſchof
trat in der proteflantiichen Kirche die Confirmation als feierliche Be⸗
flätigung des Taufbefenntniffes durch die nach empfangenem Unterricht mün«
dig gewordene Jugend. Der Abendmahlsgenuß vor der Trauung wurde
abgeichafft. Leichenreden eriegen nun bie Todtenmeflen. Gin Verſuch der
preußiſchen Regierung, eine gemeinjchaftliche Liturgie (gende) für die unirte
Iutherifchereformirte Kirche berzuftellen, iſt an dem theologifchen Parteigeift
unfered Jahrhunderts geſcheitert.
7.
Chriſtus ſelbſt, der den Vater im Geift und in der Wahrheit anbeten
lehrte, hatte ed nicht verfchmäht, bei der Stiftung feines Gedaͤchtnißmahles
2) Zur gleichen Zeit wurden die noch ungefirmelten Kinder vom Abendmahl
ausgeſchloſſen. Seit die Kindertaufe allgemein geworden, hatte man nämlich die
Kinder zum Abendmahl gelaflen. Diefe Verfügung war alfo nur eine Ruͤckkehr zur
alten Katehumenenordnung. — Damit vom Blute Chriſti Nichts vergeudet werde,
mußten nun auch die Schnurrbärte der Priefter befeitigt werden. |
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fowohl ald in feinen Gleichniſſen an die finnlihe Auffaffung des Menjchen
anzufnüpfen. Denn in Sachen der Religion bat auch die Sinnlichkeit ihr
Recht, gerade in dem Maaße, als fie geeignet ift, religiöfe Gemüthsftim⸗
mungen zu erwedfen oder wenigftens zu erhalten und zu fördern. Da fid
nun bie Kirche von Anfang an ald eine Erziehungsanftalt zum religiöfen
Glauben und Keben betrachtete, fo Fonnte fle im Eultus, ihrem Hauptmittel
zur Erreichung dieſes Zweckes, der Sinnlichkeit ihr Recht nicht vorenthalten.
Daß fie jedoch dieje Berechtigung der Sinnlichkeit nach und nad zu weit
ausdehnte, in ihrer Geflaltung nad der Reformation hingegen zu fehr bes
fchräntte, wird unfere Betrachtung der äußerlichen Erfcheinung des Eultus
zeigen. Zu dieſer rechnen wir die Ogte feiner Ausübung, Die dazu ges
brauchten Geräthichaften und Stoffe, und die dabei vorgenommenen Geremo«
nien, von denen wir hier freilich nur der wichtigſten gedenken fünnen. Ihre
vollftändige Aufzählung und Gefchichte würde ein dickes Buch füllen.
Wie bereitd angeführt worden, veriammelten fidh die erſten Chriſten
in Privathäufern, zu Rom während der Verfolgungen oft in den Katakom⸗
ben, engen, unterirdifchen Höhlen und Gängen, welche urfprünglic Puzzo⸗
langruben gewefen waren und Dad Hauptmaterial zu dem feflen Mörtel der
Römer geliefert hatten. Bald wurden einzelnen Chriften ihre geeigneten
Häufer abgefauft, um biefelben zu Verſammlungsorten herzurichten. So
ein Xocal erhielt dann, weil man den beidnifchen Namen Tempel noch
fcheute, Eurzweg den Namen Ekkleſia, Verſammlung der Auserwählten,
Es waren große, von Säulen geflügte Säfe, in welchen fih ein erhöhter
Plag für die öffentlid) Redenden und Betenden und ein einfacher Tifch zur
Qustbeilung des Abendmahles befand. Zu Anfang des 3, Jahrhunderts
erhoben fi die erſten Kirchen. Unter den Kaifern Philippus Arab und
Gallienus, welche den Chriften Ruhe ließen, nahm der Kirchenbau einen fo.
allgemeinen Aufihwung, daß Diocletian bereit wahre Prachtgebäude vor«
fand, als er die Zerftörung der Kirchen befahl. Schon fehr frübzeitig Hatte
man die Kirchen mit Vorliebe über den Gräbern berühmter Märtyrer erbaut
und daher heißen folche Botteshäufer in der griechifchen Kirche Martyrien,
in der römiihen Memorien. Die practvollften und zahlreichſten Kirchen
erhoben fich aber erfi nad) dem Siege des Chriſtenthums über das Heiden-
thum. Da wurden auch die fchönften heidniſchen Tempel in chriſtliche Kir⸗
chen umgewandelt, in Rom z. B. das Pantheon und die Tempel der Veſta,
der Fortuna, des Saturn, des Romulus und Remus und des Kaiſers An⸗
154 B
toninus. Bezeichnend iſt dabei, Daß den Göttern und Heroen, welchen jene
Tempel geweiht geweſen, entſprechende Heilige im Beſitze folgten. Das Pan⸗
ſheon weihte Bonifazius IV. der ſeligſten Jungfrau und allen Heiligen.
Marta erhielt die Tempel der Veſta und der Fortuna, Die Maͤrtyrerbrüder
Kosmas und Damlanus bezogen den Tempel des Romulus und Remus,
Auch die fhönften Baſiliken 1), urfprünglih zu öffentlichen Gejchäften
beftimmte Prachtgebaͤude der Römer, wurden von Konftantin an in Kirchen
verwandelt. Die Baftlifa war ein Tängliches Viereck, von doppelten oder
vierfahen Säulenreihen der Länge nad durchzogen, und enbdigte in ein
Halbrund. Das ward nun fo ziemlid die allgemeine Bauart audı der neu
errichteten Kirchen. Auc den Namen empfingen die Gotteshäujer von ben
Baſtliken, freilich mit der Deutung beffelben in ten Sinn: „Haus des Kö—
nigs aller Könige.” Uebrigens wurden bie Kirchen auch anders genannt,
in der griechiſchen Kirche Kugsaxn (oöxda) — woher der Name Kirche —
d. 1. Haus des Herrn, gleichbebentend mir dem lateinifchen Wort Dominica,
abgefürst Dom. Es Tag der Form der Bafllifa nahe, dem Bauſtyl der
Kirche das lateiniſche lange Kreuz zu Grunde zu legen. Der untere Theil
des laͤngern Kreuzſchenkels bildete daB eigentliche Schiff der Kirche, in wel⸗
ches man von Abend her eintrat. Gegen Morgen, am obern Theil des
Kreuzes fland das Sanctuarium oder Helligthum, wo der Altar, Hinter ihm
die Site der Gefftltchen und eine oder zwei Kanzeln flanden. Kleinere
Kirchen hatten die ebenfalls altheidmifcdhe Geſtalt der Rotunde. Die Ver=
Bindung derſelben mit der Baftlifa rief jene großartigen byzantiniſchen Bau⸗
ten hervor, üßer deren Kreuzdurchſchnitt ſich als Sinnbild des Himmels eine
hochgewölbte Kuppel erhob. In der griechiſchen Kirche hatten aber damals
auch nicht wenige Gotteshaäuſer das gleichſchenkelige griechiſche Kreuz zur
Grundlage. Daß man in alle Kirchen von Abend her eintrat und die Ge—
meinde ihr Antlitz gen Morgen zu richten genöthigt war, hatte feinen ſtun⸗
bildlichen Grund. Es follte dadurch daran gemahnt werden, daß Chriftus,
die Morgenfonne des neuen geifligen Tages, im Ortent erfchienen und, wie
Baſilius fagt, daß das Paradies, welches wir erftreben, einft von Gott im
Morgenland erfchaffen worben ſei. Im Allgemeinen Hatte damals jede Kirche
1) Basilica nach Vitruv (V, 1) ein öffentliches Gebäude am Marft, beſtimmt
zur Ausübung der Rechtöpflege, auch Handelszweden dienlid, im Innern mit doppels
ten Säulengängen verfehen. Das urfprünglich griehiiche Wort (BaosAsxös) bedeutet
bekanntlich Föniglich, Baoskın (odxia) Eönigliche Wohnung, Palaſt.
" 155
vier Abtheilungen, welche die vier Hauptklaffen ver Ehriften darſtellten:
1) den Borhof für die Büßenden und Katechumenen, 2) den eigentlichen
Tempel oder die innere Halle für die vollberechtigten Gläubigen, 3) den
Chor für die Sänger und niederen Kirchendiener, und 4) das Heiligthum
im engern Sinne, wo gebetet, gepredigt ımd die Spendung der Saeramente
vorgenommen wurde. Dad Heiligthum war durd Schranken "und Bor
Hänge vom übrigen Kirchenraum getrennt. Der erhöhte Stuhl (Kathebra)
des Biſchofs ftand Hinter dem Altar, rechts von ihm die Stühle der Priefter,
links die der Diafone. 0
Bereits auch waren die Wände der Kirchen mit Bildern auß der heil.
Geſchichte ausgeſchmückt. Selbſt die Dreieinigfeit wurde abgebilbet: Gott
Bater in Geftalt eines Greiſes, Chriſtus als Lamm oder auf einem Lamme
ſtehend, der heilige Geiſt nach einer Stelle des Johannisevangeliums (1, 32)
in Taubengeſtalt. Dieſe Bilder waren gemalt oder in Moſaik eingelegt und
wurden noch nicht verehrt. Erft die halberhabenen Bilder und vollends
die Statuen riefen die Bilderverehrung hervor, da ſte entſchiedener zu finns
licher Erfcheinung famen und daher dem finnlich « religiöfen Bedürfniß mehr
fihmeichelten. Uebrigens bezeichnete Die Kirche, plauflbel genug, die Kirchen⸗
bilder ald „die heiligen Schriften Solcher, welde nicht leſen könnten.“
Buerft fanden fih die Bilder der Märtyrer nur in den Maͤrtyrerkirchen.
ALS aber die Heiligenverehrung überhand nahm, füllten ſich alle Kirchen mit
ihren und anderer Heiligen Bildnifſen. Zu Verzierungen der Kirchen wur⸗
ben auch rein ſymboliſche Bilder, wie der Sich, das Lamm, der Weinſtock,
der Adler u. a. m. angewendet. Das Kreuz war zur Zeit Konflantins des
Großen zu Rom und in andern Stäbten auf den Marktpläben aufgerichtet,
zur Zeit des Chryſoſtomus begegnete es Einem bereitd auf allen Wegen ımb
Stegen.
Wie fih der Kirchenbau vom 7. Jahrhundert an weiter entwicelte,
wird das Kapitel von der Ariftlihen Kunft nachweiſen. Hier nur noch
dies: — Ie mehr die Predigt im Cultus zurüdtrat, defto weniger wurde
beim Kirchenbau auf die akuſtiſchen Verhältnifie Rückſicht genommen. Auf
der Höhe ihrer Entwicklung ſchien es die Firchliche Baufunft weſentlich dar⸗
auf abgeiehen zu haben, daß in den weiten Domen gleichzeitig möglichft
viele Meſſen gelefen werden könnten. Begreiflich mußten daher die Kirchen
nad) der Reformation wieder zur Grundgeſtalt einfacher Hörfaͤle zuruͤckkeh⸗
ven, damit der Hauptzweck des proteftantifthen Cultus, die Predigt, mög⸗
156 ®
lichſt gefördert werde. — In der älteren Beit ward bin und wieder durch
Sammerichläge auf Metall zum Bottesdienft eingeladen. Im 7. Jahrhun⸗
dert ertönten zum erflen Mal Kirchengloden und fie find vielleicht die erfte
Beranlafjung zur Errichtung von Kirchthürmen geweien. Eins der mäd-
tigflen Mittel, auf die Sinne der Gläubigen zu wirken, waren fie jedenfalls
und find ed jetzt noch. Erſt mit den Glocken Täutete die Kirche ihren vollen
Triumph ein.
8.
Schon im 2. Jahrhundert ward der Zifch, worauf dad Abendmahl
verwaltet wurte, wegen des der Communion vorangehenden Dankopfers
Altar genannt. - Anfangs waren diefe Tifche von Holz oder Stein und
wurden nicht geweiht. Von Konftantin an famen die mit Bold, Silber
und Edelſteinen verzierten Altäre auf. Pulcderia, bed Theodofius Schweſter,
ſchenkte fogar der Kirche zu Konflantinopel einen ganz goldenen Altar, und
vom Beginn ded 6. Jahrhunderts an wurden die Altäre auch eingeweiht.
Inder Folge gingen fie über die einfache Form eines Tifches hinaus und
wurden mit Eoftbaren .Teppichen und entlich mit Reliquien, Heiligenbildern
und Blumen belaftet. Im 6. Jahrhundert, ald das Mefjelefen überhand
nahm, wurden mehrere Aktäre in einer Kirche errichtet und fie mehrten ſich
allmälig dermaßen, daß im 8. Jahrhundert Karl der Große die Errichtung
„überflüffiger Altäre“ verbieten mußte, Die heiligen Gefäße, deren man fich
von Anfang an zur Beier des Abendmahls bediente, waren der Kelch und
die Brotjhüffel (voran, patena). Zuerſt unſcheinbar an Stoff und
Form, wurden fe befonders unter dem prachtliebenden Konftantin häufig
aus Gold und Silber verfertigt. Die Spezialgefchichte diefer Kirchengeräthe
und der mit derielben eng zufammenbängenden Berwandlungslehre enthält
eine Maſſe jublimen und fubtilen Blödfinns, womit wir und weiter nicht
befafien wollen 1). Seit dem 13. Jahrhundert hörte das bedeutungsvolle
Brotbrechen bei der Communion auf, weil dad Brot zu ganz Heinen Oblaten
gebacken wurde, damit vom Leibe Chrifti Nichts verunehrt werde. Geit Die
Mefle ald Opferung des Leibes Chriſti Durch den Priefter betrachtet wurte,
heißt da8 Abendmahlsbrot Oblara (Opfer, vom lat. offerre) oter Hoftie
— — — — — —
1) So verbot z. B. die Synode ‚von Tribur (895) ben Gebrauch hoͤlzerner
Abendmahlskelche, damit „das Holz nicht fuͤrder Chriſti Blut einſauge.“
157
(eigentl. Opferthier). Die Proteftanten haben, um das Brotbrechen mög⸗
lich zu machen, wieder größere Brotlaibchen eingeführt. Die feierliche Ems
porhebung der Hoftie bei der „ Wandlung * in.der Meſſe laͤßt fich bis ins
10. Jahrhundert zurücdverfolgen und ſchon im 12. Jahrh. gab bei dieſer
„&levation * eine Glocke den Gläubigen das Zeichen zur Anbetung der Ho⸗
ftie, zuerft im Erzbischum Tours, bald darauf in der ganzen römiſchen
Kirche. Durch dergleichen Neuerungen im Eultu8 pflegte man die kirch⸗
liche Feſtſetzung einer biäher beftrittenen Lehre, im gegebenen Ball der
Trandfubftantiationdlehre, norzubereiten.. Wurden fle von ber Maffe gut.
aufgenommen, fo wagte man getroft auch die entipreihende Neuerung in der
Lehre 2),
9.
Im Vorhofe der Baſiliken befanden fih Brunnen oder fonftige Waffer-
fammler, daneben Kanne, Becken und Mufchel, damit der Chrift vor dem
Eintritt ind Gotteshaus feine Hände wajche, mit reinen Händen ben Leib
des Herrn zu empfangen. Mit dem Verſchwinden der Vorhöfe vom 7. Jahr⸗
Hundert an fand die Waſchung in einem Becken innerhalb der Kirche ftatt.
Der heilige Ort verlieh im Volksglauben dem darin befindlichen Wafler eine
befondere Weihe, jo daß zum Bwede der Reinigung ein bloßed Belprigen
mit demfelben hinreichend ſchien. Die Priefter, welche dem Teufel nicht
bloß eine Herrfchaft über den natürligen Menfchen, fondern aud über die
Elemente der Natur beizumelfen anfingen, gingen noch weiter und weißten
das Sprengwafler durch Auötreiben des Teufels unter Beichwörungsformeln.
2) Die Geftaltung der Transfubftantiationsichre in der römifchen Kirche gab
einen Hauptflügpunft für Hierarchifche Anfprüche ab. Es wurde von biefem Punkte
aus während des Mittelalters das Unglaublichfte behauptet und angeftrebt. So ver-
bot auf einer Synode vom Jahre 1099 Papft Urban, daß irgend ein Geiftlicher in ein
Dienftverhältniß zu einem Laien träte, weil es fhändlih wäre, daß hochheilige Pries
fterhände, weldhe — was nicht einmal einem Engel vergönnt fei — in der Mefle „ven
allmädtigen Gott felbft fabrizirten“, Laienhänten dienfibar wären, welche
täglich und nädtlich durch unfaubere Berührungen befleckt würden. — Webrigens
hegte und predigte noch der Hofprebiger Ludwigs XIV., der befannte Sefuit Bourdaloue,
ganz diefelbe Anficht. Den Prieftern, meinte er, gebühre größere Ehre als der Sung-
frau Maria, weil Jeſus Chriftus, unfer Bott, im Leibe der Jungfrau Maria nur eins
mal Fleiſch geworden, während er tagegen in den Händen ber Priefter tagtägli, fo
oft fie Meſſe läfen, Fleiſch werde.
158
Vergebens eiferten angejehene Kirchennäter dagegen als eine heibnifche
Uebung 1); die Befprengung der Gläubigen durch den Priefler mit dem
Weihwedel, dad Sichbetupfen mit Weihwafler in Borm des Kreuzes ward
zulegt allgemeiner Cultusbrauch.
Waren in den Tagen der Verfolgung die Chriften oft genöthigt ge«
weien, ihre nächtlichen oder unterirdiichen Zufammenkünfte mit Lichtern
fünftlih zu erbellen, jo bewog das Wohlgefallen am Lichtglange und ſinn⸗
bildliche Deutung der brennenden Lichter auf Ehriftus, das „Licht der Welt“,
die zur Herrſchaft gelangte Kirche, die Lichter auch am hellen Tage für ihren
Gottesdienſt beizubehalten, und das Eonftantinifche Zeitalter zeigte feine
Prachtliebe in Anfhaffung Eoftbarer Kirchenleuchter 2). In fpäterer Zeit
fam die „ewige Lampe” auf, wahrfcheinlich veranlaßt durch das Gleichniß
Ehrifti von den zehn Jungfrauen. WIE die Heiligen vollftändig die Stelle
der alten Bötter eingenommen und zu Nothhelfern der Gläubigen gewor-
den waren, fing man an, Wachskerzen ald Opfergaße vor ihren Bildern zu '
verbrennen; man that ihnen auch Gelübde und widmete ihnen nad Erfül«
lung gewifjer Wünſche oder nach Rettung aus Gefahren Votivtafeln.
Die innerliche, aber nur deflo wirkfamere Reaction des Juden- und
Heidenthums gegen daß flegreiche Chriſtenthum knüpfte endlich felbft an den
Geruchsſinn der Gläubigen an. Noch der Kaiſer Theodoſtus hatte jeden Ge⸗
brauch des Weihrauchs felbft im Privatleben aufs Strengfte unterfagt.
Was Half e8? Im 5. Jahrhundert hauchten bereits Käftchen und hohle
Thierbilder ihre Weihrauchdämpfe über den Uktar, das Opfer und Die Prie-
fir. Im 12. Jahrhundert famen die jchwingenden Rauchfäfſer auf, womit
man die Reliquien und Heiligenbilder, Altar, Opfer und Priefter beräu—
herte. Man gründete dieſe Ceremonie auf das A. T. und die Offenbarung
Johannis (8, 3—6). Die proteftantifche Kirche hat-all dies Prächtige und
Sinneberaufhende des Cultus entfernt. Befonderd die Bilderflürmer ver
1) Juſtinus Martyr bezeichnete diefelbe noch als eine Erfindung der Teufel zur
Nachäffung der Taufe. Was zu feiner Zeit erft vereinzelt vorfam, flegte fpäter durch
den Nberglauben der Menge und deſſen Pflege durch die Priefter. Wirklich hatten die
Heiden bei der Pforte ihrer Tempel heiliges Wafler zum Beſprengen, auch Weihwebel, -
womit ihre Priefter das Volk befprengten.. Das Wafler wurde mit Salz gemifcht und
ebenfalls von den Prieftern geweiht.
2) Das Auffommen der Kirchenbeleuchtung am hellen Tage mag auch durch bie
Erinnerung an den Leuchter des juͤdiſchen Tempels mit veranfaßt worben fein.
159
reformirten Kirche wollten Nichts mehr in der Kirche ſehen, als weiße
Mauern ?).. Nur die Iutheriiche Kirche behielt den Altar bei, in der refor⸗
mirten wird meift der Taufflein in einen Abendmahlstiſch umgewandelt.
Längft waren in Griechenland die Waflerorgeln befannt geweien. Die
erfte Windorgel joll Hieronymus im Jahre 400 in Jerufalem gehört haben.
Im Abendlande, befonders in Deutfchland, vervollkommnete fich Died herr⸗
liche Inftrument ſehr ſchnell. Da aus Mangel an Volksbildung der Ger
meindegejang bald ſehr unordentlich geworden, hatte Papft Vitaltanus im
7. Sahrhundert denfelben durch Errichtung kirchlicher Sängerchöre zu er⸗
jegen geſucht, welche von nun an in der Kirche immer allgemeiner in. Aufe
nahme famen. Doch, ein Sängerchor erfeßte die majeftätifche Gewalt des
Bemeindegefanges nit. Darum führte derfelbe Papft die Orgel zur Bes
gleitung des Kirchengefanges ein. Die Drgeln erhielten prächtige Verzie—
rungen und wurden fo beliebt, daß die Legende ihre Erfintung ter heiligen
Cäcilia zufchrieb, welche in einer Weiheflunde der Engel Lobgefang vernom⸗
men und hierauf begnadigt worden, durch Lied Inftrument die himmlifchen
Sarmonieen flerblichen Ohren nahe zu bringen. Die Bilderftürmer ber
Reformation zertrümmerten in ihrem Vandalismus auch die Orgeln. In
der Iutherifchen Kirche zwar wurden bie Orgeln beibehalten, in ber refor«
mirten aber, zumal in der fchweizerifchen, jchaffte man fle ab, bis einzelne
Städte im 18. Jahrhundert diefelben wieder einführten.
10.
Sp lange noch Erwachſene getauft wurden, erihienen die Tauflinge
in.weißem Gewande, zum Zeichen, Daß fie den neuen, gereinigten Menfchen
nermittelft Des Bades der Wiedergeburt anzögen. Bei der Trauung vor
der Gemeinde war die Braut verfchleiert und bekränzt. Trotzdem, daß ſich
die Scheidung der Cleriker von den Laien früh bemerkbar machte, fam doch
lange Jahrhunderte hindurch fein eigentlich priefterliched, nur für den Eul«
tus beflimmted Gewand auf. Die lange Stola, die furze Dalmatika,
dic Alba, von ihrer weißen Barbe jo genannt, wurden bis ind 9, Jahr⸗
hundert von den Prieftern jowohl im Privatleben, wie beim Gottesdienſte
getragen. Dann erſt ward verordnet, daß der Prieſter die Alba, in welcher
er den Gottesdienſt verrichte, außerhalb der Kirche nicht tragen dürfe. Nur
3) Die freilich unfäglich troſtlos weiß find.
160
die Veränderung der Kleidermode unter den Laien erhob biefe von ben
Prieſtern beibehaltenen Kleidungsſtücke allmälig zur Prieſterkleidung. Aus
dem runden, geichlofienen Oberrod, den die Römer früher auf Reifen und
Märfchen trugen, entwickelte ſich zuerſt das vorgeichriebene Alltagsffeid, dann,
als die Laien ihn nicht mehr trugen und die Priefter fi feiner nur noch
bei Ausübung des Eultus bedienten, das mit Gold, Silber, Evelfteinen und
Perlen verzierte Mefgewand. Die proteftantifchen Geiftlichen wählten
als ihre cultiſche Kleidung den einfachen, ſchwarzen Chorrod. Da und dort
brachte die franzöftfche Revolution jenes fchattenähnliche ſchwarze Mäntel-
hen der franzöftihen Abbes in Aufnahme, jenes Teichte Ding, welches hin-
ten wie eine Schürze über den Brad herunter hängt. '
Wie alles Uebrige im Cultus, fo veräußerlichte ſich endlich auch das
Gebet. Schon im 4. Jahrhundert Hatten die Einfledler der Thebais ihre -
Gebete nach einem Kerbholz abzuzählen begonnen. Viel und lange beten
galt dem überhandnehmenden Geifte der Werfheiligkeit für etwas Verdienft«
liches, und es ift ganz folgerichtig, auch religiöfe Verdienfte, wenn man
foldhe annimmt, gerade fo zu zählen, wie verdiente Taglöhne. Aus dem
Kerbholz der Mönche und Einftedler entftand der Roſenkranz, welder
je zehn Fleinere und eine größere Kugel funfzehn Mal enthält. Bei jeder
fleinern wird ein Ave Maria, bei jeder größern ein VBaterunfer (Paternoster)
gebetet. Im 13. Jahrhundert fam er durch die Domtnifaner, deren Ordens⸗
flifter ihm Die vorgefchriebene Geftalt gegeben haben foll, in allgemein kirch—
lihen Gebrauch ). Im früheften chriftlichen Alterthum betete man mit
ausgebreiteten Armen, um fo dem Leibe die Geftalt des Kreuzes zu geben.
Dean beichrieb Kreuze mit den Händen bei jeder heiligen Handlung, insbe⸗
fondere bei der. Taufe und Benediction (Segensertheilung), ebenjo fpäterhin.
beim Eintritt in Die Kirche und beim Hinausgehen, nachdem man zuvor die
Finger in Weihwaffer getaucht. Auch bei Haufe befreuzigte man ſich ſchon
frühe, vor wichtigen Unternehmungen, in Gefahren, beim Beginn der Mahl-
zeit u. ſ. w. Bis zum 5. Jahrhundert war die Bekreuzigung nur eines
Körpertheils, der Stirne (ald Sig des Geiftes) oder des Mundes (ihn vor
fündlichen Reden zu behüten) oder der Bruft (Sig der argen Gedanken) ge=
4) Der Rofenfranz findet fich bekanntlich auch bei den Bupphiflen und Moham⸗
medanern. Heibnifche Völker von hoher geiftiger Regſamkeit, wie bie Hellenen und
Germanen, hatten ihn nicht.
161
braͤuchlich, hernach befchrieb man das Kreuz über alle dieſe drei Theile
(deutſches Kreuz) oder ſtatt des Mundes über die beiden ‚Schultern (lateini⸗
ſches Kreuz). Gewöhnlidd wurde beim , Kreuzmachen“ die Dreieinigkett
angerufen. Buerft ein Hülfsmittel fittliher Wachſamkeit, ward die Bekreu⸗
zigung bald und immer mehr für ein Mittel von magiſcher Kraft gegen den
Fürſten der Hölle und ſeine Dämonen gehalten.
Ein Heraustreten des Cultus aus der Verſammlung der Gemeinde
erkennen wir beſonders in der Nothtaufe, in der Privatcommunion und der
letzten Oelung. Die Nothtaufe war eine Folge der nachauguſtiniſchen Lehre,
daß ungetauft verſtorbene Kinder nicht ſelig würden. Auch in der proteſtan⸗
tiſchen Kirche iſt fle Hin und wieder ertheilt worden, wo nämlich der Volks⸗
glaube flärfer war, als der Geiſt der Neformatoren. Aus der früher er-
wähnten Sitte uralter Zeit, das übriggebliebene Nachtmahlsbrot für die zu
Haufe gebliebenen Gläubigen mitzunehmen, entfland die Mitteilung des
Sacramentes an Sterbende. Im 12. Sahrhundert ward die „letzte Delung”
Todkranker ebenfalls zum Sacrament erhoben.
Achtes Kapitel.
Die Kirche: ihr Triumph, ihre Verfaſſung, ihre
Spaltung. |
‘ 1.
In den beiden vorhergehenden Kapiteln iſt dargeftellt worden, wie bie
Baflung der Lehre Chriſti im Verlaufe der Jahrhunderte theoretifch ſich ent»
widelte und wie die jo außerordentlich wandelbare Theorie im Eultus den
entfprechenden praftiichen Ausdrud fand. Jetzt find tie Wandelungen ber
religiöfen Gemeinfchaft zu betrachten, welche von Ehriftus unter den Men⸗
hen geftiftet wurde. Wir Handeln aljo in diefem Kapitel von der Hrift-
lihen Kirche im weiteften Sinne des Wortes; denn fernab von ber hiſto⸗
rifhen Betrachtungsweife Tiegt jener Particularismus, welcher in dieſer oder
jener Kirche oder Confeſſton die „allein feligmachende * erblidt. Wir ver
Schere, Geſch. d. Religion. IM. 11
162
fieben daher unter der Kirche Chriſti die Geſammiheit derer, welche Jeſus
von Nazareth als den Chriſtus anerkennen, weil dies das Gemeinſame aller
chriſtlichen Fractionen iſt.
Die rein aͤußerliche Entwicklung der Kirche vollzieht ſich im ihrem
Kampf gegen dad Juden⸗ und Heidenthum von den älteften Zeiten bis auf
die Gegenwart. Ihre rein innerliche Entwicklung ftellt ſich dar in der Ge-
fhichte der Kirhenverfaffung. Eine Bolge der Entwidlung in Lehre,
Eultus und Verfaſſung, aber bie äußere Geftaltung der Kirche bebingent,
ift die Geſchichte der Kirchentrennungen, welde unter Anderm -aud das
Sektenweſen zu berühren bat. Don dieſen drei Gefichtspunften aus wird
ſich Die Kirchengeichichte im eigentliden Sinn des Wortes eben fo Harald
erihöpfend darlegen laffen. Die Anfnüpfungspunfte an die Entwidlungs-
geichichte der Lehre und des Cultus werben ſich von jelbft in genügender
Anzahl darbieten.
2.
Das EhriftentHum war aus dem Schooße des Judenthums hervor⸗
gegangen; unter den Juden war der erfte Wirfungsfreis feiner Apoftel; Die
Eriftenz des Judenthums bedrohte es zuerft und hatte daher von dieſer
Seite Her die erſten Anfechtungen zu beftehen. — Die Apoftelgefchichte ta-
tirt das erſte jelbfiftändige Auftreten der Gläubigen ald Gemeinde, den
erfien Eroberungszug des Chriſtenthums in das Gebiet ded Hebraismus,
son der Geiſtesgusgießung am Pfingſtfeſt, wo die Gläubigen ausgerüſtet
wurden mit den nöthigen Waffen (Geifteögaben, Charismen) zur Eroberung
des Erdkreiſes. Wie immer man fih dieſe Wunderlegende zurecdtlegen
möge, bei Gelegenheit irgend eines außerorbentlihen Ereigniſſes muß bie
Mittheilung des „Geiftes“ vermittelt Handauflegung ber Apoſtel, dieſe
Durch die Geſchichte des Cultus zu hiſtoriſcher Gewißheit erhobene Thatfache,
Ihren Anfang genommen haben; denn der allgemeine Glaube der erften
Jahrhunderte an den Erfolg der Handauflegung läßt ſich kaum anders er-
flären.
Gleich nach der Geiſtesausgießung find der Gemeinte, laut der Apoſtel⸗
seichichte, Durch eine Rede des Petrus bei 3000 Seelen Hinzugefügt worden ;
daranter helleniftiiche Juden (die unter den Heiden wohnten und aufs Feſt
mach Ierufalem gefommen waren) und Profelyten (Sudengenofjen), welche
Ießtere bereitö das heidenchrifiliche Element in der Gemeinde vertraten.
0 PTODEe, "REDET FEVE UOR
268
ech dachten, wie es ſcheint, die Synedriſten an Fein Cinſchreiten; wer⸗
muthlich, weil ſie mit der perſönlichen Unterdrückung Jeſu auch feine Sade
dvernichtet zu Haben meinten, Als aber die Predigt der Apoſtel Petrus und
Johannes von dem Auferflandenen im Tewpel vor allem Volk Aufſehen er-
regte, erhob fich beſonders die fabbugatfche Partei gegen die, und Die Übrigen
Rathsglieder widerſetzien ſich den Gewaltthätigfeiten gegen die Apoſtel um
jo weniger, da in der Prebigt ber Apoſtel nom gekreuzigten und aufer⸗
Randenen Meſſtas ein Vorwurf auch. gegen fie als Mitſchuldige feiner Kreuzi⸗
gung enthalten war. : Nur der Pharifüer Gamaliel. warnte, unter Hin⸗
wetfung auf die bereitö erfehienenen falfehen Propheten Theudas und Judas,
allzuweit zu gehen, worauf fid) der Rath, da die Apoſtel ſchon Gefängniß-
ſtrafe erlitten, begnügte, ihmen Streiche geben zu laſſen, mit dem firengen
Verbot, jemald wieder dergleichen Lehren vorzutragen. Aber fie Zehrten
ſich nicht daran und wirkten nur um fo eiftiger fort.
Eine weitere Verfolgung ging etwas fpäter von dem Geſatzeseifer der
„harifäifchen Partei aus. Der Diakon Stephanus, der Erſte jener Rich⸗
ung unter den Chriſten, welde die Losreißung des Ghriftenthums som
Mofaismns erftrebten, hatte die Unzulänglichteit des moſaiſchen Geſetzes und
Gottesdienſtes in öffentlicher Synagoge, dann auch vor dem hoben Mash
serföchten. Cr wurde dafür gefleinigt und derſelbe Saulus, welcher fpäter«
Bin dieſe naͤmliche Richtung zu ihrer durchdachteſten Ausbildung bringen
follte , ſah damals dem Märtyrertode ſeines Vorgaͤngers mit Wohlgefallen
gu, ja er wird als der Eifrigfe bei der mit Stephanus Hinnichtung aus-
brechenden allgemeinen Ghriftenverfolgung zu Jeruſalem genannt. Dieſe
MBerfolgung bezeichnet den Beginn der Verbreitung bes Ehriſtenthums außer
halb Jeruſalews. Philippus firente mit großem Erfolg den Samen daß
Esangeliums in Samaria aus. Andere flohen nach Damaskus und fuchten
dort dem Evangelium Anhänger zu gewinnen. Damals find die erſten
Sendboten Chriſti auch nach Antiochien, ber,gewaltigen Sauptſtadt Sprieus,
gekommen. Auf die Nachricht von dieſer weitern Ausbreitung bed Chriſten⸗
thums verlangte Saulus Vollmacht vom Synedrium, die Verfolgung auch
in Damaskus zu beginnen, ba ward er, wie er im erſten Korintherbrief
415,8) ſelbſt andeutet, durch sine Erſcheinung Ehriſti bekehrt. Stattnen
die Chriſten in Damaskus zu verfolgen, predigte er daſelbſt fofort den Glau⸗
ben an Chriſtus und ward mit knapper Noth vor der Wuth der enttaͤuſchten
Juden errettet. Die Bekehrung bed Saulus, welche zwiſchen 35— 41 nach
11*
164
Chr. Geh. geſetzt wird, ift eins der folgenveichfien Greignifle in der Kirchen⸗
geihichte. Er war Schüler des Phariſäers Gamaliel, ein feuriger Eiferer
für das Geſetz Mofls, ein durchaus offener Charakter, und plöglih, äußer-
li wenigftens nicht vorbereitet, {fl ex der Mann, welcher dem Geſetze Mofls
den Todesſtoß verfegt und das Chriſtenthum zur Weltreligion erhebt!
Dergleichen Feuergeiſter find in ihren plöglichen Umwandlungen wie eine
Kugel, die, im faufenden Fluge auf einen undurchdringlichen, elaftifchen
Gegenſtand ſtoßend, mit eben fo großer Heftigkeit die entgegengefegte Rich⸗
tung einſchlaͤgt. =
| Während fih das Wirken des großen Heidenapofteld in Damaskus
vorbereitete, fühlte fih aud Petrus, der Kauptapoflel „Derer aus der Be-
fihneidung *, durch eine „Höhere Erleuchtung * auf die Befehrung der Heiden
hingewiefen und begann diefelbe mit dem römiihen Hauptmann Cornelius
zu Joppe. Mit Geſchick vertheidigte er ſich hierüber gegen die Vorwürfe
der fireng moſaiſch Gefinnten im jüdiſchen Lande. Auch zu Antiochia gab
e8 bereitö Heidenchriſten, welche von helleniftifchen Juden aus Eypern und
Cyrene befehrt worden waren. Sicherer, als in Damaskus, Tonnte Pau⸗
lus 1) hier feine Wirkſamkeit fortiegen. -Barnabad, ber. ihn aus feiner
Vaterſtadt Tharſus abgeholt, war fein Mitarbeiter in Antiochia. In diefer
Stadt erhielten die Gläubigen von ihren heidniſchen Gegnern zuerft den Na⸗
men Chriftianer. Bon den Juden wurden ſie verähtlih Galiläer
oder Nazaräer, fpäter au von den Heiden Nazarener genannt.
Die zweite Chriftenverfolgung zu Ierufalem, nur gegen einzelne
Sührer der Gemeinde gerichtet, erhob Herodes Agrippa, um, wie Die
Apoftelgeichichte andeutet, fich bei den Juden beliebt zu machen und durch
folchen Eifer für das Geſetz Moſis viel Unmoſaiſches in feinen Handlungen
zu bebedien. Jakobus, den Sohn des Zebebäuß, Ließ er mit dem Schwerte
hinrichten, den Petrus in Ketten legen. Er machte aber der Verfolgung ein
unfreiwilliges Ende, indem er an einer efelbaften Krankheit verfchien. Die
erfte Mifftonsreife des Paulus, in Begleitung des Barnabas unternommen,
4) Man vermuthet, Baulus fei fein Name als römifcher Bürger, Saul fein
jüdifher Name geweien. Daß er von Apoſtelgeſch. 13, 9 an immerfort Paulus
genannt wird, hat wohl feinen Grund fchwerlich in der Belehrung des Sergiue Paus
Ius, fondern darin, daß die Apoftelgefchichte mit jenem Kapitel die Erzählung feiner
Miffionsreifen beginnt, durdy welche fein römifcher Name befonders berühmt geworden
war als gebräuchlicher Name bes Heidenapoftels.
nn 165
wird ziemlich übereinflimmend in das Jahr 44 geſetzt. Don Antiochien
aus gingen fie nach Seleucia und fhifften von da nad ber Inſel Cypern,
wo fie den Statthalter befehrten. Weiter ging bie Neife nach den Flein«
aftatiichen Landſchaften Pamphylien, Piſidien und Lykaonien, dann wieder
durch die nämlichen Bezirke zurück nach der Küftenftabt Attalia, von wo fie
nach Antiochien zurückkehrten. Auf diefer Reiſe predigte Paulus überall
zuerft in den jüdifchen Synagogen, wo folche vorhanden waren. Die Hei⸗
ben hörten ihre Predigt theild in diefen Derfammlungen , theild warb ihnen
das Evangelium bejonderd vorgetragen. Die fireng mofaifch gefinnten Ju⸗
ben jtritten zuerft mit den Apofteln in den Synagogen. Als fie jedoch mit
geiftigen Waffen Nichts ausrichteten, machten file Gebrauch von ihrer allbekann⸗
ten Gefchicklichkeit, Aufruhr zu erregen, und hegten, wo ſie fonnten, ben
heidnifchen Pöbel zu Gewaltthätigkeiten gegen Die Apoſtel. Das war außer»
halb SIerufalems, zum Theil auch in biefer Hauptſtadt ſelbſt, der Juden
Kampfweiſe gegen das Chriſtenthum. Nachdem die Apoftelverfammlung zu
Jerufalem ungeachtet eifriger Vorftellungen, die von gläubig gewordenen
Pharifaern ausgingen, beichloffen Hatte, den Heiden, welche Ehriften wer⸗
den wollten, die Beſchneidung zu erlaffen, und nur die Befolgung der vier
noachiſchen Gebote von ihnen zu fordern, unternahm Paulus, abermals von
Antiochien aus, feine zweite Belehrungsreife um das Jahr 50. In Bes
gleituung von Timotheus und Silas befuchte er die in obgenannten klein⸗
aftattfchen Städten geftifteten Gemeinden, durchzog Phrygien, Galatien und
Myften und fegte von Troas nach der Infel Samothrafe, von da nad Mace⸗
donien über, wo er zu Philippi und Teffalonich Gemeinden grüntete. Weiter
predigte er dad Evangelium in Berve und Athen. Einen längern Aufent-
halt nahm er zu Korinth. In Epheſus fodann ward er wohl aufgenommen,
blieb aber nicht ange daſelbſt, fondern reifte über Eäfaren nach Ierufalem.
Auch auf diefer zweiten Reiſe erfuhr Paulus in Theffalonih und Beroe
Proben von der Aufwieglerfunft der Juden. Ihre Läfterungen in ber
Synagoge zu Korinth bewogen ihn, die Juden dajelbft aufzugeben und fid
den Heiden zuzuwenden. Bon Antiochien aus unternahm Paulus jpäter
feine dritte und letzte Mifftonsreife um das Jahr 54, hauptſächlich zur
Stärfung und Vergrößerung .der bereitd geftifteten Gemeinden in Ephefus,
Macedonien, Griechenland und Troas. Während eines längeren Aufents
Haltes zu Epheſus erhoben fid zum erften Mal, ohne von den Juden anges
ftiftet zu fein, die Heiden gegen ihn. Der Silberarbeiter Demetrius fanımt
166
feinen Zunftgenofien, denen nicht mit Untecht bange war um den Berluft
bes reihen Gewinns, welchen ihnen die Nachbildung des hochberuͤhmten
Dianentempels in Silber brachte, erregten einen Aufſtand gegen bie &hriften,
jeboch ohne weiteren Erfolg. Durch Varſtcht entging Paulus auf biefer
feiner dritten Reiſe den Nachflellungen ver Juden. Bu Jeruſalem ſelbſt
aber, wo er zur Beler des Mflnofkfefles eingetroffen, erregten bie daſelbſt
anweſenden aftatifihen Juden einen fo gewaltigen Aufruhr gegen ihn af&
Berftörer des mofaifchen Geſetzes, daß die Römer nur mit Mühe fein Leben
retteten. eine weiteren Schickſale find bekannt. Don der römifchen Ge⸗
fangenichaft aus wirkte er noch durch Briefe und Sendboten auf die von ihm
geftifieten Gemeinden. Im der großen Chriftenverfolgung unter Nero fol
er enthauptet worden fein. '
In Rom war eine Ehriftengemeinde durch Iudenchriften ſchon vor dem
Jahre 54 gefliftet worden. Gegen Enbe des 1. Jahrhunderts zeigen ſich
Ehriftengemeinden bis an Den Euphrat Hin, ferner in Aegypten (Alexan⸗
drien), im proconfularifden Afrika, in Spanien, Gallien und Britannien,
ohne daß fih deren Urfprung mit hiſtoriſcher Sicherheit nachweiſen Tiefe.
Die Widerſtandskraft des Judenthums war mit der Berflörung Ierufalems
gebrochen. Von da an mußten die Juden Bei den heitnifchen Chriſtenver⸗
fülgungen die Gelegenheit fuchen , ihren Eifer für das Geſetz an den Chri⸗
fen zu bethätigen. Nur in jenem legten furditbaren Auffladern bes jüdi⸗
fihen Nationalgeiſtes unter Sadrlan, als in dem „Sternenfohn” der
erwartete Meffias begrüßt worden und unter beffen Anführung das. Teßte
jüdische Heer Paläſtina durchzog, konnte Moſes noch einmal an den verhaß⸗
ten Nazaraͤern gerächt werden ohne Beihülfe der Heiden. Als Rom damals
die Macht des Judenthumd vernichtete und auf den Zrümmern von Jahve'a
Tempel die Statue des Jupiter Capitolinus aufrichtete, Hatte fein eigener der
ſetzungsprozeß durch das Chriſtenthum fehon begonnen.
3.
Mit Nero begann das bisher meift gleihgültige oter aus Geringe
ſchaͤtzung nachſichtige Heidenthum feinen Kampf gegen Dad ChHriftenthum, zwar
noch nicht aus prinzipiellen Gründen, wie fpäter die befferen Kater, Trafan,
SHadrian, Antonimus der Philoſoph, Severus und Diocketian diefen Kampf
führten, fondern zunähft aus Rachewuth Aber die Verbrenmng Noms,
162
welche der kaiſerliche Phantaſt ſelbſt angeordnet, um ſich Troja's Band recht
lebhaft zu vergegenwärtigen, deren Anſtiftung ex jedoch bald auf die Chriften
zu fchieben für gut fandt). Der in Rom herrſchende Haß gegen bie Iuden
umfaßte auch die Ehriften, aber bio&, weil man fle al& eine jüdiſche Sekte
Betrachtete und zum Theil mit jenen Zeloten unter Judas dem Gauloniten,
die auch Galiläer genannt wurden, verwechfelte 2). Daß Nero zum Schilde
feiner eignen Sicherheit fkatt der Juden die Chriſten wählte, hatten Erftese
wefentlich einigen mächtigen Zürfprechern unter Nero's Künftlingen zu. veus
danfen. Diele erfte Chriftenverfolgung in Rom war bie Urſache, daß Mom
den Chriften ald da8 zweite Babylon erfchien, deffen Untergang ,: ihrem
Glauben zufolge, die Offenbarung Johannis weiffagte, und Nero ald der
Antichrift,, welchen die Offenbarung darftellte als das Thier mit den ſieben
1) Der ſtrenge Tacitus, gewiß fein Freund Nero’s, läßt es indeſſen unentfchieden,
ob Nero wirklich der Anftifter des Brandes geweien. Sequitur clades, forte an dolo
principis , incertum , nam utrumque auctores prodidere. Annal. XV, 38.
2) Wir werden unten fogleich auf die Gründe zu fprechen fommen, welche ben
Römern die Ehrifen verdächtig machten. Hier fei der berührt, daß jene auch in ben
Schriften der Kirchenväter häufig betonte Gcheimnißthuerei, womit die Chriften ihre
gottesdienftlichen Uebungen vollzogen, namentlih das Myfterium des Abendmahls,
bei den Heiden den allerfhlimmften Argwohn erwedte. Selbft wiſſenſchaftlich und
fittlich fo hochgebildete Mönner, wie Tacitus, blickten auf die Chriſten mit unver⸗
bolenem Abfıheu. Man höre nur des großen Geſchichtsſchreibers berühmten Bericht
über die Gürifßienverfolgung unter Nero: — „Um das Gericht — (daß er der Anz
Bifter des Brandes von Rom ſei) — zu vernichten, unterſchob Nero Schuldige und
belegte diejenigen mit den ausgeluchteften Strafen, welde, wegen ihrer Abfcheulichs
feiten verhaßt, vom Pöbel Ehriftianer genannt wurden. Diefes Namens Urheber,
EHriftus, war unter des Tiberius Regierung von bem Procurator-Bontius Pilatus
Bingerichtet worden. Der heillofe Aberglaube, für den Augenblick unterdruͤckt, brach
neuerdings ana, nicht nur in Judaͤa, dem Mutterlande dieles Unheila, fondern quch
in Rom, wo ja überallher alles Scheußliche und Schmachvolle zuſammenſtroͤmt und
Anhang gewinnt. Nun wurden zuerſt Solche ergriffen, die ſich dazu — (zum Chri⸗
ſtenthum) — befannten, dann auf deren Angabe eine große Menge, nicht ſowohl bes
Verbrechens der Brandfiiftung als vielmehr des allgemeinen Hafles der Menfchheit
Ueberwiefener. Ihre Hinrichtung ward mit Hohn begleijet, indem fie, in Thierfelle
gehäft, von Hunden zerfleifcht wurden oder, mit Bed; überzogen, bei einbrechender
Ounkelheit als Fadeln brannten. Deßhalb regte Ach für die allerdings Schulkigen
und mit Recht auf unerhörte Weiſe Veftraften-bas Mitleid." Annal. IF, 44. Gueton
(Nero, 16) bezeichnet Die Christiani als ein genus hominum superstifionis novae ac
malifieae feine Menfchenart von neuem und bösartigem Aberglauben).
168
Köpfen und fieben Hörnern, defien Zahl 666 iſt?). In der Verfolgung
unter Nero foll audy Petrus den Maͤrtyrertod erlitten haben. Das Schick⸗
fal der übrigen Apoſtel gehört großentheild den Dichtungen der Legende an.
Unter ihnen foll blos Johannes eined natürlichen Todes geftorben fein.
Bei der bier gebotenen Gelegenheit bemerken wir, daß, was die Blut⸗
zeugen der Religion Chriſti angeht, die Zahl der Märtyrer durch Die Legende
ohne Zweifel bedeutend übertrieben worden ift, da und dort geradezu in’s
Ungeheuerliche. Indeffen das tumultuarifche Verfahren des heibnifchen
Volkes bei den ChHriftenverfolgungen, die Ausdehnung bes römiſchen Reiches
und die vielfache Willfür der Provinzialbeamten gegen die Ehriften laſſen
ed anderweitig bedenklich ericheinen, die Zahl der Märtyrer in dem Maaße
zu befchränfen , wie Gibbon e8 verfucht hat ). Der begeifternde Gedanke:
„Durch die Nachfolge ded Kreuzes Chriſti gehe ich fofort ein zu feiner Herr⸗
lichkeit”, ftärkte ſelbft Jungfrauen und Unmündige, die größten Qualen mit
bewundernswürdiger Gelaſſenheit zu ertragen, verleitete aber auch, beſonders
in fpätern BVerfolgungen, verbunden mit der geheimen Begierde nach den
kirchlichen Ehren des Martyriums, Viele, die Bluttaufe recht abfichtlich zu
ſuchen. Gleihwohl Eonnten die edleren Gemüther unter den ‚Heiden ſolche
Obmacht ded Geiftes über die Todesfchauer der Leiblichen Natur nicht ohne
hohe Bewunderung anfhauen. Auf die Bewunderung aber folgt leicht Die
Zuneigung zu einer Sache, die mit ſolchem Heldenmuth verfochten wird,
und aus dem Blute Eines Märtyrerd erwuchſen zehn neue Befenner Chriſti 5).
Hinwieder wußte die Kirche ihre Glieder vor furdtfamer Verläugnung des
Glaubens aufd Nachdrüdlichfte abzufchreden durch die Schmady der Aus⸗
floßung (Excommunication), weldhe fie über die Treulofen verhängte, fowie
durch die ſchwere, Tangmwierige. Buße, die ein Abtrünniger bis zu feiner
- Wiederaufnahme durchzumachen hatte. Wer auch nur ein Gremplar der
heil. Schrift an die Heibnifhe Obrigkeit ausgeliefert, oder ſich von einer
heidnifchen Magiftratsperfon das falfche Zeugniß hatte ertheilen laſſen, er
habe den Göttern geopfert, wurde ausgeſtoßen und Fonnte nur durch jene
Bußen zuletzt Verzeihung erlangen. |
3) Diefe Fabbaliftifche Bezeichnung bes Namens Offenbarung 13, 18 ergibt nad
den Sahlenwerthen des hebräiichen Alphabets die Worte Kesar Neron, Kaiſer Nero.
4) Hist. of the deel. and fall of the Rom. emp., chap. 16.
5) Wir bemerken Hierbei, daß Märtyrer nur Diejenigen genannt wurden,
welche um Ehrifti willen den Tod erlitten; Belenner oder Confeſſoren hin⸗
169
4.
: Daß die Römer, welche bisher gegen alle ausländifchen Religionen
fo tolerant geweſen 1), das Chriſtenthum mit folder Beharrlichkeit auszu⸗
zotten fuchten, daß von ihnen aus der- Berfolgungsgeift auch auf die übrigen
heidniſchen Völker überging, daß Volk und Obrigkeit fi gegen die neue
Religion fo oft vereinten, das hat zwei Hauptgründe: den Volkshaß gegen
die Chriſten und die Leidenfchaften oder bie Stantögrunbfäe der jeweiligen
Kaiſer.
Der heidniſche Volkshaß traf die Chriſten, wie wir bereits bemerkt
haben, zunächſt als jüdiſche Sekte, denn die Juden, ſeit ſie im Reiche ge⸗
nauer bekannt geworden, hatten ſich durch ihr abgeſchloſſenes Weſen, ihre
Verachtung gegen die Heiden als Unreine, ihren wüthenden Fanatismus,
ihre Geneigtheit zu Empörungen, wo immer ſie ſich befinden mochten, die
entſchiedene Abneigung des heidniſchen Volkes zugezogen. Dazu mochte
auch beitragen ihre bildloſe Gottesverehrung, welche im roͤmiſchen Reiche
allein fland und für „Atheismus“ erklärt wurde, als müßte, wer fein
Gottes bil Kat, überhaupt keinen Gott haben. Der nämlidhe Borwurf
traf mit doppelter Härte die Chriften, weil fle noch einen weit auffallendern
Abfcheu gegen alles fogenannte Ghgendienerifhe an den Tag legten. —
Hatten ferner die Juden ſich begnügt, ihre Religion den Heiden gegenüber
"zu behaupten, ohne offene und entſchiedene Angriffe gegen das Heidentfum
zu unternehmen, fo erklärten dagegen bie Chriften alle Heidenthümer für
Ausgeburten der Hölle, die Götter für Teufel, welche die Menfchen zu ihrer
Anbetung verführt hätten 2), und bie Götzendiener ſelbſt für eine Beute der
ewigen Verdammniß, von welcher einzig die Bekehrung zum chriſtlichen
Glauben erretten könne. Bald, verkündigten fie, bald. werde Chriſtus
wiederfommen in Herrlichkeit, dem neuen Babel zum Untergäng, den Un⸗
gläubigen zum Gericht, den Seinigen zur unfterblichen Verherrlichung.
Solche Lehren der Undultfamfeit riefen naturgemäß auch auf Seite ber
gegen die, welche Drohungen und Qualen zum Trotz Chriftus laut befannten, aber
nicht hingerichtet wurden.
4) Bel. Thl. II, ©. 201 und 219.
2) Daß fchon die Juden einzelne heibnifche Götter zu Teufeln degradirt hatten,
it früher gezeigt worden. Die Chriften dehnten nad) dem Vorgang bes Paulus
(1. Korinth. 10, 48— 22) dies Verfahren nur weiter aus. -
+70
Heiden Unduldfamfeit hervor. Die Beihimpfung ihrer Religion erregte
ihren Grimm, die Verfündigung des nahenden Untergangs den Verdacht,
als gingen die Chriſten auf den Umſturz alles Beftehenden aus,
Bis auf Konftantin blieb der riftliche Gottesdienſt den Heiden gegen
über ein Myſterium. Da er feinem Hauptbeflandtheil nach ein Opfer war,
zu welchem nur die vollberechtigten Glieder der Gemeinde zugelaffen wurden,
und häufig nächtlicher Weile flattfand, fo fuchte Neugier oder Argwohn den
Schleier des Beheimniffes zu Füften, und es gingen im Volk entfehliche Ge⸗
rüchte um über blutige Kinderopfer, antbropophagiihe Mahle und abe
ſcheuliche Wolluſtübung bei den gotteddienfllihen Verfammlungen ber
Chriſten. Begreiflih! Denn die Heiden felbft Hatten ſolcher Myſterien ge⸗
nug, und die Katholiken, d. h. Die der redhtgläubigen Kirche angebörigen
Ehriſten waren Teidenfchaftlich genug, tie Sektirer vor den Heiden derartiger
Bränel zu bezüchtigen, wie denn die Sektirer ihrerſeits die Katholifen mit
gleicher Münze bezahlten 3).
3) In neuerev Zeit. hat &. F. Daumer („Geheimnifie des chriſtlichen Alters
hums“, 1847) dic von ben griechiſch⸗roͤmiſchin Heiden gegen die Chriſten geſchleuderte
Yuflage des Kannihalismus wieder aufgefriiht. Daumer betrachtet das Chriſßenthum
als eine Fortſetzung des althebräifchen Keuer: und Molochdienftes und daher ift ihm
der chriftliche Gott ein „Moluchftier und Molochofen“ (a. a. O. 1, 15 fg.). Am
Schhufle feiner zweibäntigen Unterfuchung kommt er zu dem Schluß, daß „Religion
und Gulius des chriſtlichen Alterihums über ale Maßen geaufam und gräulich gea
weſen, Haß die Gebräuche des Abendmahls und der Meſſe, die meientlichfien in bielgs
Religion, in vollfommen anthropothyſiſchen und anthropophagiſchen Cultusacten bes
ftanden, daß hiebei eine Unzahl ganz eigentlicher und förmlicher Menichenopfer ger
fallen, indem man Kinder und andere Menfchen mordete, und daß diefe namenlofe
Barbarei etwas rem Prinzipmäßiges, ſchon in den erften Anfängen (des Ehriftens
thums) nthaltenes gewefen fei“ (II, 2683-69). Daumer läßt ſich feine Mühe veuen,
feine Leſer zu uͤberzeugen. Gr weiß 3. B. auf's Genguchle zu erzählen (I, 79. fg.)
wie Chriſtus mit feinen Jüngern bei Einfegung des, Abendmabls eigentlich ein Find
verzehrt und wie Sudas Sfchariot, aus Abſcheu vor ſolchem Rannibalismus, die anthras
pophagiiche Gefellfchaft beim Hohen Rathe denuncirt habe. Da in Daumers Augen
Ehriftus einmal ein Molochiſt war, jo fieht und hört er aus der ganzen Gefchichte des
Chriſtenthums nur molochiftifche Gräuel heraus. Da wird er denn manchmal, natür⸗
lich unfreiwillig, wahrhaft fomifh. So, menn er (I, 93 fg.) zu beweifen fucht, das
Wort Sefu: „Lafjet die Kindlein zu mir kommen!“ fet eigentlich eine molochiſtiſche
Dpferformel geweſen. Trotz allen diefen-Ausfchreitungen tee Conſequenzmacherei muß
aber bemerkt werden, Daumer hätte gar nicht fo unrecht, wenn ex fi darauf bes
fchräntte, zu fagen, ver Menfchenopfercult habe mit dem Chriſtenthum keineswegs fein
r72
Die Abfonderung der Ehriften von allem übrigen Volk nit nur im
Gottesdienft, fondern auch in Sitten und Gebraͤuchen und in der Lebendweiſe
erregte ihnen ebenfalls viele Feinde. Selbft bei Gaſtmahlen wagten fie nicht
zu genießen von dem Fleiſche eines Thieres, weldyes den Göttern geopfert
worden, noch brachten fie aus: ihren Bechern die gebräuchliche Kibation dar.
Ihren Abſcheu gegen alles an ben: Götterdienſt erinnernde Bildwerk an Ge⸗
rärhen, Kleidern und Wohnungen Iegten-fle unverholen an den Tag, Ges
ſellige Freuden flohen, den Glanz des Luxus verachteten ſie. Theater,
Tanze, Ihierhegen, ſelbſt feögliche Weifen der Muſik galten ihnen für Ver⸗
fuchungen des Teufels. - Ein ödes, völlig freutlofes Dafein fihien der
Sterblichen zu warten, wenn dieſe büftere Sekte Meifter werden ſollte.
Ende erreiht. Auch noch im. Chriftenihum wurden Menſchen geopfert. Dies leug⸗
nen, heißt eine ganze Menge von Zeugniſſen der Gefchichte und Sage, mißachten. Das
Chriſtenthum hat befanntlich die Opferidee nicht verworfen; es hat an die Stelle des
Thieropferd nur ein höheres, ein hödhftes ‚ das des Sohnes Gottes, gefebt. Behaup⸗
ten, mit diefem einen und hoͤchſten Opferact fei eben für immer die Sühne vollzogen
worden, heißt der Rirchengefchichte ins Geſtcht fchlagen. In der Meſſe wurde und
wird ja täglich die Opferung Ehriſti wiederholt und täglich ißt der Priefler ben Leib
und trinft das Blut Chriſti. IR es da fo wunderbar, menn während des chriſtlichen
Alterthums und während des Mittelakters der rohe Sinn der Menge ihre altheidnifchen
Borftellungen vom Werth des Menſchenopfers durch das chriftlihe „Myfterium” bes
Fräftigt fand? Gewiß nicht. Und ift es wunderbar, daß in Zeiten, wo Briefter heute
Meile lafen und morgen etwa wieder dem Thorr opferten,, die Leute auf den Einfall
Samen, tem Ghriftengott, welcher fih den eigenen Sohn zum Opfer bringen liche,
müßte auch die Opferung von andern Kindern wohlgefällig fein? Ghenfalls nicht,
wenigftens in den Augen eines Unbefangenen nicht. — Höchſt auffallend hinfichtlich
der Fortdauer des Menfchenopfercults im Chriſtenthum ſind einige Aeußerungen in
Luthers „Tiſchreden“ (zuſammengeſt. von C. Seifart im „Deutſchen Mufeum“ 1853).
Es wird da förmlich und beſtimmt gefagt, der im Mittelalter bei „unferen Borfahren“
eingeführte Menſchenopfergräuel habe bis in Die Zeiten der Reformation fortgedauent
und erſt Kaiſer Karl V. habe ihn abgeſchafft. Noch Kaiſer Morimilian L, der „legte
Mitter“, habe die Gewohnheit gehabt, in Kriegsgefahren Menfchenopfer zugeloben, mie
Sephta, und dann den Grften Beften, der ihm begegnete, wirklich zu opfern. —
Daumer führt (Jahrb. f. Wiflenfchaft und Kunſt, I, 87) aus Harthaufens „Studien
über Mußlands Innere Zuſtaͤnde“ auch ein unverdaͤchliges Zeugniß an, Daß im Inneren
Rußlands „Seibfiverbrennungen, Selbftenimannungen und anthropophagiſche Paſcha⸗
mahle noch immer im Schwange gehen.” Namentlich werde da zur Feier ter Oſter⸗
nacht einem jungen Mädchen bie linfe Bruft abgeſchnitten, in eine Schüflel aelegt, in
Heine Portionen zerfchnitten und von fimmtlichen Anwefenten als heiliges Mahl ges
noflen.
172
Weſſen Herz noch an den Lebensgenüflen und Schönheiten ber alten Götter⸗
welt hing, mußte ſich aufgefordert fühlen, das Ghriftenthum auf Tod und
Leben zu bekämpfen.
Den Haß des Volkes gegen die Chriften fhürte vollends das Intereffe
der Priefter, deren Anſehen zu jhwinden drohte, deren Tempel immer ſpär⸗
lichere Weihgefchenke und Opfergaben eintrugen, fowie die Gewinnfucht der
Goeten, Magier, Gaufler, welde immer fchlechtere Geſchaͤfte machten.
Diefen Haß nährten auch die Beforgniffe der Künftler und Handwerker,
welche Götterbilder oder fonft Gegenftände des Luxus verfertigten und nur
durch das Aufkommen des Heiligentienfied und eined glänzenden Cultus
unter den Ehriften allmälig getröftet werden konnten; ihn unterflügte endlich
die Habſucht vieler Großen, welche gar zu gern das Vermögen der Ehriften
einzogen, fowie die Raubluſt des Pöbels und feine Sucht, recht viele Gegen-
flände öffentlicher Hinrichtungen zu gewinnen.
Seit Nero's Tode Hatte die chriftliche Kirche fih 26 Jahre Tang
‚(68— 94) ungeftört im Reiche ausgebreitet, da flörte der Argwohn Domis-
tians, zu deflen Ohren das Gerücht von dem kommenden Reiche Chriſti in
arobfinnlicher Auffaffung gelangt war, den Frieden der Kirche durch den
Befehl an die Statthalter aller Provinzen, die Chriſten als Weinde des
Reichs zu verfolgen. Unter ihm ward ber römifche Biſchof T. Flavius
Clemens, ein Neffe Veſpaſtans, den die unächten „ Clementinen ” als einen
Schüler tes Petrus bezeichnen, als „Atheiſt“ enthauptet. Es kam den
ChHriften wohl zu Statten, daß fie von allgemein gehaften Unmenſchen, wie
Nero und Domitian, verfolgt worden ; denn auf die Ermordung Beider folgte
auch für ſie, wie für Die übrigen geplagten Unterthanen, eine Zeit der Ruhe.
Men ein Tyrann mißhandelt, der fommt dadurch flet3 in einen beflern Auf.
Erft der treffliche, aber dem alten Götterglauben ohne philofophiiche Skru⸗
pel ergebene Trafan verfolgte die Chriften aus Grundfag, als Sole, Die
fi gegen göttliche und menſchliche Majeftät auflehnten ) und bem erneuten
Verbote geheimer. Gefellichaften zuwider fortfuhren, durch ihre Firchliche Ge—
meinfchaft einen Staat im Staate zu bilden. Trajan erkannte, wie tief auch
das alte Staatöleben vom alten Götterglauben durchdrungen fei, wie Die
Aufrechthaltung der bürgerlichen Ordnung nicht allein von der obrigfeitlichen
4) Die Chriften weigerten fich naͤmlich, den Bildniſſen verflorbener oder lebender
Kaifer die vorgefchriebenen Ehren zu erweiſen, verlagten aber fonft den bürgerlichen Ge⸗
horfam keineswegs, nahmen auch an feinen Smpörungen theil.
-
173
Gewalt, fondern auch von dem Slauben der Völker an die Götter als
Schirmer des Staats von jeher abhängig geweien, mit. wie gutem Grund
endlich wichtige Staatshandlungen ftetd von religiöjen Geremonten begleitet
oder oft durch Drafel der Götter geleitet worden waren. Deßwegen fchien
ihm das Wohl des Staated von der Aufrechthaltung des Väterglaubens
ungertrennlich und jeder Angriff auf den letzteren ein Verbrechen gegen bie
Öffentliche Wohlfahrt. Mit feinem Breunde Plinius dem Iüngern, damals
Statthalter in Pontus und Bithynien, vereinigte fih Trajan dahin, Die
Ehriften jollten nicht aufgefucht, aber auf eine mit der Unterfchrift des
Klägers verſehene Klagefchrift hin verhört und, wenn fie den Göttern nicht
opfern wollten , beftraft werden 5).
5) Das 10. Buch der Spifteln des Plinius enthält feine Korrefpondenz mit dem
Kaiſer. Der 96. (97.) diefer Briefe ift eines der merfwürdigften Documente über das
Urchriſtenthum und über das Verhalten der römischen Staatsgewalt zu demfelben.
Plinius Schreibt: — „Bis jetzt Habe ich es bei denen, welche mir als Chriften angegeben
wurden, auf folgende Weife gehalten. Ich fragte fie, ob fie Epriften wären? Wenn
fie geſtanden, fragte ich fie zum zweitens und brittenmale, und drohte ihnen mit der
Todesftrafe ; wenn fie beharrten, ließ ich fie Hinrichten. Denn ich war überzeugt, daß,
was e8 auch fei, was fie eingeflanden, wenigftens ihr Ungehorjam und ihre unbeugs
fame Hartnädigfeit geftraft werden müfle. Andere, welche von demfelben Wahnfinn
angeftecft waren, babe ich ‚weil fie römifche Bürger waren, aufzeichnen laffen, um fie
nah Rom zu fenden. Bald zeigten fi) nun, weil fich das Verbrechen wie gewöhnlich
durch die Verhandlung verbreitete, mehrere Gattungen beflelben. Ich erhielt eine
Schrift ohne Namen, die das Berzeichniß vieler Namen enthielt, welche läugneten,
Ehriften zu fein, oder je geweſen zu fein, und welche, indem ich ihnen das Gebet vors
ſprach, die Götter anriefen, und deinem Bilde, das ich zu diefem Endzwede mit den
Bildniſſen der Götter hatte bringen laſſen, mit Wein und Weihrauch-opferten, auch
außerdem Ehriftum läflerten: Dinge, zu welchen, wie man fagt, die ächten Ehriften
nicht gezwungen werden können. Diefe nun glaubte ich loslaſſen zu fönnen. Andere,
von einem Angeber als Ehriften angegeben, befannten fich als Chriften, läugneten es
aber bald wieder : fie feien es geweien, haben es aber wieder aufgegeben, einige vor
drei Jahren, einige vor mehreren Jahren, einige fogar vor zwanzig Jahren. Alle
beteten dein Bild und bie Bildniffe der Götter an, auch fluchten fie Ehriftus. Sie
behaupteten aber, ihre Schuld und ihr Irrthum habe hauptfächlich darin beftanden,
daß fie an einem gewiflen Tage vor Tagesanbruch zufammengefommen jeien und Chris
flus, als einem Gotte, zu Ehren unter einander ein Lied gefungen, und ſich durch
einen Cid, nicht zu einem Verbrechen, fondern dazu verbunden haben, feinen Diebs
ſtahl, einen Raub, keinen Chebruch zu begehen, ihr Wort nicht zu brechen, fein
Hinterlegtes Qut auf Verlangen abzuläugnen ; hierauf feien fie gewöhnlich auseinander
gegangen und nur zu einem Allen ohne Unterfchied gemeinfamen, jedoch unfchuls
474
Daß Die Edicte Trajans und Domitians fortwährend in Kraft blieben,
jegte die Chriften auch unter günftiger geſtimmten Kaifern vielfachen Miß-
Handlungen aus. Defto weniger blieben die von Trajan angeordneten
Rechtsformen in Kraft. Der Iegte Ueberreft republikaniſcher Freiheit fchien
fh unter Hadrian, feinem Nachfolger, dadurch geltend machen zu wollen,
daß das Volk, wenn es um die Arenen oder ſonſt bei öffentlichen Feſten ver⸗
ſammelt war, mit tobendem Gebrüll die Hinrichtung der Chriften forderte,
und fie meift auch erhielt. Diefer ſchandbaren Lynchjuſtiz, welche befonders
in Kleinaften und Griechenland geübt wurde, machte Hadrian erft auf bie
Borftellung des Profonjuld Granianus hin ein Ende. Sie kehrte wieder
unter Markus Aurelius, dem Philofophen, der als Stoifer dem Unfterblich«
feitöglauben ber Ehriften feindlich war und außerdem Trajans Stagtsmaximen
buldigte. In Smyrna und Galiien begann die Verfolgung mit öffentlicher
Mißhandlung der Ehriften durch den heidnifchen Pöhel. Die Obrigkeit trat
niemals ernſtlich dagegen auf, wenn ſie auch einige Ordnung in die Schlädhs
terei zu bringen wußte. "Unter Septimius Severus gelangte Die Lynchiuſtiz
in Afrika zur Blüthe, fowie er, früher ein Beſchützer der Chriften, das Ver-
‚bet erlaſſen Hatte-(i. 3. 202), zum Chriſtenthum oder Judenthum über⸗
zutreten. Den Zwiſchenraum der Ruhe bis auf Derius unterbrach nur dir
turze Verfolgung unter Mariminus, ber die Chriſten haßte, weil der fonft
fo grauſame Garacalla, fein Vorgänger ,. ihrer gefchont hatte. Die unter-
befien an Ausdehnung mächtig gewachſene, aber im Geifte vieler ihrer Glie⸗
der gefchwächte Kirche traf 250 ein harter umfafjender Schlag durkh das
Ediet des Derius, alle Chriſten follten auf einen beftimmten Termin vorges
laden und aufgefordert werden, die gotteödienfllichen Bräude der Staatd-
zeligion zu verrichten. Die fih Weigernden follte man mit ber Folter
zwingen, die Hartnädigen Hinrichten.. Nun begann der Pöbel die Häufer
der Chriften zu erbrechen, zu plündern, zu verwüflen und die Geächteten
ſelbſt unter Mißhandlungen vor den Richter zu fihleppen. Der Schreden
und die Qualen brachten Viele zum Abfall, eine Thatſache, welde die da⸗
digen Mahle wieder zufammengefommen ; was fe jedoch nach einem Edicte, in welchem
ich deinem Befehle zu Folge die Privatvereine verboten hatte, aufgehört haben zu thun.
Um fo nöthiger hielt ich e8 aber, von zwei Eflavinnen, welche Diakoniffinnen genannt
‚wurden, bie Wahrheit durch die Folter zu erforſchen. Sch entdeckte aber Nichts als
einen verkefeten und ungemefienen Aberglauben, und vo bie foͤrmliche Unterſuchung
auf, um deine Beſehle zu vernehmen, u |
176
maligen Kirchenlehrer nicht fchmerzlich genug beflagen zu künnen meinten. -
Weſentlich aus gefälliger Nachgiebigfeit gegen den heidniſchen Volkshaß ver⸗
folgte dann Gallus die Chriften (252). Die Chriſten hätten, als eine ver⸗
heerende Seuche hereinbrach, die öffentlichen Gebete und Opfer an die
Götter mitmahen follen. Ihre Weigerung erneute im Bolt den alten
Wahn, der beionderd zu Trajand Zeiten unter den ungebilveten Ständen .
herrſchend geworden zu fein ſcheint, um der Ehriften willen jende der Götter
Zorn Hungerönoth, Seuchen, Dürre, Ueberſchwemmungen, Erdbeben,
Kriegeunglüd. Je mehr nun das Reich fanf und Die Kirche wuchs 6), um
fo entfchiedener ward auch von Gebildetern alles öffentliche Linglüd den
Chriſten ald Erregern des Götterzornes beigemefien. Daß ließ fih auch der
altersihwache Balerian von dem Agyptifchen Zauberer Macrianıd weismachen
und die Verfolgung wüthete, bis der greife Schwachkopf zum Fußſchemel des
perfifchen Königes Sapor geworden. Sein Sohn Gallienud machte der
Verfolgung durch förmlichen Erlaß ein Ende. Unter Gallus und Balen«
tinion hatte die allgemeine Stondhaftigfeit der Gemarterten gezeigt, ‚in der
decifchen Verfolgung ſei die Spreu einftweilen vom Korne gefoben. — Die
legte große Chriftenverfolgung, welche nur durch das jchonende Verfahren
des Cafard Konftantinus Feine allgemeine ward, hatte flatt unter dem Kaifer
Diocletian, der, von den Caäſar Galerius überredet, durch jein Verfol⸗
gungsedict das Chriftenthum gänzlich zu vertilgen fuchte. Beſonders hatte
es dies Edicet auf Vernichtung der Bibeln abgejehen. Sklaverei verhängte
es über die Chriften niedern Standes, zerftörte alle Breiheitshoffnung chriſt⸗
liher Sklaven, nahm den Chriften alles Klagerecht und damit den richter⸗
lihen Schuß, entfegte die vornehmern Ehriften aller Würten und Aemter,
Wiederholte Feuersbrünſte in jeinem Palaſt, von Galerius, hierin einen
zweiten Nero, den Chriſten aufgebürbet, bewogen Diocletian zu noch fchär«
ferem Verfahren, bis endlich das Edict erging, alle Chriften mit den äußer⸗
ſten Mitteln zum Opfern zu nöthigen. Uber ſchon waren die Zeiten ded
allgemeinen Chriftenhafles vorüber und zuletzt erlahmten alle Werkzeuge der
Reaction im Kampfe gegen die hriftliche Revolution. Dabei Tönnte es auf⸗
fallen, daß meift nur die vergleichungsweiſe trefflichiten Imperatoren bie
Chriſten verfolgten, während Narren und Ungeheuer, wie ein Eommobus,
6) Diefes Wachſen bezeugt mehr ale alles Andere die begendariſche Uebertreibung
in den auf uns gelommenen Berfolgungsberichten.,
176 -
ein Heliogabal und Baracalla, ihrer fhonten, wenn das nicht daraus leicht
fih erflärte, daß eben nur die guten Kaifer von der antiken Staatsidee er-
füllt waren und diefelbe aufrecht zu erhalten fuchten.
.5.
Durch den unermüdlichen Belehrungseifer feiner Bekenner hatte fich
das Chriſtenthum ſchon zu Tertullians Zeiten (Anfang des 3. Jahrh.) von
einer Gränze des Mönerreiches bis zur andern, ja weit über diefelben hin⸗
aus bis unter Die Germanen einerfeitö, die Perſer und Armenier ander
ſeits, verbreitet. Dazu half die Blüthe des Handeld und Verkehrs, wie
der Eriegerifche Marich der Legionen gegen die überallher drohenden Feinde
des Meiches. Auch innere Gründe wirkten mehr und mehr zur Ueberhand-
nahme der neuen Religion mit. Die Standhaftigkeit ihrer Bekenner unter
den Verfolgungen konnte ihres moraliſchen Eindrucks auf die Heiden nicht
verfehlen. Die Gebildeten unter den Letzteren wurden einestheils durch die
Bemühungen der chriſtlichen Apologeten, bon welchen wir in dem Kapitel
‘über die chriftliche Wiffenfchaft reden werden, überzeugt oder anderntheils
durch die tugendhafte Lebensführung vieler Ehriften gewonnen. Auf bie
Maflen dagegen wirkte anziehend der Befig der Wunderkraft, in welchem die
Kirche angeblich ſich befand und nicht weniger jener mächtige Zug, welchen
eine im Siegen begriffene Sache ftet8 auf die Menge übt. Endlich hatte
das Chriftenthum noch den großen Bortheil, daß es der im römifchen Welt-
reih bis zur Monftrofität gefteigerten polytheiſtiſchen Berbrödelung und
Berfahrenheit gegenüber als ein wohlgefügter Organismus daftand.
Zunächſt zwar dauerte nad Diocletians Abdankung die Ehriftenver-
folgung im Orient fort, bald jedoch flimmte eine tödtliche Krankheit den
Galerius milder. Sein Nachfolger in der Herrfchaft des Oftens, Marimin,
wollte eben die Verfolgung erneuen, als er im Kampfe gegen Licinius, ben
einen der beiden Herrſcher des Weftend, umkam. Licinius, der das ge=
meinfchaftlich mit Konftantin verfündigte Toleranzedict feinerfeitß gebrochen,
ward von Xepterem gejchlagen und ber Herrſchaft beraubt. Als Allein-
herricher verfündigte nun Konftantin Glaubens⸗ und Gewiſſensfreiheit im
ganzen Reiche (324), wie er fie früher in Gallien aufrecht erhalten, fo
lange er nur dieſe einzige Provinz beherricht hatte,
Man bat über die Beweggründe Konflantind zu dieſem Schritte, fowie
zu feiner jtetS größeren Begünftigung der Ehriften im Verlaufe feiner Re»
—— 0
# —
177
gierung vielfach hin und her geftritten. Geſchichtlich erweisbar ift nicht,
daß feine Mutter Helena ſchon vor 324 eine Chriftin geweien und ihn in
der hriftlichen Religion habe erziehen laſſen. Bon noch geringerer hiſtori⸗
fcher Bedeutung, d. h. von gar Feiner, iſt auch die befannte, von Euſebius
erzählte Legende, Konftantin jei zum Chriftenthum befehrt worden dadurch,
daß ihm vor der Enticheidungsfchlacht gegen Kicinius am Himmel ein ſtrah⸗
lendes Kreuz erichienen ſei mit der Umſchrift: „In hoc signo vinces.“ Die
biftorifchen Motive für Die Bekehrung des Imperatord liegen nicht im Bes
reiche der Mythen. Konftantin mochte durch die zahlreichen Chriften am
Hofe feined Vaterd die neue Religion Tennen, -ihre Anhänger achten gelernt
haben. Seinem Regentenblicke fonnte die Macht der chriftlichen Partei und
deren Bedeutung für jeine Plane, die Bürgfchaft tiefer Unterthänigkeit,
welche in der hriftlichen Lehre vom duldenden Gehorfam gegen die Obrig-
feiten lag, die fleghafte Gewalt der Begeifterung, welche daͤs Beldzeichen des
Kreuzed feinen zahlreichen chriſtlichen Kriegern erwecken mußte, nicht ent«
gehen. Darum erklärte er ſich zum Schirmherrn der Ehriftenheit. Auf
der andern Seite konnte ihm aud nicht. verborgen bleiben, daß die Ehriften
nod in der Minderheit wären und daher die Heiden nicht geradezu in ihrer
Religion gefränkt werden durften. Endlich jchwankte fein eignes Gemüth
noch immer zwifhen chriftlichen und heidniſchen Vorftellungen. Deswegen
blieb er Anfangs bei dem Grundfage allgemeiner Duldung ftehen, behielt
die Würde eines Bontifer Marimud bei, verordnete fogar ein regelmäßiges
Befragen der Haruſpices und empfing die hriftliche Taufe erſt Furz vor fei«
nem Tode.
6.
Das Chriſtenthum war durch Konfltantin Staatsreligion geworden,
ohne daß er es förmlich dazu erklärte. Die Duldung nämlich umfaßte alle
Religionen und ſchloß nur entjchieden unſittliche Culte aus; aber den Vor⸗
zug hatte das Chriftenthum vor den übrigen Religionen des Neiched, daß
der Kaiſer ſelbſt fih zum Schirmherrn Firchlicher Nechtgläubigkeit aufwarf,
indem sr nicht nur die Synode von Nicaͤa zufammenberief, fondern auch
ihren Schlußnahmen feine förmliche Genehmigung ertheilte und den Gehor⸗
ſam gegen biefelben bei Strafe der Verbannung befahl. Durch diefe Stel-
lung zur oberften Staatögewalt ermuthigt, im Begriffe, gegen Anders⸗
denfende unter den Chriſten ſelbſt aller Duldſamkeit zu entjagen, ward bie
Scherr, Geſch. d. Religion. IM. 12
T78
faum zuvor verfolgte Kirche von Berfolgungsgelüften gegen bad Heiden-
thum ergriffen. Die erflen Schritte Konflantind gegen das Heidenthum
waren Der Art, daß fle den Heiden jelbft nicht auffallen fonnten, da der rö⸗
mifche Senat und etliche Kaiſer früberhin Aehnliches gethan. Gr verbot
alle Wahriagerei, mit ihr die Orakel der Götter, zerfiörte phönikiſche Tem⸗
pel wegen unzüchtigen Götterdienfted und ſchaffte die Prieſter des Nil ab.
Zur Bersubung vieler griechiſchen und aflatiichen Tempel aber ftanden ihm
Bischöfe und chriſtliche Beamte bei, mit jenem Eifer, welchen früher die Hei⸗
den in Beraubung und Zerflörung chriſtlicher Kirchen an den Tag ges
legt. Nachdem dad Beifpiel des Kaiſers die Menge der Unentſchiedenen,
Grundſatzloſen und mit der Religion Speculirenden für das Chriſtenthum
gewonnen batte, durfte fein Sohn Konſtantius bereits wagen, bie Schlie⸗
ßung der heidniſchen Tempel zu befehlen und die „Götzenopfer“ bei Strafe
der Hinrichtung und Confiscation zu verbieten. Freilich konnte dies Edict
wegen der noch immer vorhandenen großen Menge der Heiden einſtweilen
nicht durchgeführt werden. Auch hatte Konſtantius, und dies thaten nad)
ihm noch ſechs Kaiſer, den Titel eines Pontifer Maximus ebenfalls ange⸗
nommen, ja es geduldet, daß der Senat ſeinen Vater Konſtantin nach deſſen
Tode unter die Götter verſetzte. Solche Inconſequenz trug begreiflich Vie⸗
led dazu bei, die Kraft des genannten Edictes zu lähmen. Die arianiſche
Spaltung war ein weitere Hinderniß der völligen Untertrüdung des Hei-
denthums, deſſen Anhänger durch gewaltiames Verfahren zu erbittern fich
jede der kirchlichen Parteien ſcheute.
Unter der Regierung Juliand des „ Abtrünnigen * machte dad Heiden--
thum feine legten Anftrengungen, dem Chriſtenthum den Sieg zu entreißen.
Die Unthaten feiner Faiferlichen Verwandten hatten, im Bunde mit pfäffi«
ſchem Zwang, ſchon die Kindheit dieſes Fürften gegen das Ehriftenthum er-
bittert.. „Der Nomantifer auf dem Throne der Cäfaren*1) erblickte dem
Chriſtenthum gegenüber das Heidenthum im idealifirenden Lichte einer gro⸗
Ben Vergangenheit und fuchte durch Neformirung des Tegtern den Lauf der
Geichichte aufzuhalten. Die Ehriften zwar wagte-er nicht offen zu verfolgen,
aber er verbot ihnen, in den Schulen zu lehren, .entfernte fie aus öffentlichen
Aemtern und Würden, befahl ihnen, die zerflörten Tempel wieder herzu⸗
4) Unter diefem Titel hat, wie Jedermann weiß, D. Fr. Strauß die Iulian’fche
Reaction mit feinfter Ironie Harafteriftrt.
179
fellen, die dazu gehörigen Schäge und Grundflüde wieder zurüdzugehen,
ſchenkte den heitnifchen Prieftern die feit Konftantin der Kirche beflimmten
Unterflügungen aus den Staatdeinnahmen, verbot die Bermächtniffe zu
Gunſten der Kirche und ihrer Diener und würdigte Die riftliche Hierarchie -
auf alle Weile herab. Dieje Verordnungen riefen einerfeits Gewaltthätig⸗
Feiten des heidniſchen Pöbeld, andererſeits vielfache Empörungen der Ehris
fen hervor. Julian war nahe daran, dad Neich in allgemeinen Bürgerkrieg
zu ſtürzen, al8 ihn der Todesſpeer eined Perſers -mitten if feiner thatenrei-
en Laufbahn unterbrah 2). Sein Nacjfolger Jovian befannte ſich ſofort
Öffentlich als Chrift und hob ſämmtliche Edicte Suliand auf. Dagegen er«
ließ er zu Gunften der übrigen Religionen. ein allgemeines Toleranzedict,
von defien Wohlthaten nur die Magie ausgenommen war. Auch Valenti-
nian hielt den Grundfaß allgemeiner Toleranz aufrecht und ließ nur Die
unzüchtigen Urten des Götterdienftes, fowie im Einverfländniß mit den aufs
geflärteften Heiden, die nächtlichen Opfer nicht mehr zu. Gegen die, aller⸗
dings vielfach in verhrecheriiche Praktifen (Liebestränfe, Giftmorde u. ſ. w.)
audgeartete Magie jedoch erhob er eine fo allgemeine und graufame Verfol⸗
gung, daß man diefelbe den Hexenprozeſſen Fühnlid an die Seite ftellen
Rarf,
Balend, der Bruter und Mitregent Valentinians, verfolgte in ſei—
nem Gebiete die Athanaflaner, und man fah das merkwürdige Schaufpiel,
wie ein heidnifcher Minifter dieſes Kaiſers fich die Gunft der Artaner durch
Grauſamkeit gegen ihre Mitchriften erwarb. MUeberwältigt von dem Ein-
fluffe der chriftlichen Geiftlichfeit, befonders des Biſchofs Ambroſtus von
Mailand, vernichtete endlich der Kaifer Theodoflus die Macht des Heiden-
thums vollftändig. Nachdem der römiſche Senat, bisher feiner Mehrheit
nach den alten Göttern ergeben, nun aber durch die Anwefenheit des Theo⸗
doſtus eingefchüchtert, mittelft förmlichen Beſchluſſes den Göttervater Jupiter
und die Seinen abgefegt hatte und das Verbot des alten Götterdienftes von
dem verfammelten römifchen Volke angenommen worden war, erhob fih im
ganzen Reiche ein wahrer Verheerungsſturm gegen die Tempel und Götter
bilder, nicht felten unter dey Anführung hriftlicher Bifchöfe. Hier und da,
3. B. in Ulerandrien, vertheidigten die Heiden ihre Heiligthümer mit Erbite
terung, doch überall vergebens. Leider verfchonte die barbarijche Wuth bes
2) 3. 3. 363.
12%
180
Erzbiſchofs Theophilus von Alerandrien nicht einmal die berühmte Biblio⸗
thek der Ptolemäer, wie denn das Chriſtenthum in ben erften Beiten feines
Triumphes einen wahrhaft blödfinnigen Vertilgungsfampf gegen die herr⸗
lichen Vermaͤchtniſſe der antifen Kunft und Poefte entwickelte. Der Moͤnchs⸗
geift ließ fich Damals in dem ganzen Glanze feiner Stupidität fehen. Doch
fehlte e8 in dieſer Götterbämmerung alles Schönen zum Glück auch nicht an
rühmlichen Ausnahmen.
Bis zur Regierung des Juſtinian wahrte das Heidenthum feine legten
Lebensfunken bauptfählic in den neuplatonifchen Philoſophenſchulen. Die
Philoſophen, obſchon fle zuerfl den alten Glauben untergraben, follten feine
legten Bertheidiger fein. Das Chriſtenthum hatten fie befämpft weſentlich
aus Abneigung gegen alle Bolföreligion, wohl auch, weil es nidt in ihre
hergebrachten Denkformen bineinpaßte. Die Unedleren ihrer Zunft hatten
fogar den Fanatismus des heidnifchen Pöbels gegen die Ehriften gehetzt.
Nun aber waren fie längft wieder friedliche, unſchädliche Gelehrte geworden,
wandelnde Ruinen einer vergangenen Beit. Dennoch ſchloß Juſtinians
graufamer Befehl ihre Schulen zu Athen, wo fie noch eine Nachblüthe er»
lebt Hatten (529). . Somit durfte man zu einer Zeit, wo die Chriſtenheit
großentheild ſchon wieder heidniſch geſinnt war, wenigftens nicht mehr
heidniſch denken.
7.
Indem wir das Chriſtenthum in ſeiner Verbreitung außerhalb der
Grenzen des römiſchen Reiches verfolgen, müſſen wir in die Zeiten vor
Konſtantin zuruͤckgreifen. In Perſten ſoll ed vor Ende des 2. Jahrhunderts
Eingang gefunden haben. Ungeachtet ihm dafelbft die feftgegliederte Prie⸗
fterfafte der Magier, feit 227 auch eine neu belebte, an Monotheismus freie
fende Religion gegenüberfland, war es doch zu Konftantind Zeiten jo weit
verbreitet, Daß der perfliche König von einer Verfolgung nur dur Konſtan⸗
tins mächtiged Fürwort abgehalten werben fonnte. Im A. Jahrhundert
ſtanden die faft in ganz SBerfien verbreiteten Chriflengemeinden unter dem
Metropoliten von Seleucia. Aber der Umſtand, dag ſeit Konflantin das
Chriſtenthum in dem benachbarten Armenien das Uebergewicht errungen,
bie enge Verbindung der perfifchen Chriften mit der römischen Reichskirche,
deren Kaiſer jo häufige Kriege gegen Perflen führten, und die Unduldſam⸗
keit der Magier erregten ebenjowoh! das Miptrauen als den Religiondeifer
der perſiſchen Könige, fo daß von 343 an eine faft ununterbrochene Verfols
gung begann. Nur die von den orthodoxen Kaiſern verfolgten Sekten fan«
den Schuß bei der perſiſchen Politif, fo Die Magufäer und Manichäer. Auch
in dem, 429 eroberten Armenien wurden die Ehriften von den Magiern ver⸗
folgt. Das Ehriftentbum in Perften jelbft unterlag fammt der Religion
der Magier erft dem flegreichen Islam. — Gibbon nimmt an, das Chris
ſtenthum fet in Aethiopien erft ſeit Konftantin mir Erfolg verfündet wor«
den; doch beutet die Erzählung der Apoftelgeichichte von der Belehrung des
Känmererd aus Aethiopien Darauf, das Chriftentbum habe ſchon während
des 1. Jahrhunderts Einfluß in Aethiopien gewonnen, was. fi um fo eher
annehmen läßt, als fein Erfolg in diefem Lande gar nicht von dem Einfluß
ber römifchen Katjer abhängig war. Dagegen vermochte das Beilpiel Kon
ftantind die Könige von Armenien und Iberien, dad Chriftenthum anzuneh⸗
men. Arabien beſaß während der drei erften Jahrhunderte nur wenige Ehri«
” flengemeinden. Späterhin theilten fich dafelbft die alte Nationalreligion,
das Chriftentbum und das Judenthum in die Herrichaft, bis Mohammed
auftrat. | |
Im 4, Jahrhundert war das Chriſtenthum in Britannien herrſchend
geworden. Don hier aus verbreitere (um 430) der Brite Patric! daſſelbe
in Irland, Columba unter den Pikten in Hochſchottland (um 535). Die
Ungelfachfen, deren Invaflon das Ehriftenthum nad Wales und Northum⸗
berland zurüdgedrängt, wandten ſich demſelben nur zögernd zu, feit der Kd-
nig Ethelbert von Kent durch Miſſionäre Gregors ded Großen fi hatte
befehren laſſen. Die Zugeftänpnifle diefes fchlauen Kirchenfürften, welde
ber lebenefrohen Sitte der Angellachfen gemacht wurden, fchjeinen nothwen⸗
Dig geweien zu. jein, um Diefen germanifchen Stamm nicht von vornherein
abzufhreden. Daß die Kelten in Gallien, Britannien und Irland daß
Chriſtenthum ohne dergleihen Zugefländniffe und jchneller angenommen
hatten, als die Angelſachſen und fpäterhin die Sachſen felbft, mag wohl
barauf zurüdzuführen fein, daß der Druidismus einerjeitd dem Chriſten⸗
thum verwandte Elemente in fid entwidelt hatte, andererjeitö aber jeine
foziale Organifation ſchon zu verrottet war, um eines bedeutenden Wider⸗
flandes fähig zu fein.
Unter den germanifhen Stämmen waren jedod die Gotben die Erften,
unter welden fidy das Chriſtenthum verbreitete. Da einestheils der Glaube
an eine Bortdauer nach dem Tode fih bei ihnen am hödften ausgebildet
181
182
hatte und fe anderntheil® die beleibigte Gottheit nur durch Menfchenepfer
recht verföhnen zu koͤnnen meinten, fo waren fle für: dad Evangeliun vom
am Kreuze geopferten und wieder aufgeflandenen Chriſtus unſchwer zu gr»
winnen. Unter den heidnifchen Katiern Valentinian und Gallienus (253
— 268) hatten fle viele CHriften aus dem Reiche gefangen fortgeführt und
waren bereits in großer Zahl von denfelben befehrt worden. Die Beichlüfie
des nicäniichen Goncils unterzeichnete unter Andern auch ein Biſchof der
Gothen, Namend Theophilus. Unter den aus Kappadocien weggeführten
chriſtlichen Gefangenen hatte ſich auch Ul fila (Wulfla — Wölfle) befuns
den. Dieſer, um 348 zum Biſchof geweiht, hat das Meiſte zur Ausbrei⸗
tung und Befeſtigung der chriſtlichen Religion unter den Gothen gethan.
Er überſetzte die heilige Schrift ins Gothiſche, ſich eifrig bemühend, für die
neuen Ideen den entſprechenden Ausdruck zu finden 1). Er war es auch,
der die gothiſchen Chriſten zum Arianismus leitete, ein böchſt folgenreicher,
zum Theil unheilvoller Schritt. Die Niederlaffung der Gothen in Möſten
anter dem arianifchen Katier Valens befeftigte fle im Arianiemus. Zu
Anfang des 5. Jahrhunderts hatte das ChriftentHum unter den Weflgotben
(diefe nämlich find unter den bisher allgemein genannten Gothen zu vers
ftehen) vollftäntig geflegt und auf ihren Groberungszügen befehrten die
Meftgotben auch ihre Stammverwandten, die Oftgokthen in Pannonien,
ebenfo die Burgundionen, Sueven und VBandalen. Don diefen ſämmtlich
arianiſchen Stämmen verfolgte nur einer die Athanaflaner in den erober»
ten Provinzen, naͤmlich die Bandalen unter Genſerich nach der Eroberung
von Nordafrika.
Die Hriftfihe Lehre von der Dulpfamfelt und der Großmuth, tie —
freifih vergeblih — Streiche mir Streichen zu vergelten verbietet, wider⸗
ftand ter flreitbaren Sinnesmweife der Germanen höchlich. Sie mußten das
Her erfl erfahren, daß wenigftens die Kirche es mit Dfefer Lehre keineswegs
fo buchſtaͤblich nahm, mußten erft durch der chriſtlichen Weſtgothen glänzende
Siege überzeugt werden, daß der Ehriftengott ein ſtarker Sort und daß Hel⸗
1) Die Bruchſtuͤcke diefer gothiſchen Bibelüberfekung, aufbewahrt in den Codex
argenteus zu Upfala, in dem Codex Carolinus zu Wolfenbüttel und in einem Codex
der Ambrofana zu Mailand, And uns Deutfchen, audy ganz abgeiehen von ihrem Ins
halt, heilig. Denn, wie befannt, bilden fe das ältefte Denkmal unferer Sprache,
find die Urquelle deuticher Sprachwiſſenſchaft. Ausgabe von Gabelentz unt Löbe,
Altenburg und Leipzig 1836. Ausg. von Mafmann, Stuttg. 1856.
183
venrubm auch Vekennern des Kreuzes zu: erringen möglich fiel. Aus dem⸗
felben runde hatten die Yranfen, obwohl ihrer viele ala Söldner der römie
fchen Caͤſaren fich befehrt Hatten oder von den chriſtlichen Bewohnern: er+
oberter Ranüfiniche befehrt worden waren, ihrer großen Mehrheit nach am
Hribenthum:feftgehalten, bid angeblich das erfolgreiche Gebet ihres Helden⸗
königs Ehlodiwig in der Schlacht bei Tolviacum (Bülpid) fie ebenfalls von
der Obmacht des Chriftengotted überzeugte (406). Den König taufte- ber
Erzbiſchof Memigius von Rheims 2). Dem Beifpiel des ftegreichen Fuͤrſten
und feines Volkes folgte ein großer. Theil der durch jene. Schlacht unterwor⸗
fenen Alemannen ; ihr füdlicher Theil jedoch; der zwiihen dem Rhein und
den. Alpen wohnte, ward erſt durch irifche Milflonäre, Bridolin (A. 514),
Gallus und Columban (feit 614), für das Chriſtenthum gewonnen. Baly
nach ihrer Belehrung zum Ghriftenthum überhaupt wurden die Rongebarben
durch den Einfluß ihrer Königin Theodelinde, der Verehrerin Gregors Des
Großen, zum Athanaſtanismus binitbergesogen (600).
8.
Unter. dem Schutz der fraͤnkiſchen Könige, als bevollmädtigter Apoftel
Gregors des Großen, verbreitete Winfried oder Bontfactud das Chriſten⸗
thum zwiichen Rhein, Donau, Saale und Unftrnt. Als Burgen des neuen
Glaubens errichtete er Klöfter, von: benen aus Geſittung und bie friedliche
Beichäftigung des Aderbaues unter den: Reubelehrten verbreitet wurden.
Ebenfo trefflich erwielen fich die Klöfter in der Naͤhe der Grenzen ald Bor
burgen gegen. dad Heidenthum. Ueberall organifirte Bonifacius Landes»
firhen und unterwarf diefelben dem apoflolifhen Stuhl,
als deſſen Gtelfsertreter er felbft von Mainz aus, mit der Würte eines
Erzbifchofs bekleidet, die deutſche Kirche regierte. Der „Apsflel’der Deuts
ſchen“ ward 755 von den heibnifcdyen Briefen -bei feinem zweiten Bekehrungs⸗
verſuch erichlagen 1). Erſt nach ihrer Unterwerfung dur die Franken ber
kehrten ſich die Frieſen.
2) Die Franken nahmen das athanaſianiſche Bekenntniß an. Ihre Siege und
Eroberungen trugen das Meifle zur allmaͤligen Unterdruͤckung des Arianiennre: bei.
1) Bunfen, zu defien unbebingten Verehrern ich übrigens nicht gehöre, hat, wie
mirfegeint, in feinen „Zeichen der Zeit” E, 78 fg.) die beſte, weit parteiloſeſte Würs
digung der Wirkfamfeit des-Bonifacius gageben.
184
Bis dahin waren alle heidniſchen Völker, die fich befehrt Hatten, durch
ganz friedliche Mittel für das Chriſtenthum gewonnen worden. Wit Karl
denm Großen beginnen die gewaltfamen Bekehrungen, weldye von der gefun-
kenen geiftigen Kraft der Kirche das fprechendfte Zeugniß geben ). Bevor
wir zur Erzählung berjelben vorgeben, vergegenwärtigen wir uns raſch bie
hohe Bedeutung der Völkerwanderung für die Ausbreitung tes Chriſten⸗
thums. Daß diefe ungeheure Umwälzung, die Völkerwanderung, gerade
dann eintrat, als das Chriſtenthum den Sieg im römifchen Weltreich errun-
gen hatte, öffnete diefer erobernden Religion ein Feld der Wirkfamfeit, wel⸗
ches ihr fonft ganz oder größtentheils verfchloffen geblieben wäre. Die Bes
flegten mußten felbft ihre Befleger dem Chriſtenthum unterwerfen: fo woll
ten es die Weltgeſchicke. Hinwieder ſollte das verdorbene Weſen der Römer
und Griechen an der unverdorbenen Jugendfriſche der Germanen ein Mi⸗
ſchungselement empfangen, welches ſich kraͤftig genug erwies, das ſchon ent⸗
artete Chriſtenthum vor gaͤnzlichem Verſinken zu bewahren und, durch die
neue Religion befeelt, eine neue Welt an der Stelle der zufammenflürzenden
zu geftalten. Das Chriſtenthum, weldes die ſchlummernden Keime des
deutfchen Geiſtes zu den herrlichſten Entwidlungen wedte, bat Die germani⸗
ſchen Stämme zu Herrſchern Europas, ja des ganzen Erbballd, erhoben.
Es Hat die Abneigungen ber Nationalitäten gemildert und alle Völker,
welche die große Wanderung mit ihm in Berührung brachte, mit Ausnahme
der Hunnen, mit den Bewohnern bes römifchen Weltreiched zu einer Fa⸗
milie zu verbinden verſucht.
9.
Der Erfte, welcher mit dem Schwerte zum Glauben an den Gekreuzig⸗
ten befebrte, war Karl der Große, der mächtige Branfenfaifer. Ihm, der
durch paͤpſtliche Weihe das abentländiiche Kaiſerthum in feiner Perfon bat
erneuen und auf den fränkftichen Herrfcherfiamm übertragen lafien, ſchien es
doppelte Pflicht, fi nicht nur als Schirmherrn, fondern auch als Mehrer
und Förderer der Kirche zu bewähren. Der Beſchimpfung des bimmlifchen
Königes durch, Gögendienft”, fo weit fein Arm reichte, ein Ende zu machen,
paßte gar wohl zu feinen auf Errichtung eined germaniſch⸗römiſchen Kaifer-
3) Es fol damit nicht gefagt fein, von da an feien alle Belchrungen gewalts
fam vor ſich gegangen ; aber wir werten von nun an beren genug antreffen.
j 185
%
thums geridgteten Groberungsplanen. Zudem begriff er die nivellirende
Macht des Chriſtenthums jehr gut: kein ſtärkeres Mittel gab es, den flarren
Nationalgeiſt der Sachſen zu beugen. Schon vor feiner Kaiferfrönung
hatte er daher die Sachen mit Gewalt zu befehren gefucht, aber erft drei
Sabre nachher (803) war ihre Unterwerfung und Außerliche Belehrung voll»
endet. Wie gewaltthätig er bei feinem Bekehrungswerke verfuhr, ift in je⸗
dem nicht gar zu einfeltig pfäfflihen Schulbuch des Breiteren zu Tejen 1).
Wenn man aber dieſe fchlächtermäßigen Bekehrungen betrachtet, fo kann
man daraus lernen, wie tief dad Chriftenthum binnen acht Jahrhunderten
von feiner idealen Höhe herabgefunfen.
In Skandinavien wehrte theils die Eriegerifche Wildheit ber. Bewohner,
theils die Höhere Ausbildung bed germanifchen Religionsſyſtems dad Chri⸗
ſtenthum am längften unter allen. germanifhen Stämmen ab. Jütland,
Dänemark, Schweden und Norwegen empfingen die erfien Keime des neuen
Glaubens durch Die unermüdliche und unerfchrodene Thätigkeit des Ans⸗
garius, eines Mönches aus dem Kloſter Corvey. In Daͤnemark gelangte
das Chriſtenthum zur Herrſchaft unter Knut dem Großen (1015 — 1030),
welcher die daͤniſche und britiſche Krone auf feinem Haupt vereinigt hatte.
Sauptfächlich von England aus ward das Miſſionswerk auch in Norwegen
und Schweden mit Eifer fortgefegt. In beiden flegte das Chriſtenthum
um ‚die Mitte des 12. Jahrhunderts. In Island, der Heimat: der Edda,
erhob fih das Kreuz im 11. Sahrhundert durch norwegiſche Chriften, gleiche
zeitig in dem feit 972 bevölferten Grönland. Die Belehrung Böhmens
war mittlerweile (Ende des 9. Jahrh.) von der griechischen Kirche aud bes
gonnen worden. Die römiſch⸗ germaniſche Kirche vollendete aber erſt feit
dem politifchen Anſchluß Böhmend an Deutfhland (10. Jahrh.) die Aus⸗
rottung des bortigen Heidenthums und gewann dadurch Böhmen für fich;
ſpaͤterhin ebenfo das von Böhmen aus befehrte Polen. In beiden Ländern
hatte das Beifpiel der Fürſten dem Chriſtenthum Bahn gebrochen. Dafjelbe
war der Val in Rußland. Da Mohammedaner, Juden, griechifche und
römische Chriſten den Großfürſten Wladimir (fl. 1045) mit Bekehrungs⸗
verſuchen bedrängten, fanbte er zehn feiner verfländigften Unterthanen in
1) Neben Karl dem Großen hat ſich unter den Völkern germanifhen Stammes
durch graufamen Befchrungseifer befonders der König Olaf Tryggvafon von Norwe⸗
gen den Namen eines Heiligen erworben.
186
verſchiedene Länder, um alle bie cancursirenden Meligiowen genau zu vruͤfem
Dir griediihe Cultus beſtach das Urtheil diefer Asgefandten am meiften,
duher der Großfürſt mit ben -Bojaren des Meiches beichloß, man wolle fl
ber. griechifchen Kirche zuwenden. Er zwang durch die Eroberung Cherfons
den Kauiſer Bafllins IE, ihm feine Schweſter Anna zu vermählen. Nach
Gewährung dieſes Wunſches nahm er ſammt feinem Bolt die Taufe im
Dniepr.
Seit 863 hatten griechiſche Rifftonäre and die Bekehrung ber Sla⸗
ben in Mähren begonnen ; zu Ende ded 9. Jahrhundertö war der eine der⸗
‚felben, Metbodius, bereitd? Oberbifchof von Mähren. Nach jeinem Tode
wußte Rom auch diefe Provinz der griechifhen Kirche abzugewinnen. Die
Bommern, Wilsen und Obotriten, unter denen ſich der Cultus des ſlavi⸗
fen Heidenthums am böchften ausgebildet hatte, widerſtanden ebenſo Hartz
nädig den Waffen, wie den Mifftsnären Polens und Deutſchlands. Ends
lich von Boleslav MI. unterfocht, ‚Tiefen fick die Bommern taufen (1128):
Die übrigen Stämme der. Wenten beflegte und zwang zur Belehrung der
Sachſenherzog Heinrich der Löwe, 1142 — 1162: — Im 9, Jahrhundert
erloſch der’ ſchwache Reſt griechiichen: Heidenthums, welder fi unter ben
Marnoten im Peloponnes erhalten hatte. Die feit 865 beflehende bulga⸗
vifche Kirche wurde ein Zankapfel zwiſchen Rom und Konfkantinopel. Im
11. Jahrhundert fiegte durch Stephan, den: erfien chriſtlichen Fürfien? ber
Magyaren, das Chrifienthuum auch in Ungarn, Tem altrömiſchen Bannoniem
Die Finnen unterwarf und nöthigte zur Belehrung. im 12. Jahrhundert
Erich der Heilige, König von Schweden. Theils durch Schug gegen ihre
Feinde, theils durch den Ritterorden der Schwertbrüder, den Biſchof Als
brecht von Riga. 1.202 geftiftet, am wenigften dur das Evangelium, wur⸗
den big 1211 auch die Bewohner von: Lievland und Eſthland, letztere zus
gleich mit: Hülfe der Dänen, befchet. Die Preußen angehend; waren: feit
dem 10, Jahrhundert an ihrem: Mßtrauen alle Bekehrungaͤverſuche geicheis
tert. Sie hatten Gelegenheit geamg gehabt, zu bemerken, um was fir höchft
weltticher Zweche willen :polniiche und deutſche Fürften fib fe: eifrig um: ihr
Gechonbeit: befämmerten.. Zulegt, ald fie wieder ein Blutbad unter ben
Ehriften ihres Landes angerichtet hatten und in Polen eingebrochen waren,
ließ ſich der. zu Hülfe gerufene deutiche Mitterorten 1226 Preußen ſchenken
und führte bis 1283 gegen Died unglüdliche Wolf einen Vernichtungsfrieg,
Durch Anlegung fehler Städte und Burgen und Herbeiziehung zahlreicher
187
veutſcher Eoloniften ward endlich die Chriſtianiſtrung Preußens erzwungen.
— Dem litthauifchen Großfürften Sagello genügte die Hand der polniſchen
Thronerbin, das Chriftentium anzunehmen, feinem Volke weißwollenes Ge⸗
wand ald Pathengeſchenk und dad Beifpiel feines Fürften, daffelbe zu thun
(1386). Daß bei allen diefen Völkern ſelbſt wichtige heidniſche Bräuche
Jahrhnunderte nach ihrer Befchrung fih erhielten, Darüber wirb ſich Niemaud
wundern, ber bedenft, daß die Bekehrung zum Chriſtenthum jett Karl dem
Gtoßen fehten mehr etwas Anderes war, als eine Pelzwaͤſche unter dem Her⸗
ſagen gewiſſer Formeln 2).
10.
Waͤhrend das Chriſtenthum, das Schwert als umgekehrtes Kreuz in
der Hand, feinen Siegeszug durch Europa vollendete, erhob ſich gegen feine
affatiichen und afrifanifchen Länder, fogar nah Spaniens Eroberung das
mächtige Frankenreich bedrohend, das halbmondförmige Schwert des Islam.
Has Refultat des großen Kampfes zwiſchen Chriftenthum und Moham-
medanerthum, anf welden wir im 6. Buch zurikdfommen werben, war
einftweilen die Herrihaft des Islam über die Hämushalbinſel, Kleinafien,
SHrien, Arabien, Aegypten und Die ganze Nordküſte Afrikas, jedoch fo, daß
in Aften etliche chriftliche Sekten, im europätfchen Thetl ded Reiches, befon⸗
Ders in Morra, die griechiſche Kirche ſich unter der urſprünglichen Bevölke⸗
rung erhielten.
2) D. h. damit begnuͤgten ſich im der Regel die Bebehrer, welche wohl wußten,
warum fie ihren Profelgten tas Joch des neuen Glaubens fo leicht und fanft als mög»
lich zu machen ſich bemühten. Allein es wäre doc rein unbegreiflih, mie gerade die
Germanen — tenn diefe haben wir hier vornehmlich im Auge — die eigentlichen welts
Hiftorifchen Träger des Chriſtenthums bitten werden koͤnnen, wenn ben Außerlichen
Bekehrungsgruͤnden und Belehrungsmitteln nicht hoͤchſt bedeutende innerliche zu Sülfe
gelommen wären. Ich finde dieſe, abgefehen von ber germanifchen „Innerlichkeit” übers
haupt, insbefondere in den Aehnlichkeiten zwifchen altgermanifch-heidnifchen und chrifts
liben Dogmen. Den „flarfen und eifrigen Gott“, ben jüdiſch⸗chriſtlichen Jehova,
konnten die Germanen, welche den Jorn der Goͤtter durch „Manblot“ (vgl. Thl. 1,
S. 341) zu fühnen gewohnt waren, unfchwer fich gefallen laſſen. Dee chriſtliche Teu⸗
ſel entforad, ganz gut ihrem Loki, wie ihre Genien und Helden den chriſtlichen Heiligen
entiprahen. Die Wunder Odhins und Thorrs machten ihnen auch die Ehrifti glaubs
haft, die Lehre von ber Unfterblihfeit der Seele war ihnen von Haufe aus geläufig
und dad Dogma vom füngften Gericht konnte ihnen ganz gut als eine Verfion ihres
eigenen von der Goͤtterdaͤmmerung erſcheinen.
9
188
Zum Erfah für jene Einbußen ſchloß aber die Entdedung Amerikas
und die Findung des Seeweges nad Oftintien dem Ehriftenthum neue Ge⸗
biete befehrerifcher Ihätigfeit auf. Freilich merfien die Eingebornen Ame⸗
rifad bald, daß die neue, mit Gewalt ihnen aufgebrungene Meligion ihre
Sklaverei zu verewigen beftimmt wäre. So gelang ed denn dem Fanatis⸗
mus der Spanier nur, die Azteken und Inkas zu vernichten, nicht aber, fie
zu befehren. Nachdem die befehrungßeifrigen Dominikaner dies eingefehen
hatten, errangen fie, den edlen Lad Caſas an der Spike, bie Losſprechung
der Indianer von der Sklaverei, freilich mehr nur in der Theorie als in der
Praris. Das Unglüd ihrer Brüter erregte bei den übrigen Stämmen ber
Indianer fo großes Mißtkauen gegen die hriftliche Religion, daß ihnen auch auf
dem Weg der reinften Milde wenig mehr beizufommen war. Nur den Jefuiten
in Paraguay, welde Liſt und Milde mit weifer Berechnung der indianiſchen
Gemüthsart verbanden, gelang es, daſelbſt eine blühende Golonie unter den
Indianern zu gründen. Da wurden die hriftlichen Indianer zu fleißigen
Arbeitern und guten Kindern, welche die Bäter Iefuiten wirflic lieb hatten,
Die rohe Bauft der Staatögewalt, welde fpäter die Iefuiten ihres rothen
Kindergartens in Paraguay beraubte, hat wieder Alles verdorben.
Wie das Chriftentfum in China, Oftindien, Afrifa, kurz unter den
Völkern beinahe aller Farben und Zonen im Laufe der geographiichen Ent«
deckungen mehr oder weniger Eingang gefunden, kann hier nicht naher dar⸗
geftellt werden. Wir verweilen hierüber auf die Geſchichte der Miſſionen
und begnügen uns, einige befonders Wichtige hervorzuheben. Um die Mitte
des 16. Jahrhunderts Hatte der Jeſuit Xaver das Chriſtenthum in Japan
gepflanzt. Daß er auch dort, mitten im Heidenthum, Roſenkraͤnze, Colibat,
Mönche und eine Art Papſt vorfand, ſchien ihm anfänglich eine Nachaäffung
des Chriſtenthums durch den Teufel!). Bald aber erkannte er, wie günftig
biefer Umftand ber Verbreitung des römiſchen Chriſtenthums unter den Ja⸗
panefen wäre. Nach feinem Tode erhob fih, da die Iefuiten nur den aufe
erftandenen, wohlweislich nicht den gefreuzigten Chriſtus predigten, die ja=
panifche Kirche zu hoher Ausdehnung und Madıt. Aber zu früh zeigten bie
Patres ihre Herrfchergelüfte, zu forglos ihre fleifchlichen Schwachheiten, fo
daß ſich von 1587 an eine faft ununterbrochene Chriftenverfolgung erhob, die
1) Ein Puritaner hätte daraus gefchloflen, die römifche Kirche Habe den Teufel
nachgeahmt, vieleicht Hiftorifch richtiger, wenngleich ebenfalls unHöflich genug.
®
189
mit Ausrottung des Chriſtenthums und der Sperrung Japans gegen das
ganze Ausland endigte.
Die katholiſche Miſſton Hat in neuerer und neuefler Zeit nach allen
Himmeldgegenden bin eine fehr umfafjende Thätigkeit entwidel. Ob ihrer
Anftrengung die Erfolge entfprechen, ift noch nicht zu entſcheiden. Dik pro⸗
teftantifche Miffton wetteifert mit ihr, ift aber weitaus in den meiften Fällen
nur der Pionier engliicher und yankee'ſcher Handelgintereffen. In Wahre
heit, der Welthandel ift der eigentliche Mifflonär unferer Tage und injofern
er allmälig auch die entfernteften und roheften Völker des Erbballd in ben
Bereich materieller Eultur Hereinzieht, muß er mit oder wider Willen, aud
der Träger geifliger Bildung werden. Das Chriſtenthum, fo wie ed num
einmal geworden, hat tieffte Schattenfeiten, aber feine Lichtfeite, feine civi⸗
liſtrende Macht, follte darob nicht überjehen werden. .
11.
Der äußeren Ausbreitung der hriftlichen Kirche entiprah ihr Ausbau
im Innern. Mit ihrer Vergrößerung ward ihre Organifation immer com⸗
pltcirter und zugleich weltliher. Die Geſchichte der Kirchenverfaflung ftellt
und die allmälige Entwidlung der Kirhenherrfchaft (Hierarchie) einer-
feitö, die immer größere Ausartung der Kirhenzucht andererfeitd vor Au«
gen. Die Darflellung der Iegtern wird daher den paffenden Uebergang zur
Geschichte der Kirhentrennungen bilden.
In der Gemeinde zu Jeruſalem, welche theild zur Beftreitung der Lies
besmahle, theils zur Unterflügung der Armen, der Wittwen und Waifen
unter ihren Gliedern eine aus freiwilligen Beiträgen gebildete Kaffe führte,
beforgten zuerft die Apoftel die Leitung aller das Gemeinwefen betreffenden
Angelegenheiten. Die Eiferfucht der helleniſtiſchen Glieder gegen die rein
jüdifchen, betreffend die tägliche Armenbeforgung, veranlaßte die Apoftel,
von der Gemeinde fieben Armenpfleger (Diakonen) wählen zu laſſen.
Später mag eine Ähnliche Veranlaffung die Wahl von Gemeindeälteften
EPresbytern) nah dem Vorbilde der jüdiſchen Synagogenverfaſſung
hervorgerufen haben. Dieſelbe wird zwar in der Apoftelgefchichte nicht er⸗
zählt, aber (Rap. 11, V. 30) bereits voraußgefegt. Die wachſende Zahl
ber Gemeindeglieder erforderte gebieteriich ſolche Arbeitötheilung in den
Dienft des Wortes, dem die Apoftel, die äußere Keitung der Gemeinde, der
die Preöbpter, und die Armenpflege, welcher die Diakonen vorftanden. Die
480
Erbauung der Gemeinde blich deſſenungeachtet nach wie vor ein Hecht Aller,
die fich dazu getrieben fühlten, und mit dem Hirtenamte der Presbyter war
die Ausübung eines bejondern Lehramtes noch nicht verbunden. Als eigent-
liche Gemeinde vor ſteher, deren Verfammlung an der Stelle des Syne⸗
driums über die wichtigften Angelegenheiten entihied, galten (nach Apgſch.
15, 6) nur die Apoftel und Presbyter ; die Diakonen waren bloße Kirchen
diener, wie ſchon ihr Name anzeigt. |
Die heidendriftlichen Gemeinden empfingen weſentlich diefelbe Ber»
faflung ; doch Fam unter ihnen zuerſt die Bezeihnung der Xelteften ald Aufs
feher (Erioxonos, Biſchöfe) auf, ein unter den Griechen und Römern
zur Bezeichnung politifcher Aemter fehr gebräuchlicher Name. Zu fünmts
lihen Gemeindeämtern wurden Die Gewählten durch, Handauflegung und
Gebet eingeweiht, um ihnen ‚dadurch Die zu jegendreihem Wirken nothwens
digen Geiftesgaben (Charismen) zu verfchaffen. Dies war die priefterliche
Ordination in ihrem Keime. Noch während der apoftolifchen Zeit wurden
auch Brauen dem Dienft der Gemeinde gewidmet und zwar ald Diakoniſ—
fen, welche die Armen ihres Geſchlechts zu beforgen hatten.
| Noch während der apoftolifden Zeit wurde mit der wachienden Zahl
des Gemeindeglieder die Lehrgabe teltener, jo daß die Gemeinden hei der
Mahl von Presbytern wefentlih auf Lehrbefähigung Rückſicht zu nehmen
anfingen. Im 2. Jahrhundert war die Firchliche Rede und mit ihr die Ver-
waltung der Sacramente bereitd Borrecht der Kirchenvorfieher geworden ;
deswegen erſchienen diefe ald von heil. Geift beſonders Begabte, demnächſt
ald von Gott befonderd Bevorzugte oder Erwählte und wurden daher mit
dem Gefammtnamen Kleru8 bezeichnet im Gegenjag zum übrigen Ehriften-
volfe, den Laien (von Auog scil. Feod, Volk Gottes). Durch ſolche
. Erneuerung des altteftamentlichen Prieſterthums erhielt erft die feierliche
Handauflegung ihre Bedeutung ald Ordination, d. h.. Aufnahme in den
geiftlihen Stand.
Eine Behörde, wenn fie zu tücdhtiger Gefhäftsführung befähigt jein
fol, bedarf immer eined Vorſitzenden, der ihre Verhandlungen leitet.
1) Klerus, vom griechifchen xAngos, bezeichnet eigentlich das 2008, unter Hin-
weifung darauf, daß Gott durch das Loos die Erwählung des Matthias zum Apoftel
fundgegeben. Apoftelgefh. 1, 26. „Wem Gott Berftand giebt, dem giebt er das
Ant.” Später ward daraus: „Wem Gott das Amt giebt, dem giebt er auch Ver⸗
fand.” \
191
Griftiged Uebergewicht und Organiſationstalent machen ſich aber zulegt in
allen Behörden geltend. Daher kam ed, daß unter den Presbytern, welche
Anfangs wahrſcheinlich abwechſelnd den Berfig führten, nah und nad die
Sitte auffam, dem ausgezeichnetſten Mitglied den beftäntigen VBorfig zu üben
teagen. Dieſes, da feine Aufſicht am meiften in Anſpruch genommen wurde,
ward ſchlechthin der Auffeher, Biſchof genannt, ein neues Amt, welchen: das
Intereffe der kirchlichen Einheit im Kampfe gegen. dad Heidenthum immer
mehr Obliegenheiten und Rechte übertrug. Anfänglich wurden die. Bifchöfe
von.den Preöbptern, ipäter von den andern Bilchöfen durdy Handauflegung
geweiht, zuvor aber von ihrer Gemeinde gewählt. Ihnen allein ftand bie
Firmelung, die Ordination, die Einweihung ber Heiligthümer, die Verwal⸗
tung der kirchlichen Einfünfte zu.
Das Verbot ded Paulus, rivatfireitigfeiten vor beidnifche Richter zu
bringen, hatte den Presbytern richterliche Gewalt über die Gemeindeglieder
verichafft. Diefe ging nun ebenfalls auf die Bifchöfe über, ‚dauerte aber,
was die Laien anbelangt, natürlich nur bis zur flaatlichen Anerkennung des
Chriſtenthums. In Angelegenheiten von hoher Bedeutung hatten die Bi⸗
fchöfe Rath und Einwilligung der Presbyter einzuholen. Als Nachfolger
der Apoftel und Stellvertreter Chrifti war jeder Biſchof in feiner Gemeinde
Gott allein verantwortlich, von feinem auswärtigen Bilchof abhängig. Dap
jedoch das Anjehen der Bifchöfe um fo höher ftand, je größer ihre Gemein-
den waren, liegt in der Natur der Sache.
Bis zum Ende ded 3. Jahrhunderts hehielt die Gemeinde dem Klerus
gegenüber das Mecht der Ercommunifation und Wiederaufnahme, der Bis
fchofswahl, der Beftätigung vom Bifchof getroffener Preöbyterwahlen und
der Begutachtung in wichtigern Dingen. Da die Leitung der Gemeinten,
verbunden mit dem Lehramt, immer jchwieriger ward, fo wurde auch den
Diakonen Antheil an den kirchlichen Functionen gegeben und wurden fie in
Folge deſſen ebenfalld durch Ordination des Biſchofs in den Klerus aufge
nommen. Die Weiterentwicklung des Cultus erforderte ſodann auch die
Aufftellung niederer Kirchenamter, der Oftiarien, Lectoren, Exorciſten und
Akoluthen 2). Auch die Unterbiafonen in größern Städten gehörten dieſem
niedern Klerus an. Ein Auffteigen durch diefe Stufenleiter der Hierarchie,
welches praftiich geübte Kirchenvorfteher bildete, fand Häufig ſtatt. Aus
2) Thuͤrhuͤter, Borlefer, Tenfelsbeichtwörer und Aufwärter.
192
der freien und vertsauliden Berathung einzelner Biſchöfe über die im
2. Jahrhundert allmälig ſtaͤrker hervortretenden Lehr⸗ und Kirchenzuchtſtrei⸗
tigkeiten, zugleich im Hinblid auf die Apoftelverfammlung zu Ierufalem,
und weil das Anſehen der dortigen Wutterfircye mit ter Zerflörung der
heiligen Stadt erloſchen war, entflanden zu Anfang tes 3. Jahrhunderts
die Provinzialignoden, an welchen die Bifchöfe der jeweiligen Hauptſtadt den
Borfig führten. In den öffentlich gehaltenen Sigungen diefer Synoden
flimmten die Biſchöfe, biöweilen unter Zuzug von Presbytern und Confeſ⸗
foren, über Angelegenheiten der Kirchenlehre und Kirchenregierung nad
freiem Ermefien ab. Dadurch wurde die Einheit des Glaubens, des Cul⸗
tus und der Berfaffung gefördert, aber zugleich den Bifchöfen der Provinzials
hauptflädte (Metropoliten) ein überwiegendes Anfehen gegeben, wel⸗
ches ihnen fpäter zur Herrſchaft über die Biichöfe der betreffenden römiſchen
Provinz verhalf. Im 3. Jahrhundert Hatten die Metropoliten von Ans
tiochien, Alerandrien und Rom bereitd überwiegenden Einfluß auf die ganze
hriftliche Kirche, ja der römifche Bifchof erfreute ſich des größten Anſehens,
weil die Sage ihn zum Nachfolger des Apofteld Petrus erhob und die Welt«
fladt auch in den Gemüthern der Chriftenheit Gefühle der Ehrfurcht wach
erhalten hatte.
12.
Konftantin I. war es abermals, von deflen übel angewandtem Eifer
die weitere Ausbildung und Verſchlechterung der chriſtlichen Hierarchie aus⸗
ging. Die Bereicherung der Kirche und ihrer höhern Diener durch ihn
legte den Grund zu jener Geldgier, welche von nun an dem Geifte des
Chriſtenthums ebenfo mächtig ald flörend entgegentritt. Kat auch die Wii-
tenfchaft jene Eonftantinifche Schenkung an den römifchen Bifchof Sylveſter J.,
in weldyer ganz Italien und andere Provinzen des Abendlandes enthalten
geweien fein follen, als eine der keckſten Bälfhungen, welche fih Rom je=
mals erlaubte, nachgewiefen, fo ſteht doch feft, daß Konflantin eine jährliche
Steuer zu Eirchlichen Zweden anordnete und allen feinen Unterthanen gefeß-
lich erlaubte, ihr ganzes Vermögen der Kirche zu vermachen. Berner, daß
er in jeder Stadt des Reiches regelmäßige Getreidelieferung für die chriſt⸗
lichen Armenfonds anwies, die Bifchöfe jelbft mit reichlihen Geldipenden
unterflüßte und, zumal den römifchen Bifchof, mit großem Grundbeſitz aus⸗
flattete. Bisher waren für die Armen, für den Unterhalt des Gotteödien-
193
ſtes und der Geiftlichen immer nur freiwillige Steuern der Gläubigen "ges
floffen. Man hatte diefelben von jeher als Gott dargebrachte Opfer betrach⸗
tet und Jeder hatte eine Ehre darein gefeßt, den Andern an Breigebigkeit
zu überbieten. Daraus entwidelte fich fodann der Glaube an eine Ver⸗
dienftlichfeit folher Opfergaben vor Bott, welche mit dem Werthe derfelben
in Verhaͤltniß flehe, und fo glaubte denn Konftantin die Yehlgriffe feiner
Regierung, feine Tyrannei, feine gewiſſenloſe Politik und feine Laſter durch
defto höhere Freigebigkeit gegen die Kirche und ihre Diener abbüßen zu koͤn⸗
nen. Derfelbe Wahn trieb eine Vielzahl der ferbenden Begüterten zu
den reichſten Vermächtnifien, der lebenden zu Schenfungen an die Kirche.
Je weiter im Verlaufe der Zeiten das Heidenthum zurüdgebrängt wurde;
deſto mehr bereicherte fich Die Kirche mit den Ländereien, Einkünften und
Schaͤtzen der verödeten oder zerflörten heibnifchen Tempel, Gegen Ende
des 5. Jahrhunderts wurde aber durch gefegliche Beflimmung dad Einfom-
men jedes Bisthums in vier Theile zerlegt, deren erfler dem Biſchof, ter
zweite der niederen Geiftlichkeit, ‚der dritte Den Armen, der vierte dem öffent»
lichen Gotteödienft zu gute Fam. Die Befreiung des Kirchenguted von der
Staatöfteuer (Immunität) erſtrebte fhon die Synode von Ariminum ;
doch der Kaiſer Konftantius ging auf das ungereimte Anfuchen nicht ein.
Die hriftliche Hierarchie, welche in den Tagen der Verfolgung der
Kirche Einheit und Kraft zum Widerftande gegen die Staatögewalt verlie-
ben, bildete, fobald Konflantin das Chriſtenthum unter den Schub des Ge⸗
fees geftellt hatte, einen nun anerkannten Staat im Staate. Ihre Ber-
faffung trat unverändert ein in die Reichsverfaſſung, ja Konſtantin erhöhte
das Anfehen der Biichöfe durch die ihnen erwiefene übertriebene Ehrfurcht
und beging außerdem den großen Fehler, die fortan unnöthig gewordene
Gerichtsbarkeit der Biichöfe felbft in weltlichen Angelegenheiten anzuerfen-
nen. War ed zwar von Konſtantins Zeiten an den Laien auch erlaubt, vor _
den weltlichen Richter zu treten, fo durften Doch die Bifchöfe nur von Ihres⸗
gleichen, bie Klerifer nur von ihren Bifchöfen gerichtet werben und der welt
liche Richter war gehalten, die Urtheile dieſer geiftfichen Richter zu voll⸗
ziehen). Oft diente die geiflliche Gerichtsbarkeit dazu, ber Verfolgung
Andersdenkender Nachdruck zu geben.
—
1) Man wollte dadurch die Vergehungen der Geiſtlichen vertufchen, um Seandal
zu vermeiden. Konſtantin kannte dieſe Abſicht wohl und ging darauf ein mit der
Scherr, Geſch. d. Religion. II. 13
14
Die raſche Aushreitung des Chrißenthums frit Konflantin trug weient«
fi zur Entftehung folder Bisthümer bei, welche ganze Provinzen umfaß⸗
ten. Das Met der Bifchofswahl blieb dem Volke, in Verbindung mit dem
nieberen Klerus, noch geraume Zeit, nur verhinderte dies nicht, daß von
den Bandidaten der Bifhofswürde hie und da die verwerflichfien Mittel, wir
3. B. Beſtechung und Intrigue gegen ihre Mitbewerber, mit Erfolg ange⸗
wendet wurben. Ie mehr das Kirchenwefen in ber Hierarchie Form uud Ger
ftalt gewann, deſto Iehhafter fühlte man das Bedürfniß, die. kirchlichen
Rechtagewohnheiten und Befege nieberzufchreiben. So entflanden zunädft
die apoftoltifhen Conſtitutionen, deren erſte 6 Bücher Das Kirchen⸗
techt des 3. Jahrhunderts enthalten. Im A. Jahrhundert wurden fie nad
den geänderten Rechtöverhältniflen eingerichtet und wurde ihnen daß 7. und
8. Buch beigefügt. Geſetzliche Geltung erhielten aber die Gonftitutionen
niemals, wohl aber zu Anfang des 6. Jahrhunderts die 50 erften. Artikel
der apoftolifhen Canones, welche aus den Eonftitutionen und den
Synodalbeſchlüfſen des A. Jahrhunderts zuſammengeſetzt worden. Unter
Juſtinian wurden dann die kirchlichen Gefetze, ſoweit fie zu Staatsͤgeſetzen
erhoben waren, unter die Inſtitutionen, Pandekten und 168 Novellen“
des großen Corpus juris aufgenommen.
13.
Dem Kirchenrecht ber germanifchen Völker drüdte das eigenthümlich
germanifhe Lehnsweſen (Feudalismus) fein beionderes Siegel auf.
Sowohl berechnende Bolitit als werkheilige Frömmigkeit bewpg Die ger
manifchen Zürften, den Biſchöfen Land und Leute zu verleihen und bie
Biſchöfe weigerten ſich nit, die alte, durch das Chriſtenthum im römischen
Reiche wenigftend theoretiſch abgethane Schmach der ‚Sflaverei durch ˖ den
Befitz von Leibeigenen zu erneuen, Seit die Klöſter ald Burgen der Kirche
jenfeit8 der Alpen fo hohe Bedeutung gewonnen, empfingen aud ihre Aebte
- Land und Leite zu Lehen, Dadurch wurden fie fammt den Bifchöfen Va⸗
fallen ihres Lehnäheren. Zu den Einkünften diefer Güter gejellie ſich nach,
und nach der Zehnten, der endlih unter Karl dem Großen zum Staatd-
gefeg erhoben wurde, nachdem feine göttlihe Einſetzung mit dem unermüd⸗
lichſften Eifer aus dem Alten Teftament nachgewiefen worten war. Die
Öffentlichen Erklärung, „er würde, follte er felbfl- einen Bifchof am Chebruch ertappen,
feinen £aı lichen Mantel über den Sünder breiten ! !“
190
Mahl der Bischöfe ging vom Könige ober auf befien Vorſchlag von Klerus
und Laien aus. In Cieilſachen anerfannten Bilhöfe das Königliche Bericht,
in peinlihen Brozefien wurden fie von Ihreögleichen gerichtet. In ihrem
Gebiet übten fie eigene Gerichtsbarkeit und waren fleuerfrei, jebosh von ber
Heeresfolge nur perfönlich, nicht in Bezug auf ein zu ſtellendes Contingent,
ausgenommen !); inter den fränkifchen Königen übten die Grafen bie
peinlihe Gerichtsbarkeit auch über die Unterthbauen der Biſchöfe. Ws
Kronvafallen hatten die Biſchöſe Sig und Stimme auf den Meichötagen,.
weil dajelbft geiftlihe und weltliche Angelegenheiten verhandelt. wurden.
Diefe Verhältniſſe knüpften zwar die Kirche enger an den Staat, ver»
lichen ihr aber dafür um,jo Höhere weltliche Macht. Als fpäterhin ber
Stant der Gemeinfreien immer mehr vom Adel unterdrücdt wurde, üben
gaben Tauſende ihr Gut den Biſchöfen und Klöflern und empfingen es hin⸗
wieder von ihnen zu Lehen, weil. in jenen Zeiten barbarlidher Gewaltſam⸗
feit der Schwächere noch am meilten Schuß von der. Kirche erwarten konnte,
von ber Kirche, die, fo verderbt fie auch bereits fein mochte, damals doch die
einzige Macht war, welche wenigſtens einigermaßen die Sache der Humanität
vertrat. Die Erhebung der päpftlihen Macht konnte aber das Vaſallen⸗
serbältniß der Biſchöfe und Aebte nicht ungetrübt laſſen. „Kein Knecht
kann zwei Herren dienen“, ſteht geichrieben. Daher mußte ed, ale erſt
die Tiara in Mom feffaß, zwiſchen Bapft und Kaiter zu Auseinanderfegungen
über dad Verhältniß zwifchen der geiftlichen und weltlichen Gewalt. kommen.
Dies führt uns auf die Entflehung des Bapfttbumd, .
14.
Auf der Synode zu Nicäa waren die allmälig erworbenen Metropofi-
taurechte der Bifchöfe zu Rom, Antiodien und Ulerandrien förmlich aner«
kannt worden, fo namlich, daß man dem römifchen, Bifchof ald dem Nach⸗
folger des Betrus.da8 oberite Unfehen unter den Dreien zugefland. Biſchof
Damafus (366— 384) erhielt vom Kaifer zuerfi dad Recht, Streitigkeiten
außerhalb feiner Diöcefe Ichlichten und Appellationen gegen den Ausſpruch
— — —— rn —
1) Wie Jedermann weiß, machten aber im Mittelalter viele Bifchöfe und Achte
von ihrer perfünlichen Befreiung vom Kriegspienft feinen Gebrauch. Im Gegentheil,
biefe Prieſter der „Religion der‘ %iebe und Duldung“ gehörten oft zu den tapferften
Haudegen, zu den erbarmungstofeiten Gengern und Brennern. Ueberhaupt läßt ich
auf Chriſti Lehre eine ſchaͤrfere Satire nicht denken, als dag Mittelalter war.
13#
196
anderer Metropoliten annehmen zu dürfen. Nachdem jedoch Konflantin das
reigend gelegene Byzanz zur eigentlichen Hauptftadt feines Meiches erhoben
und ihm feinen Namen verliehen, erhob das Concil von Konftantinopel den
Biſchof der neuen Mefldenz ebenfalls zum Metropoliten mit dem Range bed
zweiten im Reiche und demfelben Vorrecht, welches der roͤmiſche Bifchof be⸗
ſaß. Bon da an firitten fi die Bifchöfe von Mom und Konftantinopel um
die Oberherrſchaft, die von Alerandrien und Anttochten traten ihnen gegen
über zuräd und firitten ſich felbander um ba8 höhere Anichen. Um nun
den Brundfag der Gleichheit unter den Metropoliten nit aufzuheben, wur⸗
den die von Rom, Konftantinopel, Alerandrien und Antiochien zu Erz⸗
bifhöfen erhoben, eine Würde, welche im 5. Jahrhundert den früher allen
Bilhöfen zufommenden Namen des Patriarchats erhielt. Die Gewalt⸗
thätigfeit des Dioscurus von Ulerandrien gab dem Goncil zu Ehalcedon
Beranlaffung, ihn abzufegen und dadurch dem Uebergewicht Alerandriens
über Antiochien ein Ende zu machen. Die Eroberungen der Araber endlich
benahmen beiden Patriarchen die Möglichkeit, ihr Anſehen fürberhin gegen
die von Hom und Konftantinopel geltend zu machen.
Ohne fih auf die Spigfindigfeit der byzantiniſchen Theologie, welche Die
Blaubenshändel jener Zeit hervorrief, tiefer einzulaffen, nahınen die römi-
ſchen Biſchöfe mit ſchlauer Politik vorwiegend ‘Partei gegen Diefenigen von
Konftantinopel, vertheidigten daher das athanaflanifche Bekenntniß gegen
das arlanifche und erndteten die größten Vortheile vom Siege des Athana⸗
flanismus. Rühmten fie ih auch, nur vom Kaiſer felbft gerichtet werden zu
dürfen; fo ſchien ihnen doch ein weit größerer Ruhm, ſich in geiftlichen
Dingen felbft vom Kaiſer unabhängig zu behaupten. Das bewiefen fie den
arianiſchen Kaifern gegenüber, und erhöhten dadurch ihr Anfehen in den
Augen ber rechtgläubigen Welt. Ueberall fandten fe ihre Vicarien bin,
Appellationen an den römiichen Stuhl zu "bewirken und gute @elegenheiten
zur Einmifhung in fremde Händel auszufpähen. Kräftig unterflügten ſie
ihre Sreunde, welche ihren Beiftand durch Bugeflänpniffe erfauft hatten.
Den Ausſpruch Chriſti, weldher Simon ald den Feld der Kirche bes
zeichnet hatte, auf die angeblichen Nachfolger ?) des Stmon Petrus beziehend,
trat Leo der Große am gewaltigften mit den monarchifchen Anſprüchen des
4) Ob Petrus uͤberhaupt jemals in Rom geweſen, iſt noch ſtreitig; daß er da⸗
ſelbſt die Biſchofswuͤrde bekleidet habe, dafuͤr hat man keinen einzigen hiſtoriſchen Be⸗
weis und alle Wahrſcheinlichkeit ſpricht dagegen. Die Sage von Petri Biſchofthum
197
römischen Stuhls auf die gefammte chriſtliche Kirche hervor. “ Er unterwarf
fi} die von den ariantichen Bandalen bebrängte afrifanifche Kirche, machte
fein ſchiedsrichterliches Anſehen über die Kirche Balliend geltend, bewog
Balentinian III. zu dem Geſetz, welches die höchſte richterlihe und geſetz-
gebende Gewalt in der Kirche dem römtichen Stuhl übertrug, aber einfl«
weilen nur im den noch nicht verlornen Provinzen des Abendlandes Geltung
erlasıgen fonnte. Leo war es, der die Synode zu Ehalcedon durch feine
Bicarien (Legaten) regierte; nur vermochte ex daſelbſt nicht zu hindern, daß
dem Patriarchen von Konftantinopel Dienämliche Gewalt über die morgen-
länd iſche Kirche ertheilt ward, die er ſelbſt durch Valentinian über Die
abendländifcde erlangt hatte).
15.
Das abendländifche Kaiſerthum neigte fich immer mehr feinem. Unter⸗
gang entgegen. Eine Provinz nach der andern ging an die erobernden Ger⸗
manen verloren. Beft fland die Macht der Kaifer nur noch im Oſten;
Rom und Italien blieben nicht felten bülflos fich felbft überlafien. Die
römiſchen Bifchöfe nun, an Grundbeſitz, obrigfeitlicher Gewalt und mora⸗
liſchem Einfluß die Größten Italiens, waren e8, auf welche. fi in Zeiten
der Hülflofigfeit Aller Blicke richteten, und nicht vergebend. Beſonders
als die Longobarden Italien überſchwemmten, fchafften fie Geld, Truppen
und Proviant zur Vertheidigung gegen dieje graufamen Dränger, Eauften
Gefangene los und linderten nach beflen Kräften das allgemeine Elend.
Dadurch erhob fich ihr Anfehen über dasjenige des fernen und ohnmaäͤch⸗
tigen Kaiſers. Zur Entihädigund für die gebrachten Opfer erhielt Gregor
ber Große vom Kaifer die weltliche Gerichtsbarkeit über. jeine Grundfaflen,
nebft dem Recht, die weltlihen Obrigkeiten in den Landſtrichen, wo
St. Peters Patrimonien lagen, zu wählen!). Als fodann (726) zwifchen
— —
iſt offenbar erſt zu der Zeit entſtanden, als einzelne Biſchoͤfe ſich uͤber ihre gleichſtehen⸗
den Brüder zu erheben anfingen, alſo früheſtens im 2. Jahrhundert.
2) Leo's Grifteshoheit und Beredtſamkeit Toll bekanntlich auch den Hunnen Attila,
bie „Godegiſel“, zum Rüdzug aus dem zitternten Stalien vermocht haben. Der Zus
fammenhang bes Creigniſſes iR freilich nicht ganz Har, indeſſen hat es das Anichen
des römiichen Stuhles unzweifelhaft bedeutend erhöht.
1) St. Peters Patrimonium (Erbe St. Betere) heißt der dem römischen Bifchof
zugehörige Orundbefig. Durch diefen Namen fol das göttliche Recht auf befagtes
Grundeigenthum bezeichnet werden.
198
Papft ) Gregor I. und dem Kaifer der Bilderſtreit entbrannte, nahm om
und Italien, ſelbſt mit den Waffen, für Gregor Partei. Der Gtatihalter
des Kaiferd wurde aus Mom vertrieben und der Papft als das weltliche
Oberhaupt Roms und des dazu gehörigen, Bisher von dem Statthalter re=
gierten Gebietes anerfannt. Es war aber natürlich nit bloß der Eifer für
hie Bilder, was die Italiener zu folchen Schritten bewog. Ste wollten ih
vornämlid von dem Drud tes Faiferlichen Steuerweiens befreien, Der
Streit Gregors H. mit Leo dem Iſaurier bezeichnet den Anfang ber Epoche,
da die Paͤpſte fich den germanifchen Fürften zuwandten. Gregor, obwohl
er die Eroberungdpläne ded Longobardenkönigs Liutprand vereitelt Hatte,
war der erfte Papft, welcher fih von einem germantichen Fürften, von Lint⸗
prand felbft, Orundeigenthum fchenfen ließ, und zwar ſolches, das dieſer
Fürſt dem Kalfer weggenonmen. Gregor IM., wegen feindieliger Politik
von Liutprand in Die Enge getrieben, rief den fränkifchen Hausmaler Karl
Wlartell zu Hülfe, welder jedoch nur vermittelnd dazwilchen trat. Gregors
Nachfolger, Bapft Zacharias, fchloß Frieden mit den Longobarden und ver⸗
pflihtete zugleihh den Hausmaier Bipin durch Entbindung von feinem
Unterthaneneide gegen das meroningifche Königshaus dem römiſchen Stuhle.
Pipin, um die Gewiſſensſkrupel feiner Franken zu beſchwichtigen, ließ fich
von Bapft Stephan I. die königliche Salbung ertheilen und befreite ihn da⸗
für von der drohenden Macht des Longobardenkönigs Aiſtulph 3). Vergeblich
forderte der oſtrömiſche Kaiſer Konflantin V. feine den Longobarten ent
riffenen Provinzen zurüd; der Papſt erhielt von Pipin das römifhe Ducat
nebft dem @rarchat von Ravenna und die Bentapolis. Dafür verkich
Stephan, um ja nicht ald Bafall des Ffankenkönigs zu erſcheinen, biefem
und feinen Söhnen den Titel eines römtfchen Patricius. Damit war bie
Lostrennung des Papſtes von der Oberhoheit des Kaiſers von Oftrom vollendet.
16.
Maͤchtig förderte bie Weiterentwicklung des Papftthums jener Tag,
da Bapft Leo IM. Karl den Großen zum römifchen Katier Frönte (Weihnacht
2) Papſt (ndnas, d. i. Bater) bie der römifche Bifchof ſchon feit dem 6. Jahr⸗
hundert.
3) Zwei Mal zog Birin beswegen über die Alpen. Das zweite Mal zögerte er
fo lange, daß der heil, Perrus felbft vom Himmel her ihm einen Brief ſchiden mußte,
bevor er fich zur Rettung des Bapftes aufmachte.
289
799). Nach der Theilung des ftaͤnkiſchen Reiches gerlerh zwar dad nette
Kaiſerthum eine Zeit lang in Verfall; aber ſeit ſeiner Wiederherſtellung
durch die Ottonen galt es für Pflicht jedes deutſchen Königs, die römiſche
Kaiſerkrone zu erwerben. Mit den Ottonen begannen die verhaͤngnißvollen
Nömerzüge. Bis auf Heinrich IV. nahm fein deutſcher König die Kaifer-
krone ald eine Gabe des Papſtes an?).. Der Rampf dieſes uriglücklichen
Fürften gegen Gregor VII. änderte die Verhaͤltniſſe. — Bevor wir bieſen
Kampf betrachten, haben wir noch einige Veränderungen in der Stellung
der Bifchöfe und Synoden anzuführen, und.auf Die „ Decretalen * bes Pſeu⸗
doiſidorus einen Blick zu werfen.
Der Berfall der Föniglichen Gewalt nach dem Erlöfchen des Karolingere
flamms hatte zur Bolge, daß die Bifchöfe vom König unabhängiger wurden,
von ihm nur noch die Belehnung durch Ueberreichung von Ring und Stab
(Inseftitur) empfingen und zum Heerbann ihr Gontingent fellen muß
ten. . Als die natürlichen Buntesgenoffen des Königs (beziehungsweife des
Katierd) gegen tie hohe Ariftofratie errangen fle auch die peinliche Gerichts«
barkeit in ihrem Gebiet, melde früher die Grafen geübt hatten. — Die
öfumenifchen Synoden, unter Konftantin als oberſte Behörde der ganzen
Kirche entſtanden, hatten eigentlid) mit ber 680 81 zu Konſtantinopel
gehaltenen ein Ende genommen. Im Widerſpruch gegen die factiſch einge⸗
tretene Trennung wurde die darauf folgende zu Nicda noch als fiebente öͤku⸗
menifche,, son der griechiſchen Kirche ſodann die zweite trirllanifihe, von det
römijchen Kirche die zu Sardica als achte oͤkumeniſche geltend gemadt,
Später hielt die römiſche Kirche ihre beſonbdern Synoden, namentlich die vor
den Königen und Kaiſern berufenen, welche über Päpfte richteten ; dann bie
fogenennten Lateran⸗Synoden ?), welche das päpftliie Anfehen ſelbſt über
die Concilien erhoben und die Infallibilität Der letzteren auf die Päpfte über⸗
trugen. — Im 9. Jahrhundert wurde zuerft von den Dectetalen Pſeudoifidors
Gebrauch gemacht. Im Vertrauen auf den damaligen Mangel an aller ®e-
ſchichtskenntniß hatte ein für das Papſtthum Begeifterter e8 unternommen,
einer nach Biſchof Iſidor von Hitpalid genannten Sammlung kirchenrecht⸗
licher Artikel eine Anzahl erdichteter kitchenrechtlicher Beſtimmungen, welche
1) Die Demtüthigung, den Untergeßenen des Papſtes vorzuftellen, bat auch von
Karls des EOroßen Nachkommen nur Kaifer Ludwig H., Sohn Lothars J., ſich gefallen
laffen.
2) Bom Lateran-Balaft in Rom, der früheren Neſdenz der Mpfte.
200
von 91—384 entflanden fein follten, beizufügen. Der fromme Betrüger,
welcher fich dadurch vermuthlich ganz im Stillen den Himmel zu verdienen
meinte, hat in feiner Plumpheit Rechtszuſtände, die im 9. Jahrhundert erft
im Werden begriffen waren, nämlid die Vereinigung ber höchſten geſetz⸗
gebenden,, beauffihtigenden und richterlichen Gewalt über Die Kirche in der
päpftlihen Würde, als in den erſten vier chriftliden Jahrhunderten ent
ftanden hingeſtellt. Rom machte von dieſer Faͤlſchung den umfaflendften
Gebrauch unt ließ fie erft fallen, als diefelbe der proteftantifchen Kritif gegen«
über gänzlich unhaltbar geworden war.
17.
Das von Karl dem Großen berrührende, durch Otto den Großen er»
neute Geſetz, daß jede Papſtwahl nur mit Genehmigung des Kaiſers gültig
ſei, war durch Heinrich III. abermals befräftigt und dadurch die Unterord⸗
nung des Papſtes unter den Kaifer neuerdings feftgefept worden. Aber
bald nach dem Tode dieſes Eraftvollen Kaiſers ließ Papſt Nikolaus II., um
bie päpftliche Würde dem Einfluß der römiſchen Adelsparteien zu entziehen
und fie wo möglid auch vom Faijerlichen Anſehen unabhängiger zu machen,
durch eine Synode zu Rom ein eigenes Collegium errichten, welchem fortan
die Wahl des Papſtes allein zukommen follte, das Collegium der Gar-
dDinäle, damals zufammengefegt aus den angefehenften Geiftlihen Roms und
ben ſteben ſuburbikariſchen Bifchöfen. — So flanden die Sachen, ald Hilde⸗
brand, ber. fchon mehr al8 einen feiner Vorgänger nach feinem Willen geleitet
hatte, unter dem Namen Gregor VII. den apoftolifchen Stuhl beftieg (1073).
Der Kampf des jungen Heinrich IV. gegen die aufrührerifchen Sachſen
einerjeit8 und die in Deutſchland eingerifiene Simoniet) andererjeits
gaben dem genialen, vom höchſten Gefühle feiner Stellung erfüllten Gregor,
welcder fi zuvor von dem Könige hatte beflätigen laffen, die gewünſchte
Beranlaffung zum Streit mit der oberften bürgerlichen Gewalt um die Ober .
herrſchaft in der Ehriftenheit. Der Plan Gregors, — übrigens keineswegs
glei bei Anfang des Streites in feinem ganzen Umfang bervortretend,
fhwerlicy fogar in dDiefem Umfang vorbedadıt, jondern vielmehr erft im Ver⸗
1) Die Simonie, d. i. der Kauf und Berkauf geifllicher Pfründen und Würden,
zum Theil eine natürliche Folge des Lehnsweſens, hat ihren Namen bekanntlich von
Simon dem Zauberer, der apoftolifche Gewalt um Geld erwerben wollte (Apoflelges
ſchichte 8, 18—24). |
201
laufe des Kampfes fi entwidelnd — der Plan Gregors ging dahin, die .
hoöchſte geiftliche und weltliche Gewalt im Papfte zu vereinigen, und zur
Behauptung derfelben alle Beiftlichen von weltlicher Herrſchaft und bürger-
lichen Berhältnifien ganz unabhängig zu machen. Dies zu erreichen, ver⸗
bot er die Inveftitur mit Ring und Stab durch die Hand weltlicher Kürften,
forderte den Lehns⸗ und Hultigungseid von den Erzbiſchöfen, maßte ſich das
Net an, durch die Gewalt des Bannes felbft den Raifer feiner Würde zu be=
rauben, und veranlafte dad Kirchengefeß allgemeiner Ehelofigfeit (Cöli⸗
bat) der Geiftlihen2). Dafjelbe, von dem Papfl auf drei Borwände ba⸗
2) Gregors Plan wurde und wird natürlich ſehr verichieden beuriheilt. Man
kann der Senialität und Energie des Papſtes alle Gerechtigfeit widerfahren laflen und
dennoch , namentlich wenn man nicht aufhören will, ein Deutfcher zu fein, fein Werk
entfchieden verdammen. Gr trat auf für die „Freiheit der Kirche” , wie er fagte, und
hat doc auf die furchtbarfie Knechtichaft der Menfchheit hingearbeitet. Gr trat auf
für die Cinheit der Kirche” und doch führten feine Reformen geradewegs zur Spals
tung ber Chriftenheit. Er trat auf für die „Reinheit der Kirche“ und doch ift fein
Coͤlibatsgeſetz, deſſen Durchſetzung er wefentlich einem urtheilsloſen Voͤbel verdankte,
welcher die Geiſtlichen mit brutaler Gewalt zwang, ſich von ihren Frauen zu trennen —
die Quelle namenloſer Laſter und Graͤuel geworden. So raͤchte ſich die Vergewalti⸗
gung des Geiſtes und der Natur. Das Ideal des Papſtihums mag ein ſolches ſein, aber —
Waͤre der Geiſt nicht frei, dann waͤr' es ein großer Gedanke,
Daß ein Gedankenmonarch über die Geiſter regiert. Platen.
- ine erſchoͤpfende, auf genaueſte Bergleihung der Quellen geſtuͤtzte hiſtoriſche
Würdigung des großen Streites zwiſchen weltlicher und geiſtlicher Macht am Ausgang
des 11. Jahrhunderts, des Kampfes zwifchen Deutfchland und Rom hat uns neuerlich
Hartwig Floto gegeben (Kaifer Heinrich ter Vierte und fein Zeitalter”, 1886).
Bloto iſt gerebt. Wr fagt (11,.274): — „Immerhin ift anzunehmen , daß der letzte
Grund feiner (Gregors) Bläne ein guter war und daß er aufrichtig für da® Wohl ber
Shriftenheit zu wirken glaubte. Das ift aber auch faft Alles, was man ihm zum Lobe
nachſagen kann. Denn es iſt ſicher, daß er fi) täufchte, wenn er feine Reformen für
heilſam hielt, und es ift ficher, daß er fchlechte Mittel anwandte, um fie durchzuführen.
Gregor war ohne Zweifel ein großer Mann: er beuutzte den günftigen Moment, um
Sachen anzubahnen,, die noch heute beſtehen. Wir fehen noch heutiges Tages die
Dionumente, vie er errichtet bat: das Edlibat, Deutichlands Zeriplitterung und bie
Spaltung der Kirche. Allein es war nicht Die zwingende Kraft feiner Ideen, fondern
bie Jugend Heinrich und die Untreue der deutichen Fürften, was ihm oder vielmehr
feinen Nachfolgern den Sieg verſchaffte. Die Intereffen des Papitihums und die
Snterefien der deutfchen Küriten gingen himmelweit auseinander, aber in dem einen
Punkte trafen fie zufammen : in der Grniebrigung des Kaiſerthums. Darum haben
die Bäpfte mit deutichen Fuͤrſten Buͤndniſſe geſchloſſen wider die deutfchen Kaiſer und
auf diefe Weife endlich den Sieg davon getragen.“
Li — — — —
firt ®), konnte allerbing® erſt lange nachher zu veilflänkiger Durchführung ge»
bracht werben 4). Inteflen gebührt Gregor unzweifelhaft der traurige Rahm,
dad Band zwiichen Priefterlichem und Menſchlichem zericmitten zu haben. Auch
ber paͤpftliche Anſpruch auf unbebingte Oberherrlichkeit aber den Klerus
fand Anerkennung , denn bald nach Gregor ſuchten alle Biſchöfe die Veſtäti⸗
| |— —
3) GErſtens, der Apoſtel Baulus (1. Kor. 5, 11) habe geboten, „fo Jemand tft
ein Hurer oder ein Geiziger oder ein Abgöttifcher oder ein Läfterer oder ein Trunken⸗
bold oder ein Räuber, mit demfelbigen follet ihr Nichts zu Ichaffen haben.“ Gre⸗
gor nahm alfo Die Ehe für abfolut identifch mit Hurerei. — Zweitens, das gefammte
katholiſche Bolk beftehe aus Chriſten, die in Der Ehe, oder aus folchen, die jungfräus
Ich (eben. Gin Laie, der im Coneubinat lebte, müßte ercommunicirt werden ; um
wie viel mehr nicht Die Priefter? — Wiederum nimmt hier Gregor She und Concu⸗
Binat für daſſelbe. Daß ein fo bedeutender Geiſt zu folcher Sophifterel griff, ift wahr⸗
haft klaͤglich. Bor Gregor lebten bie Priefter in der She, nad ihm lebten fie im
Coneubinat. Das der Hiftorifche Unterſchied. — Drittens, die Päpfte Leo I. und
Gtegor T. haben ten Brieftern vom Subdiafonus aufwärts die Ehe unterfagt. — Dies
beweiſt wur, daß es ſchon vor Gregor VII. Gregote gegeben. Der wahre Grund bes
Eölibatsgefepes mar natürlich ein ganz anderer: bie Prieflerehe wurde verboten, um
bie Eirche gänzlich dem Einfluß der weltlichen Nacht zu entziehen, die Briefter zu ent
menfchen und dadurch zu unbedingt willfährigen Werkzeugen der vom Papft geibten
Theofratie zu machen. Wer, wie ich mir befien bewußt bin, über dem Unterfchied
zwilchen Katholicismus und Proteflantismus völlig parteilos Acht, wirb zu einer ans
. been Anficht über das Eölibat unmöglich gelangen können. Aber es charafterifirt den
ZJohannes von Müller, der ja, während er in feiner Geſchichte der ſchweiz Eibge⸗
noſſenſchaft taeiteifchen Republikanismus erfünflefte, vor jeder Macht roh, — baß
er die fublime Entdeddung machte, das Coͤlibat ſei für das Mittelalter nicht nur noth⸗
wendig, fendern auch heilfam gewefen,, denn „ohne daſſelbe wäre Das Prieſterthum zu
einer Kafte geworden.” Freilich, wenn man die fhamlofen Schmeicheleien kennt,
‚ womit Müller einen Jerome von Weſtphalen überfchüttete, wird Einem auch jene Be:
haußtung nicht fehr auffallen.
4) Gs gereicht den deutſchen Bifchöfen jener Zeit zu großer Ehre, daß weitaus
die meiſten derfeiben von dem Verbot der Prieſterehe durch Gregor gar feine Notiz
nahmen. Wo bie Creaturen des Papſtes es thaten und das naturwidrige Gefetz durch⸗
ſetzen wollten, hatten ſie von Domherrn und Pfarrern einen Widerſtand zu befahren,
der manchmal lebensgefaͤhrlich für fie war. So der charakterloſe Erzbiſchof Siegfried
von Nainz auf einer dortigen Synode im Herbſt 1078. Es gelang, das Cölibat in
Deutſchland allmaͤlig durchzufuͤhren, als die Agenten des Papſtes beutelüſterne Raub⸗
riner und den füßen Poͤbel aufftifteten, mit ven ſchaͤndlichſten Brutalitaͤten gegen die
verheiratdeten Pfarrer vorzugehen. Uebrigens konnte noch hundert Jahre nach Er⸗
laſſung des Gölibatsgefeges ein Biſchof von Erfurt an Bapft Merander II. berichten,
daß in feinem Sprengel faſt ſaͤmmiliche Pfarrer in ber Ehe lebten.
gung ihrer Würde in Mom. Der Streit Aber tie Inveſtitur wurde durch
das zwiſchen Kaiſer Keinrich V. und Papſt Ealiztus IE. vereinbarte Wonnſer
Goncordat 1122 beigelegt, welchem zufolge die Wahlen der Biſchöfe und
Aebte inı dentichen Meiche in des Kaiſers oder feiner Abgeotdneten Gegen⸗
wart, ohne Simonie und Gewaliſamkeit, durch Klerus und Bolt vor fi
gehen follten. Der Kaiſer follte die Gewählten vermittelt des Scepters
mit den Reichslehen belehnen, der Papft aber fie vermittelſt Ringes und
Stabes inveſtiren.
Was Gregor VII. gewollt, Innocenz m. vollbrachte ed. Unter ihm
gelangte das Papftthum auf den Gipfel ſeiner Machthöhe. Die Fürſten des
Abendlandes beugten ſich ihm und, dem „heiligen zömifchen Reich deutſcher
Hation* das Joch feines Willens auflegend, ſetzte er das Geſetz durch, daß
jeden vom Papft ausgeſprochenen Bannfluch des Reiches Acht beigefügt
‚werben müfle. Während des Lebens von Innocenz galt in Theorie und
Braris der Grundſatz, daß der Papft Richter und Herr ſei über alle Kaiſer,
Könige und Bölfer der Erde. Der flolgefte Traum, welchen die Theokratie
je geträumt, jchten in Erfüllung gegangen zu fein. Für eine Weile war
Ber Gedanke des Papfithuns, die Staatögewalt vollſtaͤndig zu zeripkittern
send auf dem allgemeinen Mivellement einen Hoheprieftertbron zu erhöhen,
gur sat geworben.
.
18. -.
So lange der Kirchen noch nicht viele waren, wurden Gottesdienſt und
Seelforge von den Kloftermönden einerieitd, von den Bijchöfen und ihren
Canomici 1) (fpäter Domherrn) andererfeltd verwaltet. Mönde und
Canoniker waren die einzigen niederen Cleriker der Karolingerzeit. Aus den .
Domberren bildeten ſich die biſchöflichen Kapitel. Den Archidiakonen über
gaben die Biſchöfe allmälig die Ausübung der Gerichtsbarkeit in ihrem Mas
men. Der. Verfall des canoniſchen Lebend im 10. Jahrhundert theilte die
Domkapitel in geiſtliche und weltliche Glieder. Letzteren ward nad Wieder
herſtellung de® eanoniſchen Lebens mindeften® der Dienft eines Subdiakonen
übertragen. — Nachdem die Zahl der Kirchen durch Fromme Stiftungen fi
vermehrt datte, wurde das Recht der Bifchöfe, die Pfründen ihres Gprem
4) Sie Hatten ihren Namen von dem canoniſchen Leben, zu welchem fie ſeit der
Karolingerzeit verpflichtet waren.
204
gels zu beſetzen, vielfach beſchraͤnkt durch das Batronatörecht, welches die
Nachkommen der Stifter in Anſpruch nahmen. — Mit dem zunehmenden
Verfall des kirchlichen Lebens ließen die biſchöflichen Domherren ihre Ber»
richtungen immer häufiger durch Vicare verſehen. Die Biſchöfe übergaben
die ihrigen gern den fogenannten Chor⸗ oder Weihbifchöfen. Den Archi⸗
diakonen fegten ſie ein richterliches Collegium meift weltlicher Offizialen zur
Seite. Predigt und Seelforge wurden den Pönitentiarien, auch Bfarrer
genannt, übergeben. Bu Pfarrern waren ſchon früher die Canonici auf
den PBatronatöpfründen geworben.
Längſt hatte fih das Collegium der Cardinäle zum geiftlichen Rathe
des Papſtes, jowohl in Verwaltung feiner weltlichen GHoheitsrechte, wie
in Eirhlihen Dingen erhoben: Aber erft dad Concil zu Konſtanz fprad bie
Anerkennung diefes Collegiums als einer: Firdlichen Behörde aus. Dieſen
Beſchluß lieh fih Rom gefallen; die gleichzeitige Beftimmung hingegen, daß
alle Nationen des Abendlandes im Garbinalcollegium vertreten fein follen,
blieb fo gut wie unerfüllt. — Seit der Trennung von der abenblänbifchen
Kirche. behauptete der Patriarch von Konftantinopel fih als das Haupt der
morgenländifch » griechifchen,, jeboch flet8 unter Oberhoheit des Kaiſers.
Seit der Eroberung Konftantinopeld durd die Türfen fland der Patriarch
von Konftantinopel unter der Hoheit des Sultans, ihm zur Seite die aus
den Metropoliten gebildete befländige Synode. Diefer Hierarchie blieb
bürgerliche Gerichtöbarkeit über die Chriften.
19.
Daß vie papſtliche Unfehlbarkeit ſich über diejenige der allgemeinen
Soncilten erhoben habe, davon legten feit der zweiten Hälfte des Mittel⸗
alterd die „Bullen“ und Breven, durch welche der Nachfolger Petri aus
eigner Machtvollkommenheit neue Kirchengeiege erließ oder beflehende aufe
bob, dad deutlichfte Beugnig ab. Was vor Gregor VIl. ohne Widerrede ges
golten, daß ein allgemeines Eonciltum Aber dem Papft ſtehe, mußte zu
Konftanz und Vaſel wieder ausdrädlich in Anfpruch genommen und neuer-
dings als Kirchengeſetz ausgefprochen werden. Bald darauf kam die Refor⸗
mation. Obwohl nach diefer großen Kirchenſpaltung die römifch-Fatholiiche
Kirche auf ihrem mit Mühe behaupteten Gebiete fi wefentlich gleich blieb,
ſah ſich doch das Papſtthum gezwungen, eine ganz andere Stellung gegen
die fatholifchen Fürſten anzunehmen. Von Bann und Interbict Eonnte wenig
205
mehr die Nebe fein. Der Geiſt der Reformation drang unmerflic immer
tiefer in die gebildeten Klaſſen der Katholiken ein und ber Erfolg war, daß
die Päpfte ihre und des übrigen Klerus rechtliche Stellung nach und nad.
jedem einzelnen. katholifchen Staate gegenüber durch Concordate feſtſetzen
mußten. Dabei ging die geiftliche Gerichtsbarkeit über Die Laien, mit Aus⸗
nahme des Kirchenſtaates, allgemein, über die Kleriker ſelbſt faft überafl
verloren. Gegenwärtig wird auch im fatholifhen Geiſtlichen der Staats⸗
hürger joweit anerfannt, daß er in Einil- und Criminalprogefien dem welt«
lichen Richter Rede zu ſtehen hat. Nur in reinkirchlichen Dingen gilt noch
das Kirchenregiment, erlafien die PBäpfte noch ihre Breven und uͤben das
Recht der Exrkommunication!).
Mas das proteftantifche Kirchenweſen angeht, ſo bildete es fich unter
Mitwirkung der betreffenden Landesherren und Obrigkeiten ſehr verſchieden⸗
artig aus. Als allgemein anerkannter oberſter Grundſatz galt zwar das
allgemeine Prieſterthum der Chriſten (nach 1. Petr. 2, 9) mit Aufhebung
des Unterſchiedes zwijchen Klerus und Laien, doch ebenfo allgemein ward ber
geiftliche Lehrftand, gegründet auf die Predigt des göttlichen Wortes in der
Schrift, aufrecht erhalten. Den Kern der proteftantifchen Geiftlichfeit bilde—
ten von nun an überall die Prediger oder Pfarrer, denen in größern
Stadtgemeinden meift Helfer (Diafonen im neuern Sinn) zur Predigt,
zum Jugendunterricht und zur Seeljorge beigegeben wurden. In Deutich-
Iant und mehr noch in der Schweiz ward die Pfarrwahl großentheild den
Gemeinden übergeben ; wo Bijchöfe gewaltet, fam die Befegung ber geift-
lihen Pfründen an die Gonftftorien. Die Patronatörechte wurden auch
fürderhin anerkannt. Je nad der. flaatlichen Bora, welche die Reformation
vorgefunden,, beftimmte fich die Kirchenverfaflung in ben verfchiedenen Län
dern. Im lutherifchen Deutfchland ging die Macht der Hierarchie auf den
Landesheren über, in deffen Namen die Eonfiflorten, Superintendenten an
des Spige, das Kirchenregiment übten. Die Synoden wurden beibehalten,
aber nur aus Geiftlichen und Mitgliedern weltlicder Behörden ohne Zuzies
. bung von Gemeindeälteften zufammengefegt. In: Schweden und der eng«
liſchen Hochkirche behielten die Biſchöfe die kirchliche Oberauffiht. In der
deutjchen Schweiz bildete fich eine republitaniich » ariftofrariiche Verfaffung,
* 4) Der Begriff „veinkiechliche Dinge“ ift freilich in einigen neueren Concordaten,
-3. B. dem öftreichifchen,, wierer ein außerordentlich dehtibarer geworben.
inhems hier Die aberſte Eirhlidde Betzörde, Die regelmäßig fi verſammelnde
Syrode, aus den Pfartern des Kantond und etlichen Abgeordneten des
großen oder Kleinen Raths zufammengeirgt wurde. In Genf geftaltete ſich
Die Kirchenverfafſung demokratiſch, durch Galvind Einfluß. Er errichtete
ein geifliches Gericht, befichend aus den. von der Gemeinde gewählten Aelte⸗
Ben und den Pfarrern, zur Aufrechthaltung der Kirchenzucht. In Franlk⸗
reih und Schottland wurde dieſe noch Follsgialifche Presbyterialverfaffung,
meldge am meiften an bie urchriſtliche erinnert, zur ſynodalen fortgebildet.
Nach vielfachen Umgeftaltungen hat die genferifche Kirchenverfafſung ihren
Demofratiichen Charakter darin behauptet, daß feit 1847 ein vom allen res
formirten Bürgern gewähltes, aus geiftlichen und weltlichen Mitgliedern
beſtehendes Conſiſtorium die oberfte Firchliche Behörde bildet.
Das Rirhengut wurde bei Belegenheit der Reformation größtentheild
von den Landeöherren eingezogen und es Fann feinem Zweifel unterliegen,
daß dieſe Manipulation die meiften Fürſten für das „gereinigte Wort Gottes“
günftiger flimmte als alles Andere. Auch die republifaniichen Obrigfeiten
haben allmalig baare Befoldung der Geiftlichfeit aus der durch Einziehung
der Pfründgüter bereicherten Staatskaſſe eingeführt. Daß den Bilhöfen und
Pfarrern der engliichen Hochkirche die Einkünfte der alten Kirchengüter un«
geſchmaͤlert blieben, hat ſchon die jchreiendften Mebelftänte zur Bolge ges
habt, zumal den, daß die geiftlichen Verrichtungen meift um den kümmer—
lihften Lohn PVicaren übergeben werden, während der reiche Pfrüntbefiger
fih tem Müßiggang überläßt.
In Rußland ſchuf Peter der Große 1721 als oberfte kirchliche Behörde
des Reiches die „Heilige Synode” aus vom ihm felbft hiezu gewählten Prü«
Iaten. Unter der Synode fliehen die Erzbifchöfe und Biihöfe, die Syuode
ſelbſt unter dem Czaren, — alfo vollfländiger GEaäjaropapismus Se
der Fülle ihrer Machtvollkommenheit zog Katharina 11. fämmtliches Kirchen⸗
gut ein und ſetzte eine beſtimmte Befoldung für die geiftlichen Stellen aus ver
Staatökafle feft. Der Klerus verdient den Namen einer Kafte, weil in Ruß⸗
laud ter geifllihe Stand erbli iſt. Daher die geiftige Unfähigkeit fo vieler
Popen. Die niebere @eiftlichkeit Der ruifiichen Kirche befleht aus den Litur⸗
gen und den Prieftern. Bu den Kiturgen gehören die Sänger, Vorleſer
und Diafonen , zu den Prieftern die Bopen und die Protopopen oder Erz⸗
priefter. Die Arhimandriten, Aufſeher der Aebte, fichen an Rang gleich
unter den Bilhäfen. Mur aud Den Kionergeiſtlichen werden die Biſchöfe,
Metzopstisen und Patriarchen genammen ; die Briefter und Siturgen bringen
eß bochſtent zum Erzprieſtoer.
20.
Die im Vorſtehenden ffizzirte Entwidlung der Hierarchie aus den be⸗
ſcheidenſten Anfängen fann nicht völlig verftanden werben, ohne Veruͤckſich⸗
tigung der zugleich mit ber Hieratchie und geoßentheild in deren Inter⸗
ehe fih entwidelnden Kirchenzucht. Diefe war die ſchärfſte Waffe,
mis welcher Bifchöfe und Päpfte ihre Anſprüche durciepten. Außerdem
eined der ergiebigften Mittel zur Bereicherung der Kirche und ihrer Diener
und endlich eine Haupturſacht der zunehmenden Kirchenzerſplitterung.
Die. Kichenzucht jeit den Tagen des Theodoſius hat wohl die zahlreich“
fien und furdtbarften Graͤuel hervorgerufen, welche Die Erde jemals getragen
bet. Sie nahm Ihre Anfänge in der Beitrafung des Ananias und ber
Sapphira durch Perrust) umd in der Ausichliegung eines Blutſchänders
aus der Egrinthiihen Gemeinde auf Betrieb des Paulus?2). Der Haupt-
grundfag, von welchem die Ausfchliegung aus der Gemeinde (Ereommuni«
fation) ausging, war der Ausſpruch des Paulus: „Gott wird die, fo
draußen find, richten.“ Der uranfängliche Zwed der Kirchenzucht, welche
Anfangs weientlih in ber Ercommunifation bei größeren, in Ermaßnung
durch die Gemeindevorfieher bei geringeren Bergehungen beſtand, war, die
Kirche als „Gemeinſchaft der Heiligen“, ala deu „geifligen Leib Chrifti”
rein zu erhalten. Unter den größeren Bergehungen verftand das apoftolifche .
Zeitalter jegliche Art von Gößendienft, Anzucht, Trunkſucht, Unxedlichbeit
und Gewaltthätigfeit. Im 2. Iahrhundert mollten bie Montawiften son
einer Wiederaufnahme der Ercommunicihzten Nichts mehr willen, uneinges
denk der Milde, mit welcher einft Paulus den reuigen Blutſchänder zur
Wiederaufnahme empfohlen. Da nun die Kirche auf das Recht der Be»
gnadigung nicht verzichten wollte, ſah fie ſich genöthigt, die Karren Montas
niften felbft auszufchliegen, auß gleichen Grunden fpäterhin die Novatianer
und Donatiften. Bugleich verleitete das Ueberhandnehmen des Gnoſticis⸗
mus, welcher die Willkür einer dichteriſchen Phantaſte an die Stelle der
ſchlichten apoſtoliſchen Tradition zu fegen und Heidniſches in das Chriſten⸗
1) Apfielgeice. 8, 111.
2) 1. Korinth. 3, 1.13. — 2. Kor. 2, I—11.
208
thum einzumifchen drohte, die Kirchenzucht auch auf dad Gebiet des Glaubens
auszubehnen 'und die Gnoftiker ebenfalls von der Kirche auszuichließen. Da⸗
durch ward bereits nicht nur Meinheit des Lebens, fondern. auch Heinheit
und Einheit des Glaubens zum Zwede der Kirchenzucht erhoben.
In den Zeiten der Verfolgung befaß die Kirche bereits ein ausge⸗
bildetes, ſtrenges Bußſyſtem für die Abtrünnigen jeder Art. Oft erfiredte |
fih die auferlegte Buße auf daB ganze Leben des Ausgeſtoßenen. Strenges
Baften, öffentliche Demüthigung in jeder Gemeindeverfammlung , Aus-
ſchließung vom Abendmahl u. A. m. gehörten zu dieſen Bußen. Was hier
die Kirche um ihrer Selöfterhaltung willen that, wurde oft durch die Autos
rität der Belenner und Märtyrer gemildert. Sobald Provinzialfgnoden
entflanden waren, nahmen fie das Hecht det Ercommunitation gegen ganze
firchliche Parteien in Anſpruch. „Weil außerhalb der Kirche Tein Heil“,
hielt es die Synode zu Nicaͤa und hielten ed nach ihr alle folgenden öfumenifchen
Synoden für gleichbedeutend, von der Kirche auszufchließen oder den Fluch
über die Irrgläubigen audzufprechen 9). . Die Ercommunifation erhielt
natürlich durch die allgemeinen Concilien der ganzen Kirche die umfaffendfle
Bedeutung und Eonnte felbft Dadurdy nicht geihwäcdht werden, daß hie und
da andere ökumenifche Concilien denfelben Fluch über die Mehrzahl der
Theilnehmer an einem vorhergehenden Concil ausfpracen.
Seit Konſtantin wurde die Entbindung von Kirchenbußen (Dispen-
fation) immer häufiger und wurden die Bußen ſelbſt, beſonders was flit«
Tide Vergehungen betraf, bedeutend gemildert. Bereits Hatten die Bifchöfe
die Berhängung der Kirchenbußen nebſt dem Bann an fich gezogen, und
zum heil erlaubte der Zuſtand ihrer eignen Sittlichkeit feine zu große
Strenge mehr gegen die armen Sünder. Unter Leo dem Großen wurde,
als nothwendig zur Berzeihung der Sünden (Abſolution), Das geheime
Bekenntniß, die Beichte, eingeführt, freilih nur für Die abendländifche
Kirche.
Die Kirche ſollte ihrem Haupt nur ſo lange aͤhnlich bleiben, als ſie,
gleich ihm, in Niedrigkeit und Verfolgung lebte. Je mehr fie erſtarkte, deſto
mehr verlor fie den Geiſt ihres Stifters. Haß und Unduldſamkeit traten
— —
3) „Avasnua loro, Anathema über ihn oder fie!“ ſo lautete der Fluch, deſſen
eigentlicher Sinn ift: „Sie feien dem Gerichte Gortes übergeben!“ weil fie, nicht mehr
zur Gemeinfchaft der Heiligen gehoͤrend, die Verzeihung der Sünden und das ewige
Leben eingebüßt haben.
. 209
an dieſes Geiſtes Stelle. Hatte die Kirche fich früherhin mit Ausſchließung
der Keßer begnügt, fo fing fle unter Theodoſtus an, dieſelben zu verfolgen.
Unter feinem Mitregenten Marimus floß (385) zum erfien Mal Menichen«
blut, um des Glaubens willen von Mitchriſten vergofien. Briscillianug,
Bifchof von Avila in Spanien, ward nebft etlichen feiner Genoſſen, vor⸗
nämlich auf Betrich des lafterhaften Bifchofd Itharius, um irrtgümlicher
Glaubensmeinungen willen vom Faiferlichen Präfekten in Trier gefoltert und
hingerichtet. Selbſt Ambrofiud von-Mailand und Martin von Tours, die
beiden Bifchöfe, weldye den Priscillian und feine Genoffen verdammt hatten,
erflärten laut ihren Abſcheu gegen dieſe ſluchwürdige, in ihren Folgen ſo
inhaltſchwere That?).
21.
In der deutſchen Kirche konnte die Kirchenzucht erſt im 8. Jahrhundert
eingeführt werden und zwar, weil daſelbſt von Alters her jedes Verbrechen
mit Geld („Wehrgeld“) hatte gefühnt werben können, nur durch die kaiſer⸗
liche Einführung der biſchöflichen Sendgerichte. Auf fchwere Verbrechen
jegte Die Kirchenzucht Geißelung,, Baften, Eheverbot, Gefängnig und Bann,
verbunden mit der Todesſtrafe. Wer freiwillig feine Bergehungen beichtete,
kam mit einer verhältnigmäßigen. Geldftrafe Davon, welche Anfangs zu
Gunften der Armen eingezogen wurde. Jedem Biſchof blieb in feinem
Sprengel das Recht, zu bannen, nämlich aus der Gemeinfchaft der Chriſten.
Den umfaffendften Gebrauh vom Bannftrahl machten jedoch die Paͤpſte.
Seit Gregor VII. zitierten Kaifer und Könige vor dieſer geiftlichen Waffe,
auch wenn fte fih im beſten Rechte befanden. Der Glaube der Völker war
des Bannes Macht, der Fürften Ohnmacht. Das 11. Jahrhundert fah auch
das Interdiet entfliehen, jenen päpftlihen Machtſpruch, kraft deſſen alle
kirchlideen Berrichtungen in dem bezeichneten Landſtrich aufgehoben wurden.
— —— — — —
4) Zur Lichtſeite der damaligen Kirchenzucht gehoͤrt, daß ſelbſt der Kaiſer Theo⸗
doſtius ſich derſelben unterwarf. Er hatte die aufruͤhreriſchen Bewohner von Theſſalonice
groͤßtentheils ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts niedermetzeln laſſen. Dafuͤr
verweigerte ihm der muthige Ambroſius den Zutritt zum Abendmahl, bis der Autokrat
vor allem Volke im Dom zu Mailand für feine Grauſamkeit knieend Buße gethan
hatte. Meberhaupt muß anerkannt werden, daß die Mittel der Kicchenzucht das ganze
Mittelalter hindurch oft die einzigen waren, tie vichifche Brutalität der Machthaber
wenigſtens einigermaßen zu bänbigen.
Scherr, Geſch. d. Religion. IN. 14
u
210 . | |
Zuerft nur gegen Landfriedensbruch geriähtet, warb dieſer Völkerbann be»
fonder& in der Hand des dritten Innocenz zum unfehlbaren Mittel, durd daß -
erſchreckte Volk ven hartnädigen Fürften zu bezwingen. Die Obrenbeichte
erhob Innocenz II, zum allgemeinen Kirchengeſetz, zur unerläßlichen Bes
dingung ter Seligfeit. Aber dadurch ward nicht audgefchloffen, daß man
Berzeibang der Sünden, Ablaß, nicht auch fürderhin, wie ſchon jeit den
erfien Kreuzzügen, auf andere Weife erlangen fonnte. Da die Sendgeriäte
allmälig wieder zum altgermantichen Brauch der Geldbußen für Alles und
Jedes zurüdigefehrt waren und von den dadurch vermehrten Summen aud
die Kirche außer den Armen ihr Scherflein zu nehmen begonnen hatte, fo er⸗
theilten Bifchöfe und Paͤpſte Ablaß auch ohne Beichte und Gericht, un weni⸗
ger mühſam zu Gelde zu fommen. Anfangs hatten freilich die Bischöfe nur
einzelnen Heiligthümern dad Hecht verliehen, ihren Befuchern Ablaß zu er-
theilen, und aud die Päpfte hatten Anfangs ten Ablaß nur zu dem Zwede |
verkauft, um Geld für die Kreuzzüge zu erhalten. In foldhen Dingen
machen fich jedoch die Conjequenzen raſch und von ſelbſt. Warum follten
die Päpfte den reichen Ertrag des Ablaßhandels nicht für fich felbft behalten,
wie fie im 14., 15. und 16. Jahrhundert wirklich thaten? Wollten fie und
ihre Nepoten, Courtijanen und Künftler nicht auch leben und zwar möge
Lichft gut Teben? In Folge deſſen verkauften Eurz vor der Neformation die
Adlagfrämer ihre Waare unter Ausdrüden, welche Reue und Buße für über-
flüfftg zur Vergebung erflärten, und dod hat die Kirche in thren redht-
mäßigen Organen diefe Bedingungen der Sündenvergebung niemald aufge
geben. Der Ablaßfram ift jeit der Neformation verſchwunden, der Ablaß
*felber nicht.
22,
Schon Yuftinian hatte durch Verfolgung der Sektirer, die er durch
tyrannifche Gefege zum Aufftand reizte, um ihnen mit befferem Nechts«
- grund beifommen zu können, mehrere Provinzen entvölkert. Auf das Gut⸗
achten des Abtes Theophaneß, daß ed mit dem Geifte des Evangeliums über
einftimme, Keßer zu verbrennen, hatte fodann die orientalifche Kirche viele
Manichäer dem Peuertode überliefert. Zu Anfang des 11. Jahrhunderts
erlitt eine aͤhnliche Sekte das gleiche Schiekjal in Orleans und einigen an—
beren Städten Branfreichd. Das Concil zu Verona hatte auf Beranlaffung
von Papſt Lukas I. bereits weltlichen und geiftlichen Gewalten die Aufs
. 211
ſpürung, Berfolgung und Beftrafung der Keger auferlegt im Jahr 1184.
Da gaben die unglücklichen Albigenfer Innocenz IV. die erwünfchte Gelegen⸗
heit, unter Gewährung des Ablaffes für alle Iheilnehmer den Kreuzzug
gegen die Reber zu predigen. Im fürchterlichften Gemetzel erſcholl die
Stimme ded Leguten Peter von Baftelnau: „ Schonet Keinen; der Herr
kennt die Seinen!” und die Findliche Unfchuld bfutete für Kegereien, von
denen ſie feine Ahnung hattet)... '
-Den Thaten der päpftlichen Kreuzfahrer in der Provence folgte dann
auf dem vierten Xateranconcil (1215) die Einfegung der Inquifition durch
Innocenz. Diefem Olaubendtribunal ward die Vollmacht ertheilt, nöthigen«
falls unabhängig von den Biſchöfen der Kegeret überall nachzufpüren, durch
Zeugniffe und Folterqual jeder Art jeden des Irrglaubens irgendwie An—
gefchuldigten oder auch nur überhaupt Verdächtigen zu überweifen und
ihn hierauf — dadurch fuchte die Kirche ihr „ecclesia non sitit sangui-
nem zu retten — dem ftrafenden Arm der weltlichen Gerechtigkeit zu über⸗
liefern, Bald darauf fliftete der heilige Dominicus gegen die Keger den
nad ihm benannten Mönchsorden und organiftrte aus den -eifrigften Mit—
gliedern beffelben die „ Miliz Chriſti“, welche, als, Familiaren“ der Inqut«
fition thätig, den traurigen Ruhm ſich erwarb, im Haffinement der Ent-
menſchung ed am weiteften gebracht zu haben. Nur die nordifihen Heren«
richter könnten diefen Ruhm der ſüdlichen Keßerquäler beeinträchtigen.
Dieffeitd der Alpen wollte nämlich die eigentliche Inquifition im gane
zen Umfang ihrer ſchrecklichen Thätigkeit nicht fo recht gedeihen. Was
1) Lenau hat in feinen ‚‚Albigenfern‘‘ das berühmte Bild vom Glaubensloͤwen
gezeichnet: —
Inbruͤnſtig küßt ihm — (dem Gekreuzigten) — Innocenz die Wunden,
Ein zahmer Leu, der ſeinen Herrn beleckt;
Doch hat die ſcharfe Zunge Blut geſchmeckt
-Und feine Wuth iſt losgebunden.
Der Leu brüllt auf und hat mit ſeinen Krallen
Wuthblind den eignen Meiſter angefallen,
Er hat ſein Bild ſchon halb zerriſſen
Und meint es immer noch zu kuͤſſen.
Vom Blute ſeines Herrn berauſcht,
Durchtobt die Welt der grimme Leu;
Wohin das Ohr des Wandrers lauſcht,
Hoͤrt er der Opfer Wehgeſchrei.
14*
212 .
Deutihland insbefondere angeht, fo hatte ſich hier der vom Papft zum ober⸗
ften Keberrichter beftellte Marburger Mönch Konrad durch feinen. ra⸗
fenden Fanatismus bald. bei Geiftliden und Laien fo verhaßt gemacht,
daß es allgemeine Billigung erfuhr, als ihn 1233 einige Mitter todtichlu«
gen. Dafür aber gelangten, jeit 1484 Innocenz VIII jeine Bulle gegen
Zauberei erlaffen, bei den deutfchen und den andern nordifhen Völkern bie
Herenprozefle zu folcher Blüthe, daß ſelbſt die von der fpanifchen Inquifition
veranftalteten kaum damit zu concurriren vermochten. Und wie denn die
Deutichen von jeher in allen Dingen gründlich waren, ftellten die beiden
für Oberdeutſchland erwählten Herenrichter, Heinrich Inftitor und Jakob
Sprenger ein Handbuch der Herenrichterei zufammen, den „ Herenbammer
(malleus maleficorum) *, welcher, „mit dem Geifer eines vor Fanatismus,
Habſucht, Wolluſt und Grauſamkeit wahnfinnig gewordenen Mönchs ge⸗
ſchrieben“ 2), bei den Hexenrichtern bald canoniſches Anſehen erlangte, So
hatte Deutfchland doc feine Inquifttion ; denn Zauberei galt zugleich für
Keberei und umgefehrt, nur daß an den Zauberern nicht bloß die beleidigte
Majeftät der Kirche, fondern auch die beleidigte Mafeftät Gottes zu rächen
war. Woher aber die Wuth gegen alle Ketzerei feit dem 11. Jahrhundert?
Die Ketzer waren nicht mehr unfchätliche Theofophen, oder Leute von ſchwär⸗
merifhen Anfichten in bloßen Glaubenslehren, fonvern fle griffen das An⸗
fehen der Hierarchie an und damit ihren Geldgewinn, ihre Herrſchſucht, ihre
Lüfte. Weniger gefährlich fei ed, meinte man, Etwas wider Gott ald witer
den Papſt zu lehren.
Die Macht der Inquifition erreichte ihre Vollendung durch Gregor IX.,
| welcher durch feine Bulle vom Jahr 1231 alle Keger excommuniecirte und
fie dem weltlichen Gericht zu übergeben befahl. Nicht genug, dab Ludwig
der Heilige die weltlichen Behörden Frankreichs der Inquiſition dienſtbar
machte, dafjelbe that auch Ferdinand der Katholiſche von Spanien, Letzterer
vornämlich in der Abftcht, Die Keer unter den gewaltfan befehrten Juden
und Mauren auszurotten. Wo einmal und fo lange die Inquifttion herrfchte,
war die Gewifiendfreiheit verloren, erftarb jede geiftige Negung, umlauerte
allgemeine Spionage das öffentlihe und Banitlienleben, gingen Treu und
Glauben unter, wurden die Heiligften Bande der Blutönerwandtfchaft zer⸗
2) Koͤppen im feiner trefflihen Abhantlung über Heren und Herenprogefle in
Wigand's „Vierteljahrſchrift““ f. 1844, Bo. 2.
213
rifſen. So wirkte die Inquifition im Allgemeinen. Spanien indbefondere
Bet fie entuölfert und zu Grunde gerichtet. Man Tann von dieſer Inſti⸗
tution kaum fpredhen, ohne daß fih Einem feder Blutstropfen in den
Adern empört. Dennod begnügen wir uns, mit Zahlen nachzuweifen, wie
fie in Spanien geraft bat. Don 1481 bis 1808, wo fie durch Napoleon
aufgehoben wurde, find durch die fpanifche Inquifition 34,658 Menfhen
lebendig, 18,049 in efligie verbrannt, 288,214 zu Galeeren oder: Kerker,
alfo. im Sanzen 340,921 als Ketzer oder Zauberer oder Heren verurtheilt
worden. Nach Napoleons Sturz führte Ferdinand VH. die Inquiſition
wieder ein. Die Nevolntion von 1820 machte ihr ein Ende für immer (?).
In Rom felbft ift gegenwärtig die Inquiſttion kaum noch mehr als ein ge⸗
heimes Polizeigericht 3).
23.
In der Geſchichte der Kirchentrennungen finden wir je nach dem
Beitalter, welchem dergleichen Spaltungen angehören, ſehr verſchiedene Ur«
fachen derfelben. In den Jahrhunderten der Verfolgung entflanden wirfs
liche Sekten nur aus dem Grunde, weil einzelne Barteien eine ftrengere
Läuterung der Kirche verlangten, ald die Kirche gewähren fonnte. Unter
Konftantin bildete fih aus demſelben Beweggrunde die Donatiftenfefte,
welche theild den geiftigen Waffen Auguftins, theild den Legionen der Kai—
fer nad langem Kampfe unterlag. Die D onatiften hatten, durch harte
Geſetze Ronftantins erbittert, zuerft die Waffen erhoben. — Freiwillig trennte
fih von der Kirche und fliftete eine eigene Sefte unter den Gothen der, we
gen jeiner Strenge gegen fehlbare Geiftliche ungerecht verfolgte Audius von
—
3) Um diefen Abfchnitt zu fürzen, fagen wir nur noch, daß feit ter Reformation
in den proteflantifchen (wie auch In den katholiſchen) Ländern die Kirchenzucht allmätig
laxer geworden if. An einzelnen Fanatikern und fanatiihen Thaten, die fi) da und
dort bis zu inquifitoriicher Sraufamfeit fleigerten, hat es indeflen aud im Proteſtan⸗
tismus Feineswegs gefehlt. Die durch Calvin veranlaßte Berurtheilung und Hinrich:
tung des Miguel Serveto in Genf (1583) war 3. B. ein Ausfluß der proteftantifchen
Kirhenzucht, welcher mit höchfter Ehre in den Annalen ter ‚Santa Gafa‘’ zu Matrid
paradiren fönnte. Die Sophtsmen, womit der finftere Calvin fi felber und. womtt
Andere ihn zu entſchuldigen fuchten, find geradezu laͤppiſch. Es ſteht feſt, audı der Pror
teftantismus hat Scheiterhaufen gefhürt. Unter den blutigen Verfolgungen, welche
von der griedhifchen Kirchenzucht ausgingen, ift etwa das cäfaropapifliihe MWürhen ans
zuführen, womit zur Zeit Peters des Großen in Rußland gegen die Rasko Initen (Alt⸗
gläubigen) verfahren wurbe.
214
Mefopotamien. Seine asketiſche Sekte nerfhwand nach der aligemeinen
Annahme des Arianismus von Seite der Gothen. Die wegen ihrer Ar-
Beitfchen und Verachtung Tirchlicher Ordnung von felbit aus der Kirche ge⸗
ſchiedenen Maffalianer, ebenfalld tem 4. Jahrhundert angehörig, Biel
ten fi bi8 ind 7. Iahrhundert. Die Briscillianiften wurden wegen
gnoftifcher Anfichten über die Berfon Eprifli, wegen Verwerfung ber Ehe und
aller thierifhen Nahrung von der Kirche ausgefchlofien, behaupteten ſich jedoch,
durch das Blut ihrer Märtyrer in ihrem Glauben beftärkt, bis ins 6. Jahrh.
Die weit verbreiteten Manicäer, deren Sekte von dem Durd die
Saflaniden vertriebenen Magier Mani zu Anfang des 3. Jahrhunderts ges
fiftet worden, wurben von der Kirche niemald anerkannt. Der Grund⸗
gedanfe ihres Lehrſyſtems, welches Parfismus, Mithrasreligion, Buddhis⸗
mus und Chriftenthum mit einander vermengte, war, die Entftehung der
Melt fei ein Abfall von der Gottheit, die Entwidlung der Welt eine all«
mälige Rückkehr zu Gott, durch Befreiung des Kichted von der Finfterniß,
eine Befreiung, welche zwar Chriſtus begonnen habe, weldje jedoch zu volls
enden, Mani gejendet worden ſei. Diefe Weltanfbauung feflelte viele Ge—
müther jo flarf, daß der Manichäismus trotz der blutigſten Verfolgungen
ſeine Ausläufer bis tief ins Mittelalter hinein getrieben hat.
Das zunehmende Verderbniß der Kirche rief die Sekte der Pauli—
cianer ins Leben, welche fo genannt wurde, weil ihr Stifter, Konftantinus
mit dem Beinamen Sylvanus, durch die Lectüre Des neuen Teſtamentes bes
geiftert worden war, nad dem Mufter ded Apofteld Paulus wieder ächt
apoftoltihe Gemeinden zu gründen, denen er denn auch Den Namen pauliniſcher
Bemeinden gab, um 660. Die PBaulicianer flügten fih ganz auf das neue
Zeftament, verwarfen das alte und fämmtlidhe neuen Dogmen und Cultus⸗
formen der Kirche, auch das Moͤnchsweſen. Nadı mannigfachem Wechſel ihrer
Schickſale wurden ſie vom Kaifer Alexius Comnenus unterworfen, und
ihrer Viele zur Kirche zurüdgeführt. Doch find die Paulicianer ded Hä—
musgebirges auch gegenwärtig nod nicht verſchwunden. Um die Mitte
ded 11. Jahrhunderts war unter ten Baulicianern felbf die dualiſtiſche
Sekte der Bogomilen entſtanden. Ihre Anficht dreht fih um ben Gegen⸗
ſatz zwiſchen Satanael (Satan) and Logos (Ehriftus), Beide Söhne des
alleinigen guten Gottes. Dem Satanael ward die Urheberſchaft ded ganzen
ihnen 10 verhaßten Kirchenweſens zugefchrieben.
Seften anderer Art entflanden aus den Kämpfen, welde Die Entwick⸗
215
Yung bes kirchlichen Lehrbegriff3 erregte, Wir haben die meiften derſelben
im Kapitel von der Lehrentwiclung genannt. Unter ihnen find Die Aria⸗
ner die wichtigfte, eigentlich Feine Sekte, ſondern geradezu eine Gegenkirche.
Sie verſchwanden nach vielen blutigen Kämpfen und Verfolgungen, in Ber
tracht deren die Athanaflaner weder ihnen, noch fie ihren Gegnern viel vor⸗
zuwerfen haben, erft im 7. Jahrhundert, nachdem die Longobarden, die letz⸗
ten Arianer, fih dem Athanaſianiſchen Bekenntniß zugewandt.
Der ganze Mömerbrief des Apofteld Paulus. legt Zeugniß dafür ab,
daß auch bei bedeutenden Berfchtedenheiten in den Blaubensanfichten kirchliche
Gemeinſchaft und Firchlicher Friede unter wahrhaft chriſtlich Gefinnten mögs
lich, ja Pflicht if. Statt deſſen hatte tie Kirche, äußerliche Glaubens⸗
anſichten mit dem inneren Glauben, der da fellg mache, verwecfelnd,
angefangen, dur Mehrheiten die Minderheit zu verdammen. Sind der
artige Befchlüffe wirklich Dur) Eingebung des heiligen Geiftes gefaßt wor»
den, fo ift es ſehr verwunderlich, daß der Streit fo oft fich erneuerte und
dag zulegt zwei ungefähr gleich flarfe Barteien einander gegenfeitig aus der
Kirchengemeinſchaft fich außfließen, wie dies bei dem großen Schisma zwi⸗
fen der morgenlänbifchen und ber abentländifchen Kirche geſchehen ifl.
Politiſche, Flimatifche und nationale Motive haben hierbei ficherlich mehr
gethan ald Abweichungen in Blaubendmeinungen. Der Streit bob damit
an, dag Bapft Nikolaus J., von dem abgefegten Patriarchen Ignatius aufges
best, die Wahl des byzantintichen Batriarchen Phottus für ungültig erklärte
und denfelben bannte. Photius feinerfeits ſprach 866 ebenfalld den Bann
and gegen den Papft und klagte in einem Kreisichreiben die römifche Kirche
der willfürlihen Veränderung bed Symbolums, der Faſten am Samflag
u. f: w. an... Dafür wurde, als ein Regierungswechſel ihn geftürzt, feine
Abfegung auf der Synode non Konflantinopel 869 durch die päpftlichen
Legaten beftätigt. Im 11. Jahrhundert erneute der Patriarch Michael
Cerularius den Kampf, indem er den von Photius gegen Mom ge=
ſchleuderten Anklagen Borwürfe über das Cölibat ber Briefter und den Ge
brauch umgefäuerten Brote beim Abendmahl beifügte. Der Papft gab hie
Vorwürfe zurüd, und das Wortgefecht endete den 16. Juli 1054 damit,
daß die päpftlichen Legaten den Bannfluch gegen den Patriarchen auf. den
Hochaltar der Sophienkirche legten. Gerularius, an derSpige einer Synode;
bannte hierauf den Papſt ebenfalld. Von ta an vermocten weder die Ve⸗
drängniſſe ‘der griechifchen Kaifer nad die Verhandlungen der. Synoden zu
tuden hier Die aberſte Eiräliche Behörde, bie regelmäßig ſich verfammelnde
Spuode, aus den Pfarrern des Kantons und etlichen Abgeordneten des
großen ober Eleinen Math zufammengeisht wurde. In Genf geftaltete fidh
die Kirchenverfaſſung demokratiſch, durch Galvind Einfluß. Cr errichtete
ein geiſiliches Gericht, beſtehend aus den. von der Gemeinde gewählten Aelte⸗
Ben und den Pfarrern, zur Aufrechthaltung der Kirchenzucht. In Frank⸗
reih und Schottland wurde dieje noch Follsgialifche Presbyterialverfafſung,
welche am meiften an bie urchriftliche erinnert, zur ſynodalen fortgebildet.
Mash vielfachen Limgeflaltungen hat die genferifche Kirchenverfaflung ihren
Demofratiichen Charakter darin behauptet, daß feit 1847 ein von allen res
formirten Bürgern gewähltes, aus geiftlichen und weltlichen - Ritgliedern
beficheudes Conſiſtorium die oberfte kirchliche Behörde bildet.
Das Rirhengut wurde bei Gelegenheit der Reformation größtentheils
von den Kandeöherren eingezogen und es Tann feinem Zweifel unterliegen,
daß diefe Manipulation die meiften Fürſten für das „gereinigte Wort Gottes *
günftiger flimmte ald alles Andere. Auch die republifaniihen Obrigfeiten
haben allmältg baare Befoldung der Geiftlichfeit aus der durd Einziehung
der Pfründgüter bereicherten Staatskaſſe eingeführt. Daß den Bifchöfen und
Pfarrern der englifhen Hochkirche Die Einkünfte der alten Kirchengüter un-
gefehmälert blieben, hat ſchon die jchreiendften Mebelftände zur Bolge ge
habt, zumal den, daß die geiftlichen Verrichtungen meift um den fünımer-
lichften Lohn Vicaren übergeben werden, während der reiche Pfründbeſttzer
fih tem Müßiggang überläßt.
In Rußland ſchuf Peter der Große 1721 als oberfte Eirchliche Behörde
bes Reiches die „heilige Synode“ aus von ihm felbft Hiezu gewählten Pra⸗
laten. Unter der Synode fiehen die Erzbifchäfe und Biſchöfe, die Synode
ſelbſt unter dem Gzaren, — alſo vollftändiger Gäjaropapismug. Se
der Fülle ihrer Machtvollkommenheit zog Katharina 11. ſämmtliches Kirden-
gut ein und ſetzte eine beſtimmte Bejoldung für die geiftlichen Stellen aus ver
Staatskaſſe fe. Der Klerus verdient den Namen einer Kafte, weil in Ruß⸗
land ter geiftlihe Stand erblich ift. Daher die geiftige Unfähigkeit fo vieler
Popen. Die niedere Geifilichkeit der .ruiftichen Kirche beflcht aus den Litur⸗
gen und den Prieftern. Bu den Liturgen gehören die Sängers, Vorleſer
und Diakonen, zu den Prieftern die Bopen und die Protopopen oder Erz⸗
priefter. Die Arhimandriten, Aufſeher der Aebte, fichen an Rang gleich
ter ben Diichäfen. Mur aus den Kionergeiſtlichen werden die Biſchöfe,
Metropoliten und Patriarchen genemmen ; die Priefter und Liturgen bringen
eß bochſtene zum Erzprieſter.
20.
Die im Vorſtehenden ffizzirte Entwicklung der Hierarchie aus den be⸗
ſcheidenſten Anfangen fann nicht völlig verftanden werden, ohne Berüdfid«
tigung der zugleich mit der Gierarchie und geoßentheild in deren Inter⸗
ee ſich entwidelnden Kirchenzucht. Diefe war bie ſchärfſte Waffe,
mis welcher Bifchöfe und Päpfte ihre Anfprüce burchiegten. Außerdem
eineß der ergiebigften Mittel zur Bereicherung der Kirche und ihrer Diener
und endlid) eine Kaupturfache der zunehmenden Kirchenzerfplitterung,
Die, Kirhenzucht jeit den Tagen des Theodoſtus hat wohl die zahlreich⸗
fien und furdtbarften Sräuel hervorgerufen, welche Die Erde jemald getragen
hat. Sie nahm ihre Anfänge in der Beftrafung des Ananiad und ber
Sapphira durch Petrus!) und in der Ausſchließung eines Blutfchänders
aus der korinthiſchen Gemeinde auf Betrieb deö Baulns?). Der Haupt-
grundfag, von welchem die Ausichliegung aus der Gemeinde (Ercommuni-
kation) ausging, war der Ausfprud des Paulus: „Gott wird die, io
draußen find, richten.“ Der uranfängliche Zwed der Kirchenzucht, welche
Anfangs weientlid in der Exrcommunilation bei größeren, in Ermahnung
durch die Gemeindevorfieher bei geringeren Bergehungen beſtand, war, die
Kirche als, Gemeinſchaft der Heiligen", als den „geifligen Leib Ehrifti“
rein zu erhalten. Unter den größeren Bergehungen verftand das apoftolifche
Zeitalter jegliche Art von Gößendienft, Unzucht, Trunkſucht, Unredlichbeit
und Gewaltthätigfeit. Im 2. Jahrhundert mallten Die Mantaniften von
einer Wiederaufnahme. der Excommunicirten Nichts mehr willen, uneinge-
denk der Milde, mit welcher einft Paulus den reuigen Blutichänder zur
Wiederaufnahme empfohlen. Da nun die Kirche auf das Recht der Men
gnadigung nicht verzichten wollte, ſah ſie fich genöthigt, die ſtarren Monta⸗
niften felbft außzufchließen , aus gleigen Gruͤnden ipäterhin die Nevatianer
und Donatiſten. Bugleich verleitete das Ueberhantnehmen des Gnoſticis⸗
mus, welder die Willfür einer dichteriihen Phantafle an die Stelle der
ichlichten apoftolifchen Trarition zu fegen und Heidnifches in dag Chriften«
1) Apnfielgeich. 5, 11.
2) 1. Rorinih. 5, 1-—13. — 2. Kur. 2, 1—11.
thum einzumifchen drobte, die Kirchenzucht auch auf das Gebiet des Glaubens
auszubehnen und die Gnoſtiker ebenfalls von der Kirche auszufchließen. Das
durch ward bereits nicht nur Meinheit bes Lebens, fondern auch Reinheit
und Einheit des Glaubens zum Zwecke der Kirchenzucht erhoben.
In den Zeiten der Berfolgung befaß die Kirche bereits ein audges
bildetes, firenges Bußfpfiem für die Abtrünnigen jeder Art. Oft erſtreckte
fih die auferlegte Buße auf das ganze Leben des Ausgeſtoßenen. Strenge
Baften, öffentliche Demürhigung in jeder Bemeindeverfammlung, Aus—⸗
ſchließung vom Abendmahl u. A. m. gehörten zu diefen Bußen. Was bier
die Kirche um ihrer Selbfterhaltung willen that, wurde oft durch die Auto-
rität der Bekenner und Märtyrer gemildert, Sobald Provinzialiynoden
entflanden waren, nahmen fie das Hecht det Excommunikation gegen ganze
kirchliche Parteien in Anſpruch. „Weil außerhalb der Kirche Fein Heil”,
hielt es die Synode zu Nicaͤa und hielten es nach ihr alle folgenden ölumenifchen
Synoden für gleichbedeutend, von der Kirche außzufchließen oder den Fluch
über die Jrrgläubigen audzufprechen 3. Die Excommunikation erhielt
natürlich durch die allgemeinen Goncilien der ganzen Kirche die umfaffendfte
Bedeutung und fonnte felbft dadurch nicht geihwächt werden, daß hie und
da andere ökumeniſche Concilien vdenfelben Fluch über die Mehrzahl der
Sheilnehmer an einem vorhergehenden Concil ausfpracen.
Seit Konftantin wurde die Entbindung von Kirchenbußen (Dispen-
fation) immer häufiger und wurden die Bußen jelbft, befonderd was fitt«
liche Vergebungen betraf, bedeutend gemildert. Bereits hatten die Bifchöfe
die Verhaͤngung der Kirchenbußen nebſt dem Bann an ſich gezogen, und
zum Theil erlaubte der Zuſtand ihrer eignen Sittlichfeit feine zu große
Strenge mehr gegen die armen Sünder. Unter 2eo dem Großen wurde,
als nothwendig zur Berzeihung der Sünden (Abſolution), das geheime
Bekenntniß, die Beichte, eingeführt, freilich nur für die abendländifche
Kirche.
Die Kirche ſollte Ihrem Haupt nur fo lange aͤhnlich bleiben, als fie,
glei ihm, in Niedrigkeit und Verfolgung lebte. Ie mehr fle erflarkte, deſto
mehr verlor fie den Geiſt ihres Stifters. Haß und Unduldſamkeit traten
3) „Avasnua loro, Anathema über ihn oder fie!“ fo lautete der Fluch, defien
eigentlicher Sinn ift: „Sie feien dem Gerichte Gottes übergeben!” weil fie, nicht mehr
zur @emeinfchaft der Heiligen gehörend,, die Verzeihung der Sünfen und das ewige
Leben eingebüßt haben.
209
an dieſes Geiſtes Stelle. Hatte die Kirche ſich früherhin mit Ausſchließung
der Ketzer begnügt, fo fing ſie unter Theodoſtus an, dieſelben zu verfolgen.
Unter feinem Mitregenten Maximus floß (385) zum erften Mal Menichen-
blut, um des Glaubens willen von Mitchriſten vergoffen. Priscillianus,
Bifchof von Avila in Spanien, ward nebft etlichen feiner Genoſſen, vor⸗
naͤmlich auf Betrieb. des laſterhaften Biſchofs Ithaeius, um irrthümlicher
Blaubensmeinungen willen vom Faiferlichen Präfekten in Trier gefoltert und
hingerichtet. Selbſt Ambrofius von Mailand und Martin von Tours, die
beiden Biſchöfe, welche den Priscillian und feine Genofjen verdammt hatten,
erklärten laut ihren Abfcheu gegen .diefe ſluchwürdige. in ihren Folgen ſo
inhaltſchwere That).
21.
In der deutſchen Kirche konnte die Kirchenzucht erſt im 8. Jahrhundert
eingeführt werden und zwar, weil daſelbſt von Alters her jedes Verbrechen
mit Geld („Wehrgeld“) hatte geſühnt werben können, nur durch die kaiſer⸗
liche Einführung der biſchöflichen Sendgerichte. Auf ſchwere Verbrechen
jegte die Kirchenzucht Geißelung, Baften, Eheverbot, Gefängnig und Bann,
verbunden mit der Todesſtrafe. Wer freiwillig feine Bergehungen beichtete,
fam mit einer verhältnigmäßigen. Geldftrafe davon, melde Anfangs zu
Gunften der Armen eingezogen wurde. Jedem Biſchof blieb in feinem
Sprengel das Recht, zu bannen, nämlich aus der Gemeinfchaft der Chriften.
Den umfafjendftien Gebrauch vom Bannftrapl machten jedoch die Paäpſte.
Seit Gregor VII. zitierten Kaifer und Könige vor dieſer geiftlichen Waffe,
auch wenn fie fich im beften Rechte befanden. Der Glaube der Völfer war
des Bannes Macht, der Bürften Ohnmacht. Das 11. Jahrhundert ſah au
das Interdiet entfteben, jenen päpftlien Machtſpruch, kraft deſſen alle
kirchlichen Verrichtungen in dem bezeichneten Landſtrich aufgehoben wurden.
— — — — ——
4) Zur Lichtſeite der damaligen Kirchenzucht gehoͤrt, daß ſelbſt der Kaiſer Theo⸗
doſtus ſich derſelben unterwarf. Er hatte Die aufruͤhreriſchen Bewohner von Theſſalonice
groͤßtentheils ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts niedermetzeln laſſen. Dafür
verweigerte ihm der muthige Ambrofius den Zutritt zum Abendmahl, bie der Autofrat
vor allem Bolfe im Dom zu Mailand für feine Grauſamkeit fnieend Buße gethan
hatte. Ueberhaupt muß anerfannt werden, daß die Mittel der Kirchenzucht das ganze
Mittelalter hindurch oft die einzigen waren, tie viehifche Brutalität der Machthaber
wenigſtens einigermaßen zu bändigen.
Scherr, Geſch. d. Religion. 1. 14
DE — —
210
Zuerſt nur gegen Landfriedensbruch gerichtet, ward dieſer Völkerbann be⸗
ſonders in der Hand des dritten Innocenz zum unfehlbaren Mittel, durch das
erfchredte Volk ven Hartnädigen Zürften zu bezwingen. Die Ohrenbeichte
erhob Innocenz II. zum allgemeinen Kirchengefeg, zur unerläßlichen Bes
Dingung ter Seligkeit. Aber dadurch ward nicht ausgeichloflen, daß man
Berzeihang der Sünden, Ablaß, nicht auch fürderhin, wie ſchon feit den
erften Kreuzzügen, auf andere Weile erlangen Eonnte. Da die Sendgeriäte
allmälig wieder zum altgermantihen Brauch der Geldbußen für Alles und
Jedes zurüdgefehrt waren und von den dadurch vermehrten Sunimen aud
die Kirche außer den Armen ihr Scherflein zu nehmen begonnen hatte, fo er⸗
theilten Bifchöfe und Päpfte Ablaß auch ohne Beichte und Gericht, um weni⸗
ger mühfan zu Gelde zu fommen, Anfangs hatten freilich die Bifchöfe nur
einzelnen Heiligthümern das Hecht verliehen, ihren Befuchern Ablaß zu er»
theilen, und aud die Päpfte hatten Anfangs ten Ablaß nur zu Dem Zwecke
verfauft, um Geld für die Kreuzzüge zu erhalten. In foldhen Dingen
machen fich jedoch Die Conſequenzen rafh und von ſelbſt. Warum follten
die Päpfte den reichen Ertrag des Ablaßhandels nicht für fich felbft behalten,
wie fie im 14,, 15. und 16. Jahrhundert wirklich thaten? Wollten fie und
ihre Nepoten, Courtiſanen und Künftfer nicht auch Ieben und zwar möge
lichſt gut leben? In Folge deſſen verkauften kurz vor der Neformation bie
Ablaßkrämer ihre Waare unter Ausdrüden, welche Neue und Buße für über-
flüfftg zur Vergebung erflärten, und doch hat die Kirche in ihren rechte
mäßigen Organen diefe Bedingungen der Sündenvergebung niemald aufges
geben. Der Ablaßkram ift jeit der Neformation verſchwunden, der Ablaß
*felber nicht.
22,
Schon Yuftinian hatte durch Verfolgung der Sektirer, die er durch
tyrannifche Sefege zum Aufftand reizte, um ihnen mit befjferem Rechts⸗
- grund beifommen zu können, mehrere Provinzen entvölkert. Auf das Gut-
achten des Abtes Theophaned, daß ed mit dem Geifte des Evangeliums nber-
einftimme, Keber zu verbrennen, hatte ſodann die orientalifche Kirche viele
Manichäer dem Peuertode überliefert. Zu Anfang des 11. Jahrhunderts
erlitt eine Ahnliche Sekte das gleihe Schickſal in Orleand und einigen an—
deren Städten Frankreichs. Das Concil zu Verona hatte auf Veranlaffung
von Papſt Lufad I. bereitd weltlichen und geiftlichen Gewalten die Aufr
w 211
fpürung, Berfolgung und Beftrafung der Keter auferlegt im Jahr 1184.
Da gaben die unglücklichen Albigenſer Innocenz IV. die erwünfchte Gelegen⸗
heit, unter Gewährung des Ablafjes für alle Theilnehmer den Kreuzzug
gegen die Keger zu prebigen, Im fürchterlichflen Gemetzel erſcholl die
Stimme des Legaten Peter von Baftelnau: „ Schonet Keinen, der Herr
kennt die Seinen!” und bie kindliche Unfchuld Hlutete für Kegereien, von
denen fte Feine Ahnung battet).. .
Den Thaten der päpftlichen Kreuzfahrer in der Provence folgte dann
auf dem vierten Lateranconcil (1215) die Einfegung der Inquiſition dur
Sunocenz. Dieſem Glaubendtribunal ward die Vollmacht erteilt, nöthigen«
falls unabhängig von den Biſchöfen der Keberet überall nachzufpüren, durch
Zeugniffe und Folterqual jeder Art jeden des Irrglaubens irgendwie An—
gefhuldigten oder auch nur überhaupt Verdächtigen zu überweifen und
ihn hierauf — Dadurch fuchte Die Kirche ihr „ecclesia non sitit sangui-
nem zu retten — bem firafenden Arm der weltlichen Geredhtigfeit zu über-
liefern. Bald darauf ftiftete ‚der heilige Dominicus gegen die Keßer den
nad ihm benannten Mönchsorden und organiftrte aus den eifrigften Mit-
gliedern beffelben die „ Miliz Chrifti”, welche, als, Bamiltaren * der Inqute
fition thätig, den traurigen Ruhm ſich erwarb, im Raffinement der Ent-
menfchung e8 am mweiteften gebracht zu haben. Nur die nordifchen Heren«
richter könnten diefen Ruhm der füdlichen Ketzerquäler beeinträchtigen.
Dieffeitö der Alpen wollte nämlich die eigentliche Inquifttion im gan«
zen Umfang ihrer fchredlichen Ihätigfeit nicht fo recht gedeihen. Was
1) Lenau hat in feinen ‚‚Albigenfern‘’ das berühmte Bild vom Glaubensloͤwen
gezeichnet: —
Inbrünftig Tüßt ihm — (dem Gefreuzigten) — Innocenz die Wunden,
Ein zahmer Leu, der feinen Herrn beledt;
Doch hat die Scharfe Zunge Blut geſchmeckt
-Und feine Wuth ift losgebunden.
Der Leu brüllt auf und haf mit feinen Krallen
Wuthblind den eignen Meifter angefallen,
Er hat fein Bild ſchon halb zerrifien
Und meint e8 immer noch zu kuͤſſen.
Bom Blute feines Herrn beraufcht,
Durchtobt die Welt ver grimme Leu;
Wohin das Ohr des Wandrers laufcht,
Hört er der Opfer Wehgeſchrei.
14*
fenſive wieter zur Öffenfive vorzugehen. Die „Miltiz Chrifti*, jetzt nicht
mehr aus plumpen Dominifanern, fondern aus feinen Jeſuiten beftehend 1),
hielt nicht nur den Siegedlauf ded Proteflantigmus durch Europa auf, ſon⸗
bern griff diefen auch in feiner eigentlichen Heimat, in Deutfchland, mit Er-
folg an. Die Fatholifche Kirche hat im Grunde alle Urjache, den Reforma⸗
toren danfbar zu fein, denn die Neformation ift für fie ein Mittel der Neu—⸗
beiebung und Wiederfräftigung geworden.
Dies gefagt, überbliden wir zum Schluß des Kapiteld die im Vor⸗
fiehenden noch nicht berührten Anläufe und Erfolge ter Reformation und
dann noch die Seftenbildung, wie fle von der Reformationgzeit bis auf uns
fere Tage herab zu Tage getreten ift.
England hatte der ebenſo eitle als gewaltthätige und graufame König
Heinrich VII. feit 1532 vom römifhen Stuhl lodgeriffen. Nirgends war
die Meformation jo ganz und gar äußerlich, fo ganz und gar dad Werk per⸗
fünliher Willkür wie bier. Unter der Regierung von Heinrichs Tochter
Elifabethb wurde dann dad Meformwerf mit etwas mehr Ernft angefaßt und
durchgeführt. Die von einer Synode zu London 1562 angenommenen 39
Glaubendartifel, welche zwiichen Katholicismus, Luthertfum und Calvinis⸗
muß die Mitte Halten, find 1571 durch eine Parlamentsacte beftätigt wore
den ald Grundlage der reformirten Kirche Englands2). In Schottland
hatte vor Allen Johann Knor den Calvinismus befördert durch feine feurige
Beredtiamfeit. Gegen tie Regentihaft für Die unmündige Maria Stuart
ſich empörend, rief die reformirte Partei Tie Königin Eliſabeth um Beiftand
an und brachte dadurch 1561 einen Parlamentsbeſchluß zu Stande, kraft
deflen die Reformation in Schottland nach Calvins Lehre eingeführt wurde.
Der Adel that hiebei aud) dad Seine und erhielt zum Lohn dafür den größ«
ten Theil des kirchlichen Grundbeftged. — Die proteftantifhen Niederländer,
d. h. die fleben zur Utrechter Union vereinigten nördlichen Provinzen der
4) Auf den Jeſuitismus kommen wir im folgenden Kapitel zurüd.
2) Diele „reformirte“ Kirche wurde aber fogleich nad) Ihrem Siege zur Berfole
gerin gegen bie fogenannten Buritaner, welche in firenger Befolgung der Lehre
Calvins die halbkatholiſch⸗biſchöͤſliche Verfafung der anglikaniſchen Kirche verwarfen
und eine presbyterianifche Kirchenverfaffung wollten. Die fchroffite Fraction der
Presbyterianer waren befanntlich tie Bramniften oder Sndependenten, welde der
große Oliver Cromwell unter der Regierung Karls I. zu einem welthiftorifchen Siege
führte.
a
223
Niederlande erfochten gegen die Inquifitoren und Generale ihres Despoten
Philipp A. son Spanien mit der Sicherung des evangelifchen Glaubensbe⸗
Fenntniffes zugleich ihre politijche Unabhängigkeit (1609). Hier entiprang
alſo, wie in England, aus der religidfen Reform die ftaatliche Revolution.
— Mit Ausnahme des ruifiichen Reiches, blieb fein Land Europa's von der
Meformation unberührt. In Frankreich, Polen, Ungarn und Siebenbürgen.
behaupteten fich die Neformirten als eine mächtige Bartei. Gaͤnzlich ausge⸗
sottet wurden fle in Italien und Spanien, lange Zeit ſchwer bedrängt in.
Oeſtreich, Baiern und den deutſchen Erzbisthümern.
27.
Unter den Sekten, welche die geiftige Bewegung der Neformationgzeit-
ins Dafein rief, haben wir der Socinianer und Urminianer bereitd
früher gedadt. Die Wiedertäufer, deren erſter Sturm und Drang
durch das Schickſal Thomas Münzers und Johann Bodolts von Leyden abge=
fühlt worden, gaben die communiftijch = Demofratijche Seite ihrer Meinung,
- auf und fammelten ſich unter Leitung des Menno Simon feit 1536 zu ftillen
Gemeinden, welche unter ihren Angehörigen ftrenge Kirchenzucht hielten
und nad) dem Buchflaben der Schrift Eid, Krieg, gerichtliche Klage, Ehe—
fheidung, die nicht durch Ehebruch begründet fei, verboten. Nach ihrem.
Reformator wurden fie in der Folge Mennoniten genannt. — Die reformirte
Kirche war überall zu jehr Staatöfirdye geworden und wirfte dadurch erfäls
tend auf tiefere Gemüther. Hohles Wortgezänf war großenthrild an die
Stelle der erbaulichen Predigt getreten, Die Kirchenzucht ichien Manchen allzu=
fehr vernachlaͤſſigt, Hinwieder galt Glaubens⸗ und Gewiffensfreiheit auch in.
reformirten Ländern noch zu wenig, geiftlicher Ehrgeiz Einzelner fonnte in
der Kirche nicht genug Nahrung finden; zudem bot die Erforichung der
Bibel fo viele Anfnüpfungspunfte für die religiöfe Phantaſie und endlich
hatte die Meformation feinen ſehr beimerfbaren Einfluß auf Die Läuterung
des fittlichen Lebens geübt. Dies find die Urſachen, aus welchen nach dem.
Stoden der reformatoriichen Bewegung eine ſolche Maſſe von Sekten ent:
ſtand.
Der Schuſter Georg For gründete 1649 in England die ,Geſellſchaft
der Freunde", welchen die Welt den Spottnamen der Quaker (Zitterer)
gegeben hat. Sie ftellen die unmittelbare Eingebung (Inipiration) des Heil, .
@eiftes, welche fie Jedem der Ihrigen beimeflen, an Autorität der heil..
224
Schrift gleich, verwerfen Kriegsbienft, Eid. und Zehnten und alle bürgerr
liche Rangordnung und zeichnen ſich auch Außerlihb aus durch ihre gleiche
förmig fchlihte Tracht. Der daheim erlittenen Verfolgung müde, zog ein
Theil von ihnen unter William Penn nad) Amerifa und gründete daſelbſt
1681 die Stadt Bhiladelpbia.
Im Jahr 1722 ftiftete Ludwig Graf von Zinzendorf die „Brübder-
gemeinde * am Hutberge, welche er jedoch als Glied der augäburgifchen Con⸗
fefftondverwandtfchaft und zugleich Der bifchöflichsenglifchen Kirche anerkennen
ließ, weshalb die Herrnhuter nicht al8 wirkliche Sekte zu betrachten
find. Die Brüdergemeinde fchließt Angehörige aller nichtkatholffchen. Con⸗
feiftonen in fih. Das geiflige Band der Einheit ift die innige Erfaffung
des erlöfenden Kreuzed Chrifli in Glauben und dankbarer Liebe; dad äußere
Band eine bifchöflich » presbpteriale Verfaffung , welche aber die Verpflich⸗
tungen der Glieder gegen die Landeskirche nicht aufhebt. Zinzendorf ſelbſt
lieg fi von einem mährifchen Bifhof, Jablonsky, zum erften Biſchof feiner
Gemeinde weihen. Bür fih und feine Nachfolger nahm er das Hecht des
Bindend und Löſens in Anfpruch, die mildefte Form des Bannes, nach dem
Evangelium. Zinzendorfs Plan fcheint gewefen zu fein, im Geifte der Apoſtel
den Hader der reformirten Confeſſtonen allmälig zu tilgen und die Grundlage
einer wahrhaft unirten Kirche zu legen. Daß Die Kiebeöglut feiner Gemeinde
für Chriftus fih in allzufinnlihen Bildern auödrüdte und ihre Andacıtd«
bücher heute noch von Blut und Schweiß und Thränen überquellen, iſt
größtentheild dem Einflug der Hallenſer Pietiften auf Zinzendorf zuzu⸗
Schreiben. Duldſamkeit gegen Angehörige aller Confeiftonen hat von jeher
die Brüdergemeinde, wohin fie kam, ausgezeichnet. "
Der von Sohn Wesley 1729 gegründete Methodiften verein, ſo ge⸗
nannt wegen ber ängftlich ſtrengen Lebensart ſeiner Glieder, wurde erſt durch
die Unduldſamkeit der anglikaniſchen Geiſtlichkeit von der Kirche losgeriſſen.
Die Methodiſten konnten ſich mit ten Herrnhutern in England nicht ver«
einigen, weil fie einen ſchmerzlich gewaltſamen Durchbruch der Gnade für
nothwentig zur Seligfeit hielten. Sie gründeten Daher ein eigenes Kirchen
wefen mit ftrenger Kirchenzudt. In England und Amerifa hat der Metho«
dismus weite Verbreitung erlangt, vornämlich durch die populäre Bercdt-
fanıfeit feiner Prediger.
Emanuel Smwedenborg, ein geiftreicher Naturforfcher, gründete 1743
die „ Kirche des neuen Jeruſalem“, aufgefordert, wie er meinte, durch eine
225
Dffenbarung Des Herrn. Geſpraͤche mit den Geiſtern der Vorwelt und der
Geſtirne boten ihm den Stoff zur Aufſtellung feiner neuen Lehre, Die mit
Zuröcdiegung Des erlöfenden Todes Chriſti hauptſächlich die Menfehwertung
Gottes hervorhob und die Schrift allegoriſch auslegte. Die Getftererichei-
nungen Smwedenborgs find von der neuern Wiflenidaft einem ſomnambulen
BZuftande einzelner Gehirntheile im BZuflande des Wachens zugeichrichen
worden und jedenfalls ift ed für Die Nealität Dieler Eriheinungen ein
mißficher Umftand, daß Swedenborgs Geifter jo ganz in feinem Sinne rede>
ten. In England, Nortamerifa, Schweden und Würtemberg zählt ber
Ewedenborgianiämus DBefenner.
Zu den Erfheinungen religiöier Bhantaftif auf Dem Gebiet Der Seften-
Hildung gehören auch Die von Gichtel geitifteten Engelbrübder, welde
gleich den Engeln ohne Sorge und Arbeit leben wollten; dann dir Sh a⸗
fers in Nordamerifa, welche in communittiicher Oemeinfaurfeit leben, den
gefchlechtlichen Umgang verwerfen und zum ©ottestienft — tanzen ; ferner
die Brüggler und Antonianer in der Schweiz, welche, weil Die Gläu—
bigen nach ihrem Dafürhalten nicht jündigen können, Lie Unzucht ald einen
gottesdienftlichen Met betrachten, und andere dergleiden Ihoren mehr. Gin
Abſenker des Methodismus gründete im Waadtland unter dem Einfluffe der
fehr zweideutigen Frau von Krüdener 1818 die feparatiftifchen Gemeinden der _
(fpottweife fo genannten) Momiers. Ihre lebensfeindliche Kopfhängerei
und zudringliche Vrofelgtenmacherei regte dad Volk gegen fie auf. — Die
-Seften ter Darbyften und Irvingianer, beide nad ihren Etiftern
genannt, find Producte des an phyſtſchem und religiöfen Nebel reichen Eng
lands. Jene verwerfen alles äußere Kirchenwefen ſammt dem geiftlichen
Lehrftand ; dieſe rühmen ſich, Die Gabe Ted „Zungenredens“ in ihrer Ges
meinde empfangen zu haben, und haben ten alten Kobl vom baldigen Naben
des Weltgerichtd wieder aufgewärmt. Nordamerifa, Das Seftenparadieß,
bat endlih aud tie Monftrofttät des Mormonismus Hervorgebradt.
Bermittelft des unerhört Täppifchen Märdend von den wiederaufgefuntenen
Schriftplatten des fabelhaften Buches Mormon bat John Emirb 1830 Die
Sekte Ver Mormonen geftiftet und Tieje „Heiligen der legten Tage” Icben
jegt im Lande Utah am großen Salzſee in einer Art jüͤdiſch⸗chriſtlich-Jan—
Bockolt'ſcher Gütergemeinihaft und Vielweiberei.
Zu großen Erwartungen ließ fidy die religiös» reformifttiche Vewegung
an, welde in Gen wierziger Jahren unſeres Jahrhunderts in Deutichland
Scherr, Geſch. d. Religion. IM. 15
226
zum Ausbruch Fam. Es zeigte fi) aber bald, daß dieſe religiöſen Strebungen
eigentlich nur verhaltene Politif waren, wie denn ja wir Deutichen flet&
geneigt find, für die verfagte politifche Thätigkeit Erfag zu juchen in einer
den Glauben betreffenden. Zudem hingen die deutſchkatholiſchen,
lihtfreundlihen und freigemeindplidhen Bewegungen jener Zeit
mehr oder weniger eng mit den wiflenfchaftlichen Kämpfen zufammen, welche
von 1830 an in Deutichland gegen alle kirchliche Autorität geführt wurten.
Ronge und Ezeröfi auf der einen, Rupp, Uhlich und Wislicenus auf der
andern Seite wandten nur unbewußter oder bewußter, zurüchaltender oder
offener die Reſultate Hegel'ſcher Philoſophie auf die kirchlichen Zuſtände an.
Den äußeren Anſtoß zum Deutſchkatholicismus, mit welchem die Freien Ge—
meinden auf proteftantiichem Gebiet parallel gingen, gab, wie befinnt, das
Aushängen des „Rodes Chriſti“ zu Trier. Wer jegt unbefangen auf die
kurze deutichkatholiiche und lichtfreundliche Herrlichkeit zurückblidt, wird fagen
müflen, der ganze Lärm fei nur eine Demonſtration des Kiberalidmud ge=
weſen. Man fagte in der Borm von deutſchkatholiſchen und freigemeint-
lihen Goncilienbefhlüffen, was man in politiſchen Zeitungsartifeln und
Reden nicht fagen durfte. Der große Revolutiondverfuh von 1848 hat
dann das Intereffe an jenen religiössreformiftiihen Anläufen vollftändig
fortgefegt. Es hätte demnach der Gewaltsmaßregeln der Regierungen gegen
Deutjchkarholifen und Breigemeindler Faunı bedurft. Die allgemeine Jmpo⸗
tenz unferer Zeit zu religiöfen Schöpfungen hatte ſich in der Sache, gegen
welche ſoviel gehäſſige Maßregelei aufgeboten wurde, unzweifelhaft genug
geoffenbart.
Neuntes Kapitel.
Das fıttliche und foziale Leben der Völker im
Ghriftenthum.
1.
Der Spruch: „Un ihren Srüdten jollt ihr fle erfennen!* womit
Ehriftus den Unterjchied zwifchen Achter und falſcher Brömmigfeit kenn⸗
227
zeichnete, läßt fich swanglos auf das Chriſtenthum felbfi anwenten., Wo
daffelbe in feinem Kern und Geift erfaßt worden, hat e8 Segen geftiftet;
wo es hingegen nur äußerlich befannt wurde, da haben unter drifllichem
Deckmantel Heucelei, Niederträchtigfeit, Bosheit und Graufamfeit namens
los Schändlicdyes vollbracht. So, wie die gefellihaftlichen Verhältniſſe nun
einmal waren, fonnten Die guten Früchte des Chriſtenthums weit mehr nur
im Privatleben gedeihen, al8 in ter Ocffentlichfeit, und darum wird auch
die Schilderung, welde wir von den Wirfungen der riftlichen Religion auf
das fittlihe und foziale Leben der Völfer im vorliegenden Kapitel zu geben
verſuchen, die Schattenjeiten unverhältnigmäßig hervorzuheben fihrinen.
Die Geſchichte Hat ſich aber natürlich nicht ausdrücklich zu verwahren, daß fle
nicht Darauf ausgehe, Aergerniß zu geben, und überdicd kann fie hier noch
ten Chriften das tröftliche Wort fügen, die zu berührenten Aergerniſſe feien
nur Rejultate der allmäligen Berfälihung der chriftlichen Idee geweien.
Indeſſen auch an Lichtjeiten fehlt e8 nicht und ein unbefangener Sinn wird
jolde finden in dem Einfluß des Chriſtenthums auf dad ehelihe Leben,
auf Die Veredlung ter Volksſitte, auf die IJugendbildung, auf Die Förderung
ber Mildthätigkeit, des humanen Vorſchritts in Anerfennung der Menſchen⸗
würde und jener idealen Gefühlsweiſe, welche um des Bleibenten willen das
Bergängliche aufzuopfern bereit iſt. Hiezu in ſchroffem Gegenfage ftchen
freilih die Erfcheinungen des Aberglaubend und Fanatismus, die Juden⸗
Ichlächtereien, die Folterkammern und Scheiterhaufen der Inquiſition, die
Hexenprozeſſe, der Jeſuitismus, tie Neligiondfriege, das Muckerwejen. Gute
und ſchlimme Regungen mifchen fih in den Erfcheinungen der dhriftlichen
Askeſe, des Ordensweſens, der Möncherei und Nonnerei und felbft in jenen
Ausbrüchen ter Volköfatire, weldhe den audgearteten Cultus durch muth-
willige Nachaͤffung feiner Acte verhöhnte. Die fozialen Einflüffe des Chri⸗
ſtenthums machen ſich bemerkbar im Ausbau der Hierarchie, welcher ſchon
früheren Ortes betrachtet wurde, ferner in den Kreuzzügen, in den Bauerne
friegen, in der Heiligung der Monardie durch die fatholifche und die pro=
teftantifche Kirche, in tem Auftauchen fozialiftifcher und communiftifcher
Weltbeglüdungsfyfteme. "
Nachdem wir fo die Umriffe des zu durchmeflenden Kreiſes angegeben,
verfihreiten wir dazu, die einzelnen Erfcheinungen deſſelben in die geſchicht⸗
liche Beleuchtung zu rüden, merfen aber zugor an, daß dies und das, welches,
fireng genommen, hieher gezogen werben fönnte oder follte, in einem ber
15*
228
nod) folgenten Kapitel berührt werden wird oter auch in einem der vorher»
gehenden ſchon berührt worten if.
2.
Ehriftus Hatte in mehrern feiner Ausiprücde die Monogamie geheiligt,
Paulus zwar die Unterordnung des Weibes unter den Mann 1) entichieden
‚gelehrt und dem Weibe in der Verfammlung Stillihweigen auferlegt, aber
dennod) einerſeits auch den Ehemännern ihre Pflichten gegen die Frauen einges
ihärft, andererieitö die beiten Geſchlechter moralifch einander gleichaeftellt 2).
Endlich hatten Chriſtus und feine Apoftel faum eine Sünde jo ſchwer ver-
"pönt, wie die Unzucht und Den Ehebruch indbejondere 3). Damit griff das
Chriſtenthum das Grundübel an, welches das eheliche Leben der alten Welt
zerrüttet hatte, und wo es fich der Herzen bemächtigte, ftellte es die Reine
heit ter Ehe, die Würde und den moraliichen Einfluß des Weibes ald Gat-
tin und Mutter ber. Uber fchweren Stand harte es damit felbft unter
feinen Bekennern, einen immer jchwerern Stand, je mehr die Religion Jeſu
felbft in Dogmatik und prunfendes Kircdhenweren audartete. Dafür zeugt
eine Reihe von Ausſprüchen berühmter Kirchenväter, welche in Predigt und
Schrift auf die Veredelung des weiblichen Geſchlechts und des ehelichen
Lebens bingewirft haben. Von hoher Bedeutung und trefflich geeignet,
ben fchroffen Segenfag zur Stellung des Weibes in der altheitniihen Welt
anſchaulich zu machen, ift die Schilderung tes Verhältniffes zwiichen hrifte
lihen Ehegatten, welche und Tertullian entwirft: „Welche Eintracht Herricht
zwiichen zwei chriftlichen Gatten, Die durch diejelbe Hoffnung, Durch daffelbe
Gelübde, durch dieſelbe Megel des Lebens und des Gehorſams verbunden
find! Sie bilden in Wahrheit einen einzigen Leib, den ein und diefelbe
Seele belebt. Gemeinichaftlich beten fie, gemeinschaftlich geben fle ſich den
Uebungen der Buße und der Religion hin. Das Bild ihres Lebens tft eine
gegenſeitige Unterweiſung, eine gegenſeitige Ermuthigung und Unterſtützung.
1) SphHef. 8, 22—24. 1. Timoth. 2, 8-18.
2) Sphef. 5, S—33. 6, 1—3. Kol. 3, 418. 19. 1. Kor. 7, 2—5 und
10—16.
. 3 Val 5, 19. Matth. 8, 27—32. Chr. Baur in Tübingen behauptet zwar,
die Briefe an die Cyheſer, Kolofler und den Timotheus feien feine Acht paulinifchen ;
aber diefe Behauptung ſteht noch nicht unangefochten und die Kirche hat fie wenigſtens
fhon frühe als Acht anerkannt, daher fich nach denfelben gerichtet, und dasift uns bier
die Hauptſache.
229
In der Kirche und am Tijche des Herrn jebt ihr fie gemeinschaftlich. Allee
ift unter ihnen gemeinschaftlich, Die Sorgen und Verfolgungen, die Freuden
und Vergnügungen. Nichts haben fie vor einander geheim; gleiched DVer-
trauen verbinder fie Beite und gegenſeitige Dienſtfertigkeit.“ — Es ſpre⸗
chen auch deutliche Zeichen dafür, daß tie Faſtencur des Chriſtenthums weit‘
mehr auf die Brauen ald auf die Männer fittenbefernd gewirkt habe. Unter
Kaiſer Valens ſcheinen mehr [pie Männer, als die Frauen, ſich den Lüften
ihrer heidniſchen Vorfahren wieder überlaffen zu haben, ald fie den hungerne
den Gothen das Brot um ihre IJungfrauen und Iünglinge verfauften, an
der blühenden. Jugend dieſes Volkes ihre Vegierden zu fühlen. Auch ala
die Germanen über das Reich hereinbrachen, wählte jo manche Frau und
Jungfrau ten freiwilligen Tod, um ihre Reinheit zu wahren ; die aber der
roben Gewalt nicht hatten entgehen können, fuchten unter Thränen ihren
Troft bei der Kirche, Deren Kehrer die Opfer der Gewaltthat von der Echuld
des Ehebruchs und der Unzucht frei ſprachen 4).
Bei den germaniichen Stämmen ftand, wie wir wiffen, Das Weib in
hohen Ehren, ehe fie das Chriftenthum annahmen. _ Doc fonderbar, gerade
ihre Vermiſchung, felbft die bloße Berührung mit den chriftlichen Bewoh⸗
nern des römiſchen Reiches ſcheint ihrer Keuſchheit und ehelichen Treue
großen Eintrag gethan zu haben. Die Sittengeſchichte des Mittelalters
liefert und eine Menge Beiipiele von leichtfertigften Eheſcheidungen, von
Berlobungen ſchon in der Wiege aus -politifchen Rüdfichten, von ſcham⸗
lofeftem Ehebruch und ins Große getriebener Unzudt. Von den Tagen der
Zroubadourd an big zur Meformation ſcheint Das Ehriftenthum den geringe
ften Einfluß auf die Reinheit der Sitten überhaupt und auf die Heiligung
der Ehe im Beionderen geübt zu haben. Hatte auch die Kirche die Ehe
zwiichen Verwandten bis zum flebenten Grad hinaus und die Eheſcheidung
gänzlid verboten, ſie ſelbſt Tod ſorgie auf der andern Seite wieder durch
den Ablaß und dur Ungültigerflärung fürftlicher Ehen unter dem Bor:
wand allzu naher Verwandtſchaft Dafür, Daß man ihre Strenge in ſolchen
Dingen nicht allzu jehr fürdte. Selbſt die folidere Bürgerlichfeit wußte
— — — — —
4) Selbſt der ſtrenge Auguſtin beflagte dabei nur, „es babe vielleicht beim Cr⸗
dulden folcher Gewaltthat eine gewile fleiichliche Luft troß alles Eträubens ter Seele
nicht ausbleiben fünnen.” Ihm gerade märe es wohl angeftanden , dicie Bemerfung
zu unterdrücken.
230
den rajenden Ausbrüchen der MWolluft einzig ten Damm entgegenzufegen,
daß fie durch Errichtung reicher Bordelle („ Brauenhäufer *) wenigftend Ord⸗
nung in die Ausſchweifung zu bringen ſuchte. Skate, daß im Mittelalter
die häuslihe Tugend nicht Fräftiger aus ihrer Verborgenheit hervortrat.
Die Autoren jener Zeit gedenken ihrer Eaum vor al tem Wuft öffentlicher
Sittenlofigfeit, welcher ihrem Auge überall entgegentrat. Bei Alledem trug
der Mariencultus Dazu bei, in Hohen und Niebrigen ein mehr oder weniger
lebhaftes Bewußtfein von der Würte reiner Weiblichkeit zu bewahren, und
war auch die Frau in rechtlicher Veziehung wenig mehr ald die Magd ihres
Ehemannes, fo ward fie doch durch Die geiellige Sitte ter ritterlid-roman«
tifchen Gefellfihaft zu einer höheren und freieren Stellung erhoben. Wenig
ſtens auf jo lange, bis die Courtoiſte ter Blüthezeit dieſer Gefellichaft
im 14. und 15. Jahrhuntert in wüfter Roheit und Zuchtloſigkeit unter«
ging ?).
Die Reformation, indem fie das Volk wieder mit den Urfunten des
Chriſtenthums befannt machte, trug Vieles dazu bei, Zucht und Ehrbarkeit
in gefchlechtlichen VBerhältniffen wieder mehr zur Geltung zu bringen. Bes
ſonders republifaniiche Otrigfeiten erließen eine Reihe firenger Sittenman-
date. Wir erwähnen nur des Zürcher Mandats von 1532, welches das Tan
zen mit nadtem 2eibe, das Umwerfen der Jungfrauen beim Tanze u. dgl. ver⸗
bietet- In deutichen Städten fing man an, Mitglieder des Rathes ale Auf-
jeher bei den Tänzen hinzuſtellen, damit wenigſtens die gröbften Ungebühr-
Tichkeiten unterblichen. Im Allgemeinen tft zu bemerfen, daß die Reforma⸗
tion, wo fle Durch den freien Bürgerfinn getragen wurte, die Reinheit Des
ehelichen Lebens, die öffentliche Zucht und Sitte allmälig wieder hergeftellt
hat. Wurden do in ſolchen Städten, welche vor ter Acformation Bordelle
gehalten hatten, nad der Neformation unverbefferliche Lufltirnen erfäuft, —
freilich ebenfall8 wieder eine Uebertreidbung! In monarchifchen Staaten, be=
fonderd Deutſchlands, Kat die Erajfe Unfittlichfeit vieler Fürften Ten reintgen-
den Einfluß der Meformation lange Zeit gehemmt. Aber auch da fehlte es
— — —
5) Man muß die Sittenprediger jener Periode leſen, um zu erfahren, wie es mit
Sitte und Ehrbarfeit in ter „guten, alten, frommen Zeit” eigentlich beftellt mar. Und
(hen früher, fchon von Anfang an lauerte in der Bluͤthe ter mittelalterlichen Remantif
der Wurm der Sittentofigfeit. Vgl. in meiner „Geſchichte tentfeher Eultur und Sıtte”
die beiten Kapitel „Die ritterfich:romantifche Gefeflichaft” und „Die ritterlich:romans
tifche Literatur”, S. 96— 146.
231
nicht immer an fühnen Predigern, welche fürflliche Chebrecher Aug’ in Auge
zu ftrafen mwagten. Nachtem- die Reformation in flarrer Orthodorie vers
fnöchert war, trat ter Syener’jche Pietismus vielfady als Beförderer einge—
zogenen und reinen Yamilicnlebens auf. An den Fleinen Höfen Deutſchlands
verbrängte er bie und da als eine neue Mode die gefchlechtliche Brivolität,
entartete aber dafür in der Hofluft bald zu pedantifcher Frömmelei ®).
Wohin wir gegemwärtig unfere Blicke wenden, überall in criſtlichen
Staaten ift die rechtliche Stellung des Weibes durch beſondere Geſetze be—
ſtimmt und zwar ſo, daß es dem Manne nirgends, mit Ausnahme Eng»
lands 7) und Rußlands, rechtlos oter als bloße Magd gegenüberficht. Dazu
hat allerdings ter Humanismus ber Aufflärungeperiote viel beigetragen;
aber eben diefer Humanismus war feinem gefunden Kerne nach wiederum
nur das Chriftentbum in einer freieren Born. Uebrigens hatten tie Re—
‚formatoren ſchon dadurch, daß fie die Eheſcheidung ſowie die Wiedervers
heiratung des unſchuldigen Theiles bewilligten, ebenſo durch Uebertragung
der Eheſachen an die weltlichen Gerichte, geſetzliche Beſtimmungen über die
rechtliche Stellung der Frauen veranlaht8). Das Weib ift in unſern chriſt⸗
lichen Staaten tem Manne infoweit gleich geftellt, daß ed alle Gaben feines
Geiſtes und Gemürbhes geltend machen, fi ungehenmt in feinem Wirkfungd«
freife bewegen, fogar einen beberrfchenden Einfluß auf den Mann gewinnen
Tann. Daß die Geſetze ihm das Leberfchreiten feines Wirkungskreiſes theils
ſchwer, theils unmöglich machen, dient zu feinem Hell. Die emanzipationd-
ſüchtigen Brauen der Gegenwart werden von den tiefer blickenden Geiſtern
ihres eignen Geichlechts mit Recht betauert. Die Breibeit, welche fle zumal
im freien Amerika noch erjtreben zu müffen meinen, fit feine antere als bie
Zreibeit des Unfinne.
HH M. Burthold hat in Raumers „Hift. Taſchenbuch“ (Jahrg. 1852 und
4853) ein hoͤchſt anichnuliches Lebensbild der frommen Yürften - und Grafenhöfe im
proteftantifchen Deutichland gezeichnet.
7) Die Ehegefege dieſes Landes find eine Schmach, von welcher es unbegreiflich ift,
daß ein eivilifirtes Volk fie dulden kann. Rechtlich ift Tas englifche Cheweib geraden
die Eflavin tes Mannes. Man ſehe die Schriften ber beräßmten Mr. Norton, der
Enkelin des großen Sheridan, über dieſes Thema.
8) Die Fatholifihe Kirche Hatte zwar factiſche Ehefcheidungen nicht hindern, aber,
weil fie jede diefer Shen als kirchlich fortbeftehend anſah, die Wieberverheiratung nicht
geftatten Fönnen.
232
3.
„Wer unter euch der Größte jein will, Der fei Aller Tiener; und wer
unter eudy Der Vornehmſte fein will, der ſei Aller Knecht!“ hatte Chriſtus
deinen Jüngern zugerufen. Dadurch, jowie durch feine Lchre von der Näch⸗
ftenlicbe und von der ewigen Beſtimmung aller Menſchen; durch die Demuth
endlich, mit welder er den Sflavendienft verrichtete, feinen Jüngern Die
Füße zu waſchen, bat Chriftus die Sflaverei, Died zweite Orundübel der alten
Welt, im Prinzip zerflört.. Der tem Paulus zugeichriebene Brief an Phi—
lemon brachte den Gegenjag des chriſtlichen Geiſtes zur Sklaverei bereits in
praktiſche Anwendung. Da wird, der ganzen antiken Weltanfhauung zum
Trotz, ein entlaufener Sklave feined Herrn Bruder genannt und demfelben
zur Breilaffung empfohlen. Unter den Kirchenvätern war Eyprian einer der
Erften, weldye für des Sflaven Menſchenwürde in die Schranfen traten.
Er jchreibt an Demetrian: „Du verlangft von deinem Sklaven, daß er Dir
ergeben jeden Augenblid zu Dieniten ftehe. Iſt diefer Sflave weniger
Menſch ald tu? Er tritt in die Welt ein unter denſelben Bedingungen,
wie du; er gleicht Dir in Geburt und Tod; er hat wie du eine vernünftige
Seele, er ift zu derfelben Hoffnung berufen und für da8 gegenwärtige Leben,
wie für die Zufunft, Denjelben Gejeßen unterworfen.” In Wahrheit, wenn
die Kirche in einer einzigen Beziehung dem Geifte ihres Stifterd treu ge—
blieben, fo war es in Bezug auf die Milderung und DVerwerfung der
Stfaverei. Bid zur Zertrümmerung des römifchen Reiches Durd dic Bars
baren ward fie nicht müde, auf Milderung des Looies, wo möglich auf Frei—
laffung der Sklaven binzuwirfen. So verfaufte Ambroſius, als ihn fonft
Nichts mehr geblieben, die foftbaren Kirchengefäße, um von den Barbaren
Gefangene loszufaufen, und behalf ſich mit hölzernen Abendmahlskelchen.
Ganz aufheben jedoch lich fidy die Sklaverei durd feinen Machtſpruch, ohne
daß zugleih die ganze alte Welt felbft wäre aus ihren Angeln gehoben
worten.
Nachdem die Germanen filh der Weltherrichaft bemächtigt hatten, trat
an die Stelle ter antifen Sflaverei die Leibeigenſchaft nach ten Gruntjägen
des altgermaniichen Herkommens, nebft Der an das Lehnsweſen gefnüpften.
Hörigfeit. Auch da konnte die Kirche nicht durch Machtfprüche abbelfen.
Dafür erhob fie mwenigftend die Breilaffung von Hand = oder perfönlichen
Leibeizenen in der öffentlihen Meinung zu einem der verdienftlicften Werke
und vrellzog diefelbe unter kirchlichen Ceremonien. Dadurch war die Leib—
| 0.
233
eigenichaft an und für ſich gerichtet, weil ald etwas Gott Mipfälliges hin⸗
geſtellt. Es ift unrichtig, was cin Hiftorifer dem andern nachſchreibt Die
Leibeigenfchaft fei fchon im 15. Iahrhundert aufgehoben worden. Bere
langten Loc; die Bauern zur Reformationgzeit, bevor ſie Die Waffen ergriffen,
in ihrem Manifeft unter Anderm auch, gänzliche Aufhebung der Leibeigens,
Schaft", eine Forderung ‚ welche fie nebft den übrigen auf die heilige Schrift
gründeten. Die Haus- und perfönliche Leibeigenſchaft war ed allein, vie
im 15. Jahrhundert durch kirchliche Gelege aufgehoben wurde. Erſt die
menjchlich-freie Zeit, während welcher das Chriftenthum wefentlid als Geift
der Humanität waltete, begann, wie befannt, Die völlige Vernichtung der
an Gruntbefig gefnüpften Leibeigenſchaft. Währent aber jo in Europa die
Sklaverei allmälig der chriſtlichen Idee von der Gleichheit und Bruderſchaft
der Menſchen wich, ohne ſchon völlig vertilgt zu fein 1), wucherte fle in Amerika
zur üppigiten Giftblüthe auf. Die jpanifchen Konquiftadoren machten die
Indianer au Sflaven, um an dieſer Barharei zu Grunde zu gehen, und
etwas ſpäter fam Der Oräuel des Negerhandeld auf. Noch find weder die
Bemühungen einzelner Neligiondgefellidaften, wie der Quäfer, nod) Die An—
firengungen einzelner großiherziger Männer, wie die des unfterblihen Wil-
berforce, noch erleuchtete Staatsbejchlüffe, wie die des franzöſiſchen Convents
und des britiſchen Parlaments, noch die Beſtrebungen der nordamerifani-
ſchen Abolitioniſten vermögend geweſen, Der Abſcheulichkeit des Negerhan⸗
dels und der Negerfklaverei in Ländern, die ſich chriſtlich nennen, ein Ende
zu machen.
4.
Auf die Jugendbildung hat das Chriſtenthum sehr heilſam theils
durch den Religionsunterricht, theils dadurch eingewirkt, daß ed dic Volks⸗
ſchule ins Leben rief. Das Heiden- und Judenthum hatten die Jugend des
Volks vernachläſſigt; nur höhere Schulen für das reifere Jugendalter gab
es im römiſchen Reiche, als das Chriſtenthum den Kampfplag betrat.
„Laſſet die Kinder zu mir kommen und wehret es ihnen nicht; denn ihrer
ift das Reich Der Himmel!* Diefes große Wort Chrifti, wenn auch oft
vergeffen, bat der kindlichen Jugend ihre Wichtigkeit in Den Augen der drift-
lichen Melt gegeben, indem ed dic hohe Beltimmung des Kintes, feine
41) Rußland, Polen, Donaufürftenihümer.
234
Anſprüche auf geiftige Ausbildung zum erfien Mal ausſprach. Mit Diefem
Wort im Herzen haben Lie edelſten Freunde ter Menſchheit fib Tem ſchönen
Werke der Iugentbildung gewidmet.
Zuerft freilich begnügte ſich tie Kirche, Die Eltern und Patben bei Der
Taufe ihrer Kinder zu einer chriſtlichen Erziehung derſelben zu verpflichten.
Das elterliche Haus, Die Familie mußte vor Allem durch den Geiſt tes
Chriſtenthums umgebildet werten. Der höheren Schulen freilih, wo
Jünglinge für den geiſtlichen Stand herangebildet wurden, entflanten ſchon
im 2. Jahrhundert etliche, Die Katechetenſchulen nämlich, deren berühmtefte
fib zu Alerandrien und Antiohien befanden. Im 5. Jahrhundert traten
an deren Stelle tie Kathedral⸗ und Episkopalſchulen, weldhe nebſt der Theo⸗
logie auch die fieben freien Künfte lehrten. Bald Tarauf wurden in ten Stätten
die ſogenannten Parochialſchulen errichtet, in denen Knaben und Jünglinge
tie Anfangsgründe weltlicer Wiffenichaft Iernten. Doc die eigentlide
Volfsihule begann erſt, als Karl ter Große und Alfred ter Große ten
Pfarrern jeder Gemeinde die Unterweifung ter ihnen anvertrauten Jugend
im Lefen, Schreiben, Latein und Kirchengeſang zur Pflicht machten. Dane⸗
ben ließ Karl an feiner Hofjchule fähigern Knaben höheren und niedrigeren
Standes durch feinen Freund Alfuin Unterricht inden fiehen freien Künſten er⸗
teilen. Befontere Volksſchulen fiftete Damals auch Biſchof Theodulf von
Orleans in jeinem Sprengel. Aber alle dieſe edlen Schöpfungen welkten
nad tem Tode ter Stifter bald dahin. Tie Pfarrer ſanken ebenfalld in
den alten Schlentrian zurüd unt begnügten fih, ihrer Jugend bis zur Fir—
melung das apoftoliiche Glaubensbekenntniß einzubläuen. Im 13. Jahre
hundert nahmen fi die Bettelmönche der verwahrloſten Jugend an, errich®
teten in ihren Klöftern Volksſchulen, übernabmen felbft in Städten ten
Jugendunterricht, veranlaßten aber durch ihre öftere Weigerung, die Jugend
fhreiben zu lehren ?), mande Stadtbehörde, eine eigene Stadtfchule zu er=
richten. Auch die Ganonici, welde im 9. Jahrhundert die Stiftöichulen,
eine Art niederer Gelchrtenfchulen, übernommen, waren allmälig faul ge=
worten. An ihrer und der Pfarrer Stelle wurde herumziehenden Mönchen
oder Studenten der ganze Jugendunterricht übergeben. Aus dieſen Leuten,
die niemals Icbenslänglich angeftellt, fontern nur für einige Zeit gedungen
— — —
1) Damit feine allzuſtarfke Concurrenz im einträglichen Buͤcherabſchreiben
auffime.
235
wurden, bildete fid der Stand der Schullehrer, welcher bei allen feinen Berrich-
tungen den Pfarrern untergeben war, gleichſam als eine Klaffe nicderer Kle-
riker. Es muß bei diefen Berhältniffen befonterd mit dem Neligionsunters
richt übel beftellt gewelen fein; denn tie Neformatoren hielten für noth⸗
wendig, ben Unterricht der Jugend in der Religion wieder den Pfarrern zu
übergeben, und die Apologie der Augsburger Confeſſton wirft den Katholi⸗
fen, bei welchen die alten Schulverhältniffe noch beibehalten wurten,, vor:
„Bei unfern Gegnern gibt ed gar feine Katecheie für Die Knaben. Bei un
werden die Pfarrer und Kirchendiener gezwungen, die Jugend Öffentlich zu
unterrichten und abzuhören, und dieje Einrichtung trägt Die beften Früchte“.
Die Erfindung der Buchtruderfunft, welche erft tie Einführung von
Lehrbüchern möglich machte, fowie die theilmeife Trennung des Religions»
unterrichts von Den übrigen Fächern tur die Neformation, rief in ten
proteftantifchen Zändern die Gründung regelmäßiger Dorfichulen bervor.
Vreilih gab e8 im 16. Jahrhundert noch der Schulen genug, wo der Lehrer
nichts Unteres ald den Katechismus behandelte. Unter Den Katholiken ha—
ben nach der Reformation befonders die Iefutten fich des Iugendunterrichtes
bemächtigt.. Allein diefer Schuleifer, weientlid im Dienfle der Ordens⸗
zwecke ſtehend, erftrecfte fih mehr auf die Kinter der Wohlhabenden und der
unterfien Volksklaſſen und legte einen großen Werth auf todten Mechanis-
mus in der Jugendbildung. Auf proteftantiichem Gebiet nahm ſich der
Spener⸗Francke'ſche Pietismus beſonders eifrig des Schulweſens an, brachte
aber bei der Jugend nicht viel Beſſeres zuwege, als einen frömmelnden Ans
firih. Erft im 18. Jahrhundert nahm das Schülweſen einen anerfennens-
wertben Aufibwung durch Bajedow, den Vhilanthropen unt Rationaliften,
welcher die Realfächer zur Grundlage des Unterrichts zu erheben fuchte, und
den genialen, gemütblichen Schweizer Peſtalozzi, welcher, zwar durch Rouffeau
mit angeregt, Loc nad) eigenen Ideen mit einem Herzen voll Yiebe die Bil-
dung des ganzen Menſchen, nah Berftand unt Gemüth, anftrebte und durch
feine Methode des Anfhnuungsunterrichtes das Clementar- und Realſchul⸗
weien reformirte. Der Geift des Achten Chriſtenthums war es, welcher in
dieſes edlen Mannes völliger Hingebung an das Volksſchulweſen zu Tage
trat und am gewaltigften zur Förderung deffelben nicht nur in der Schweiz,
fondern auch im übrigen Europa beigetragen bat.
-
236
5.
Nicht minder groß war der Einfluß des Chriſtenthums auf Die Förde⸗
rung der Mildthätigkeit. Die gebildetſten Völker der altheitnifhen Welt,
Griechen und Römer, hatten ihre Armen vorwiegent aus Staatöflugheit
Öffentlih unterflügt. Am beiten hatte noh das moſaiſche Geſetz für Die
Armen geforgt. Aber von Hffentlihen Anftalten für Arme und Kranke,
von wohltbätigen Vereinen, von jener Liebe vollends, welche ſich tröftend
zu denn Verbrecher bernicderneigt, if in der ganzen vorcriftlicen Welt
feine Spur zu finden, wenn man nit etwa Dad Prytancion der Athener,
in welchem nur hochverdiente Greiſe auf Staatdfoften geipeift wurden, zu
den wohlthätigen Auftalten rechnet. Ungeachtet aller Begünſtigungen durch
das mojatfche Gefeg und ungeachtet Ted phariſäiſchen Geifted, welcher das
Almoien zu Den verdienftlien Werfen rechnete, waren zur Zeit Jeſu die
Armen aud in Juda ganz auf Den Bettel angewieien, die Wahnſinnigen und
Ausjägigen ſich jelbft überlaffen. Anders fam ed jegt. Selbft arm, ein
Bore und Vorbild der erhabeniten Liebe, legte er feinen Gläubigen beſon⸗
ders die Urmen und Kranken and Herz, und nahm fi der Verbrecher mit
rettendem Erbarınen an: — „Alles, was ihr einem dieſer Geringften ges -
than haben werdet, das habet ibr mir getban!* „Ic bin nicht gefonunen,
zu berufen Gerechte, fjondern Sünder zur Buße.“ „Die Gejunden bedürfen
des Arztes nicht, jondern die Kranken.” Tiefer Geift der Barmherzigkeit
bat feine Kirche nie verlaſſen, fondern im Lauf Der Zeiten nur verfchietene
Beftalt angenommen,’ — mitunter freilich eine bedenkliche.
Schon Chriftus jelbft- hatte mit feinen Apoſteln eine gemeinſchaftliche
Armenfaile geführt (Joh. 12, 4—8). Nach jeinem Hingang jegte bie
Chriſtengemeinde in Ierufalem dieſelbe fort. Aus den freiwilligen, oft jehr
bedeutenden Beiträgen Der Begüterten ward täglich eine Almoienipendung
an die Armen, beſonders Wittwen und Wailen beftritten, ein Oefchäft, wel»
ches wegen feiner wachfenden Ausdehnung bald ſteben Armenpflegern (Dia⸗
Eonen) übertragen wurde. Zur Zeit der großen Hungersnoth ſammelte
Paulus in ten Gemeinden von Mafedonien und Adaja eine Kicheöfteuer für
Die Gemeinde in Ierufalem. Im 2. und 3. Jahrhundert ward Die Armen-
fteuer, meift aus Naturalien beftehend, während des Gottesdienſtes, unmit⸗
telbar vor ker Euchariſtie, ald Gott wohlgefälliged Danfopfer dargebradt 1).
4) Aus diefer Armenfteuer find fpäter Die Kirchenfleuern entſtanden, welche bie
zur Reformation meift in einen Opferftod geworfen wurten, feit ter Reformatien
237
Aber auch außerhalb Ted Gotteödienfted erwieſen die Chriften ihre thätige
Bruderliebe gegen Arme, Kranfe und Gefangene auf die thätigfte Weife.
Die Satire Lufiand, welche an dem Beifptel des Peregrinus Proteus dar-
ftellt, wie leicht die Mildthätigkeit der damaligen Chriften durch Schwindler,
die „in Chriſtenthum machten *, mißbraucht werden fonnte, tft gerade das
glänzendſte Zeugniß für den Geift, der damals die Kirche befeelte.
Als die hriftliche Kirche durch Konftantin zur Staatöfirche geworden,
trat fie als Bermittlerin zwifchen die Geber und Empfänger hinein , ftiftete
zahlreiche Armenanftalten und Spitäler, erwirkte im Namen der Armuth
die reichften Gaben und Vermächtniſſe und ftellte dieſe gefliffentlich als vers
dienftliche Werfe dar. Dadurdy ward die freie Wechfelwirfung zwischen Bes
güterten und Dürftigen geflört. Der Wohlthäter dachte bei feinen Gaben
bald mehr an ſich ſelbſt, nämlich an fein Seelenheil, als an den Armen:
Die Liebe wich einem gläubigen Egoismus. Eben deßwegen ragen Geflal-
ten der aufopfernditen Bruderliche, wie Ambroſtus, Baulinus?2), Gregor
von Nazianz, Johannes Chryſoſtomus 2) u. A. m. fo hoch über ihr Zeitalter
hervor und fünpfen fo gewaltig gegen den einreißenden Mangel an wahrer
Näcftenliebe. Boll Entruͤſtung ruft Ambroſtus den Reichen ſeines Zeit—⸗
alters in der Schrift über Naboth zu: „Ihr ſchmücket die Wände und ent—
blößt die Menſchen. in nadter Menſch jchreit nor deiner Thür und du
vergint ihn. in nackter Menſch fehreit und Du, du grübelſt nach, mit wel=
chem Marmor du deinen Borbof ſchmücken wolle. Ein Armer bitter um
‚Brot und erhält keins; ein Menich bittet um Brot und dein Bferd zerbeißt
das Gold mit feinen Zähnen. Welches Gericht bereiteft du ir, o Reicher!
Das Volk hat Hunger und du verjchließeft deine Speicher. In deiner Madıt
ſteht es, Diele vom Tode zu erretten, und du willſt nit. Wine einzige
Gemme deines Ringes könnte das Leben einer ganzen Schaar erhalten“.
Eben fo polizeiwidrig redet Baulinus in feiner Schrift über den Armen-
kaſten: — „Die Armen erwarten euch an den Pforten der Kirche; ſie heften
ihre Augen auf euch, beobachten euere Ankunft und verfolgen einen jeden
eurer Schritte. Ihre durch Hunger geſchwächte Stimme richtet an euch
flehentliche Bitten; fe rufen eure Iheilnahme zu irgend einer Erleichterung
aber in einigen Ländern duch Aufheben tes Klingelbeufsls zu Gunſten der Armen
eingefammelt werden.
2) Um 390 in Barcelona.
3) Erzbiſchof von Konftantinopel, ſtarb 407 im Exil.
238
ihres Elended an. Hütet euch, ihre Klagen in Murren zu verwandeln,
hütet euch, daß nicht Scufzer gegen euch auffteigen zum Vater der Waiſen,
zum Beſchützer der Wittwen, zu dem Gott, weldyer in der Berfon ter Armen
leidet“. Hören wir endlich nod einen Vater der griechifchen Kirche! GB
ſchadet Nichts, fondern belehrt nur, daß La Mennais und andere „ Schwär-
mer“ der neuften Zeit gar Feine neue Sprache geführt haben. Gregor von
Nazianz ergeht ſich in folgenden ragen und Schilderungen: — „Wir folls
ten die Armen den linbilden der Witterung ausgeſetzt laflen, während wir
in bequemen und prädtigen Häufern wohnen, welde mit Erelfteinen aller
Barben geziert find, überall von Gold und Silber erglänzen und ten Blick
auf Die audgeiuchteften Gemälde hinziehen! Die Armen flerben vor Kälte
in ihren zerriffenen Gewändern und unter den Lumpen, die fle kaum bedecken,
und wir, wir jchleppen hinter und lange fliegente Kleider, gewebt aus Lin⸗
nen und Seite! Die Armen leiden Mangel an den nothwendigften Lebend-
mitteln, und ich, ich ſchwimme in allen Ledereien! Sie liegen Hingeftredt
vor unjern Pforten, abgemattet und ſchmachtend vor Mangel, Faum im
Stande, deutliche Worte zu ſprechen, manchmal nicht im Stande, die Hänte
auszuſtrecken und fih zu ten Füßen der Reichen hinzuwerfen oder fie mit
ihrem Sammer zu rühren; und wir, wir fchlafen in weichen Betten, welche
forgfältig gegen die Strahlen des Tages geihügt find!“
Nachdem im 5. Jahrhundert die blutige Verfolgung der Keßer begon⸗
nen, fing Die Kirche an, die Werke ter Barmberzigfeit wejentlih auf Die
Rechtgläubigen zu Geichränfen, und immer mehr machte fih der Grundſatz
geltend, gegen Solche, die von der Kirche verfloßen worden, fei man aller
Chriftenpflidt entbunden. Abgeſehen davon, nahmen auch die Klöfter,
zunächft hervorgegangen aus felbftgewählter Armuth, an der Beforgung der
Armen und Kranken theil. Wohl famen Zeiten, wo aud die Priefter und
Mönche, durch den Reichthum ihrer Pfründen verdorben, tie Pflege der
Armuth verfäumten; doch jelbft in den finfterftien Zeiten des Mittelalters
finden fi ehrenhafte Ausnahmen. Papfte, wie Gregor der Große, und
iogar ein fo undultjamfter und gewaltthätigfter Menfch, wie Innocenz III.,
werden von unverbächtigen Zeugen ald Väter der Armen, ber Wittwen und
Waifen gepriejen. Zudem fonnte alle Werkheiligfeit nicht hindern, daß
auch Laien fih mit wahrer Nächftenliebe der leidenden Menfchheit annahmen.
So die Landgräfin Elijabeth von Thüringen, welde im Spenden, wie in
der Kranfenpflege, gleich Unvergeßliches Teiftete. Im Hinblid auf tie bes
239
dauerliche Abweichung der biöberigen Mönchsorden von ihren Pflichten ge=
gen die Armuth fliftete Franz von Aſſiſſt, gerührt durch das Evangelium
vom reichen Iüngling, feinen Bettclorden, die Franziskaner im Jahre 1209.
Selbft nur von Bettel lebend, theilte dieſer Orten, jo lange er noch unver«
borben blieb, das Exbettelte mit den Armen. In Bolge der Reformation
ward das Armenwefen in den proteflantiichen Ländern der Kirche entriffen
und zur Staatsſache gemacht. inen Theil der cingezogenen Kirchengüter
beftimmte man zu Armenfonds der berreffenden Ortſchaften, befontere Ver⸗
mächtniffe für Die Armen bildeten andernorts das Almojengut. Dieſe Ar⸗
mengüter, jowie die Spitäler und Armenhäuſer, wurden fortan, bisweilen
mit Zuzug der Ortögeiftlichen ,. von weltlichen Behörden verwaltet unter
Dberaufficht der Regierung. Wo die Spendgüter den Bedürfniffen der Orts⸗
armen nicht genügten, half die Privatwohlthätigkfeit aus. So ſtand ed mit dem
Armenwefen in den proteftantifchen Rändern, bis die erneute Zunahme der
Bevölkerung nach den Dreißigjährigen Kriege, der wachiente Steuerdrud,
die Zollſchranken, der fleigende Luxus, endlich die Fabriken das drohende
Geſpenſt des Pauperismus heraufbefhworen. Da erft raffte fich der Bros
teftantismus wieder zu umfaffenterer Sorge für das Armenweſen auf.
Mittlerweile hatte Vincentius von Paula, geb. 1576 in der Gascogne,
den Geift werfthätiger Liebe innerhalb der Fatholifchen Kirche zu neuem Le⸗
ben angefadt. Er ftiftete ten Priefterorden der Miſſion, deſſen Glieder
verpflichtet waren, Durch Seelforge und Milvthätigfeit Die Kranfen zu trö«
ften, die Urmen aus der Noth zu ziehen, die Verbrecher aus ihrer leiblichen
und geiftigen Berfunfenheit zu erheben. Im Verein mit der Frau von Le
Gras, fliftete er auch, angeregt Durch den von Branz von Saled 1610 er=
richteten Orten der Bifttantinnen, den berühmten Verein der „ barnıherzigen
Schweſtern“ (Filles de la charite). Ihm ift auch die Errichtung des erften
Findelhauſes zu verdanken. Eine treffliche Anregung hätte Brande, der Er⸗
bauer des Waijenhaufes in Halle (1694), der proteflantifchen Kirche in der
Richtung freier Wohlthätigkeit gegeben, wäre nur der Gegenjag ter Ortho⸗
torie zu feinem an ſich achtungswerthen Pietismus nicht zu ſchroff geweien.
Aber die freie Liebe ward durch dieſen Gegenjag in den Augen Vieler zur
Parteifache des Pietismus und ward es immer mehr, einen je auffallenderen
Anſtrich fich die Pietiften gaben. Died war ter Grund, warum Francke's
Beiipiel nicht jo allgemeine Nachahmung hHervorrief, wie man es hätte
wünjden follen. Die Pietiften, fich ſelbſt überlaffen, wirkten nun in ihrer
240
Weile als freie Bereine fort, die Stuatöregierungen blieben bei ihrer büreau-
kratiſch⸗geſetzlichen Armenpflege, bis in unſerem Jahrhundert Lie Arnen-
frage die drennenpdfte aller Zeitfragen geworden if. Denn mit der über:
Bandnehmenden Serrfchaft des Induſtrialiomus wächſt auch in ungcheurer
Progreſſton das Broletariat, und wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß
manche der gegen das prolctarifche Elend und die prolctarifche Verſumpfung
neueften® ergriffene Mittel, wie 3. B. die „Innere Miſſton“, ganz gut ges
meint jein mögen, jo iſt doch klar, daß ſte zu der Größe des Uchels in einem
Fläglichen Mißverhältniß ſtehen. Aber nicht der chriftlien Idee fallt Das
zu Laft, ſondern vielnrehr jenem totalen Abfall von ihr, welder die ſelbſt⸗
ſüchtige Geldmacherei ald Scele Der Geſellſchaft proclamirt bat.
Nur eine ganz unbiftoriihe Anihauung kann überjehen, daß Tas
Chriftentgum durch alle die Jahrhunderte ſeines Beſtehens herab in feinen
beften Trägern jencd himmlische Erbarmen des Menſchen für ten Menſchen,
weldyed der Habbi von Nazareth lehrte, gepretigt hat. Und nicht allein
gepredigt. nein, auch berhätigt. In der Geſchichte der chriſtlichen Mildthä—
tigfeit und Opferfreudigfeit gibt cd eine ununterbrodgene Reihe von Män-
nern und Frauen, von Chriften und Ehriftinnen, welchen die Gloriole der
Heiligkeit um die Schläfe zu legen fein fühlender Menſch, ob er fih zum
chriſtlichen Dogma befenne oder nicht, auch nur einen Augenblick fid) beſin—
nen wird. Breilich find das nicht immer und nur folde Heilige, welche
die Kirche kanoniftrte. Allein wad man auch von Kirche und Kirchenge—
ſchichte halte und mag man felbft fo weit gehen, die letztere mit Görhe in
ihrer Totalität für weiter Nichts als für eine „ Miihung von Irrthum und
son Gewalt“ anzufehen, — fein Wiffender und Unbefangener kann leug-
nen, daß nicht nur die Schillerrihe Tugend des £ategorifchen Imperativs,
fondern aud die jpeziftfchschräftliche Fein „leerer Schall iſt.
Die hriftlihe Tugend quoll und quillt aus dem Spiritualismus und
Idealiomus der hriftlichen Idee, weldher dem Materialiemud und Realismus
der antifsheidnifchen Idee des entjchiedenften entgegenftebt. Diefer chrift-
liche Idealismus Hat in feinen Ausfchreitungen Thörichtefles und Unjeligftes
zu Stande gebracht: düftere Weltentiagung und aberwigige Selbftpeinigung,
wahnftnnige Bußkrämpfe, rafende Thaten des Banatiöınus, rine unheilvolle
Bergötterung des Pfaffentbums. Aber auf der andern Seite, wie hat er
im Größten und Kleinften das altheifige Wort bewährt: „Est Deus in
21
nebis!“ Gr bet die enimergte und verrottate Welt des roͤmiſchen Reiches
in das Verjüngungsbad ſeiger ſteragen Moral gezwungen; er frohlockte auf
den in Qualen zuckenden Lippen der Blutzeugen der erſten Kirche, wie auf
den Lippen der zahlloſen Märtyrer der Geiſtesfreiheit, welche die Inquiſition
bluten und brennen lich ; er hegeißleste Die Böhler zu jener Völkerwanderung
in unigelehrter Richtung, zu den Kreuzzügen, welde, indem fie Abendland
und Morgenland mit einander in Berührung brachten und Die sreidentelie
ihren Bölfer aus der Dumpfheit mittelalterlicher Abſonderung herausriſſen,
einen unermeßlich guten Einfluß auf den cultusgefchichtlichen Prozeß geübt
haben. Und weiter war ed dieſer Idealiomus, der Die poetische Welt eines
Wolfram von Eſchenbach, eines Dante und Milton ſchuf; er war 8, Der
einem Mafael, einem Sorreggie, Murillo und Dürer.den Binfel führte, ber
die Donriffe eines Erwin von Steinbach und eines Heinrich Sunere ent⸗
warf, der den Myfifern des Mittelalterd, einem Tauler, Suſo und Thomas
son Kempen die Herzenslaute einer wunderbaren Beredtſamkeit eingab. Der
chriſtliche Idealismus war eb ferner, welder in den Reden, Schriften und
Handlungen der Reformatoren aufſtand gegen den üppigen und habgierigen
Materialiamus einer Kirche, deren Haupt fih nicht ſcheute, von Den Lufl-
binnen Roms ald Abgabe den fogenannten „ Mildzind" zu erheben, und
als dann die Herzen im Lutherthum immer mehr verödeten und eine ver⸗
Inöcerte Dogmatik die Kanzeln mit dem Wortgezänf leerer Unterſcheidungs⸗
lehren erfüllte, da war er es wieder, welder den frommen Spener zur
Stiftung feiner „Collegia pietatis‘‘ anregte, die freilich fpäter ſchnoͤde ent⸗
arteten. Und bis auf unfere Tage herab iſt der chriſtliche Idealismus wach
ad thätig geblieben und mitten in dem wilden Getöſe des Geldeultus wirkt
ex feine fillen Wunder, mitten in den grimmigften Wüthen Der Nevakıtion
erhebt er die leuchtende Friedendvalme. Am 23. Februar 1848 tobte der
Kampf in den Straßen von Paris. Un einer Straßenecke wurde. nach mör⸗
deriſchem Gefecht ein Wachthaus von den Infurgenten erflürmt. Einige
per Sieger, vom Kampfe erhitzt, wollten zur Miedermetzelung der gefangenen
Soldaten ſchreiten. Doch legt ſich ihr Mordzorn bald. Mur Einer will
fish nicht zufrieden geben. „Man Hat meinen Bauder gemordet“, zuft ar
wilthend nud, — „ib muß wister Einen morden!“ Da entwaffnet +in
Proletarier ven Rachedurſtigen durch die Brage: „Aber wen wollteft du
denu morden, der nicht aud) dein Bruder wäre?" — Ich wüßte in der gan⸗
zen modernen Gejchichte Feinen zweiten Zug, der an einfacher. Gräfe Bien
Schere, Geſch. d. Religion. TH. 16
gleihfäme. Grinnern wir und dieſes Lichtfſtrahls chriſtlichen Idealismus
in dem Dunkel, welches wir jet zu durchſchreiten haben.
6,
Die Machtgröße des Aberglaubens im Chriſtenthum Hat ihren
wefentlichen Grund in der innerlich durchaus unvollfländigen Meberwindung
des Heidenthums durdy das Chriſtenthum. Auf diefem Mangel baftrt die
Vermiſchung jüdifch- hriftlicher Vorftellungen mit den Borftellungen der
verfchiedenen Heitenthümer. Ausgehend vom biftorifch gegebenen Wunder⸗
und Teufelöglauben, nahm dad Chriſtenthum, je mehr Völker es eroberte,
tefto mehr auß den uriprünglichen Religionen derſelben in fih auf, Naͤher
angefehen, zweigen ſich im chriftlichen Aberglauben verjchiedene Stoffgebiete
aus. Als das erfte erfcheint das, indbefondere von Ennemoſer ſchriftſtelle⸗
riſch cultivirte 1), Gebiet des thierifchen Magnetismus, der Sympathie und
des Somnambulismus, weldyes überall der altheidnifchen Zauberei und
Wahrfagerei zu Grunde lag. Ein zweites Gebier ift der Glaube an die
Macht der Heiligen über bie £örperlidye Natur, ein dritted die poctifche Per⸗
foniftcation des Bien, ein viertes die der Menjchenjeele angeborne, in Ge⸗
fpenfterfeherei u. dgl. m. ausgeartete Unſterblichkeitsahnung, ein fünftes
der Glaube an den Einfluß der Geflirne auf die irdiichen Weſen, beſonders
die Menichen. — Dieſe Stoffgebiete fchieden fih im Bewußtſein der chriſt⸗
lichen Bölfer in zwei einander entgegengefegte, und zwar, was die Aus⸗
übung des Aberglaubend betrifft, in das Gebiet kirchliche Wunder
wirfung, und in daß verbotene Gebiet der Magie, deren Unterſcheidung
in weiße und ſchwarze von der Kirche nie audbrüdiih anerkannt wor⸗
den iſt. Im Mittelalter und noch lange nach der Reformation haben flu-
pide Pfaffen und ungebildetes Volt Alles, was ſie nicht verflanden, in dem
Tiegel der Magie geworfen. So ward befanntlih Albertus Magnus um
feines Wintergarten willen für einen der größten Zauberer gehalten und
die Erfindung der Buchdruderkunft für eine Eingebung des Teufeld erflärt.
Als die Hexenprozeſſe in ihrer fenerrotben Blüthe ftanden, war es gefähr-
Tih, mehr zu wiſſen, als andere Menichenkinder. Die Entſchuldigung mit
„weißer Magie* war nicht immer ein Schugmittel harmloſer Alchhymiſten.
4) „Geſchichte der Magie.” „Der Magnetismus im Berhältniß zur Natur
und Religion.”
243
Nur ein Gebiet ded Aberglaubens wußte fi im Mittelalter zwiſchen dem
kirchlichen Wunder und der Magie in der Schwebe zu erhalten, nämlich die
Aftrologie. Chaldäifchen Uriprungs, und gegründet auf die Betrachtung
der Geſtirne als beſeelte Weſen, kam fie von den Arabern Spaniens und
Sieiliens zu den Chriſten, wo der Stern der morgenländifchen Magier über
Bethlehem bald die kirchlichen Zweifel gegen fe beichwichtigte. Wurden
auch von den Chriften die Geſtirne nicht mehr für befeelte Weſen angeſehen,
fo betrachtete man doch ihren Lauf als Offenbarungen Gottes über das
Schickſal der Menſchen, fchrieb ihnen verichiedene Temperamente und Wir-
kungsarten zu und ftellte das Horoffop, die Nativität, je nad den Annah⸗
men ihrer Eigenfchaften. Mars z. B. wart gewöhnlich als unheildrohen⸗
der, Jupiter ald glüdbringender Stern betrachtet. Auch die Gimmelsräume
theilte man ein in verfchiedene Käufer, 3. B. des Lebens, des Reich⸗
thums u. f. w., welche dem bei der Geburt eines Menichen in ihnen erfcheis
nenden Geftirne wieder eine befondere Bedeutung gaben. Der aftrologiiche
Aberglaube unterflügte mächtig den Glauben an unbedingte Vorberbeftims
mung der Schickſale. Diele Fürften, felbft Papfte, Hatten ihre Aftrologen.
Bur Reformationszeit ward die Aftrologie beſonders von Melanchthon eifrig
betrieben. Wallenftein nährte mit ihr feine verderblichen Hoffnungäträume
und, wer follte e8 glauben? felbft Kepler, der Vater der neuern Aftronomie,
verwarf die Aftrofogie nicht ganz, fuchte fle vielmehr anf neue Prinzipien zu
gründen, unter andern auf den Einfluß, welchen die Lichtſtrahlen der Sterne,
befonders der Planeten, auf die Bewohner der Erde ausüben follten.
Darum fpuft denn die Aftrologie auch heute noch.
Schon in den neuteflamentlihen Schriften fehen wir die Wunderfraft
der Kirche im Kampf gegen die Zaubereien und Weiffagungen des Heiden⸗
thums. Die Upoftelgefhichte 3. B. erzählt, wie Baulus aus einer Sklavin
den Wahrfagergeift austrieb und dafür von den Herren berfelben verflagt
wurde. Die Zauberei überhaupt, wurbe fie von jübifchen oder heidniſchen
Goeten geübt, galt ſchon den Apofteln für ein Werk des Teufeld. Die .
Kirche nad) Ronftantin, je träger fie ward im Kampf gegen das Böſe felbfl,
richtete ihre Waffen um fo eifriger gegen den Teufel und feine Dämonen.
ge mehr der Beift Lügenhafter Phantafterei und frommen Betruges Volt
und Klerus unterwarf, deflo reichlicher fprubelte ber Born der heiligen Le⸗
gende. Die Heiligen fpielten mit den Naturkräften, wie mit gehorfamen
Kindern. Ihre flerblichen Ueberreſte, deren Aechtheit zu bezeugen ein
16*
244
Traum genügte, wirken größere Wunder, als fie von Chriſtus ſelbſt erzaͤult
werden. Auzuſtinns joger Tegt in feiner Schrift vom „eldre Gabueh *
Beugniß ab für unzaͤhlige Wunder, welche die Refiqwien des heil, Stepha⸗
nnd, auıh in feinem eignen Sprengel, gewirkt haben follen. Außer ven
Weliquien warb auch das Kreuzſchlagen und Tas Beiprengen mic Weihwaſſer
Gchutzmittel gegen daͤmoniſche Einflüffe. Im Fahre 373 tritt Die Ausaͤbung
heidniſcher Bauberei im romiſchen Reiche zuerfi wieder grell hervor. So
ungerecht in vielfacher Hinſtcht das Verfahren Valentinians L dagegen
war, es fanden ſich wirklich eine Menge Zauberbücher vor (autch der junge
CThryſoſtomus beſaß ein ſolches) und die Häufige Anwendung von Liebes⸗
tränfen , fernbin tödtenden Holz⸗ und Wachsbildern, Geiſterbeſchwörung,
Wettermachen u. dal. m, ward bei vielen Angeſchuldigten comflarirt ®).
Shen damals ward den weiblichen Geſchlecht eine wichtige Noble in Dielen
Dingen zugerheilt. Die Heren jind nicht erſt im Mittelalter erfunden
worden ®). Der Groreismus, die Damonenaudtreibung, blieb ſeit Konſtan⸗
tin Die einzige Art dor Krankenheilung, welche die Geiftlihen, als Work⸗
zenge des heil. Geiſtos, übten. Dafür ward er mit der Zaufe verbunden,
um ben feine Goͤgen abſchwoͤrenden Heiden dem Einfluß derielben zu ent⸗
giehen ; wie denn bekanntlich die Götter Der Heiden nicht für leere Sinbäl⸗
dungen, fondern für böje Geiſter angefchen wurden. Als die Kindertaufe
allgemein geworden, ward der Ezorcißmus gleihwohl nice abgefchafft. Ihn
unterftügte bald die Lehre, Daß jeder Menſch von Geburt an unter des Teu⸗
febs Gewalt Wehe. Davon überzeugt, ſetzte Luther für die Taufhandlung
die Formel fehl: „Bahre aus, du unreimer Geiſt, und gib Raum dem helli⸗
gen Geiſt!“ Der Exorcidinns galt den Lutheranern als eines der Haupt⸗
merkmale kerchlicher Rechtglaͤubigkeit den Reformirten gegenüber. Der
tutholiſche Klerus übt ihn heutzutage noch. Daher könnte von dieſen Mrak⸗
tiken des Exorciſirens und Bannens, wie aus Dem Mittelafter, — wo ein⸗
mal ein Biſchof von Kauſanne zum Beſten des Gedeihens der Salmen die
»Olutegel und ein andermal ein Biſchof ven Chur die gefräßigen Maibäfer
dannte, — ſo auch aus newer und neueſter Zeit Ergotzlichſtes berichtet mer⸗
— — —
2) D. h. die Angeſchuldigten bekannten ſich zu dem Wahn, daß fie bie. ihnen
ſchuldgegebenen zauberiſchen Praktiken wirklich üben koͤnnten.
3) Das Wort „Here“ kommt vom althochdeutſchen hazus, hazusa, hazasa,
mittelhd. (aber fetten) hegıse. Noch His ins 16. ımd 17. Jahrhundert wird dinfer
Bezeſchnung das ort „Wnholde” (mascul. Unholdaere) vovgejogen.
v
245
den, wen Dazu Raum wäre. Auch deſſen enthalten wir und, jenes Gebiet
des pfaͤfflichen Betrugo und der gläubigen Dummheit zu betreten, we, in
alter und neuer Zeit, Gracifire und Heiligenbilder weinen, bluten und bie
Augen versehen, daB Bint des heiligen Januarius fläifig wird, Engel das
Hand der Maria nad) Lereto tragen, — furz, wo die Märkenfabrifation
hufteriicher Moͤnchs⸗ und Nonnenphantaite oder hierarchiſcher Pfiffigkeit in
vollem Gang ift. Dergleichen gehört doch mehr in eine Geſchichte der
menfchliden Narrheit ald in eine Gefchichte Der Religion. |
Wenn auf dem berührten Felde die Wunderſucht mehr eine fpezifiich
hriftliche Färbung trägt, To iR Dagegen in dem Glauben an bie Gottes⸗
urtheile, welcher in dem mittelalterlichen Prozeßverfahren «ine jo bedeutende
Rolle fpielt, Altheidniſches nur etwas verchriftlide. Das germanifche Hei⸗
denthum hatte. den Göttern, als höchften Schügern des Rechtes, in zweifel:
haften Nechtsfällen ein unmittelbared Eingreifen zu Bunften des Schuld»
Iojen und zu Ungunften des Schuldigen zugefchrieben. Demzufolge war bie
Berufung auf ein Gottesurtheil (Ordal 2)) unter die altgermanifchen Rechts⸗
bräuche aufgenommen worden. Wenn ein Ankläges den Neinigungdeid
des Angeflagten und feiner Eideshelfer nicht traute, jo Eonnte er einen ge⸗
. richtlichen Zweikampf mit dem Gegner fordern, als ein Gotteönetbeil. Oder
ein Angellagter, wenn er Feine Eideshelfer finden konnte, durfte es ver-
juchen, durch Zweifanıpf mitt dein Anfläger ſich zu reinigen, oder dadurch,
daß er fich einer andern Art von Gottrdurtheil unterwarf. Die gewöhn⸗
lichſten Arten waren die Feuerprobe und die Waſſerprobe, denen beſonders
auch angeklagte Frauen unterworfen wurden, wenn fie. Keinen fanden, der
ihre Schuldlofigfeit tin Zweifanpf mit dem Ankläger vertreten wollte. Die
religiöfe Ehrfurcht wor der Heiligkeit der Orbalien hatte ſich jo tief dem Be⸗
wußtſein der germanischen Bölfer eingeprägt, daß die Kirche e8 mit dieſem
heidnifchen Brauch machte wie mit noch vielen anderen. Sie adoptirte den⸗
felben, gab ihm ihre Weihe und bereicherte ihn nambaft. So fannte das
Mittelalter Proben mit kaltem und jiedendem Wafler, das Wegichreiten
über heiße Kohlen oder glühend gemachte Pflugſcharen, das Aufaſſen um
Aragen glähenten Eiſens als Ordalien, ferner Die Krınzpeode, die Abend⸗
4) Ordäl, wovon das lat. ordalium, iſt die angelfaͤchſiſche Form des Wortes.
Die althochdeutſche lautet urteili. Vgl. Grimm „Deusfche Mechtoallerthüter“, 2. 9.
©. 908-937, wo der Gegenſtand erjchoͤphend abgehandelt iR.
246
mahlsprobe, dic Probe des geweihten Biſſens, entlih das Bahrrecht 3).
Daß mit allen diejen Berufungen auf tie Gerechtigkeit Gottes viel Mißbrauch
und Schwindel getrieben wurde, unterliegt gar keinem Zweifel, und daß bie
Ordalien fhon im 13. Jahrhundert der Spott der Bernünftigen waren,
bezeugt und einer der hellſten Denker des Mittelalters 6). An die Stelle der
5) Ergreifend if die Uebung des Bahrrechts im 17. Abenteuer der Nibelungen:
noih gefchildert: —
Die Nacht war vergangen, man fagt’, es wolle tagen;
Da ließ die edle Fraue zu dem Münfter tragen
Siegfried den Herren, ihren lieben Mann.
Mit ihr gingen weinend, was fie der Freunde gewann.
Da fie zum Münfter famen, wie manche Glocke Hang!
Da hörte man allenihalben manches Pfaffen Sang.
Da kam der König Gunther herzu mit feinem Bann
Und auch der grimme Hagen: fle hätten’s klüger nicht gethan.
Sie hielten ih am Leugnen. Kriemhilte da begann:
„Ber daran unfchuldig, leicht iſt es dargethan;
Gr darf nur zu der Bahre hier vor dem Volke gehn,
Da mag man gleich zur Stelle fih der Wahrheit verfeh'n.“
Das ift ein großes Wunder, wie es noch oft geſchieht;
Wenn man den Mordbefledten bei dem Todten fiebt,
So bluten ihm die Wunden, wie es auch jebt geichah ;
Daher man nun der Unthat ſich zu Hagen verſah. |
Die Wunden floflen wieder fo flark als je vorher.
Die erſt fo mächtig Hagten, fie weinten nun noch mehr.
Da ſprach König Gunther: „Run hört die Wahrheit an:
Ihn erfchlugen Schaͤcher, Hagen hat es nicht gethan.”
„Mir fine diefe Schächer“, ſprach fie, „wohl bekannt ;
Nun laß es Gott noch rächen von feiner. Freunde Hand !.
Gunther und Hagen, ihr habt es wohl gethan.“ .
Da wollten wieder flreiten die Degen in Siegfrieds Bann.
6) Sottfried von Straßburg, der Dichter des Triftan. V. 15648 fg. erzählt er,
wie die des Chebruchs mit Triftan angefhuldigte Iſolde ſich dem Gottesurtheil tes
Tragens eines glühenden Eifens untertwirft. Vermittelſt eines ebenfo finnreidhen als
komiſchen Cinfalls macht das fchöne und geiftvolle Weib die ganze Geremonie zu einer
luſtigen Poſſe, deren Ausgang Gottfried mit ter ihm eigenen koͤſtlichen Ironie dar⸗
ſtellt: —
.... Amen, ſprach bie fchöne Ifot.
In Boitcönamen fle griff es an
Unt trug es, daß ſie's nicht verbrann.
247
Gottedurtheile trat Dann allmäkig, oft noch mit jenen verbunden, eine ſcheuß⸗
liche Bolterfunft , welche bei und in Deutſchland namentlich dann raffinirt
ausgebildet wurde, al8 im 16. Jahrhundert ber inquifitoriſche Prozeß den
Anklageprozeß verdraͤngte.
7.
Wir wenden uns zu dem Zauber⸗ und Hexenweſen der mittelalterlichen
und ſpaͤteren Zeit, ſagen aber ſogleich, daß wir das ungeheure Material,
welches aus dem orientaliſchen, aus dem griechifch⸗römiſchen, keltiſchen,
flaviſchen und germaniſchen Heidenthum tm chriſtlichen Volksglauben fi
angeſammelt, nicht in feinem ganzen Umfange hier betrachten köͤnnen. Wir
haben es nur mit den vorragendſten Spitzen des Zauber⸗ und dvexenglau—
bens in der chriſtlichen Welt zu thun 1).
In dieſem Drama, welches komiſch wäre, wenn ihm nicht die furcht⸗
barſten Bräuel anhafteten,, jpielt der Teufel eine Hauptrolle. Ganz folge
richtig, da ja das chriſtliche Dogma die Natur als einen Abfall von Gott
faßte, entlehnte der hriftliche Teufel von tem großen Naturgoti der Alten,
vom Pan, die Geftalt. Im diefer trat er in der Anſchauung der Kirche an
Da war wohl offen erfläret
Und all ver Welt bewähret,
Daß der viel tugendhafte Chrift
Hanthierlich (wintschaffen) wie ein Aermel if.
Er fügt fich bei und fchmiegt fi an,
So man es mit ihm fügen fann,
Alfo gefüge und alfo wohl,
AS er mit allem Rechte fol.
Er ift allen Herzen gleich bereit
Zum Trug wie zur Wahrhaftigkeit.
Iſt es Ernſt oder ift es Spiel,
Er ift je ſo wie man ihn will.
1) Den auf dem Zaubergebiet weniger oder gar nicht Heimifchen verweife ich auf
den fchon früheren Ortes berührten „Derenhammer“ (malleus maleficarum) von
Sprenger und Eonforten, das reichfte Arfenal mittelalterlicher Barbarei. Werner
auf Anhorns Magiologia, Haubers Bibliotheca magica , Horfts Zauberbibliothef,
Brimms Deutfche Mythologie (Abſch., Teuſel““ und ‚Zauber‘, 3.9. 936-1058),
Soldans Seh. d. Herenprogefle, Köppens Abhandlung über Heren und Hexen⸗
prozeſſe in Wigand's Vierteljahrsfchr. f. 1844, II., 1— 74 und auf das Kapitel ‚‚Zaus
berweien und Hexenprozeß““ in meiner ‚‚Beich. deutlicher Gultur u. Sitte‘ S. 352 fg..
246
die Stelle Der noch lunge Beimlich wereßrten heidniſchen Götter, Fiftete ir
ein eigene® Hei, beffen Unterthanen Zauberer und Seren waren, ebenfo
einen eigenen Cult und benahm ſich überhaupt als „Affe Gottes". Ihm
zu Ehren wurden die „Herenfabbatbe” gefeiert und in Deutſchland galt ale
fein Hauptfeft Die Walpurgisnacht auf dem Blocksberge 2). Dan fand feine
Ausübung Der Magie mehr möglich ohne einen Bund mit dem Teufel, Eraft
deſſen ter Bethörte ihm feine Seele verihrieb mit dem eignen Blute, wo.
gegen ihn der Teufel in tie Geheimniſſe der Zauberei einweißte, ihm zügel⸗
Infen Genuß natürlicher und widernatürlicher Wolluſt verfcaffte, ihm Reich⸗
thümer, Kriegöglüd u. a. m, zuwandte. Da im altgermaniiden Heiden⸗
thum befonders die Weibes im Rufe des Befiges höherer Gcheimnifle und
Kräfte gehanden Hatten, Da man nicht vergaß, wie durch dad Weib die
Sünde in die Welt gekommen, da ferner dem ſchwächern Geſchlecht Die Reis
gung zu binterliftigen Hülfamitteln vorzugẽeweiſe zugeichrieben wurde, Schön
heit und Häßlichfeit der Weiber auf Viele zu allen Zeiten einen dämoniſchen
Einfluß ausisbten und endlich die phantaftiider angelegte Natur des Weibes
ſelbſt oft verdäctige pſychologiſche Ericheinungen hervorrief: jo Hand beſon⸗
ders das weibliche Geſchlecht im Verdachte Der Zauberei und des Bündniſſes
mit dem Teufel. Manchmal glaubten die Angeſchuldigten, durch den Gebrauch
narfotifher Salben, beionderd aus Bilfenfraut, in franfhafte Träune ver»
ſetzt, felbft an ihre Zuftfahrten auf dem Beienftiel, an ihre Bublichaft mit
dem Teufel und den Herenmeiftern, an ihre Arafı, Krankheiten und ver⸗
beerende Gewitter zu verurfachen. — Was fle aber jelbft nicht glaubten,
lehrte fie die Zolter glauben oder wenigftend befennen 3). Wie der Teufel
ein Gegenreich zum Reiche Gottes gegründet, im Gegenfag zum menſchge⸗
wordenen Gottesſohn mit einer menſchlichen Sungfrau den Teufelsſohn
Merlin gezeugt hatte und den Heroen der Kirche gegenfiber Bauft und Don
Juan zu Heroen feines Hollenreiches erhob, fo war er, Darauf deutete unver⸗
fennbar feine Bodögeftalt, aud der Widerpart der reinen hriftlichen Liebe
und demaufolge ein neuer Baal, Herr der ausſchweifendſten Unzucht. Daher
9 Hier klingt fo weht Germaniſch⸗Heidniſches duch, denn bie erſte Mainacht
mair die Beit eines gennanlichen Opferfeſtes und der alten Maiverſammlung tes Botles.
9) „Du ſollſu fa din geioltert werden, daß bie Gemne durch dich fſcheint/ —
Imatete tie Hurlersfenmel beiı der Bolterung. einer Gexe. In meinem werhln. eitirten
Bu habe ich ©, AB die vestotellazikhe, Darftrllung ber Folterumg einer fdywan.ger
ren Frau, die ac Haze yeozefflet wurde im J. 1001, eingeruct. .
258
feine‘ vorwiegende Meigumg , das weibliche Geſchlecht in feinen Dienſt zu
ziehen. Die Hexenrichter aber waren mit dieſer Seite der Sache fo wene
traut, daß Ar mis Hülfe des Kelten phyſivlogiſche Spezialintten hernuszu⸗
bringen wußten, welche maw fonft kaum durch nıifeoftepifche Unterfuhung
hätte ermitteln können . Außerdem ftoht fe, daß der Hexemprozeß fin
ale damit Beidgäftigten, vom Denuneinnten, Ankläger und Richter — oft
eine und dieſelbe Berion — bis zum Genfer, ein höchſt einträglidies Ges
ſthäft war; denm die Gabe der Singerichteten verfiel dem Fibcus, d. h.
großentheils den fungirenden Oriſilichen, Juriſten, Spiowen und Genfern.
Das Voelk harte wirklich nicht Unrecht, wenn ed in feinen Sagen bdiefen
Teufel, der vie Geifilichen und Herenrichter, feine erbittertften Feinde, fo
ſehr bereicherte, oft als einen gar „dummen Teufel“ abfahren lieh.
Daß der Eintritt in des Teufel Band und Meich mit einer Abſchwö⸗
wg Gottes, Chriſti, der Kirche, Tarz des ganzen. Chriftentkumd verbunden:
gedacht wurde, ift ſehr begreiflich. Weniger begreiftich ift die Ausfage des
heiligen Officiumd son Rogeofin. in Spanien, der Zeufel drüde den Neu⸗
aufgenommenen Die Figur einer ganz kleinen Kröte in den linken Augenſtern
ein. Man wird fich weder darüber, noch über irgend eine andere Tollheit,
Widernatürlichkeit und Scheuplichfett im Zauber» und Hexenweſen wandern,
wenn man Die totale Berteufelung ter Matue und des Menſchen, wir diefe
Sorte von Ehriftentbum fie zumege gebradıt, im Auge behält: Auch über
Die Infzenefegung der Hexenſabbathhe durch cine tollgewordene Phantafle’
verwundert man fid) Bann nicht. Der Hexenſabbath tft Mittel -.und Glauz⸗
punft der Herenreligion. Die Seren und Zauberer fommen zu demfelben,
nachdem fie ſich mit der aud dem Fett ungetaufter Kinder, Wolfswurzel,
Mauchskappenu. dgl.m. bereiteten Hexenſalbe eingeriohen, auf Böcken, Ofen⸗
gabeln, Beſenſtielen durch die Luft geritten. Jedes Land hat jeine Ver⸗
fammlungsorte, Deutfchland die meiften und unter diefen wieder als Lieb⸗
lingdftätte den Broden. Die Verſammlung hebt gewöhnlich um 9 Uhr
Abends an und endigt um Mitternacht. Sie beginnt damit, daß Alles vor
4) Alles nach Anweiſung bes Hexenhammers. Der alte ehrbiche Sauber ſagt
deßhalb, der Nırtor dieſes Buches Imbe „mehr wie ein Henker ale wie ein Geiſtticher
geſchrieben und wie ein Merk, der etliche hardels ansgshuret:hat." Köppen been
treffrud, ker Hexenhammer, welcher canoniicdee Anfehen erlangte, fei ,‚mnit.dem
Grifer eines vor Fanatiemus, Hakfude, Wolluſt und Henkersluſt wahnfiunig gewor⸗
denen Moͤnchs geſchrieben.“
250
dem Teufel niederfällt,, ihn unter Berlängnung Gottes Herr und Meiſter
nennt, ibm die linfe Hand, den linken Fuß, die linke Seite, die Genitalien
und den Hintern füßt®). Wei befonders feierlichen Anläften beichten ſodann
die Zauberer und Hexen dem Zenfel ihre Sünden, welche darin beſtehen,
daß fie Kirchen beſucht, Die Geremonien des chriſtlichen Gottesdienſtes mit-
gemacht und zu wenig Böfes gethan haben. Der Teufel legt ihnen Bußen
auf und ertheilt Die Abſolution. Dann celebrirt er höchſtſelbſt die Teufels»
mefle und ftellt feinen Anhängern ein Paradies in Ausfibt, weldes das
chriſtliche weit hinter ſich laſſe. Zum Danke küßt man ihm abermals ben
Hintern, wobei er zur Anerkennung der Hultigung Geſtank von. fih gehen
läßt. Zum Schluß der Meffe theilt er das Abendmahl in beiterlei Geſtalt
aus ©); aber die hölliſche Hoftie iſt fchwarz und zähe wie eine alte Schub⸗
ſohle und der Trank aus dem hölliſchen Kelch bitter und ekelhaft. Hierauf
beginnt der Tanz, wobei Alle das Geficht nach der Außenfeite ded Kreifes
ehren, und dad Schmaufen an den von dem hölliſchen Wirtbe bereiteten
Zifchen. Aber die Speifen und Getränke ſchmecken fchlecht und wiberwärtig.
Während des Schmauſens und Tanzen vermifcht ſich der Teufel mit allen
Anweſenden fleiſchlich indem er den Männern ald Succubus, den Weibern
als Incubus beiwohnt 7) und befiehlt, fein Beifpicl nachzuahmen, worauf er
die Derfammlung mit der Ermahnung entläßt, möglichft viel Böſes zu-
thun. Die Namen Gottes oder Chriſti oder der Jungfrau Maria auszu⸗
ſprechen, ift beim Herenfabbath ſtreng vervönt; aud das Wert Salz darf.
nicht gehraycht werben. :Zum Schluß der ganzen Beier brennt ſich der
nn nn
5) Satan erſcheint beim Hexenfabbath gewöhnlich in finfterer Haltung. Halb
Menſch, Halb Bo, fit er auf einem ſchwarzen Thron. Gr bat eine Krone
von Heinen Hörnern auf und außertem noch ein großes Horn auf ber Stirne,
von ‚welchen ein flarfer Lichtichein ausgeht. Seine großen runden @ulenaugen leuch⸗
ten in fchredlichem Glanze. Seine Finger laufen in Krallen aus, feine Yüße
gleichen Gaͤnſefüßen, am Kinn Hat er einen Ziegenbart und am Hintern einen langen
Schwanz. j
6) Natürlich, denn dies galt damals für ketzeriſch.
7) Die ältefle urfundliche Erwähnung einer Buhlichaft zwiſchen Teufel und Here
if, fcheint es, die, welche in einem zu Touloufe 1278 verhandelten Hexenprozeß vor:
fommt. Bol. Soldan, a. a. D. 147. Wie fehr mußte Doc das Bewußtfein einer
Zeit verteufelt und verthiert fein, welche glauben Fonnte, Mädchen gäben ihre Jungs
fräutichfeit, Frauen ihre cheliche Treue preis, um dafür Die dewohnung eines ſceu⸗⸗
lichen Bockes einzutauſchen.
- oh.
251
große Bod zu Afche, welche unter alle Hexen ausgetheilt wird, als ein Mittel,
ſchaͤdliche Werke zu thun.
Die Folgen des Zauber» und Herenglaubend waren entfehzlich. Eine
Bulle des zuchtloſen Papſtes Innocenz VIII. gab 1484 das Signal zur
großen Herenhag und Deutfchland hat den traurigen Ruhm, daß es das
ſchreckliche Glaubensgeſchäft am gründlichſten und methodifchfien getrieben.
Im Jahre 1489 erſchien der Hexenhammer und mit Diefem „Liber sanctissi-
mus‘ in der Sand gingen Theologen und Juriſten an die Arbeit. Die
„ Maleflggerichte* wurden etablirt, und da Alles, aber auch gar Allee, ſelbſt
das Widerfprechendfte, Schönheit und Haͤßlichkeit, Sittfamfeit und Lüder⸗
lichkeit, Klugheit und Einfalt, fromme Inbrunſt und Gleichgültigkeit, Reich—
thum und Armuth, Stärke und Schwäche, Glück und Unglüd, in den Ber-
dacht der Hererei bringen Fonnte, fo begannen bald in deutichen Landen
maflenhafte Hexenbrändes). So auch im übrigen Europa). Und bie
Reformation war weit entfernt, dem Gräuel zu feuern. Im Gegentheil.
Iſt doch Luther ſelbſt befanntlid ein leidenſchaftlicher Teufelögläubiger ge⸗
wefen 19%) und die proteflantiichen Theologen und Juriften gaben fih alle
Mühe, ihre katholiſchen Eollegen in hexenbrenneriſcher Verfolgung bed Teu⸗
feld noch zu übertreffen. Es ift buchſtäblich wahr, Daß namentlih am
Ausgang ded 16. und in der erften Hälfte des 17. Jahrhunderts Deutſch⸗
land und Europa von Scheiterhaufen rauchte, auf welchen unglückliche rauen,
Mädchen, Kinder fogar ein qualvolles Ente fanden, nachdem man ihnen
durch ſcheußliche Martern das Bekenntniß von uUnmoͤglichem ausgepreßt
hatte.
Vergebens hatten Pr von Anfang an denfente Männer gegen den
graufamen Unftnn erflärt 19). Ihre Stimmen verhallten in dem Lärm einer.
8) „Sinäfcherungen ter Unholden“, war ber offizielle Ausdrud für dieſe Juſtiz⸗
morde.
9) Ratürlich trugen Spanier und Bortugiefen mit der Inquifttion auch den Heren>
prozeß in ihre überjeeifchen Kolonien. In den puritanifchen Colonien von Nordamerika
ſah befonders das Jahr 1692 zahlreiche Herenbraͤnde.
10) So zwar, daß er nicht nur auf der Wartburg dem Teufel das Dintenfaß
nachwarf, fondern die Bretinen (Kilkroͤpfe“, ‚„‚Wechfelbälge‘‘) für Fruͤchte der Buhl⸗
f@aft des Teufels mit Heren erflärte.
11) In einem 1489 erfchienenen ‚‚ Schön gefprech von den Onholden‘‘ behauptet:
ber Berfafler, Uri Molitor, das ganze Herenwefen fel auf evtel dantaſtiglein und‘
Eynbildung‘‘ zurädzuführen.
allgemeinen Tollwuth. In ter zweiten Hälfte bes 16. Jahrhunderis hatte
der niederländiihe Prieſter Cornelius 2008 ausgeſprochen, der Gerenprosß
ſei nur eine Art neuer Albgmie, vermittelft weicher man aus Menſchenblut
Geld umd Silber mache, — hatte aber dieſen Ausſpruch theuer bezahlen
mäflen. Im Jahre 1631 verrichtete Friedrich von Spree, ein Mitglied
deſſelben ZJeſnitenordens, weicher fo viele Hunderte, ja Zaufende von Kerre
verbvannte. eine That ewelfier Tapferkeit, indem er fein Buch Cautio erimir-
nalts gegen den Hexenprozeß veröffentlichte 12). Aber fein Auftreten wiefte
je wenig, daß der son ihm befänpfte Gräuel jeine größte Ausdehnung erſt
jegt gewann. Der niederländiſche Arzt Balthaſar Becker (. Peienewe
Märelde 1694) und der Beutiche Gelehrte Thomafius, weicher von 1701 —
+2 verihiedene Traktate gegen Zuuberglauben und Gerenprogeß erjcheinen
ließ, nahmen Spre'8 Oppofition wieder auf und führten fle weiter. Erſt
mußte aber da® ganze „ Jahrhundert der Aufklärung” zu Ende gehen, bever
der Gerenprogeß befeitigt wurde. Den legten Herenbrand im großen Styi,
webri 97 Perſonen gemordet wurden, veranflaltete der Erzbiſchof von Salz»
burg 1678. Als legte Hexe im beutichen Reich wurde 1749 zu Würzburg
Dit flebzigiährige Nonne Dario Renata Gänges verbrannt. Die cite
Sezenkinrichtung auf beutichem, und zwar vroteſtantiſchen Boden hatte
41783 zu Glarus flatt.
Doch gerade das Jahrhundert ber Aufllärung , weiches dem Maleftz⸗
gericht ein Ende machte, hatte, wie Jedermann weiß, in Sachen des Abe
glaubens ebenfalls feine ſchwachen Seiten, ja ſchwaͤchſte. Theils die von der
Treimaurerei fi} auszweigende Geheimbündelei, theild Die Uebertreibungen
des Mesmeriöomus, theil® Die alten Beobleme der Alchymie unterhielten den
Glauben an die Herftellung des Steined der Wellen und des verjüngentem
Lebenselixirs, an Goldkocherei, Wahrfagerci und Geifterbeichwörung. Zus
mal m den höheren, weil blaftrten oder in dem „Sturm und Drang ” einer
aährenden Zeit unficher nad „ Höheren * taftenden Stänten 13). Der gläu=
. 49. Die edle Maunn warf barin ten Herenrichtern die Werte ins Gefit: ‚Yrierr
Lich ſchwoͤre ich, daß unter den Bieten, weiche ich wegen angeblichen Hexerei zum Scheis
terhaufen begseitete (als Beichtenter) , niit Eine war, von welcher man, Alles genau
erwogen, hätte fagen firmen , fie fei ſchuldig geweſen, und das Mänsliche theilten min
zwei andere Theologen aus ihrer Praris mit. Aber behandelt Kirchenobeve, behandels
Bichier, dehundelt mi fe, wie jene Uingiädliichen,. untermertt and benteßben Martern,
us ihr werdet in unas Mira: Hauberct entnesten‘‘ }
13) Willen. wir doch, daß felbft ein Goͤthe noch in veileren Jümmlinvojtcheen eifrig
bige Wahn erganiftrte ſich in Den Mamerlogen von ber „Trietn Obier-
sen; *, De ſich für eine Kortfegung des ſabel haften Roſenkyenzer⸗Dunded aus⸗
gaben, in Wabrheit uber Die Organe des Jeſuitiomus waren. In dieſer
Sphäre, wo ſich mpfifche Sentimentalitaͤt krankhafte Bunderfucht, Induſtrie⸗
xuterlichteit und bierarchiſche Schlaicheit wunder ſam miſchten, biähten bie
großen Wuntermäuser und Schwindler, ein SalntBermain, Gaglioſtro
und Caſanova, welcher Iegtere feine Freundin, die Marquiſe d Urf, für bie
ihr abgeſchwindelte Million ſchwauger zu machen verſprach sem — Mond.
Die Aufflaͤrung ſuchte den Obſcurantiomus vergeblich mit ſeinen eigenen
Waffen zu ſchlagen, indem fie dem entarteten Freimauterorden den 1776
son Weishaupt und Bwadh geftifteten Geheimbund der, Illuminaten“ ent⸗
gegeniegte.. Im Uebrigen hat das 19. Jahrhundert dem 18, in Sachen bed
Abberglaubens nicht eben ger viel vorzuwerfen. Im Bolte ift der Zauber-
md Herenglauben noch immer lebendig, und was die, Gebildeten“ angeht
— nun, wir haben ja glüclich das „odiſch⸗magnetiſche“ Zeitalter erlebt,
wo ber Aberwig deB iſchrückens, des Geiſterklopfens und Der Vſychogra⸗
vhenmantik epidemifth graffiste. Mur die Formen des Linfinas find andere
und, glüdlicher Weite, mildere geworden.
8.
Die Lehre von der alleinigen Rechtfertigung burd den Glanben, ver⸗
bunden mit jener buhftäblicen Auffafſung des Glaubens, welche vergißt,
daß Liebe das untrügliche Merkmal desd redhtfertigenden Glaubens fein ſoll,
— biefe Lehre iſt bie Duelle des chriſtlichen Fanatismus geworden. Ber
anders glaubt, als wir, den verfludst die Kirche, den verdammt Bott ſelbſt.
Den aber Gott richtet, wie follten ihn die Menschen nicht ſtrafen? Wehe
lichten follten fie no& gegen ihn zu erfüllen Haben? Auf biefen Ermäyun-
“gen, Fommen fie nım zum Bemußtfein oder ſchlummern fle in den dunkeln
Tiefen des Gemäthes, beruht aller Fanatismus. Es verficht ſich dabei ton
felbſt, daß Herrſch⸗ und Habfucht der Geiſtlichen und Weltlichen bei den
Ansbrũchen der Unduldſamkeit meiſt eine ſehr wichtige Rolle geſpickt haben.
Selten war die Schlechtigkelt um religidſe Begründung verlegen.
Als mit dem Erldſchen des Heidenthums vie Serſolgengeſucht der Ehri⸗
mit Studien zur Findung tes „Steins ber wi und der Fimgfrankichen Erde
ch veſchaftigte.
2354
ſten keinen andern Gegenſtand mehr hatte, kamen die Juden an die Weiße.
Diele Unglücklichen, nirgends unter chriſtlicher Gerrihaft zum Grundbeftg
berechtigt, waren genötbigt, fidy auf den Handel zu verlegen. Diefer ver-
Ihaffte ihnen Geld, welches fie, entgegen der kirchlichen Anfhauung, auf
Zins anlegten, wodurch fie aber in den Ruf des Wuchers geriethen. Der
Haß ihrer Schuldner, das Gelüft derſelben, von Täftigen Glaͤubigern befreit
zu werden, die Habſucht und Willfür der Fürſten fchärften den Fanatismus
gegen die Judenſchaft in allen Ländern Europas. Meift aber war der Anlaf
zur Berfolgung Aufreizung von priefterlidher Seite, leidenſchaftlich⸗religidſe
Aufgeregtheit der Maſſen, öffentliches Unglück, Anſchuldigung auf Mißbrauch
von Hoſtien und anderen chriſtlichen Heiligthümern oder auf Mord von
Chriſtenkindern zu geheimen religiöſen Zwecken.
Schon im 6. Jahrhundert hatte der Pobel von Rom und Ravenna
die Juden mißhandelt, geplündert und ihre Synagogen verbrannt. Aber
Theodorich wußte bald Ordnung zu ſchaffen, ſo daß dieſe Judenverfolgung
eine vereinzelte blieb. — Spanien hat die traurige Ehre, die Reihe der
großen Judenverfolgungen zu eröffnen. Seit Hadrian befanden ſich da-
ſelbſt zahlreiche Judencolonieen. Um 612 zwang Eifebut, König der Wefl-
gothen, 90,000 Juden zur Annahme der Taufe. Die Widerftrebenden
wurden gemartert und ihr Vermögen eingezogen. Der Klerus äußerte ſich
zwar gegen das Aufzwingen der Taufe, verpflichtete aber die einmal gewalt«
fam Getauften, bei der Kirche zu bleiben. Als daher häufige Rüdfälle ins
Judenthum erfolgten, verbannte ein Nachfolger Sifebuts alle Juden aus
feinem Gebiete und eine Kirchenverſammlung zu Toledo verpflidhtete jeden
König des Reichs zu dem Eide, dies Edict aufrecht zu erhalten. Es verſteht
fi, daß die Hart bebrüdten Juden den Mauren die um 711 erfolgte Erobe⸗
rung Spaniens aus beften Kräften erleichterten. Wirklich befanden fte ſich unter
mohammedanifcher Herrſchaft weit befier, als unter chriſtlichen Fürſten. —
In Deutfchland gab zuerft die ungeheure Aufregung ber Kreuzzugszeit zu
Judenſchläͤchtereien im ausgedehnteften und graufamften Maaße Beranlafiung.
Die einmal gegen Die Raͤuber des heiligen Grabe entflammte Wuth richtete
fih aud gegen die Nachkommen derer, bie den Herrn gekreuzigt. Alle
Feinde des Chriftenthums ſchonungslos zu vertilgen, ſchien ja überhaupt
verdienftlih. Das ihnen geraubte Gut mochte als irdiſcher Lohn foldhen
Verdienſtes gelten. Als das kreuzfahrende Geftndel unter Peter von
Amiens, Walther und Gottſchalk 1096 nad Trier Fam, ſtürzte es fi) auf
2355
die unglücklichen Juden. Der Kleinere Theil der Gemeinde, welcher ſich in
die Burg des Biſchofs Egilbert hatte retten können, mußte den Schuß beifel-
ben durch Annahme des Chriſtenthums erfaufen. Gleicherweiie haufte der
Böbel in Meg, Köln, Mainz, Worms und Epeier. Die Kreusfahrer unter
dem Grafen Emmicho bezeichneten ihren Weg am Main unt längs ber
Donau bi8 in das Innere von Ungarn mit dem Blute der Juden. Am
Rhein follen damals 5000, in Mitteldeutihland 12,000 Juden dem
Schwerte der Kreusfahrer erlegen jein. Während des zweiten Kreuzzuges
1146 ging es nicht befier. Der Mönch Rudolf, welder den Kreuzzug in
den Mheingegenden predigte, rief die Waffen der Kreuzfahrer audy gegen bie
Juden auf. Die Kreuzfahrer aller Nationen benahmen ſich nicht edler. Bei
der Erſtürmung Ierufalems ward feines Juden geichont, das Feuer ver⸗
zehrte ihre Synagoge jammt den zahlreich darin Verſammelten.
Es würde und zu weit führen, alle Judenſchlaͤchtereien aufzuführen.
Sie kamen in allen Ländern der Chriftenheit vor und waͤhrten, auf Antrieb
der Inquifition, am Iängften in Spanien. Aber auch in Deutfchland nahmen
fle mit den Kreuzzügen keineswegs ein Ende. Das ganze 13. und 14. Jahrhun⸗
dert hindurch und noch bis ins 15. hinein genügten die albernften Anfchul«
digungen, Ströme von jüdiſchem Blut vergießen zu machen. Im Jahre
1298 3. B. mordete in der Gegend von Würzburg und Nürnberg ber Pöbel
unter Anführung des Edlen von Rintfleifh an 100000 Juden, „darum daß
fie die große Bosheit getrieben mit unferes Herren Leichnam. * Die ſchreck⸗
lihe, unter dem Namen des „großen Sterbent“ oder des „Schwarzen
Todes" von 1347— 1350 wüthende Peſt wurde den Juten ald „ Brunnen
vergiftern* ſchuld gegeben und ſtachelte die chriftliche Mordluſt zu furchtbarer
Rafereit). Die Menge wüthete finnlos, wie es ihre Art ift, aber die eigent-
— oo... — —— — — —
1) Ein treffliches Bild der Judenſchlachten hat Th. Meyer⸗Merian nach zeitgenoͤſſi⸗
ſchen Chroniken in der Feſtſchrift, Baſel im 14. Jahrhundert““, S. 151—190 geieichnet.
Beim Betrachten deſſelben, und wenn man es mit den zahlreichen in Wort und Bild
uns überlieferten, anderen unmenfchlichen Bladercten und Beinigungen zufammenhält,
welchen die Juden das ganze Bittelalier hindurch und bis in die neuefle Zeit herein
unterworfen wurden, muß man in der Erhaltung des jüdifchen Volkes eines der größs
ten Wunder der Weltgefchichte erfennen. Die Juden haben von den Ghriften linges
heures erbuldet, und wenn fie ſich dafür in igrer Weife zu rächen fuchten, wer Tann es
ihnen verdenten? Ihr Jahve war ja fein Bott der Gnade, fondern der Mache und
konnten fie etwa von den Ghriften Duldung und Erbarmen lernen? Bgl. Depping:
lien lieheber der Judenſchbächtewien wußten wohl, warum fie jene dequ
xeisten. Der Ehroniſt Koamad von Prag hat das Rechte getroffen, wenn er
ſchon im Betreff der Judenmorde zur erſten Arsugpugägelt märuft: „lie
viel Geld Haben die Juden damals werinten!" Das wars. Die Meichthü⸗
wer, welche fich in den ſchuutzigen Judengaffen (Gihemo’s) angefammelt,
waren zu lockend.
9,
Yinter den Ehriflen ſelbſt bat ter Kanatiömus als bitterfie Frucht Die
Meligionsfriege hervorgerufen, die mit dem Aufſtand ber Gircum-
cellionen in Afrika gegen Lie kaiferſiche Macht im 4. Jahrhundert begannen
und in den Streitigkeiten zwiſchen Arianern und Athanaſianern fi fort-
fegten. Zur Zeit der Kreuzzüge kamen danı die Kämpfe zwiſchen Griedgen
md Lateinern, etwas ſpäter Die Bertilgungdfriege gegen Die Albigenſer.
Wie dad große Schidma in der abendländiſchen Chriftenheit, die Reforma⸗
tion, von den Huffitenfänpfen an, eine ganze Meihe von Meligiondkriegen in
Deutſchland, in der Schmeig, in Frankreich und in den Riederlanden Geruor=
‚tief, wie und in welchem Grade diefen Kämpfen polttifche umd foziale Ele⸗
mente fich beimifchten, — wie namentlich Deutfchland durch das unerhörte
Mißgeſchick, genannt der dreißigjährige Krieg, politiſche Macht, WohtRam,
Bevölkerung und Bildung zunal einbüßte, — Dies Alles kann bier eben
nur berührt werben. Ebenſo, wie in England dad Prinzip der Reforma-
tion im Puritanismus feine politiſch-demokratiſchen Conſequenzen zog und
fegreich geltend machte, — im Puritanismus, welcher, eine ber größten
fittlihen und ſozialen Erfiheinungen im der germanifch-chriſtlichen Welt,
zwar nah kurzer Herrſchaft im Muttetlande der monarchiſchekirchlichen
Reaction erlag, dafür aber jenſeits des atlantifchen Ozeans zur nordameri⸗
Eanifchen Republik, als zu einer neuen Welt, dad Bundament gelegt hat.
"Dagegen ift gerade hier, bei Berührung der Religionskriege, wie mir
ſcheint, die rechte Stelle, von der Sefellihaft Jeſu zu reden, und wen
auch keineswegs eine Geſchichte, fo doch eine Eharakteriſtik berielben einzu⸗
flechten.
Der Jeſuitismus iſt Die Negeneration des Katholicismus. Aus Spa⸗
„Die Juden im Mitelalter““; Schubt: „Jüdiſche Wierkudrkigkelten‘; Miller: ‚Bu
ben Iudenſgoitblidern. (Beitiche. fF. d. Culaurgeſch. ERBE, &. MB far).
267
nien, ber alten Heimat des Fanatismus, ging er hervor. Geſtiftet 1540
durch Inigo de Loyola, wurde die Geſellſchaft Iefu in überrafchend kurzer
Zeit ein Inflitut, welches der päpfliche Stuhl mit ungeheurer Wirkung dem _
proteſtantiſchen Geiſt entgegeniegte. Die Beichlüffe des tridentiner Coneils
von 1562, welde die Entwidlung des Ratholicismus zum Abſchluß brach⸗
ten, laſſen die Thätigkeit des Jeſuitenordens, welcher zuvor ſchon an Eatholis
fchen Höfen Deutihlands Eingang gefunden, deutlich fpüren. Sie boten
der Keperei den Kampf auf Leben und Tod. Der Jeſuitenorden führte
ihn. Die Jeſuiten entwarfen die große Fatholifhe Kombination, welche
“ Europa umfaßte und, geflügt auf die fpanifche Macht, durch das Scheitern
ber Anicläge Philipp's IL. auf England, wie durd die Ihrongelangung
des Bearners (Heinrich's IV.) in Frankreich zwar gehemmt, aber nicht auf«
gegeben wurde. Der Jeſuitismus wollte die ganze Erde zu einer Art Gottes⸗
flaat im Sinn des Katholiciömus, zu einer Domaine des Papfles machen,
der natürlich eine Marionette in den Händen des Ordens fein follte und
war. Jedem freien. Gedanken nicht nur, nein, dem Gedanken überhaupt
auf den Kopf zu treten, an die Stelle ded Denfend ein unflares Kühlen zu
fegen, mit unerbörter Spftematif und Gonfequenz die Verdummung und
Verknechtung ber Maſſen durchzuführen, gefcheidte Köpfe, die Reichen und
Mächtigen, die einflußreichen Leute jeder Art durch blendende Vortheile an
ſich zu fehleln, die vornehme Geſellſchaft zu gewinnen vermittelft einer Moral,
welche durch ihre Clauſeln und Vorbehalte zu einem Compendium des
Laſters und Freveld wurde !), die Armen durch Beachtung ihrer materiellen
4) Diefe Moral it allbekannt, fo daß wir nur ein paar charalteriſtiſche Proben
anführen. Der jeſuitiſche Cafuiſt Gscobar lehrt: „Man darf denjenigen toͤdien, welcher
uns beohrfeigt hat, obwohl er flieht, vorausgeicht, daß man es nicht aus Haß oder
Rachſucht thue und dadurch etwa übertriebene und flantsgefährliche Mordthaten veran⸗
laſſe“. Der Jefuit Lamy verfündigt: „Es iſt einem Prieſter oder Mönche erlaubt,
einen Berläumder zu tödten, der ſtandaloͤſe Beichuldigungen über feine Gemeinfchaft zu
veröffentlichen droht”. Der Zefuit Filutius beſtimmt: „Ciner heimlichen Hure iſt man
Gewiſſens halber noch weit eher Lohn ſchuldig, als einer öffentlichen ; denn bie heimfiche
Hingebung des Weibrs iſt weir mehr werth als diejenige ber öffentlichen Dirne. Daſſelbe
gilt von dem einer Jungfrau, Braut oder Nonne verfprochenen Hurenlohn‘‘. Wiederum
ſpricht Escobar: „Ciner Hausfrau ift erlaubt, zu fpielen und zu diefem Zweck von dem
Geld ihres Ehemannes zu nehmen““. Auch tröftet derfelbe: „Eine unlautere Abſicht
wie 3. B. die Weiber mit wolluͤſtiger Gier betrachten, verbunden mit tem Beftreben,
die Mefle gebührend zu höxen, hindert nicht, daß die Mefle vor Gott rechtfertige‘ !
Scherr, Geſch. d. Religion. III. 17
i
258
Beduͤrfniſſe zum Dank zu verpflichten, Hier der Ginnlichfeit, dort der Babe
ſucht, hier der Gemeinheit, dort dem Ehrgeiz zu fchmeicheln, Alles zu ver⸗
wirren, um endlich Alles zu beberrfchen, die Civilifation untergehen zu
laffen in einer bloßen Vegetation und die Menſchheit in eine Schafheerde
‚umzuwandeln: — darauf ging die Geſellſchaft Jeju aus. Ihre Organifa-
tion war großartig und bewunderungswürdig. Hier war in diametralem
Gegenfag zu der auf Befreiung des Individuums gerichteten Reformations⸗
idee das völlige Hingeben der Individualität. an ein Ganzes vollfländig
durchgeführt. Das Herz des Iefuiten ſchlug in der Bruft ſeines Ordens.
Nie Hat ein General gehorfamere, unerfchrodenere, heldenmüthigere Solda⸗
ten gehabt, als der Jeiuitengeneral, und nie auch wurde ein Heer mit meifler-
bafterer Strategie geführt, als die Eonipagnie Iefu. In ewiger Proteus-
verwandlung und doch ſtets diefelbe führte fie den nimmer raftenden Krieg
gegen die Freiheit. Alles wurde auf Diefen Zweck bezogen und Alles mußte
ihm dienen. Der Jeſuit war Gelehrter, Staatdmann, Krieger, Künftler,
Erzieher, Kaufmann ; aber ſtets blieb er Jeſuit. Er verband fich heute mit
Königen gegen dad Volk, um morgen ſchon Dolch oder Giftphiole gegen die
Kronenträger in Anwendung zu bringen, weil bei veränderter Gonftellation
der Vortheil ſeines Ordens dies erheifhte. Er predigte den Völkern die
Empörung und ſchlug zugleich ſchon die Schaffote für die Mebellen auf. Er
fharrte mit geiziger Hand Haufen von Gold zuiammen, um fie mit freigebi=
ger wieder zu verfchleudern. Er durchſchiffte Meere und durdwanderte
Wüften, um unter taufend Gefahren in Indien, China und Japan das
Chriſtenthum zu predigen und ſich mit von Begeifterung leuchtender Stirne
zum Märtyrertod zu drangen. Gr führte in Südamerifa das Beil und den
Spaten des Pflanzers und gründete in den Urwildniſſen einen Staat, wäh-
rend er in Europa Staaten untergrub und über den Haufen warf. Er zog
Armeen als fanatifcher Kreugprediger voran und leitete zugleich ihre Be⸗
wegungen mit dem Beldmeßzeug des Ingenieurs. Gr fhweigte das Ge⸗
wiſſen des fürftlichen Herrn, welcher die eigene Tochter zur Blutichande vers
führt, wie da8 der vornehmen Dame, welche mit ihrem Lakaien Ehebruch trieb-
und ihre Gtieftinder vergiftet hatte. Kür Alles wußte er Troft und Rath,
‚für Alles Mittel und Wege. Er führte mit der einen Hand Dirnen an da& _
Lager feiner prinzlichen Zöglinge, während er mit der andern die Drähte ber
Maihinerie in Bewegung ſetzte, welche den Augen der Entneruten die
Schreckbilder der Hölle vorgaufelte. Er entwarf mit gleicher Geſchicklichkeit
*
. 259
Staatöverfaflungen, Zeldzugspläne und riefige Handelscombinationen.. Er
war eben jo gewandt im Beichtfluhl, Lehrzimmer und Rathefank, wie auf
der Kanzel und auf dem Disputirfatheder. Er durchwachte die Nächte Hin-
ter Actenfascifeln, bewegte ſich mit anmuthiger Sicherheit auf dem glatten
Parquet der Paläfte und athmete mit ruhiger Faſſung die Peflluft ber
Lazarethe ein. Aus dem goldenen Kabinet des Bürften, den er zur Aus
rottung der Ketzerei geſtachelt, ging er in die fchmußtriefende Hütte der Ar-
muth, um einen Ausfägigen zu pflegen. Bon einem Herendrande kommend,
ließ er in einem frivolen Höflingdfreife ſchimmernde Leuchtkugeln fkeptifchen
Wiges fleigen. Er war Belot, Breigeift, Kuppler, Faͤlſcher, Sittenprediger,
Wohlthaäter, Mörder, Engel oder Teufel, wie die Umflände es verlangten.
Er war überall zu Haufe, denn er hatte fein Vaterland, feine Familie, Feine
Sreunde ; ihm mußte dad Alles der Orden fein, für welden er mit bewun-
derungswürdiger Selbflverläugnung und Thatkraft lebte und flarb. Nie,
fürwahr, hat der Menfchengeift ein ihm gefährlicheres Inftitut gefchaffen, als
den Jeſuitismus, und nie hat ein Kind mit fo rüdfichtslofer Entſchloſſenheit
feinem Vater nad) dem Leben gefirebt, wie dieſes 2).
10.
„Wer zu mir fommen will, der verlaugne ſich ſelbſt und nehme fein
Kreuz auf fih und folge mir nah *! Diefer Zuruf Jefu Chrifti, nebft dem
Ausſpruch des Baulus: „Die Ehrifli find, haben ihr Fleiſch fammt feinen
Begierden und Lüften gefreuzigt*, — bat die Askeſe ind Leben gerufen,
d, h. die Hebung in der Abtödtung des Fleiſches. In dies große Gebiet des
irchlichen Lebens gehört"das Faſten, die Selbflpeinigung und Selbſternie⸗
drigung, das Cölibat (Ehelofigkeit), die Möncherei und daB Eremitenweien,
2) Ich habe mir erlaubt, diefe Charakteriſtik des Sefuitenordens aus meiner Geſch.
deutſcher Cultur und Sitte (S. 277 fg.) Hier zu wiederholen, weil fie mir gerecht
fcheint. Wenn ich das Weſen des Sefuitismus darin fehe, daß er ein Krieg auf Leben
und Tod nicht allein gegen ’diefe oder jene Form bes Denkens fei, fontern gegen das
Denfen, gegen die Bethätigung der menſchlichen Bernunft überhaupt, fo Bin ich neues
ſtens in diefer Anficht nur noch beftärft worden durch das Verfahren der frommen
Väter gegen ten armen Günther in Wien. Diefer Mann hatte ſich fein Leben lang
eine beifpiellofe Mühe gegeben, das Fatholifhe Dogma, an weldhem er mit ganzer Seele
hing, ſpeculativ zu rechtfertigen. Aber zu diefem Bwede mußte er denken. Das war
fein Verbrechen und deßhalb ließen ihn die Sefuiten durch die roͤmiſche Curie vers
dammen.
17°
260
Das Ballen, im Orient allgemein gebraͤnchlich, von Jeſus felbft ald ein
Huͤlfſmittel zus Erhebung des Geiſtes über Verſuchung und Traurigkeit be⸗
zeichnet, aber keineswegs als regelmaͤßige Uebung verordnet!), iſt von den
ZJuden auf die Chrifien übergegangen. Demzuwider wurden ſchon früher
beſtimmte Faſttage felgeiegt und die katholiſche Kirche hat eine Anzahl der⸗
felben gegenwärtig noch beibehalten ; auch Die lutheriſche kündigte noch hier
und da Öffentlidte Fafttage an. Im Allgemeinen unterſcheidet ſich das hrift-
liche Faſten, nınwenslich der Eurspäer, vom altfübiiden dadurch, daß es ſich
hauptſaͤchlich auf Enthaltung von Fleiſchſpeiſen bezieht, wobei jedoch dem
Fiſchen kein Fleiſch zugeichrieben wird, obwohl fie bekanntlich nicht aus
Sauter Gräten beſtehen. Das vierzigtägige Baften vor Oſtern bat tie Bäl-
fer durch Erneuerung der altrömtidıen Saturnalien einigermaßen mit ſich zu
derfoͤhnen gewaßt. Die Mummerei der deutichen Faſtnachtszeit und des
italieniſchen Carneval it aber nicht immer von der Kirche ungerügt geblie⸗
ben; denn ernfte Stimmen klagten darüber: — „Da die Ehriften an dieſen
Tagen vorſätzlich raſeten, um vor den Faſten den alten Adam nod einmal
austoben zu laſſen, fo banden fie Larven vor, tauſchten in ihren Kleidun⸗
gen die Geſchlechter, gaben fidh ungefcheut Dem Bacchus und der Venus hin
und hielten allen Muthwillen für erlaubt. *
Die Selbfiprinigungen zur Ertödtung bed Fleiſches wurden in der
"Kirche erſt recht Mode, als fonft Niemand mehr tie Chriſten peinigte, außer
fie ſelbſt. Konnte vie Gewaltthat der Heiden Feine «Heiligen mehr machen,
‚fe machten Me Ghriſten durch Grauſamkeit gegen das eigene Fleiſch ſich ſelbſt
zu Heiligen. Die heftige Meigung der Orientalen und Afrikaner zer
Wolluſt was uͤbrigens wine eben fo wichtige Beranlaffung zu ſolcher Askeſe.
. Darım ift fie auch von ihnen ausgegangen. Daß geflebt der heil. Hierond⸗
mus in einer Epiftel an Euſtachius ehrlih ein. Ihn felbft, der zwar von
Geburt Erin Drientale war, aber in Rom die Ausſchweifungen kennen gelernt
hatte, peinigte während feines Aufenthalts in der Einöde die Sinnlichkeit
dermaßen, daß er ſich halb todt faftete, fich mit einem groben Sad bekleidete,
‚feinen Uugen den Schlaf vermehrte und.oft laut auffchreiend feine Bruft mit
Bäuften und: Steinen jhlug?). Das merkwürdigſte Beiſpiel eines Selbft-
9) Matth. 6, 16-1859, 14-47, |
2) Ruther, in feinen Tifchreden Graukf. A. v. 3. 2576, Fol. 3225), ſpricht in
feiner derben und braftifchen Manier davon, daß „auch die Heilige Bäter in der Rinden
—— m —— — — -
an
quälerd it Simeon Stylites, Der Säulenheilige, ein Syrier von Geburt, wel⸗
der 30 Jahre lang auf einer 60 Fuß hohen Säule aller Unbill des Witte
rung treßte. Gr verſchied auf feiner Säule (im 3. A541), nachdem er wäh-
rend der ganzen Zeit Schanren von Wallfahrera Buße gepredigt, hen Horden
ber Araber Recht gefproden und ſelbſt dem Kaifer feine Hatbfchläge ertheilt
hatte. Eine beſonders gebräuchliche Art, fich zu Fafleien, war bie Geißelung
entweder mit eigener oder von frem.er Sand. Im Mittelalter wurde fir
aufs Eifrigfte angewendet. Höchſt eigenthümlich muß die Breude Konıada
von Warburg, des Beichtvaters der Landgraͤfin Eliſabeth von Thüringen,
geweien fein, dab es ihm gelang, durch Geißelungen das Irdiſche in jeinem
Beichtkind zu ertötten. Auch die Enthaltung vom Genuß des Weines ge
hüört zur Askeſe und galt ſchon im 2. und 3, Jahrh. bie und da für ver⸗
dienſtlich. Im Mittelalters ward Die Selbfiquälerei immer erfinderiider.
Man waltfahrtete mit Erbien in den Schuhen, trug Eifenringe oder Ketten
am ven Leib und einzelne Glieder und brachte ſich die 7 Wunden deö Gar
löfers bei. Ind Groteske fallen die Selbfterniedrigungen, welde Hd im
13. Jahrhundert Jakobus de Benedictis anthat. Bet der Hochzeitäfeier
feiner Nichte erſchien er, die Eitelfeiten der Welt zu verböhnen, mit geihrer-
tem und gefedertem Leibe. Ein ander Dal erfchien er fplitternadt, einen
Sattel auf dem Rüden und einen Zaum int Munde, auf allen Bieren Fries
hend, vor allem Volke auf öffentlichen Marfte, jo daß männiglich ſich ent-
fegte._ Als Damiani und die Bettelorden mit beredter Zunge die Geißelung
als eines der verdienflichften Werke empfahlen, erhoben ftch von Perugia
aus und ſteckten mit ihrem Wahnfinn aud das Übrige Italien an lange
Büge Büßender, die, entblößt bis zum Gürtel, fich öffentlich bis aufs Blut
haben Fleilſchliche lüfe gehabt, daarumb man den Celibatum meiden vnd sinfam leben
fliehen fol.“ Gr jagt unter Anderem: „Sanıt Augußinus, ſchon ein alter Mann,
Magt wber die naͤchtigen Pollution. S. Hieronymus flug feine Bruß mit einem
Steine, fo befftig war er angefochten, gleichwol welt es nicht helfen , kondte dem vhel
wicht ſteuwren vnd fondte bie Jungfraw io er gu Rom am Tang geſehen Hatte, vicht
auß dem Hertzen fchlagen. Franciſeus der Barfüßee Moͤnch machte Schmeeballen, herbei
nd füflet fie, daß jm die böfe Luſt vergehen folt. Sauct Benedicius legte ſich uniee
wie Dörner. Denn wenn jm die böfe Luft enfame, fo zog er ſich nacket auf und Irgis
ſich in die Döner vnd zerkratzt den Arß gar wol. Bernharbus-caftenste ſich vnd machte
fein Leib ſo muͤde und malt, daß jm der Athem jo vbel and und roch, dag nisments
vmb jn bleiben kondte“.
262
geißelten?). Doch der , ſchwarze Tod" mußte erft feine Hippe ſchwingen,
bevor das nüchternere Deutſchland (1349) von jener geiftigen Veſt angeftedt
wurde. Bon da an fam es in Uebung, bei großen Landplagen dur
Beißlerzüge die zürnende Gottheit zu verföhnen. Es bildeten fi ſogar
förmliche Geißlervereine und das tolle Weſen nahm überband, bis das
Goncil von Conſtanz abmahnte und an einzelnen Orten, wie 3. B. in Thů⸗
ringen, das geiftlide Bericht einfhrit. Nur allgemah und nicht ohne
Widerftand nahm die Beißelepivemie ein Ente, um fortan im flillen Kaͤm⸗
merlein ihre Macht auszuüben. Das würdige Seitenftüd zu den Flagellan⸗
ten bildeten zur jelben Zeit die Tänzer, in denen ſich der finnliche Bußkrampf
kaum minder graufam äußerte. Wie jenen die Arm- und Rückenmuskeln,
fo zuckten diefen die Beinmuskeln convulftvifh vor Höllenfurdht und Buß⸗
fertigteit,, daher ihr Tanz ebenfalls anftedend war. Die Erorciflen fanden
an diefer Tanzwuth ein ſchönes Object der Wirkfamkeit und glaubten die
tänzerifche Beſeſſenheit vornämlich durch Anrufung von Sancı Veit heilen
. zu können. Bon daher flammt die Benennung Beitstanz.
Großes Unheil bat der Ausſpruch des Apoſtels Paulus angerichtet:
„Wer feine Toter zur Ehe gibt, thut wohl, wer fie aber nit zur Ehe gibt,
der thut beſſer“. In den erften Jahrhunderten fon las man dergleichen
3) Der Beginn des Flagellantismus im Großen, der Anfang der Geißelfahrten,
iR, wenn auch die ganze Erſcheinung mit Wahrfcheinfichfeit auf den heil. Antonius von
Vadua (ft. 1231) zurüdgeführt werden fann, wohl unzweifelhaft in das Jahr 1360 zu
feßen. Damals, wo Italien in Folge der Kämpfe zwilchen Raifer und Bapft zur Wüfte
geworden war, wo die furchtbare Zerrüttung aller fozialen und moralifchen Berhältnifie
eine ſchwaͤrmeriſche religiöfe Aufregung begünftigte, wo endlich die welſiſch⸗paͤpſtliche
Partei nad den Siegen Manfreds und der Shibellinen einem neuen Smpuls mit Bes
gierde nachkam, — damals ging von der welfifhen Stadt Perugia der Ruf zur Buße
und zu einer allgemeinen Geißelfahrt aus. Vgl. MeyersMerian a. a. O., we ©.
191 fg. diefer Gelehrte eine ſehr fleißige und anfchauliche Schilderung des flagellantis
fhen Treibens gegeben hat, und Förſtemann: „Die chriſtlichen Geißlergeſellſchaften““.
Zeitgenoͤſſiſche Quellen find: Die Limburger Chronik, die Elfaͤſſiſche Chronik von Clo⸗
fener und Koͤnigehoven, die Oberrheinifche Chrenik, Wurſtiſens Baslerchronif, das
Chronikon des Albert von Straßburg. Die Limburger Chronik beſchreibt die ,, Gei⸗
feler‘‘ in ihrem Bericht über das Jahr 1349 ausführlich. Deutfchland muß ordentlich neu
aufgeatmet haben, als es von den Schredien des fchwarzen Todes, ber Judenfchlachten
und Beißlerzüge erläft war. Die Limburger Chronik fagt: „Darnach (1350) da das
Sterben, die Geißelfahrt und Judenſchlacht ein Ende hatte, Hub die Welt wieter an zu
leben und fröhlich zu fein.‘
- — — — — - --
263
Stellen nicht immer im Zufammenbang. Bereits im 2. Jahrhundert galt
das Gelübde ewiger Keufchheit für verdienfllih, die Ehe der Beiftlichen,
beſonders das Eingehen der zweiten Ehe, ward feheel angefehen, Sungfrauen
gelobten fih ald Bräute dem Herrn und wagten es, nicht immer ungeftraft,
durch vertrauted Zufammenleben mit Geiftlichen auf jhwefterlichem Fuße der
Macht des geſchlechtlichen Triebed Trog zu bieten. Bu Anfang ded A. Jahr⸗
hunderts tauchten ſchon bie und da Belege auf, weldhe dem Klerus die Ver⸗
ebelihung nad der Ordination verbieten wollten, ein deutliches Zeichen, wie
das Volk auf äußerlihe Auszeichnung des Kleriterd Werth zu legen anfing,
und zugleih, wie mächtig jener finftere Geift war, welder den Naturtrieb
als etwas an fih Sündliches verdammte. Zu Nicäa verhinderte der Wider⸗
fand des firengen Confeſſors Paphnutius, der geichlechtlid in völliger Ent-
haltſamkeit gelebt, allgemeine Gölibatgefege. Aber die trullanijche Synode
verpflichtete die Bifchöfe, fih von ihren Gattinnen zu trennen. Seit 385
beſtimmten einzelne Provinzialſynoden des Abendlandes nur die Subdiako⸗
nen dürfen ihre Frauen behalten. Daß Anfehen der in Ehelofigfeit leben⸗
den Mönche ſtimmte zulegt die öffentliche Meinung für allgemeine Ehelofig⸗
feit der Geiſtlichen 4), Wie endlich Gregor VII. die Ehelofigfeit der Geiſt⸗
lichen zum allgemeinen Kirchengefeg erhob, haben wir gefehen. Furchtbares
Sittenverderbniß unter der Beiftlichkeit, gefleigert bis zur unnatürlichfien
Berirrung, war tie Folge. Im Mittelalter; dem geſchlechtlich⸗naiven,
erregte dad Concubinat der Beiftlichen weniger Aergerniß. Nach der Refor⸗
mation, ald die Kirchenzucht der Fatholifchen Kirche und die öffentliche Mei⸗
nung bierin firenger wurden, mußte der Kindermord öffentliches Scandal
gerhüten. Im neuerer Zeit gehören Prozeſſe, wie der des Pfarrers Riem⸗
bauer, zu ten furdhtbarften Anklägern des Cölibats. Luther und Zwingli
4) ,, Aber darnach, da die Zeit deß zorns, wütens vnd blindheit kam, nam die
Lügen vberhand und trieb die Wahrheit auß, alſo, daß fle auch das arme, vnſchuldige
Weiber Böldtin gar verachteten für groffer Heiligkeit und heuchelen. Doch Löfet vieler
einiger Spruch Chriſti alle re Argumente und Gruͤnde auff, verwirfft und macht fie zu⸗
fhanten. Nemlih, Bott fchuff ein Männlin und Frewlin. Wiewol die lieben Vaͤte
(Kirchenvaͤter) vngeſchickt vnd vngereimt gnug vom Cheſtande ſchreiben. Warlich
groſſe Narren finds geweſt, die mit vielen Geſetzen die Che, ſo doch Gottes ordnung
vnd geſtifft iſt, nicht haben woͤllen freylaſſen vnd geſtatten. Es iſt fürwar ein wuͤnder⸗
lich und vnſelig Mandat vnd verbot, die Ehe nicht zuzulaſſen, fo doch der heilige Mann
Baphuutius das Eheliche Beylager eine Keufchheit Heißt‘. Luthers Tifchreben,
Fol. 329, . |
‘
264
haben durch Wort und Beifpiel die Ehe wieder gehelligt und den Getftlichen
wieder zum ganzen Menfchen gemacht.
11.
Zum Gebiet der chriftlihen Aokeſe gebört als ein Haupttheil das Ein⸗
ſtedler⸗ und Mönchsweſen, deſſen Geſchichte jo. reich ift an Beweiſen ‘Alles
überwindender Willengkraft, wie an’ abſchreckendſten Erſcheinungen der
Graufamkeit und des religioſen Wahnfinns. Sie zeigt uns eben jo häufig,
daß der Sterbliche nicht immer ungeftraft die Schranken feiner körperlichen
Natur vergißt, als fie und darauf hinweiſt, wie viel unabhängiger der
Menjchengeift von feiner irdiſchen Hülle iſt ‚ al8 der gemeine Materialismus
unferes Beitalters glauben machen will, Freilich wurde dieſe Geiſteskraft
der Askeſe zumeift an den Unflnn verfehwendet; allein wer Welt und Men⸗
fen fennt, wird fih darüber nicht allzufehr ärgern. Es war eines der
wahrften Worte, die je geiprochen wurden, als Schiller fagte: „Berftand
tft fletß bei Wen'gen nur gewefen “.
Schon im 3. Jahrhundert, als die Berfolgungen des Derius und Dioele⸗
tian ſtrengeren Kirchenlehrern für Strafgerichte Gottes über die allmälig
entartende Kirche galten, trat eine moraliſche Scheidung unter den Chriſten
ein in Solche, die ſich nur zur Befolgung der eigentlichen Sittengeſehze ver⸗
pflichtet hielten, und Solche, denen völlige Weltentſagung für das allein
wahre Chriſtenthum galt, die jedes weltliche Vergnügen für eine Berlodung
bes Teufels hielten und die Erde als ein von Gott verordnete Jammerthal
- betrachteten. Je mehr die EhHriftenheit in die gegebenen Weltverhältniffe .
bineingezogen wurde, defto flärker empfanden dieſe einjeitigen Eiferer den
Trieb, die Welt zu fliehen ; denn fie bedadhten nicht, daß das Chriſtenthum
in die Welt eingehen müſſe, um diefelbe zu überwinden. Zu den berühm⸗
teften Eremiten des 3. Jahrhunderts gehört Paulus von Theben, welcher
ſeit der Verfolgung unter Decins in einer Höhle der Wüfte, nur. von
einer Valme genährt, fein Leben zugebradht hatte, bi8 ihn 340 Anto=
nius flerbend fand. Diejer, gebürtig aus der Thebaiß in Aegypten,
durch die Erzählung des Evangeliums vom reichen Jüngling, wie fpäter-
bin Franz von Affift, Heftig erichüttert, hatte Haus und Familie ver⸗
laſſen, un in der Wüſte ganz der „Himmlifchen Philoſophie“ gu beben.
Zum Berge Kolzim am rorhen Meere, wo er fih aufhielt, z0g der Muf feiner
265
Bikonen ?), jeiner Wunderkraft und firengen Lebensweiſe bald Taufente
von Nachahmern hin. Da fekbft Konſtantin dem Wundermann Aegyptens
tiefe Verehrung bezeugte und dadurch das Leben in der Entfagung in den
Augen des Volkes zur Heiligenwuͤrde erhob, fo vereinigte fih mit der Wun⸗
derſucht aud) der Ehrgeiz, die Wüſte mit Eremiten zu bevölfern. Auch das
weibliche Gefchlecht folgte dem allgemeinen Zuge und bald fah ſich Pacho⸗
mins, ein Schüler des Antonius, veranlaßt, um 340 auf der Niliniel Ta-
benna Klöfter für die beiderjeitigen Geſchlechter zu gründen. Dazu mochte
tun unter Anderem auch das Vorbild der alten Therapeutengemeinden be⸗
wegen. Die Lebensregeln, welche er feinen Klöftern gab, wurden von ber
Ueberſchwaͤnglichkeit, welche das Mönchsleben mit demjenigen der Engel vers
glich, als die englifche Disziplin bezeichnet. Die volkreihe Stadt Oryrhyn⸗
dub widmete fih, getrieben durch das Beifpiel der nahen Klöfter, zum größe
ten Theile dem Mönchsleben. Zehntauſend Frauen und zwanzigtauſend
Männer gaben fich den mönchiſchen Lebendregeln hin. Ungefähr um die
naͤmliche Zeit ftiftete Hilarion in der Wüfte Gaza Klöfter nach eigener Regel.
Bon dort aus verbreiteren fie fich ſchnell und zahlreich über ganz Baläftind.
An der Küfte des ſchwarzen Meered gründete Bafllius, Erzbiſchof von Eä-
farea, um 360 eine Menge von Klöftern, wiederum nach befonderer Regel.
Daffefbe that um 370 der Biſchof Martin von Tours in Gallien. Um 341
führte Athanaſtus, des Antonius Freund und Verehrer, das Mönchsweſen
auch in Rom ein und in Eurzer Zeit erhoben ſtch zahlreiche Klöfter auf den
Trümmern der heidnifihen Tempel, felbft inmitten des Forums. Gegen
Ente des A. Jahrhunderts war Faum mehr ein Land der Chriftenhett zu
finden, wo nicht bereits Klöfter eriftirt hätten,
So verfihieden die Ordensregeln waren, alle Iiefen hinaus auf blinden
Gehorſam gegen die Befehle des Kloſtervorſtehers (des Archimandriten oder
Abtes), Abtödtung der finnfichen Triebe, völlige Armuth und gänzlide
Weltentfagung. Furchtbare Strafgeſetze wußten ten Gehorſam aufrecht zu
erhalten. Kerker, Geißelung bis aufs Blut, überrriebene Baften. waren
—h —
4) Die Cinſamkeit, verbunden mit Aufechtungen der Wolluſt und harter Asleſe,
fpiegelte feiner Acht ägyptiihen Phantafle allerlei teuflifche Erfcheinungen vor. Webers
haupt hat die Askeſe bei vielen Gremiten und Mönchen oft ſolche Vorfpiegelungen ber
Phaniafie hervorgerufen. 86 erfihienen ihnen gute und böfe Geiſter, fie vernahmen
überiedifche Stimmen, Himmel und Hölle öffneten ſich vor ihrem innern Auge. Diefe
Phantasmen find zu einem unerichöpflichen Born ter Heiligenlegende geworben.
266
anf geringe Bergehungen geiegt. Die Sedulbsübungen, welche den aͤgypti⸗
fchen Mönchen auferlegt wurden, beftanden meift in frudtlofer Anftrengung
ihrer körperlichen Kräfte. Im Uebrigen erhielten fi die Mönche tiefer
erften Zeit durch die Arbeit ihrer Hände, durch Land = und Gartenbau, wo
dies anging, oder in der afrikaniſchen Wüſte durch Flechten von Matten und
anderem Beräthe aus Palmenfafern. Anfangs wurde gegen Diejenigen,
welche wieter in die Welt zurüdfehren wollten, Teine Gewalt geübt. Als
aber der Fanatismus für das „englifche Leben * erft erflarkt war, ließ man
nad) vollendetem Noviziat (Probezeit) den Eintretenden unverbrüchliche Treue
ſchwören und Staat und Kirche vereinigten ſich, den eidbrüchigen Flüchtling
der Strafe. feined Vorgeſetzten auszuliefern. Nur Wahnfinn oder Tod
konnten fortan den Unglüdlichen befreien, welchen Mißhandlungen, Nacht⸗
wachen, Baften, Unterdrückung aller natürlichen Triebe mit ſich jelbft entzweit
batten2). In der Kleidung richteten fih die Mönche gewöhnlich nach der
Natur und Lebensweife ihres Lantes. Vorgeſchriebene Ordenskleider kamen
erſt fpäter auf. Aber ſchon damals raftrten. ſich bie Mönde das Haupthaar,
den Sklaven „ähnlich zu jheinen. Im 5. Jahrhundert ahmte dies ber
römische Klerus infoweit nad, daß er fi eine Platte auf dem Scheitel ſchor
(Tonfur des Petrus). Die britiiche Kirche blieb bei der ohnehin landes⸗
üblichen Abſcheerung des Vorderhauptes (Tonſur à la Paulus). Um alle
Augenluft zu meiden, bevedten die Mönche ihr Haupt mit einer Kapuze.
Die älteſten Klöfter Aegyptens beflanden aus ſchlechten, in regelmäßige’
Straßen eingetheilten Hütten, einer Kirche, einem Krankenhaus, einigen
Geſchaͤftszimmern, einem Garten und Brunnen, Alles durch eine gemeinſchaft⸗
liche Mauer gegen bie Außenwelt abgefperrt. Die Mönde der firengeren
Orden fchliefen auf dem nackten Erdboden oder auf Matten oder einem rohen
Tuch. Nachts wurden ſie zu beſtimmter Zeit durd ein Horn⸗ oter Trom⸗
petenfignal zum gemeinfamen Gotteödienft gewedt. Daß ein folches Leben
bei gemöhnlichen Naturen alles wärmere Gefühl ertödten mußte und ben
legten Reſt des Gemüthslebens in Teidenfchaftlihen Glaubenseifer zuſammen⸗
drängte, verſteht ſich von ſelbſt. Dies und der unbedingte Gehorſam, ſowie
der Mangel an Geiſtesbildung, eignete die Mönche zu einem gefährlichen
— — — —
2) Opfer fallen hier,
Meder Lamm noch Stier,
Aber Menfchenopfer unerbört.
Goͤthe.
367
Heer in der Hand gewaltthätiger Biichöfe, welches in Glaubensſachen oft
mit Kauft und Knittel entſchied. Die kaiſerlichen Truppen follen einen
Kampf mit ihnen weit mehr, ald mit den wildeflen Barbaren geſcheut haben.
Durch die Stiftung der Klöfler war aber das Einfledlerwefen keines⸗
wegd aufgehoben worten. Es gab vielmehr Asketen, denen felbit das
Klofterleben nicht ſtreng genug war, theild weil fie ſich felbft noch flärker
quälen und erniedrigen wollten, ald die Ordensregeln geftatteten, theil®
weil ſte die völlige Einſamkeit, fomit die gänzliche Unterdrüdung des Ge⸗
felligfeitötriebes,, in den Klöflern vermißten. Deßwegen verfchmähten die
Einen das Klofterleben von vorneherein, Andere verließen Die Klöfter, um
als Anacoreten zu leben. Die Kloftermönde hießen im Gegenfag zu diefen
Cõnobiten (gefellig Lebende), Die Anachoreten übertrieben die Selbſt⸗
peinigung und Selbfterniedrigung bis zum Aeußerften. Im buchſtäblichen
Sinne nahmen fie dad Kreuz Chrifti auf ſich, trugen ſchwere Ketten, Bein⸗
fhienen, Arm» und Haldbänder von Eifen. Männliche und weibliche Ein⸗
fledler entjagten felbft den Kleidern, fo daß ihre Leider ſich nach und nad
mit Haaren bedeckten. Dazu gehörte no, daß Etliche in Mefopotamien
den Nebufadnezar nadrahmten, und St. Ephraͤm hat eine begeifterte Lobrede
auf diefe grafenden Heiligen verfaßt.
Schon im 4. Jahrhundert begannen die Klöfter ſich zu bereichern
durch die großartigen Beichenfe Derer, welche das „engelgleiche Leben”
bewunderten, durch die Opferfreudigfeit der Novizen, welche beim Eintritt
meift alle ihre Habe auf das Klofter übertrugen, und durch zahlreiche Ver⸗
maͤchtniſſe. Diele betrachteten zwar ihre Geſchenke ald Wohlthaten zu Gunr
fien der Armen und allerdings verwendeten die Mönde und Nonnen, fo
fange fle noch nicht felbftfüchtig und üppig geworden, den größten Theil der
milden Gaben zum angegebenen Bwede. Doc nicht lange widerſtanden fie
dem dämonifchen Einfluß des Reichthuma. Die Arbeit ruhte, die Klöfter
wurden rei und die Noth der Zeit nicht minder, als der Hang zu ſorg⸗
loſem Müßiggange lockte Tauſende in die „beiligen-Mauern*. Man wähne
nicht, Daß diefer Uebelftand verborgen geblieben ſei. Schon zur Zeit des
Chryſoſtomus fuchten die Vernünftigern dem Zudrang zum Möndeleben
gu fleuern.
Bei allen Schattenfeiten jedoch, welche das Mönchsweſen von Anfang
an darbietet, Darf nicht vergeffen werden, daß es der Wiflenfchaft bedeutende
Dienfte geleiftet Hat. Es gab doch auch Anachoreten, welche ihre Einſamkeit
— —— — — —
—F ur ’
on ®
22
*
44
buch das Sindium kirchlicher une weltlicher Wiſſenſchaft zu erheitern
wußten. Sie haben viele griechiſch⸗ römiſche Caſſtker durch ihre Abſchriften
der Nachwelt erhalten. Die Mönche von Aegypten, von Gallien und Italien
befehäftigten ſich, fo viele ihrer Dazu Geſchick und Neigung hatten, mit
Bücherabfchreiten. Befonders lenkte Eafliodor die Mönche feines Kloſtert
Vivareſe auf gelehrte Studien hin, denen er einen hinlaͤnglich weiten Spiel
raum geflattete. Am meiſten bat fih um Wiſſenſchaft, Schulweien ums
Urbarmachung öder Landſtriche der Benebietinerorben verdient gemacht. Er
trägt den Damen feines Stifter, des Benedict von Nurfia, welcher ihn 529
im Kloſter Monte Caſſino nach milden aber mit unverbrũchlichen Gelübden ver»
bundenen Regeln gründete. Durch dieſe Stiftung nad neuer Hegel trat Bene»
dict als Reformator des in Ueppigkeit und Unfittlichkeit verfunfenen Klofter-
lebens auf. Zeugniſſe folhen Berfalld And die Verbote des 6. umd 7.
: aligemeinen Concils, es dürfte feine Brau eine Nacht in einem Mannsflofter
: und fein Mann eine Nacht in einem Zrauenflofter zubringen, au bürften
A Beine aus beiden Geſchlechtern gemiſchte Klöſter errichtet werden.
‚rc Das abendländifche Mönchsweſen hat in vielen Beziehungen einen ganz
andern Charakter angenommen , ald das morgenländiiche und afrikaniſche.
on Selbftpeinigung ward, beionderd was dic Faflen betrifft, bei Weitene
* nicht in dem Maaße wie im Orient und in Afrika übertrieben. Im Allge⸗
- meinen neigten ſich die europäifchen Möndıe mehr zu geiftiger Beichäftigung
I 206)
hin. Seit dem 10. Jahrhundert galten Die Klöfter nit mehr als Laien⸗
gemeinden; ihre Bewohner traten in den geiftlichen Stand und fingen ſeit
dem 11. Zahrhundert an, zur Verrichtung weltlicher Geſchäfte Laienbrüder
aufzunehmen. Die Entfichung von Kongregationen, deren Stellung zu den
kirchlichen Obern ſehr verſchieden war, die Bervielfältigung der Orbensregeln,
das Beftreben, den Geift jeded Ordens durch defien Gewand anfchaulich zu
"machen, 'veranlaßten die Entfichung befonderer Orbenstrahten. Durch
Entziehung von bifchöflicher Aufftht wurten die meiſten Orden unmittelbare
Diener des Papſtes, und die Mönche vornämlich waren das flegreidhe Heer,
welches dem Gölibatögefeg Gregors VIL., oft mit Gewalt, Beltung ver⸗
ſchaffte. Ihr wohldisziplinirter Banatiömus war überhaupt die furdyt-
barfle Waffe der Paͤpſte gegen Irrichrer und Sekten. Zum Kreuzzug gegen
Die Mohammedaner, wie gegen bie Ketzer wußten fle die Völker mit gleicher
Kraft zu begeiſtern. Ihre großen Veflgungen, Anfangs durch Bebauung
weiter Wildnifie erworben, fpäter durch Geſchenke und Erbichaften vermehrt,
289
Verichafften ihnen auch große weltliche Gewalt; denn kraft des Tehnsrecktes
erwarben fe ſich dur dieſelben zahlreiche Bafallen, wie denn 3.2. im
11. Jahrhundert der Abt von Lorſch 1200 Mitter zum Kriegsdienft ftellte.
Außerdem erklärten ſich viele freie Bauern, um den Plackereien der adeligen
Eeuteſchinder zu entgehen, zu Unterthanen ter Klöſter. Aber mit Reich⸗
thum und Macht wuchs auch die Lieppigfeit und linfittlichfeit ber Klöfter.
Bon den reihen Bewohnern Clugnys berichtet der heil. Bernhard, fle Hätten
ſich allzeit die feinften Stoffe für ihre Gewaͤnder ausgeſucht, in Bezug auf
die Weine meifterliche Kennerſchaft an den Tag gelegt und auch die Koch⸗
Eunft nicht verachtet. Died waren noch barmloje Mängel. Inden Zeiten
ibreß tiefften Verfall, im 14. und 15. Jahrhundert, Hatte die Möncherei
und Nonnerei befanntlicd noch ganz andere aufzuweifen und bat fie nrit
naioſter Schamlofigfeit auch wirklich . aufgewiefen. Die Schwänfe= und
Sotenliteratur ded 14. und 15., die grobianiiche des 16. Jahrhunderts gibt
ausreichendes Zeugniß, wohin ed damals mit den drei Möfterlichen Gelübden,
Gehorſam, Armuth und Keufchheit, gelommen war.
In das Volksleben, in die Eirchlichen und fozialen Bexhältniffe des
ſpaͤteren Mittelalters haben beſonders bie zu Anfang des 13. Jahrhunderts
gegründeten zwei großen Bettelerven der Dominikaner und Branzißfaner
lebhaft eingegriffen. Jene, -geftiftet durch den farsatifchen Spanier Domi-
nifus Guzman und zunachft gegen die Albigenier beflimmt, hatten ben
Rampf gegen tie Ketzerei, diele, von dem „feraphiichen Bater*, dem angeb-
lichen Wundertbäter und wirflihen Schwärmer und Kyniker gran von
ARE geſtiftet, hatten Bußpredigt und, Arwennficge zum uaupingenden
Oꝛdenszweck. Beide Orben fanden vermittelſt ihrer Mrdensgenerale unter
alleinigem Gehorſam des Papfted, welcher Durch die Heere von Bettelmönden
üser die Hergen der Bölfer gebot. Beide bemärhtigten fi des Bemüther
durch ſteißige Benupung des Vorrechts, überall Beichte zu hören, geriethen
aber dadurch nicht felten in ärgerliche Streitigkeiten mit der übrigen
Geiſtlichkeit. Aus beiden Orden find berühmte Univerſttätslehrer her⸗
vorgegangen, Zwei große Parteien unter den Schulaftifern tragen ihre
Namen von Bettelmönden, die Thomiften von dem Dominikaner Ihomas
von Amino und die Scotffien von dem Franziskaner Duns Scotus.
Ranger ald tie Domintfaner blieben die Franziskaner dein Gelübde frei⸗
williger Armuth getreu, und aud dann, als die Franziskanerklöſter ſich reich
gebettelt hatten, war der Geiſt des Stifters noch fo mächtig, dab fid die
2710
Partei der Spiritualen, welche an jenem Geluͤbde fefthielt, vom Orden aub«
fhieb und e8, nach mannigfachen, oft blutigen Verfolgungen,, gegen VPaͤpfte
und Inquifitoren durdhfegte, als Brüder der firengen Obfervanz unter eige-
nen Vorſtehern anerkannt zu werden. Während dieſes Kampfes hatten bie
Spiritualen eine dem Papſt entſchieden feindfelige Stellung angenommen
und den Kaifer Ludwig den Baier gegen jenen mädtig unterflügt. Sie
waren die einzigen Mönche gewefen, welche dem päpftlichen Interdict gegen
die Faiferlih gefinnten Städte und Länder zum Trog die kirchlichen Bunctie=
nen dafelbft ausübten.
In Hinfiht des Cultus wurden etliche Orden von fpezieller Beftim-
mung gefliftet,, wie 3. B. der Servitenorden zur Beier der göttlichen Jung⸗
frau und ihres Schmerzes, im Jahr 1233. Gegen die Zeit der Reforma-
tion hin war das Mönchsweſen in allgemeinem Berfall begriffen. Die
Mirakel ihrer Drdensheiligen fanden wenig Glauben mehr. Die Unwiffen-
beit, Roheit und Sittenlofigfeit der Mönche waren Gegenſtände allgemeinen
Spottes und Aergerniffes. In den Nonnenflöftern wurden bie Wände gar
zu laut von Kindern befchrieen. Wenig half es, dag. tie Päpfte faft alle
Drvendftifter Heilig oder wenigſtens felig geſprochen Hatten, die über»
fchüffigen Verdienſte derfelben ſchienen dur die Sünden ihrer Ordens⸗
glieder vollftändig aufgebraudt zu fein. Man kam allmälig zu der Er-
kenntniß, dab das Mönchsleben kein befonderes Verbienft vor Bott begründe,
wie die Kirche lehrte; und wer noch Ablaß begehrte, nahm ihn lieber aus
dem allgemeinen Schag aller Heiligen, als von demjenigen eines einzelnen
Ordens, z. B. von demjenigen ber Franziskaner, deren Portiuncula⸗Ablaß
ihnen beſonders große Reichthümer verjchafft hatte. Es konnte auch nicht
viel zur Befeſtigung mönchiſchen Anfehens beitragen, Daß Knaben bisweilen
die Würde ton Aebten befleideten, und noch wentger, daß die gefammte
Möncherei fih zum Dämpfer des neu erwachten Lichtes bergab. Gleichwohl
ift in Deutſchland von einem Mönche die Reformation ausgegangen, mie
denn die Beſſeren dieſes Gefchlehts far immer in offenen oder geheimen
Bwieipalt mit der Kirche geratben find). Die geiflige Schwingung des
3) In ofenen Gegenſatz zu der Kirche war beſonders der 1260 von Gherardo
Segarelli gegründete Apoftelorden getreten, welcher die Armuth des apoflolifchen Lebens
wiederherzuftellen unternahm und das Kommen des Reiches Gottes verfündigte. Unter
* dem Mailänder Dolcino artete der Orden (eine Art Bettelorden) aus, doch zählen wir
” u feinen Ausartungen nit, ‚daß er das Schwert gegen die Inauifltion ergriff.
. 271
Reformationszeiralter bat übrigens, wie auf den Katholicismus überhaupt,
fo auch auf die Moͤncherei und Nonneret wenigſtens einigermaßen reformi-
ftifch eingewirft. Dann haben das 48. und 19. Jahrhundert tüchtig unter
den Klöftern aufgeräumt, aber in unferen Tagen vermehren ſich dieſe An⸗
ftalten wieder in fehr beveutendem Maaße. Go ebbt und flutet die Mei-
nung der Menfchen über das, was fie für religiöß und verdienſtlich halten.
In weit geringerem Grade als in der äbendländifchen Möncherei findet
fi Bewegung, Entwicklung und Veränderung im Mönchsweſen ber griechie
ſchen Kirche, obwohl es in dieſer eine fo hervorragende Rolle fpielte, daß
die meiften Biihöfe aus ben Mönden gennmmen wurden. Der griedhifchen
Kirche eigenthümlich ift aber der Mönchöverein der Heſychaſten, ſpottweiſe
Nabelbeihauer genannt, welchen der Abt Barlaam 1340 auf dem Berge
Athos entdeckte. Ohne die Vermittlung Chriſti meinten diefe Schwärmer
durch flille Beichaulichkeit, vornämlich, wie Barlaam fagte, durch Yirirung
ihres Blickes auf den Nabel, in einen Zuſtand verjegt zu werden, wo fle
"mit Teiblihem Auge Lad unerfchaffene Gotteslicht fchauen könnten. Drei
Synoden zu Konftantinopel fanctionirten 1341—50 nad den feinften Er⸗
Örterungen und gröbften Prügeleien zwifchen Hefochaften und Antiheſychaſten
das Streben ter ſtillen Mönche; nur follten fie bedenfen, daß jenes anſchau⸗
bare Gotteslicht dem eigentlichen Weſen Gottes untergeordnet fe. Das
ganze Curioſum erinnert fehr auffallend an die brahmaniſche Joga ).
12,
Dom Mönchswefen find einzelne Befellfchaften und Orden ausgegangen,
weiche einen befonderen Zweig des chriftliden Affochttionslchens bildeten.
Man liebt es, unfer Jahrhundert als das Zeitalter der Affociation zu bezeich-
nen, aber noch in weit höherem Grade verdient Das Mittelalter dieſe Bezeich⸗
nung. Wir können jebod aus der bunten Fülle des chriftlichemittelalter-
lichen Bereinswefens nur einige der bedeutendften Erfcheinungen herausgreifen.
‚Wer jene Bülle Eennt, weiß, daß namentlich auch die im Urchriſtenthum lie⸗
gende Idee des Communismus wiederholt und vielfach nach Verwirklichung
rang. Balls die Eommuniften unierer Tage die Kirchengefchichte genauer
fennten, würden fie ſich weniger mit Originalität bräften. „Alles ſchon
dagemwejen. * “
4) Bol. Thl. I, ©. 128, bef. Anm. 6.
272
Eine der merkwürbigften, jedoch keineswega mönchiſchen Affociationen
des Mittelalters waren die Bauvereine oder Bauhütten. In den altrömi-
ſchen Bauvereinen Britanniend Hatte dad Chriſtenthum befonders fchnelle
Aufnahme und mächtigen Schuß gefunden. Diejenigen Bauvereine, welche
zur Zeit Gregors des Großen daB altbritifche Kirchenthum gegen dad rö«
mifche bewabrten,, hielten auch feft an den altrömiſchen Formen ihrer Aſſo⸗
ciation , ſoweit ſich diefelben mit dem Chriſtenthum vertrugen. Don einem
ſolchen Bauverein, demjenigen in Dorf, der 926 eine eigene Verfaflung
aufftellte, verbreiteten fih die Bauvereine über England und den enropäilchen
Gontinent. Ihr Zweck war wefentlih die Förderung der kirchlichen Bau⸗
kunſt. Und fo Großes zu ſchaffen, wie die Nachwelt ihnen in der That zu
vertanfen bat, bedurften fie firenger gefellichaftlicher Ordnungen. Der
Meifter der Hütte führte die Sittenpolizei über die Genoſſen und ſaß dem
von ihnen frei erwählten Schöffengericdhte vor. Lüderliche Mitglieder wur«
den ohne Gnade außgeichloffen, Verlegung des Baugeheimniffes, weldyes
aus Furcht vor Entweihung fireng bewahrt werden mußte, nicht minder Die
PBrofanation der geheimen rfennungdzeihen (Wortzeihen, Gruß und
Handſchenk) ward fireng geahndet. Sämmtliche Bauhütten Deutſchlands
waren untereinander verbunden. Als Großmeiſter derſelben ward der Mei⸗
ſter der Straßburger Haupthütte anerkannt. Als die Franzoſen zu Ende
des 17. Jahrhunderts Straßburg wegnahmen, ging der deutſche Bauhüt⸗
tenbund einer raſchen Auflöſung entgegen. Im 17. Jahrhundert waren in
England unter denſelben Vereinsformen und Symbolen Vereine von nicht
bauenden oder „angenommenen Maurern“ entſtanden, welche ſich die Be⸗
förderung der Humanität, die Erbauung der Menſchheit ſelber zu einem
wahren Tempel Gottes als Zweck vorſetzten. Vollſtaͤndig ward dieſer Zweck
ausgeſprochen durch Errichtung der Großloge, der erſten eigentlichen Frei⸗
maurerloge, in London 1717, von welcher ſich die Freimaurerei in Kurzem
über das übrige Europa, beſonders das proteſtantiſche verbreitet hat.
Welchen Schwankungen die Freimaurerei in der Folge unterworfen war,
haben wir erwähnt. Von jefuitiſch⸗myſtiſchen Zuthaten reinigte ſich die
deutſche Maurerei 1782 auf dem großen Convent in Wilhelmsbad bei Ha=
nau und nahm das Syflem des Eflefticiamus au, d. 5. fie erhob zum
Grundfag die praktiſche Humanität und Religtofttät mit Beifeitefegung aller
eonfeiftonellen Unterfhiete. Im Uebrigen haben Maurer, wie Friedrich
der Große, die Freimaurerei ein „großes Nichts“ oder eine „erhabene Kin⸗
— —ä·. „ EEE — SE
—
273
derei’’ genannt. Gegenwärtig ift fie faum noch mehr als eine Abart ber
geheimen Bolizei in den Händen der Bureaufzatie.
Auch den Kriegerftamd ſuchte das Chrjſtenthum, fo viel es in feiner
wittelalterlihen Borm konnte, zu durchdringen, In den Kreuzzügen er»
wuchs, weſentlich veranlaßt durch Entſtehung der geiſtlichen Ritterorden,
allmaͤlig die Vorſtellung von Dem chriftlichen Ritterthum als einem idealen
Orden, deſſen Mitglieder zur Vertheidigung Der Kirche, der Wittwen und
Waiſen, wie zur Meidung ungerechter Fehde verpflichtet ſeien. Dieſe Vor⸗
ſtellung beſiegelte die Kirche durch die religiöſen Ceremonien, durch welche
fie den Eintritt des Edelknechtts, welcher als Nobize des Ritterthums er⸗
ſchien, in den Ritierſtand verherrlichte. Durch Gebet, naͤchtliche Waffen⸗
wache an heiliger Stätte, Beichte und Communion mußte er ſich vorberei⸗
ken auf den Ritterſchlag, den er nach abgelegtem Rittergelübde ) im Kreiſe
von Rittern und Damen empfing. Das Ritterſchwert reichte ihm, mährend
er im weißen Gewande des Täuflingd vor dem Altar knieete, die Hand des
Prieſters. Der ritterliche Brauendienft fand feine religiöfe Begründung
oder Rechtfertigung in tem durch die Kreuszüge aufs Höchſte gefleigerten
Mariencultus, Die Kreuzzüge gaben auch den Anſtoß zur Gründung der
geiftlichen Nitterorben der Templer und der Johanniter oder Hoſpitaliter
(ipäter Rhodiſer und Maltefer genannt). Halb Priefter, halb Ritter, wa⸗
sen die Mitglieder zum Kampfe gegen die Ungläubigen verpflidtet. Die
Templer nahmen ein frühes und tragifches, die Maltefer ein ſpaͤtes und
Schmähliches Ende. Auch die Orden ter Deutſch⸗Herren und der Nitter
von Calatrasa (in ihrer erfien Geſtalt) beruhten auf jemen möngpifch-ritter-
Lichen Prinzipien. ° Erſtere fochten, wie Templer und Soßanniter gegen die
Sarazenen, ihrerjeitd gegen die Heidnifchen Slaven in Breußen und Lit⸗
thauen, Xegtere gegen die Mauren in Spanien, Die weitere Geſchichte Dies
fer Orden gehört nicht hieher. In unferen Tagen gibt es bekanntlich der
Orden und der Ritter unzählige und ift das Ordensweſen an einem Punft
angelangt, wo die. Erhabenpeit aufhört und die Lärherlichfeit beginnt.
13.
Bei all ihren milden und graufamen, erbabenen und aberwißigen
Eigenſchaften befaß die Hriftliche Kirche auch Humor. Sie ließ ihre Heilige
41) Welches neben den obengenannten Berpflichtungen auch die Treue gegen ben
Lehnsherrn enthielt.
Scherr, Geſch. d. Religion. II. 18
274
ſten Anſtalten, deren Ausartung ihr wohl bewußt war, ungeſtraft zu gewiſ⸗
fen Zeiten verböhnen und gab fogar ihre Diener zur geiftlichen Poſſenreiße⸗
rei her. Nur bisweilen machte fie zu biefen Ausſchreitungen ein firenges
und zorniges Geſicht und dann ergingen biſchöfliche und päpftliche Verbote
gegen den Unfug, die aber wenig halfen. Erſt die Reformation bat ter
Mutter Kirche ihre humoriſtiſchen Anwandlungen vergeben gemacht. Aber
doch hat fie ſich erft in unferen Tagen auch noch des Lächelns entwöhnt,
welches fie bis dahin wenigſtens zur Carnevalszeit ihren Kindern im Süten
und Norden gezeigt hatte.
Früher, vor der Neformation, war das, wie ſchon geiagt, anders.
Die chriſtlichen Feſte geflalteten fih da jehr oft zu heidniſch audgelaffenen
Suturnalien. Zu Weihnachten miſchte in Sranfreih das Volk unter Die
kirchlichen Gefänge allerlei Gaſſenhauer, oft unjauberfte. In Deutfchland
hielt der Pöbel in der Chriſtnacht auf den Kirchhöfen unzüchtige Tänze.
In vielen Gegenden war ed Brauch, daß am zweiten Öftertage die Weiber
ihre Männer prügelten, welchen Liebeödienft die Männer am dritten Tage
erwiederten, um anzudeuten, daß man in der chriſtlichen Ehe ſich gegenfeitig
beffern folle, und zu verhindern, daß zu diefer Zeit Eines vom Andern die
eheliche Pflicht fordere. Am Ofterfeft jelber erzählten die Geiſtlichen zur
Entihädigung für die traurige Baftenzeit allerlei Schnurren und Schwänfe
von der Kanzel herab, und je heller tie Gemeinde auflachte, defto beffer.
Dies Oftergelächter galt zudem als &reudenzeichen über die Auferftehung
des Herrn. Alle dieſe und noch andere Weihnachts- und Öfterpofien in
der cisalpiniihen Kirche find ganz offenbar ein Nachklang der germanijch-
und Eeltifch=heidntichen Winterfonnenwende- und Brüblingsopferfefte und
der Damit verbunden gewejenen Aeußerungen ter Volksluſt.
Frankreich, wo die Luft an den „ Eartcaturen des Heiligſten“ am lau⸗
teften und unbezähmbarften geweſen zu fein fcheint, war auch die Heimat
des berühmten „ Efelöfeftes * zu Ehren der Jungfrau Maria und zum Ge-
bächtniß ihrer Flucht nach Aegypten: Auf einen abgerichteten Eſel ſetzte
man das ſchönſte Mädchen der Stadt mit einem hübfchen Knäblein im Arme.
Geiftlihkeit und Volk geleiteten in feierlicher Prozeſſion diefe heilige Familie
in die Kirche und flellten fle neben den Hochaltar. Hierauf ward die Meſſe
geleſen; beim Schluffe jedes Abſchnittes Derjelben brachte Die Verſammlung
ein lautes, einſtimmiges ,Hinham! Hinham! ” an und freute fih, wenn
der Eſel in die verwantten Töne einftimmte. Zum Schluß der Meſſe yahte
%
275
ber Priefter flatt des Amen und Segens drei Mal und die Verfammlung
hahte ihm drei Mal nad. Die Beierlichkeit jelbft endete mit dem Abfingen
der berühmten Eſelshymne, deren Strophen in lateinifcher, der Refrain
aber in franzöfticher Sprache abgefopt waren. Am Schluß der Hymne
mußte ber „Herr Eſel“ (Sıre Asnes) niederfnien, wahrfheinlih, um ſich
für die widerfahrene hohe Ehre zu bedanken, wenn nicht gar um das Ge—
bet zu parodiren. Dem Eſelsfeſt kann man, mie e8 jcheint, den hriftlichen
Urſprung nicht abſprechen, es fei denn, daß man die Beranlafjung zu der⸗
gleichen Boffen überhaupt in dem heidniſchen Sinn ſuche, welcher ver Kirche
des Mittelalters noch ſtark in den Gliedern ſteckte. Auf das römtfche Hei⸗
denthum dagegen, nämlich auf die Saturnalien, weldye das goldene Zeital⸗
ter der Gleichheit unter den Menfchen feierten, führt Flögel mit Recht das
„Narrenfeſt“ zurück!). Es wurde in den Tagen von der Weihnacht bis
am Sonntag nadı Epiphanias gefeiert, meift jedoch, z. B. in Paris, am
Neujahrstage. In Brankfreih war es vornämlich beliebt; aud) in Spanien
aber ward ed gefeiert, denn ſchon 633 erhob das Concilium zu Toledo
fihh dagegen. Im 10. Jahrhundert führte Theophylaktus, der Patriarch
von Konftantinopel, daſſelbe in der griechifhen Kirche ein, wofelbft c8 erft
200 Jahre nachher abgefchafft wurde. In Frankreich machte erſt 1552 ein
4) In feiner „Geſchichte des Grotesffomifchen.” Er gibt folgende Schilderung
nad) ten Quellen: — „Dean erwählte in den Thurmfirchen einen Narrenbifchof oder
Narrenerzbiichof, und zwar unter den lächerlichften Geremonien. Hierauf führte man
ihn mit großem Bomp in die Kirde. Auf dem Zuge und in der Kirche felbit tanzten
und gaufelten fie, die Gefichter beichmiert, oder mit Laryen angethan, und verkleidet
in Weibsbilder, Thiere oder Poſſenreißer. In den Kirchen, welche unmittelbar un:
ter dem Papft fanden, erwählte man einen Narrenpapft, dem man den päpfllichen
Schmuck mit eben fo lächerliden Geremonien anlegte. Der NRarrenbifchof hielt als⸗
dann einen feierlichen Gottesdienft und fprach den Segen. Die vermummten Geift:
lichen betraten das Chor mit Tanzen und Springen und fangen Sotenlieder. Die
Diakonen und Subdiafonen aßen auf dem Altar vor. der Naſe des Priefters, welcher
Meile las, Würfte, fpielten vor feinen Augen Karten und Würfel, thaten in's Rauch⸗
faß flatt des Weihrauchs Flecke von alten Schuhſohlen, Tamit ihm der häßliche Ge:
ftanf in die Nafe fahre. Nach der Meſſe lief, tanzte und fprang Jedermann nad) fei:
nem Gefallen in der Kirche herum und erlaubte fich die größten Ausſchweifungen, ja
Einige zogen fi) fogar nadt aus. Hierauf feßten fie rich auf kothbeladene Karren,
ließen fi durch die Stadt fahren und warfen den fie begleitenden Pöbel mit Koth.
Dft ließen fie ftil Halten und machten mit ihrem Körper die geilften Gebärden, die fie
mit ten unverfchämteften Reden begleiteten.”
18*
276
Parlamentsbeſchluß dem Narrenfeſt ein Ende. Was Deutſchland angeht,
ift es auffallend, daß nur aus den rheiniſchen Städten ganz fihere Nachrich⸗
ten von der Feier des Narrenfefles auf und gefommen find. Es kann dies
fer Umſtand die Anſicht befräftigen, daß dad ganze Feſt, weil nur in mehr
tomanifirten Gegenden heimlich, roͤmiſch⸗heidniſchen Uriprunges geweſen ſei.
14.
Auf die Bilder ernfler Askefe, wobei ter Menih oft in Grauſamkeit
gegen fih ſelbſt verfällt, refigiöfer Bemeinfdhaft und des Umſchlagens reli-
giöfer Bräuche in rohnärrifche Luftbarfeiten mag nicht ganz unpaffend das
Bild des Muckerthums folgen, weiches den chriſtlichen Affociationdtrieb mit
asfetifcher Grauſamkeit und frecher Wolluft in abichrediender Miſchung vers
bindet und dieſe Mifchung zum verbrecdherifhen Wahnwitz potenzirt. Das
Weſen der Muckerei ift die Berinengung von Geifl und Fleiſch, Befriedigung
des Geſchlechtstriebes unter frommer Maske, in feiner Vollendung ſogar
Heiligung der Unzucht zum Gottesdienſte, ganz der alte Baald- und Aſche⸗
radienft der Syrer und Phöniker!). Darauf deutet treffend der freilich
erft 1835 in Königsberg aufgefommene Name „Muder*, in der Jäger-
ſprache dortiger Gegend bie techniſche Bezeihnung des männlichen Hafen,
welcher fich bekanntlich durch feine Geilheit auszeichnet.
Schon 2. Timoth. 3, 1—9 ſchildert prophetifch die fommenden Irr⸗
lehrer als „graufam, Die Wolluft mehr liebend als Gott, Häuferihleicher,
welche die Weiblein gefangen führen. “2, Berri 2, 10—22 werden die
bereit aufgetretenen Irrlehrer beichrieben und non ihnen gefagt, „fie Locken,
indem fe aufgeblafene Worte der Eitelkeit reden, durch Fleiſcheslüſte, durch
Geilheit auch die, fo den im Irrthum Wandelnden wirklich entronnen wa⸗
ren.” In der That ift von einzelnen gnoftiihen Seften befannt, Daß fie
bereitd die Unzucht in die Religionsübung eingeführt haben. Späterhin
verbargen die Kloftermauern die Chriften diefer Sorte, und im Mittelalter
treten dergleichen Erfcheinungen wefentli zu Tage an Geſellſchaften, welche
außerhalb der Klöfter herumpagirten. Zu diefen gehören die durch Amal⸗
sid v. Bena und David von Dinanto zu Anfang des 13. Jahrhunderts ge⸗
ftifteten „ Geſchwiſter des freien Geiftes, “ deren fhlechtere Partei den Grund⸗
jag verfündigte, keine irdiſche Luft könne den im Herzen wohnenden Got⸗
1) Bl. Thl. II, S. 67 fg.
277
tesgeift trüben, und auf Löfung ber Ehe und Vernichtung alles Cigenthums
Binfteuerte. Die „Apoftelbrüder * fodann unter Dolcino und feiner Frau
Margaretha Rellten unter andern religidien Grundgefegen auch das auf,
„Mann und Weib mögen ohne Unterfchied zufammmenliegen. *
Das Gericht der Kirche welches dieſe Schwärmer ausrottete, baunte
den Geift der Wolluft wieder in die Klöfter. Daher war c8 erft dem bie
Klöfter auflöienten Proteftantismus vorbehalten, das Muderthum wieder
seht in Flor zu bringen. Der Halle'ſche Pietismus, eine Entfeflelung der
religiöfen Individualität von den Banden Eirchlicher Orthodorie und zugfeich
eine Nenbelebung des Myſticismus, trug in feiner Lehre vom gewaltſamen
Durchbruch ter Gnade die Keime ausichweifender Schwärmerei. Unwiſ—⸗
fende und zugleih hochmüthige Menjchen, welde als Propheten auftraten,
bildeten den Uebergang von dem älteren Pietiömud zur moternen Muderei.
So der Sporergeielle Roienbah und der Schuſtergeſelle Daut mit feiner
„ Donnespofaune * vom nahenden Weltgericht. Die Muderei ſelbſt trat ind
Leben einerfeitd durch den Bandweber Elias Eller von Ronsdorf, welder
fily für den Herrn Chriflus, feine Frau für Die Zionämutter audgab und
die Ronsdorfer Sekte ſtiftete, anderfeits dur Eva Buttler, welcher Die ſo⸗
genannte „buttler'ſche Rotte“ ihr Entflehen verdanfte. Diefe „Inſpirirten“
wiederhelten die Grundſätze ter Gejchwilter des freien Geiftes, hielten um
bes ihnen innewohnenden Geiftes willen Alles für erlaubt und überließen
fihh allen Ausfchweifungen der Geſchlechtsluſt. Ebenfalls zu Anfang Des
18. Jahrhunderts traten bie Gebrüder Kohler im Banton Bern als Pros
pheten des nahenden Weltgerichtes auf. Die Gräuel der Ausfchweifung,
welche die von ihnen geftiftete „ Brügglerfette* Gefudelten und zu welchen
fie das ſchamloſeſte Beifpiel gaben, entichuldigten fie mit dem Schriftwort:
„Den Heinen ift Alles rein.” Den Wiedergebornen, und als ſolche bes
zeichneten fie ſich felbft und ihre Heerde, den Wiedergebornen , lehrten fie,
gereiche Nichts mehr zur Sünde 2).
Das 19. Jahrhundert weift nicht weniger abfchredende Erfheinungen
ps - — —— ——
3) Die Affenſchande des Cultus dieſer Sekte iſt theoretifch dargelegt in tem bes
ruͤchtigten „Gliederbuͤchlein“, welches noch jeßt da und dort in der Schweiz Unheil
anrichtet. — Zu den Gontraften des Jahrhunderts der Aufklärung gehörte es auch,
daß in dem friedrichifch aufgeflärten Berlin um 1780 ein gewifler Rofenfeld , feines
Zeichens ein Schaͤfer, fich ein förmliches Harem von 7 Maͤdchen hielt , die für ihn ars
beiteten umd mit welchen er ale „Meifins“ in „Gottes Namen“ Unzucht trieb.
278
der Muderei auf. Abgeſehen von dem für das Altlutherthum ſchwärmen⸗
den Paſtor Martin Stephan, welder aus Stocklutheranern eine beiondere
Sefte gebildet hatte, diefelbe zur Auswanderung nach Amerika bewog und
fein Anjehen als Seftenbifhof zur Schändung vieler Ausmwanderinnen miß⸗
brauchte, fehen wir den Cultus der Wolluft förmlich organifirt in den kö—
nig&berger Bonventifel, weldem die beiten Prediger Ebel und Dieftel vor-
ftanden, im Jahre 1835. Wie die Beiden in praktifcher Anwendung der
Theoſophie ded I. H. Schönherr den Geſchlechtsgenuß durch den Beift zu
heiligen ſuchten, dürfen wir Anſtands halber nicht beſchreiben. Wir be=
merfen nur, daß der Hauptzweck der von ihnen veranftulteten Berfammlun«
gen die Ausübung der Unzucht in verfchiedenen Graden war, von denen der
erfle, die demüthige Hingabe des Körper zu wollüftigen Manipulationen,
als Act der Heiligung bezeichnet wurde. Die höchſten Grade follten zur
Erzeugung des Meſſias beftinnmt jein. Ein Dupend Jahre vor dieſer wü⸗
ſten Komödie der Brömmelei im Deutichen Norden hatte im deutfchen Süden
das Muckerthum eine wüfte Tragödie aufgeführt. Im Dorfe Wildensbuch
an der Nordgränze ded Cantons Zürich hatte Margaretha Peter, eines ver⸗
möglichen Bauers fhöne und begabte Tochter, einen Brömmlerfreid um ſich
verfammelt, in welchem fie als Prophetin galt. Die Prophetin trieb aller⸗
let Muckeriſches, unter Anderem auch Ehebrud mit einen frommen Schu
ſter, wobei die Gattin deſſelben eine evelfte That beroiicher Frauentreue
vollbrachte, indem fle, ihren Mann vor Schmach zu bewahren, das Kind
der Prophetin, welche ihr häusliche Glück zerftört Hatte und an weldye fie
keineswegs glaubte, für ein von ihr felber geborenes ausgab. Im Jahr
1823 erfolgte dann die Wildensbucher Kataſtrophe. Mit der Wolluft ver⸗
band fi die mörderiiche Graufamfeit. In Margaretha hatte fidh bie fire
Idee ausgebildet, fie müfle zur Erlöfung der Ihrigen den Satan überwine
den und ed fünne dies nur durch ein Blutopfer geſchehen. So lieh fle denn
im Kreife ihrer Familie und anderer Gläubigen zuerft ihre Schwefter Elifa-
beth und dann fich ſelbſt Freuzigen. Die nah Ruchbarwerdung der That
aus der Nachbarfchaft herbeigeeilten Pietiften frohlockten beim Anblid des
bluttriefenden Hauſes und der Leichen Ter „neuen Märtyrerinnen.” Einer
rief: „O könnte auch ich flerben wie diefe Heiligen! * Ein Anderer beflagte
nur, daß das Opfer nicht am Charfreitag gebracht worden fei. Angeſichts
diefed Gräuels bat man, denfen wir, doch wohl nicht fo ganz Unrecht, von
einem Molochismus im Chriftenthum zu fprechen. Die Gegenwart freilich
— - — Ds — — nr —
279
bat gelernt, die pietiſtiſchen Myſterien ſorgſamer zu verbergen, Faͤllt aber
bie und da ein Blig der Deffentlichfeit in dieſes Dunkel, fo zeigt er und
mitunter Geftalten wie Die jenes Chefs einer pietiftifchen Sekte, weldyer vor
einigen Jahren zu Lauffen in Würtemberg die eigene Tochter ſchaͤndete und
Dann die Frucht diefer Blutichande erwürgte.
15.
Schon mehrmals haben wir die Kreuzzüge berühren müſſen und e8
wird jegt nicht zum Ichten Mal fein, daß wir ihrer erwähnen. Cine Er⸗
zählung Diefer ungeheuren Bewegung in der Chriftenheit wäre übrigens rein
überflüfftg. . Wir deuten nur an, daß man wohlthut, die Kreuzzugszeit
nicht in die Graͤnzen der Periode einzujchließen, welche mit der Kirchenvers
fammlung ‚von Clermont (1095) beginnt und mit dem Verluſt von Ptoles
mais, als der legten chriftlichen Veſte in ‘Paläftina, endigt (1291). Die
Kreuzzüge, d. h. der Kampf zwifchen der hriftlichen und mohammedantfchen
Welt, deſſen Idee die Seele des Mittelalterd war, begannen, als der Is⸗
lam, wie wir im fechften Buch jehen werden, zuerft ſein erobernded Schwert
gegen Die chriftliche Welt erhob, und erft der Fall von Granada und die
Serfhlaht von Lepanto machten ihnen ein Ente. Der Zweck, welchem die
Kreuzzüge im engeren Sinne, d. h. die Kriegsfahrten nach dem gelobten
Zande, 7 Millionen Chriſten geopfert hatten, wurde nicht erreicht; denn bie
mit fo viel Mühfal, Tapferkeit und Menfchenverluft eroberten heiligen Stäte
ten gingen nad) kurzem Beflge wieder verloren. ber wie zumeift nicht die
Abfichten Der Menfchen, fondern die von ihnen kaum geahnten Folgen ihrer
Handlungen die Gejchichte machen, fo Hat die durch Die Kreuzzüge vermit-
telte Berührung zwiſchen Morgenland und. Abendland höchſt bedeutende
welthiftorifche Einflüffe geübt. Man kann geradezu ohne Uebertreibung ſa⸗
gen, die Rückwirkungen der byzantiniſchen, farageniichen und mauriſchen
Welt auf die abendländiiche haben den in Barbarei ſtockenden Entwicklungs⸗
prozeß der legteren erft recht in Gang und Fluß gebracht. Diefe Lichtfeite
ter Erfcheinung ift jo mächtig, daß die Schattenfeite, nämlich die außeror⸗
dentlihe Erhöhung des Anfehens des römifchen Stuhls durch die Kreuze
züge,, fein allzu ſtarkes Bedenken erregen fann. Allerdings, einen Triumph
ohne Gleichen hat das Papftıhum in den Kreuzzügen gefeiert. Hier erſchien
die abendländifche Chriftenheit zum erflen und letzten als eine Heerde und
dieje Heerde folgte begeiftert dem Winfe des römiſchen Hirten.
16.
Auf vie politiſche Berfaflung der Staaten hat das Chriftenthum zu
Seiten einen unverfennbaren und unmittelbaren Ginfluß geübt. In den
Tagen der Berfolgungen predigten die Kirchenlehrer unbetingte Unterwer-
fung unter die heidniſchen Obrigfeiten; nur durch Dulten foflte der Glaube
gegen fie behauptet werden. Die Chriſten folgten wirflih dieſen Ermah-
nungen und ſchloſſen felbfi die verfolgenten Kaifer in ihr Gebet ein. Als
Konftantinus gegen feine Mitregenten kämpfte, behauptete Die Kirche fein
goͤttliches Recht auf Den Thron und heiratete ihn als einen von Bott ges -
fepten Fürſten, wie einft David und Salomo geweien freien. Eine Zeit lang
behielten zwar die chriſtlichen Kaifer Die aus tem römiſchen Heidenthum
ſtammende oberſte Priefterwürde des Pontifer Marimus bei, erſchienen aber
gerade and dieſem Grunde nicht ald Häupter ver Kirche, waren vielmehr in
kirchlichen Dingen ter Hierarchie untergeorbnet. Als Theodoſius den Ver⸗
fuch machte, dieſe Trennung der weltlichen und geiſtlichen Gewalt anzutaſten,
wies ihn Ambroſtus aufs Entſchiedenſte zurück. Er geſtattete ihm nicht,
Innerhalb des durch ein Bitter abgeſchloſſenen Heiligthumes feinen Sig zu
nehmen. Unterhalb des Gitters zu den Laien mußte fi der Gebieter des
Ervfreifed feßen. Der Bejlgnahme der Bafllica Portia durch die Kaiferin
Yuftina , die Vormünderin des minderjährigen Kaiſers Gratian, widerfegte
tb Ambrofius mit den Worten: „Der Tribut gehört dem Kaiſer, Bott vie
Kirche; diefe kann nicht dem Kaiſer zuftehen ; die Autorität Des Kaiferd er»
Rredt fih nicht über den Tempel Gottes. Der Kaiſer ift in der Kirche,
nicht über Der Kirche, “
Die Krönung Karls, des Branfenfönigs, zum Kaiſer in der St. Pe-
terskirche zu Rom burch Die Hand des Papſtes rief das heilige römifche Reich
ins Leben. Die Kaiſerwürde zwar erhielt dadurch befontere Weihe in den
Augen ter Völker, aber jener verhängnißvolle Krönungsact wurte die Ba⸗
fd der Anfprüche der Päpfte auf die Oberherrlichkeit über Kaiſer und Reich,
fiber die ganze Ehrtftenheit überhaupt. Im der Stunde, wo Karl fid von
dem Papſt die Rrone auflegen ließ, wutde die Drachenſaat gefätt, welche
nachmals in den Känıpfen zwifchen dem „geiſtlichen“ und tem „weltlichen *
Schwert fo üppig aufgewuchert und für unfer drutſches Vuterland zu einem
unermeßlichen Nationalunglück ausgefthiagen if: Im Writtelafter wurden
auch tie Könige ter Abrigen chriſtlichen Staaten bereits als Me Gelalkten
281
Gotteß betrachtet, und befondere Titel, wie 4 B. „ apofivliſche Majeflät “,
dienten dazu, das Königthum zu heiligen. Die Reformation, weil fie fig
zunächſt an das Volk wandte und Luther ſelbſt, Eraft feiner Meformator-
würde, einen Gefalbten des Herrn, Heinrich VII. von England, ſehr deſpek⸗
tirlich behandelte, ſchien Anfangs das göttliche Recht des Katferd und der
Könige Hintanzufegen. - Doch erfhroden über die Auslegung Ted Evange⸗
Hums durch die-unglüdlichen, durch die feudaliſtiſche Brutalität ver Fürſten,
Evelleute und Pfaffen zur Verzweiflung getriebenen Bauern, begann Luther
anbedingten Gehorſam gegen die Obrigfeiten zu predigen und lehrte, die
.Hriftliche Freihelt habe mit der ſozialen und politifchen Nichts zu ſchaffen.
Luther erhob die proteftantiiden Fürften zu Häuptern der Kirche in ihren
Lanten und begründete ihre Selbſtherrlichkeit durch die Lehre, dem Kaiſer,
als Feind des Evangeliums, fet man in Sadyen, welche ten Glauben bi=
rühren, teinen Gehorſam ſchuldig. Die Lehre vom befchränften Unter⸗
thanenvirftand und son der Kürftenmadt „von Gottes Gnaden“ iſt eben⸗
falls auf Luther zurüdzuführen. Dagegen befeelte die von der Schwetz
Audgegangene refarmirte Kirche ein vorwiegend republikaniſcher Bei.
Innerhalb der katholiſchen Kirche brachten die Iefutten die Lehre auf,
Die Fönigliche Gewalt ruhe, unabhängig von der Kirche, auf dem Willen des
Volkes ;'wenn jedoch das Seelenheil der Völker es fordere, könne der VBapft
bie Könige abfegen,, die Inquifition gegen fie einfchreiten, ver für das Heil
ber Kirche Begeiiterte fie ermorten. Dergleichen Marimen wechſelten aber
mit ter mehr oder weniger Eirchlich-unterwürfigen Geſinnung der Könige,
Im Allgemeinen bat bis auf heute die Kirche jo viel als mögli in die welt«
lichen der Staat fo viel ald möglich in die geifllichen Angelegenheiten ein⸗
gegriffen. War man bisweilen des Kampfes müde, jo fchloffen geiftliche
and weltfihe Gewalt Concortate und Compromiffe mit einander. In
weldem Verhältniß Heutzutage das Chriftenthum zum Staat ſtehe und ums
gekehrt, davon ſchweigt Die Gefchichte — einftweilen.
17.
Wir fchließen das Kapitel mit einer kurzen Sinweilung auf die com⸗
muniftijchen und ſozialiſtiſchen Syſteme, fofern dieſelben auf das Ehriftenthum
Bezug genommen haben. Somit ift ed nicht an uns, das „Utopien * de
Thomas Morus, vie „ Sonnenftadt * &anellas, die „falenttutiche Repub⸗
Ht* Senelons, die „ Dceana * Harringtons, dieſe harmlofen Rachahmungen
282
der platoniſchen Republik, einer ernſten Beachtung zu würdigen, fo bezeich⸗
nend für die fozialen Zuftände der Zeiten, in welchen dieſe Männer gelebt
. haben, das Mifbehagen an der Wirklidyfeit ift, woraus die genannten So⸗
zialiyfteme hervorgegangen find. Auch der Contrat social Rouffeaus, die
communiftiichen Syſteme Mably’s und Morelli’s und ter praktiſche Commu⸗
nidömus Baboeufs find ganz aus freiem philofophifhen Nachdenken, ohne
Berüdjihtigung des Chriſtenthums, entſtanden. Mit Berufung auf die
Heil: Schrift Hingegen haben ſchon die Gejchwifter des freien Geifted den
pollendeten Communismus gepredigt und die Wiedertäufer zur Zeit der Re⸗
formation denfelben verfochten. Ginzelne Vereine und Orden haben den
Communismus geübt, ohne ihn für Die ganze Staatsgeſellſchaft empfehlen
zu wollen. So lange bie erften Chriften noch eine Gemeinde waren, hielten
fie ebenfalls, aber mit der Erlaubniß, daß der Einzelne nebenbei immer noch
Privateigentfum befigen dürfe, eine Art Bütergemeinichaft. Vom 17. bis
zum 19. Jahrhundert tft der Communismus nie mehr vom dhriftlichen
Stantpunft aus als allgemeine Gefellihaftsordnung empfohlen worden.
Auch der Gründer des modernen Sozialismus, der Graf von Saint-Simon,
geftorben 1825, wagte es nicht, feine Theorie ausdrücklich auf Das Ehriften-
thum zu gründen, fondern meinte zur Ausführung Lerfelben eine neue
Neligion „ die er in feiner Schrift „dad neue Chriſtenthum“ niederlegte,
fliften zu. müffen. Zwar wollte er, indem er die Religion der Bruterliebe
verfüntigte, feine neue Liebe, nur eine neue Aufgabe der Liebe predigen ;
aber er Ichließt jene Schrift mit dem Aufruf, ed möchten fich die Menjchen
verbinden, Dad Reich Gottes auf Erden herbeizuführen, indem fle die Reli⸗
gion der Liebe zu einer Neligion der Freude und des Genuſſes machten.
Die St. Simon’fche Affociation, gegründet zu dem Zwecke, den Arbeiter»
ftand in. die ihm gebührende Stellung einzufeßen, in ihren Formen insbe»
fondere durch Bazard weiter fortgebildet, ift eine nach dem Bilde ter Firdh-
Tihen geftaltete Hierarchie, deren Haupt, alle weltliche und geiftliche Macht
in fich vereinigend, Jedem die feinen Fähigfeiten entſprechende Stellung an-
weift. Jedes Erbe joll dem Staat zufallen und durch die Banfanftalten
deflelben je dem Fähigſten übergeben werden, um damit weiter zu wirth⸗
haften. Sp wollten zwar St. Simon und die Sceinigen Nicht vom
biftoriichen Chriſtenthum wiſſen, aber fle entlehnten unbewußt feine Haupte
grundfäge und Lie Formen feiner Hierardie. Fourier unt die ganze Reihe
ber fpäteren Sozialiſten verjchmähten es Dagegen nicht, bei günfliger Gelegen⸗
263
heit das Anfehen bes Chriſtenthums für ihre Sache flreiten zu laſſen. Unter
den deutſchen Communiſten hat Weitling ganz offen dad Chriſtenthum für
feine Zwecke audzubeuten geſucht.
Zehntes Kapitel.
Die Wifſenſchaft
1.
Der culturgeichichtlihen Methode unferer Betrachtung der Religions»
biftorie getreu, gehen wir. bei Einräumung eine® Platzes für überfichtliche
Darftellung der Wiflenichaft im Chriſtenthum mit möglichfter Tiberalität zu
Werke. Iſt doch außer der chriftlichen Feine andere Religion von ihren Be⸗
Tennern jo wiflenichaftlid aufgefaßt und verarbeitet worden und in feiner
anderen hat das wifjenfchaftliche Leben To fehr auf das religiöfe zurückge⸗
wirft. Denn wenn auch bei den hindoftanifchen ‚ altägyptiichen und mosle⸗
mifchen Gelehrten theologifche und philoſophiſche Studien blühten, die
Bölfer find von denfelben unberührt geblichen. Dagegen fteht e8 unzweifels
baft feft, daß die denfente Erfaffung und Verarbeitung der hriftlihen Ideen
in Theologie und Philoſophie auf die Völker felbft mächtige Einflüffe geübt
bat und zu einem der gewaltigften Motive der modernen Civiliſation ge=
worden ift. j .
Hiermit gehen wir fogleih an die Sache ſelbſt, fo zwar, daß uns
zunaͤchſt die äußere Gefchichte Der vom Chriſtenthum unmittelbar hervor⸗
gerufenen theologifchen Fachwiſſenſchaften befchäftigen wird, während fpäter
zur Sprache fommen joll, wie Theologie und Philofophie zum Ideengehalt
der chriftlichen Meligion fich verhalten haben.
2,
Unter allen Wiffenichaften brachte Das Chriſtenthum, weil e8 von feinen
Gegnern bereit3 im 2. Jahrhundert wiffenfchaftlicd angefochten wurde, zuerft
die Apologetik hervor. Rhetoren und Philofophen griffen es an,
284
hetoren und Bhilvfophen vertkeidigten es. Im Allgemeinen führten die
Apologeten der griehiichen Kirche den Kampf vorwiegend nit philoſophi⸗
fher Begründung, Diejenigen der abendländtichen, zumal der afrikaniſchen
Kirche mehr mit dem Gewichte der Thatfachen, wodurd fie die politiichen
und moralifchen VBorurtheile, die volksthümlichen Verdächtigungen und An⸗
jhuldigungen gegen die Chriften zu widerlegen fuchten. Unter denen, welche
das Chriftenthum in öffentlihen Schriften angriffen, find befonderd zu nens
nen: der Rhetor Bronto, Lehrer ded Marcus Aureliud, Apulejus, ein
myſtiſcher Philoſoph und Priefter des Mithras; gegen Ende des 2. Jahr⸗
bundertö, ter ſchon öfter erwähnte Lukianos und vor Allen Celſus, deſſen
„ Wahrbaftige Rede“ (AAnIns Acyos), um 150 geſchrieben, erft bei«
nahe ein Jahrhundert fpäter in den acht Büchern ded Origines gegen Celſus
eine entſprechende Beantwortung fand. Zu den hervorragenden Apologeten
der abenvdländifchen Kirche gehören Minutius Felix, ehemals Rhetor, defien
Dialog „ Ortavianus” zu den beften Apologieen des Chriſtenthums gehört;
ferner Tertullian, deſſen „Apologetieus * der betreffenden Wiſſenſchaft ihren
Namen zu geben würdig war, und Arnobius, deffen „fleben Bücher gegen
die Heiden“ in weit höherem Grade die Schwäche des Heidenthums ent⸗
hüllen als fie das Chriſtenthum in vortheilhaften Lichte darftellen. Größer
iſt die Zahl der griechiſchen Upologeten. Schon um 130 (nad Anders
126) übergaben Quadratus, Biſchof von Athen, und Ariflides, «in ehemali⸗
ger Philoſoph, dem Kaiſer Hadrian Apoingieen für die Ehriften. Die
zwei Upologieen, welche Juftinus der Märtyrer den Antoninen überreichte,
am fle von der Verfolgung der Ehriften abzubringen, zogen ihm erbitterte
Beinde unter den heitnifchen Philojophen zu, von denen befonderd Einer,
Crescentius, nicht ruhte, bis Juftinus (um 165) den Maͤrtyrertod erlitt.
Mit weniger Geſchick führte (um 170) ſein Schüler Tatian den Vertheidi⸗
gungskrieg in ſeiner, Anſprache an die Hellenen*. Die Widerſprüche der
philoſophiſchen Syſteme gegenüber der Einheit der göttlichen Offenbarung
baͤcherlich zu machen, wählte ſich Hermias zu feiner Aufgabe. Mit mehr
Würde vertheidigte Athenagoras in jeiner Schugfchrift vie Chriſten vor
Marcus Aurelius. Die Erhabenheit der chriftlichen Moral über die Philo-
fopheme des Heidenthums, die Kogoslehre, nebft antern Grundlagen des
Ehriftenthums hat er mit philofophifchem Geiſte in diefer Schrift (, Geſandt⸗
ſchaft Geireffend die Ghriſten“) ind Licht geſtellt. Theophilus von As
thechien bemühte fih in feinem Werte „Ueber den Glauben der Ehriften *,
285
weniger tie volkathümlichen Berläumbungen gegen die Chriften zu wider⸗
legen, als vielmehr die Grundlehren des Chriſtenthums und deren Vorzüge
gegenüber Heidnifchem Aberglauben und heidniſcher Philofaghie auseinander
zu fegen. Auch dad Beitalter Konſtantins brachte noch Apologeten hervor.
Unter ihnen gehört Lactantiud Firmianus, Verfaffer Der „thealogiichen In⸗
-Ritutionen *, terlateiniihen, Eufebius son Caͤſarea, welder mit drei Schriften
als Apologet auftrat, der griechiſchen Kirche an.
Nachdem das EChriftentkum den Sieg über daB Heidenthum davon
getragen, ruhte Die Apologetik, bis Alanus ab Insulis, ein Ciſtercienſermönch,
tm 12. Jahrhundert eine Bertheitigung des katholiſchen Glaubend gegen
die Ketzer, Juden und Mobammerdaner für nothwentig hielt. Im 13. Jahr⸗
Gundert richtete Themas von Aquino feine ,„ Sunme fatholiicher Glaubens»
wahrheit * gegen Heiten, Iuden und Mohammedaner. Apologieen, nicht des
katholiſchen Glaubens, ſondern ded Chriſtenthums überhaupt, erfchienen erſt
wieder gegenüber dem Deiemud ter engliichen Freidenker, meift von engli-
fchen Geistlichen verfaßt, zu Denen unter andern Richard Barter, Etwarb
Chandler, Nathanael Lardner gehören. Don herporragender Bedeutung iſt,
daß felbfi Heroen der Naturwiſſeuſchaft und Mathematik, wie Newton, Hal⸗
fer und Euler, fi) des Chriſtenthums mit großer Vorliebe angenommen
haben. Die berühmtefte Apologie des Chriſtenthums, welche in neuerer
Seit eribien, find wohl die zum erften Mal 1799 veröffentlichten „Reben
über die Religion an Die Gebildeten unter ihren Verähtern“ von Schleier⸗
macher.
3.
Neben der Apologetik entwickelte ſich im Schooß ber Kirche die Wiſſen⸗
ſchaft der Exregeie (Schriftaualegung) des alten und neuen Teftamenteß,
Schon im 2. Jahrhundert war namlich eine Sammlung der neuteſtameni⸗
lichen Schriften tem A. T. zur Seite geftellt worden, aber noch zur Zeit des
Eufebius von Caſarea beſtand Dem Zeugniß feiner Kirchengeſchichte zufolge u
ein Unterſchied zwifchen den anerkannten (öuoAoyovuere) und zweifelhaften
Schriften (iwrsäeysusru). Erſt die Provinzialfgnoden von Hipporegius
(393) und Karthago (397) ſetzten den neuteftamentlihen Kanon feft und
die allgemeine Kirche anerfannte die dort für Glaubendregel erklärten
Schriften (Kanon) ohne förmlichen Beichluß eines öfumenifchen Conciliums.
Die chriſtlichen Belehrtenfhulen von Alerandrien und Antiochien widmeten
286
ſich mit bejonderem Eifer der Schriftauslegung. In Alerandrien galt die
allegerifchphilofophiiche Exegeſe, als deren berühmtefter Vertreter Origi⸗
ned erfcheint ; in Antiochien die hiſtoriſch⸗ſachliche Exegeſe, deren Zweck⸗
mäßigfeit befonders in ten Anſichten des Theotorud von Mopſueſtia zu Tage
tritt. Dieſer nämlidy hielt viele jogenannte meflianifche Weiffagungen für
unbewußt ideelle Beziehungen auf den Mefitae und das Hohelied für daß,
was es ift, für ein Liebeslied. Zwiſchen diefen beiden Schulen vermittelnd
haben Hieronymus von Stridon und Auguftinus fich vielfach um die rechte
Shhriftauslegung bemüht. Auguſtinus war der Erfte, welcher ſich das Ver⸗
haͤltniß der einander fo oft widerfprechenden vier Evangelien Flar zu machen
ſuchte. — Im Mittelalter, wo die heil. Schrift nach und nach faft ganz
vergeflen wurde, hatte die Exregefe Berien, um dann durch den Humanidmud
zu neuem, vielgeftaltigem Lehen erwedt zu werden. In den Streitichriften
und Difputationen der Reformationszeit fpielte fie eine wichtige Rolle.
Luther zeigte eine große Zirtuofttät in der Schriftauslegung, aber nicht
jelten auch eine große Rechthaberei. Seine buchſtäbliche Auffafjung ber
auf Einfegung des Abendmahls bezüglichen Ausſprüche Chriſti drang gegen
Bwingli’s philoſophiſchere Auslegungsweife wifjenjchaftlih nicht durch.
Außer Calvin und Beza hat ſich vornämlich der Niederländer Hugo Grotiud
(im 17. Jahrh.) um die Schriftauslegung verdient gemadt. Innerhalb
ber Eatholifchen Kirche, welche zu Trident die Bulgata für den einzig gülti-
gen Tert der Schrift erklärt hatte und wo zudem ter Papſt fich die allein
richtige Exegeſe vorbebielt, war eine wiflenfchaftlihe Schriftauslegung un=
möglich geworden, bis die Sanfeniften fch derfelben annahmen. Die Er—
läuterung des N. T. Durch Paſchaſtus Quesnel hat hiebei einen erbitterten
Kampf der Curie mit den Breunden der Schrift hervorgerufen. Auch in der
lutheriſchen Kirche hatte Die Schriftauslegung der Orthodorie weichen müffen.
Spener und Srande regten fie zuerft wieder an. Michaelis, ein Zögling
des halle'ſchen Waifenhaufes, gehört nebft Ernefti und Senler zu den Be—
gründern der rein wiflenjchaftlichen Eregefe. Diefe mußte aber, bevor fte
ihren ganz unbefangenen Standpunft erreichen konnte, erft noch durch
Supranaturaligmus und Rationalismus hindurch, deren jeder ihr nach
feiner Weiſe Gewalt anthat 1). Die neuefte Eregefe verdient den Namen
der hiftorifch«ritifchen Auslegung.
1) Die Wuntererflärungen der Rationaliften, befonders tes übrigens hochacht⸗
baren Paulus, füllen einen ſchweren Anekdotenkaſten.
287
Mit ter Exegefe eng verbunden ift die Einleitungsmwiffen-
haft, welche die Fragen über Entflehung und Aechtheit der Heil. Schrif⸗
ten zu beantworten ſucht. Aus der von Andreas Öflander, dem Verfaffer
der proteflantiichen Evangelienharmonie (1537), herſtammenden Harmoniſtik,
weldye die vier Evangelien mit einander in Webereinflimmung zu bringen
fuchte, entwidelte fih durd Storr und Eichhorn tie Evangelienkritif. Die
Hypotheſe des Letztern von einem den Drei erften Evangelien zu Grunde lies
genden Urevangelium brach der neuen. Wiffenfchaft die Bahn und zeugte
Dafür, wie tief der Glaube des Zeitalterd an die unmittelbare Eingebung der
Evangelien durch -den Heil. Geift erfchüttert fei._ Die eingeichlagene Bahn
ward in der Bolge auch von Schleiermacher, De Wette, Eredner und Anvdern
betreten, bis David Friedrich Strauß in feinem „Leben Jejfu 2)” Tie Un⸗
glaubwürdigfeit aller Evangelien darzuthun ſuchte und den mythiſchen
Stantpunft geltend machte, vermöge deſſen die evangelifche Befchichte in
fagenhafte Dichtung und der perfönliche biftoriihe Chriſtus in einen unper⸗
ſönlichen, idealen fih verwandelte 3) — ein Refultat, welches aus der Ueber⸗
tragung des Neubegelianismus auf die Kritif der Evangelien hervorging.
Diefer Richtung gehört auch Bruno Bauer an, welcher die verneinende Kritik
mit Außerfter Schärfe bis zu ihren Außerften Confequenzen führte). Da⸗
gegen hat die Tübinger Schule unter Chriſtian Baur die „geichichtliche
2) Grfchien zuerft 1838.
3) „Mit Beifeiteftellung der Begriffe von Unfündlichfeit und fchlechthiniger Voll⸗
fommenbeit als unvollziehbarer,, faflen wir Chriftus als denjenigen , in defien Selbſt⸗
bewußtfein die Einheit des Göttlichen und Menfchlichen zuerft mit einer Energie auf:
getreten ift, welche in dem ganzen Umfange feines Gemüthes und Lebens alle Hemmun⸗
gen diefer Einheit bis zum verfchwindenden Minimum zurüdträngte; der infofern
einzig und unerreicht in ter Weltgefchichte fteht, ohne Laß jedoch das von ihm zuerfl
errungene und ausgeſprochene religiöfe Bewußtfein der Läuterung und Weiterbiltung
durch die fortfchreitende Entwidelung des menschlichen Geiftes fich entziehen dürfte”.
Diefer Sag von Strauß enthält die Duinteflenz feiner Kritif des Chriftentyums. Wir
fommen unten auf Strauß zurüd.
4) Kritik ter evangel. Sefchichte der Synoptifer und des Sohannes, 1841—42,
Das Endergebniß der Bauer’fchen Kritif geht bekanntlich über das ber Strauß’fchen
weit hinaus. Bauer zufolge ift Markus, bei welchen die Empfaͤngniß und Geburt
Sefu noch als eine natürliche erfcheint, ter Urevangelift, welchen dic antern abge:
fhrieben und in tbeologifchen Ablichten verändert haben. Die Erörterung dieſer Ab⸗
fichten führt zu dem, Facit, das Cyriſtenthum fei eine Schöpfung ter theologiichen
Phantafie und Tendenz.
288 |
Kritik“ zu hohem Anfehen gebracht, und wenn etwa auch dieſe nicht ganz un«
befangen fein follte, fo läge der Grund gewiß nur in der Einfeitigkeit, mit
welcher tie Hegel'ſche Weltanſchauung die Geichichte behandelt, und Die darin
beſteht, daß fie bie Geſchichte als eine logiſch nothwendige Emifaltung der
abſoluten Idee mit Verkennung des Prinziys der Freiheit betrachtet. Es
verſteht ſich oon ſelbſt, Daß das evangeliſche Chriſtenthum immer übel weg⸗
kommt, wenn ed mit dem Maaßſtabe eines philoſophiſchen Syſtems, ſei es
bewußt oder unbewußt, gemeflen wird,
Durch Michaelis find au Exegeſe und Kritik bed alten Teſtamentes
wifſenſchaftlich angeregt worden. Hier durfte ſich die Wiſſenſchaft ſchon freier
Kewegen und war nud dem flörenden Einfluß philoſophiſcher Eyſteme weni.
ger audgefegt al8 bei Ver Bearbeitung bed neuen Teſtamentes. Breilid war
#3 den „glaubigen Eregeten” fatal genug, daß mande für mefllanifch gel
tende Stellen im Lichte umbeiangener Forſchung ihren prophetiſchen Werth
einbüßten, Uber dieſe Einbußen wurden reihlich aufgewogen durch die po⸗
#tiven wiſſenſchaftlichen Mejultate, welche Gelehrte, wie Geſeniue, Ewald,
Digig, Meier u. a. m. auf dem Gebiete altteftamentlicher Bibelforfchung
gewannen.
4.
Die Wiſſenſchaft der Kirchengeſchichte iſt für die allgemeine
Religionsgeſchichte inſofern von Wichtigkeit, als He die denkende Selbſt⸗
erkenntniß der chriſtlichen Kirche darſtellt. Ihr Begründer war Euſebius
von Caͤſarea (315— 380), deſſen Kirchengeſchichte bis 324 reiht. In der
Entwicklung diefer Wiſſenſchaft laſſen ſich ungefähr fünf Hauptperioden
unterfcheiden. Die erfte, während welder das Chriſtenthum in Europa
noch um die außjchliegliche Herrfchaft Fampfte, ſtellt und die Kircgengefchichte
noch nicht als eine allgemeine dar, weil die Nationen noch nicht zu einer
Familie dur das Chriftenthum verbunden waren, Während der zweiten
Periode zeriplittert fih die Kirchengeſchichte in Chronikjchreiberei und Legen⸗
dendichtung, bis Lie Kritif des Laurentius Balla über die angebliche Schen«
tung Konftantind einer wiflenfchaftlichern Behandlung Bahn brach. Die
dritte Periode, wo die Gelehrten der getrennten Kirchen die Kirchengefchichte
im Interefje ihrer Eonfejftonen darftellten, begann mit den „ Magdeburger
Centurien“ des Flatius Illyricus und Genoſſen, welchen der gelehrte Jeſuit
Cäfar Baronius.(1588) feine „kirchlichen Annalen * gegenüber flellte. Die
x
289
proteftantifche, wie. bie katholiſche Kirche, beide hatten und haben begreiflic,
ein hohes Interefie, die Rechtmäßigkeit ihrer Exiſtenz möglichft genau aus
der Kirchengefchichte nachzumweifen. Die confefftonelle Kirchenbiftorie erſtreckt
ſich Daher neben der höher entwickelten biß auf Die Gegenwart. In der vier
ten Periode that ſich der Gegenſatz zwifchen der freifinnigen rein wiffen-
ſchaftlichen und der pietiftifhen Richtung hervor. Im erfteren Sinne
Ihrieben 3. B. Mosheim und Semler, im Teßteren Arnold. Beide Parteien
aber flanden im Gegenfaß zur Kirche wegen der darin herrfchenden Ortho-
dorie, wie denn alle Orthodorie auf Verläugnung der Gefchichte beruht. In
ber fünften Periode (neuefte Zeit) ift zur unparteiifch fachlichen Behandlung
der Kirchengeſchichte mit Marheinecke's Verſuch auch die philoſophiſch con⸗
ſtruirende hinzugetreten. Die antikirchliche Tendenz hat im Allgemeinen
aufgehört. Durch freifinnigen Geiſt und hiſtoriſche Unparteilichkeit zeichnen
ſich die kirchenhiſtoriſchen Werke von Gieſeler, Haſe und Niedner aus.
Den Uebergang von der Kirchengeſchichte zur Dogmatik bildet die
Dogmengeſchichte, welche die Entwicklung der chriſtlichen Glaubens⸗
lehre darſtellt. Auf die Entwicklung dieſer Disziplin, ſowie auf die der
Dogmatik ſelbſt, hier einzutreten, iſt überflüſſig, denn beide theologiſche
Fachwiſſenſchaften find in ihrem Borfchreiten wefentlih von der Entwiclung
tes Firchlichen Lehrbegriffs abhängig oder aber fte richten ſich nach der außer»
Eirchlichen Geftaltung der religiöfen Ideen. In erfterer Beziehung können
wir auf früher Geſagtes zurück, in leßterer auf nody zu Sagendes vorwärts
weifen. — Neben dem Inhalt des Glaubens, mußte auch die Stttenlehre
“ des Chriſtenthums zu einem @egenftande befonderer wifjenfchaftlicher Be—⸗
arbeitung werden ; denn die moralifchen und dogmatischen Lehren fliehen mit
einander in einem geiftigen Zufanmenhang, der fih als Syſtem darftellen
läßt. Eine wiffenichaftlihe Darftellung des chriftlihen Moralfyftens fuchen
wir aber bei den Kirchenvätern vergebens. Noch erfchienen chriſtlicher Glaube
und chriſtliche Sittlichfeit al8 ein untrennbared Ganzed. Nur Anfänge
diefer Wiffenfchaft in fehr freier Form flellen uns der „ Pädagogos * des Cle⸗
mens von Nlerandrien und die Schrift des Ambroftus „über die Pflichten der
Geiſtlichen“ dar. Erft im 12. Jahrhundert, als der Gegenfag zwifchen
Glauben und Sittlichfeit auch gar zu grelf hervortrat, wurde die chriſtliche
Moral zur Wiflenfhaft und zwar durch Abälards Werk: „Ethik, oder:
Erfenne dich felbft"! Die folgenden Scholaftifer, mit Ausnahme bed
Thomas von Aquino, der in feiner Summa die Moral großentheild nad
Schere, Geſch. d, Religion. I. 19
ud
290
der Ethik des Uriftoteles behandelte, erzeugten durch Einmiſchung des bürs
gerlichen und canonifhen Rechtes in tie Moral die Caſuiſtik, d. h. ein
Syſtem von Berhaltungdregeln für jeden denkbaren Gewiſſensfall. Sie if
ein Spiegel des ſchwankenden Zuftandes, in welchem fich die fittliche Ueber⸗
zeugung des Mittelalterö befand. Ihre Repräſentanten find Raymund von
Pennaforte im 13., Bartholomäus de ©. Concordia im 14., Angelus te
Glavafto im 15. Jahrhundert. ine ehrenvolle Ausnahme von dieſem Treis
ben machten die Myſtiker, von weldyen befonderd Hugo und Richard von
St. Victor und Thomas von Kempen Erwähnung verdienen. Sie ſchrieben
zwar feine Moralſyſteme, hielten aber doch die rein chriftliche Moral: Des
muth, Liebe, Nachahmung Chrifti, in ihren Schriften aufreht. Die Huma-
niften, befonderd Erasmus in feinem „Handbuch des dhriftlichen Streiters *,
hielten hriftliche und philofophiidhe Moral für Eins und Daffelbe, nämlid
für das oberſte Vernunftgefeg. Die vorwiegenden Glaubenäftreitigfeiten
der Reformationgzeit liegen Fein beſonderes Interefle für die wiflenfchaft-
liche Geftaltung der Dioral auffommen. Der Erfte, welcher innerhalb der
proteftantiichen Kirche eine chriftliche Ethik herausgab, war 1577 Lambert
Daneau (Danäus). Die Iutherifhe Orthodorie, welche die „ Werke“ immer
mehr hintanzufegen begann, ließ aber die Moralwifjenjchaft Grachliegen ,. bis
einerfeitd der Pietismus, andererfeitd die Leibnitz-Wolff'ſche Philoſophie,
jener aus praktiſchen, dieſe aus theoretiichen Motiven, das Interefje daran
aufs Neue wachriefen. Beide Richtungen in Behandlung der driftlichen
Moral, fowohl die praftiiche ald die fpefulative, haben, jedoch ohne Die
hriftliche Moral von einer philofophiiden Weltanfchauung abhängig zu
machen, De Wette und Schleiermacher, in neueſter Zeit Rothe mit einander
zu verbinden geſucht.
Wie auf proteſtantiſchem, ſo erregte die Moralwiſſenſchaft während des
17. Jahrhunderts eine große Bewegung der Geifter auch auf fatholifchem Ge⸗
biete, Die Iefuiten hatten die von den Scholaftifern überlieferte Caſuiſtik auf
die Spige getrieben. Ihr Prinzip war der Probabiliämus, d. h. ein Gegen
überftellen Fircylicher Autoritäten in jeder Gewiſſensfrage ohne definitiven
Entfcheid, ein mehr ober minder Billigen gewiffer Handlungen. Diefer
vollftändigen Auflöfung der chriftlihen Moral traten die Janfeniften mit
Geiſt und Eifer entgegen, bejonderd. Bascal in feinen Lettres Provinciales.
- Wie wenig damald Die katholiſche Hierarchie auf Hriftliche Sittlichfeit Hielt,
beweift am beften das Verbot der genannten Schrift durch Papſt Urban VIII.
a ae u m ww ma Te 03 Tem MT
291
auf Betreiben der Jeſniten, welche feine beffere Widerlegung derfelben zuwege⸗
bringen Fonnten.
Auch die Wirkfamfelt des geiftlichen Standes felbft ift wiffenfchaftlich
beleuchtet worden. Die praftifche Theologie zerfällt aber je nach den Haupts
feiten geiftlicher Thätigfeit wieder in verfchiedene Wiflenfchaften: Homiletif,
Katechetik, Liturgif, Paftoralwiffenfhaft (Lehre von ber
Seelforge). Die frühefte und genauefte Bearbeitung ift der Homiletik
(Lehre von der geiftlichen Redekunſt) zu Theil geworden. Keime derfelben
finden ſich ſchon bei Chryſoſtomus (‚‚mwegs begwovuns‘‘). Auguftin war
der Erfte, welcher eine wirkliche Homiletik audarbeitete (De doctrina chri-
stiana). Diefe Homiletif blieb im Gebrauch bis zur Reformation. Das
Mittelalter hat Feine geliefert, weil während befjelben die kirchliche Redekunſt
gänzlich in Verfall gerathen war; die myſtiſchen Volföprediger aber waren
feine Iheoretifer noch Redefünftler, jondern redeten von der Leber weg. Die
Homiletif der Humaniften ſchloß fih an die claffifche Mhetorif an; die von
Reuchlin (1502) gründete fih auf die Negeln Quintiliand und Cicero's
mit Beibehaltung des driftlichen Standpunftede. Nach der Reformation
artete die Homiletif der Lutheraner aus in die engherzigfle Pedanterie.
Sie nahm ſchon deßwegen einen beichränftern Charafter an, als die reformirte,
weil unter den Zutheranern der alte Perifopenzwang (das Predigen nad) für
jeden Feſt- und Sonntag vorgejchriebenen jährlich wiederkehrenden Texten)
beibehalten wurde. Der Pietisnus hat hier ebenfalld zum Beſſeren geführt,
ließ jedoch feine Predigtweife bald in übertriebene Formloſigkeit ausarten.
Das Gemüthlid- Fromme der pietiftifchen Bredigtweije mit dem Rhetoriſchen
der orthodoren zu verbinden, verfuchte Mosheim in jeiner „Unweifung,
erbaulidy zu predigen®. Die fonthetifche Predigtweiſe, weldye weſentlich
auf fireng logifcher Zerglieterung eines vom Tert abgeleiteten Thema's
beruht, hat vornämli Reinhart ausgebildet und theoretifch in feinen „ Ges
ftändniffen” begrüntet. Die analytifche, freiere Predigtweife, welche mehr
den Gedanfeninhalt des Terted entwickelt, ift von Lavater, Herder, Schleier:
macher, Dräjefe u. U. geltend gemacht worden. Gine Vermittlung Dieler
beiden Richtungen fucht die neuefte Zeit in ihren Vertretern, zumal in den
homiletifchen Werken von Palmer und Mlerander Schweizer. Innerhalb
der katholiſchen Kirche ift die geiftliche. Redekunſt feit der Neformation
wieder mehr in Yufnahme gekommen. Im 17. und 18, Jahrhundert hat
beionterd Frankreich große Kanzelredner (Boſſuet, Blechier, Bourdaloue,
19°
292
Maflilon, Bridaine) hervorgebracht, jedoch ohne daß die Homiletik als
Wiſſenſchaft durch bedeutende Werke theoretifch gefördert worden wäre. —
5,
Schon in der Gefchichte der Firchlichen Lehrentwidlung haben wir
darauf hingewieſen, daß diefelbe mit der mwiffenjchaftlichen Entwidlung Der
religiöjen Ideen ja nicht zu verwechieln ſei. Jene beruht wefentlidh auf
Tradition, Schriftautorität, hierarchiſchem Intereſſe und volksthümlichem
Aberglauben; dieſe hingegen weſentlich auf der philoſophiſchen Bearbeitung
der religiöſen Vorſtellungen, alſo auf der Freiheit des denkenden Indivi—
duums. Daß die Religionsphiloſophie durch ihre Forſchungen nach dem
Weſen und den Eigenſchaften der Gottheit, nach Entſtehung der Welt, nach
der Natur des Menſchen u. A. m. auch zur Speculation über andere, nicht
religiöſe Gegenſtände geführt wurde und ſich alſo zur allgemeinen Philoſo—
phie erweiterte, liegt in der Natur des menſchlichen Geiſtes. Das Verhält—
niß der hriftlichen Theofophie und Philoſophie zur Kirchenlehre hat fih im
Lauf der Zeiten fehr verfchieten aeftaltet. In den erften Jahrhunderten
juchte die Philoſophie fich theils felbft zur Kirchenlehre zu erheben, theils
nahm fie, von der Kirche zurücgeftoßen, eine tiefere Auffaffung des Ehriften-
thums für fh in Anspruch und ließ die Kirchenlehre ald Volksreligion ge—
währen. In der langen Periote der Scholaftik fuchte die Philoſophie die
allgemein von ihr anerkannte Kirchenlehre denfend zu durchdringen und auf
Bernunftfchlüffe zu gründen. Mit dem Auftreten der Platoniker befreite fie
fid) vom Dienft der Kirchenlehre, blieb aber in ihren meiften Syſtemen ab⸗
hängig theild von Plato, theild vom Chriftenthum überhaupt. Erft mit
Carteſtus trat die Philofophie ganz felbftftändig auf. Aber durch die Wol:
fianer ward der alte Scholaſtieismus auf yproteflantiihem Boden erneut,
während die englifchen Freidenker offen gegen die Kirchenlehre auftraten N),
Die durch Kant gegründete Tranfcendentalphilofophie erhielt fich allezeit ganz
unabhängig von der Kirchenlehre; doc firebte ihre idealiftifche Seite
(Schelling, Schletermader, Hegel) das Chriftentbum (nit die Kirchen
Iehre) auf die Form des reinen Begriffs zurüdzuführen, während Die rea-
1) Die Wolfianer fuchten freilich nicht die Kirchenlehre, aber boch die mefentlichen
Lehren des Ehriftenthums du ch Vernunft und Schrift zu begruͤnden. Das iſt eben
gebundene, unfreie Philofophie — Scholafticismus.
293
Iftiihe Seite (Herbart) das religiöfe Gebiet möglihft vermied. Der
Matertalismud der franzöftichen Encyklopädiften Hingegen erhob ſich mit ent-
ſchiedener Beindjeligfeit gegen das Chriftenthum felbft. Sein Nachhall ift
ber gegenwärtige Materialismus der Phyſtologen. Die übrigen philofo=
phiſchen Richtungen der Gegenwart fireben die ewigen Wahrheiten des
Chriſtenthums, ob fie nun deren viele oder wenige gelten laffen, mit dem
wiffenichaftlichen Zeitbewußtjein zu vermitteln. — Nach diejer Grundirung
wollen wir näher auf die einzelnen Saupterfcheinungen der hriftlichen Theo⸗
jopbie und Philofophie eingeben.
6.
Der Onofticismugt) ift entflanden aus dem Eintreten des Chri-
ſtenthums in den alerandriniichen Nenplatonismus. Das Gemeinfame fafl
all’ ter zahlreichen Syſteme, in weldye er ſich ausbreitete, war das Streben,
das Chriftenthum als die abjolute Religion denfend zu begreifen, den tiefften
Urgrund des Böſen zu erforichen 2), die Nothwendigfeit und das eigentliche
Weſen der Erlöfung nachzuweiſen. Als die abiolute Religion ließ ſich das
Chriſtenthum in dreifacher Weile je nad feinem Verhältniß zu den vors
chriſtlichen Religionen auffaffen. Entweder ließ man das Chriftenthun,
ganz umvorbereitet durch Judenthum und Heidenthum, dieſen als falichen,
den Namen „Religion * nicht verbienenden Religionen gegenübertreten, was
einzig der Gnoſtiker Marcion (um 150) in jeinem vorwiegend ethiſchen
Syſteme that; oder man erfannte in den vordrifllichen Religionen einen
nody unentwidelten Keim ewiger Wahrheit als Vorbereitung auf das die
Wahrheit vollfommen offenbarente Chriſtenthum, und diefer Anficht hul⸗
digten die meiften Syſteme, das des Bafllived, Saturninus, Valentinus (um
140), das der Ophiten u, A. m. Endlich konnte man die abfolute Religion
als uranfänglide Offenbarung Gottes, die durch Chriſtus nur zu allgemei⸗
nerer Geltung gekommen jet, betrachten. Dies thaten vom Standpunft
des Heidenthums aus die Anhänger des Karpofrated (um 140), indem
fte Heidntjche Weltweile (Pythagoras, Platon, Epiphanes, den Sohn des
Sarpofrated) neben Chriftus als Träger der Uroffenbarung verehrten, das
41) Bon yrooss, Erfenntniß, im Gegenfag zum Glauben, über deſſen Inhalt
man nicht nachforſcht. j
2) Hierin machen die Karpokratianer, welche den Unterfchied zwifchen Gut und
Böfe für bloße menſchliche Cinbildung erflärten, eine Ausnahme.
294
jüdifche Geſetz hingegen für ein Werk der abgefallenen, weltſchaffenden Engel
anfahen.
Dur ihre Forſchungen nach dem Urſprung des Böfen wurden die
meiften Gnoftifer zu einem mehr oder minder deutlichen Dualismus geführt.
So fett 3. B. Valentinus ald die zwei Orundurfachen ver Welt Den tiefen
Urgrund alles Seins (Budos) und die weienlofe Materie (xhwuu), Mar⸗
cion den „gütigen Gott”, als deſſen erfte Offenbarung der „gerechte Welt-
ſchöpfer“ ericheint, und den Teufel, Baftlides „ten unbefannten Gott“ und
das „ Chaos, die Wurzel alles Uebels“. Zur Erklärung über den Urfprung
des Böfen diente zum Theil auch die vielfach geftaltete Emanationdlehre der
Onoftifer, aber noch weit mehr zur Speculation über Die Erlöfung und die
Perſon des Erldfere. Nach Baftlides vereinigte ſich die erfte der göttlichen
Emanationen (voös), die ewige Vernunft, mit Dem Menſchen Jeſus bei der
Taufe im Jordan, die Menfchenfeelen durd Befreiung von dem anhängen-
den Materiellen zu reinen Geiftern zu erheben. Der Iudengott, Vorſteher
der fieben zulegt emanirten Geiſter, hat mit ihnen die Welt erfchaffen und
ift betreffend das Erloͤſungswerk unbewußt ein Beförderer deſſelben gewor-
den. Nach Valentinus gibt es zwei zur Wiederberftellung der Sarmonie
im Geiſterreich beſonders beitimmte Aeonen (emanirte Geifter): Chriſtus
und ten heil. Geiſt. Dieſe Zwei, dem ganzen emanirten Geifterreich ema⸗
nirt, erzeugen und fenden den „Wetter * Jeſus, welcher fih mit Dem vom
Weltfchöpfer (Iudengott) gefandten Meſſtas bei der Taufe vereinigt, um Die
Seelen der Menfchen wieder von den Banden der Materie zu befreien, bie
Einen an die Graͤnze des Geiſterreiches, die Andern, nämlich die rein geift-
lichen (pneumatifhen) Chriften in das Geiſterreich felbft zurückzuführen.
Marcion jedoch betrachtet den Erlöfer nicht als Emanation, jondern als
perſönliche Offenbarung des bisher verborgenen „gütigen Gottes * in Jeſu,
denn Gefchöpf des „gerechten Weltfchöpfers*, um die Macht des Teufels zu
überwinden, durch Erwedung reiner Liebe zum „gütigen* Gott die Men-
ſchen von der frafenden Gerechtigkeit des Weltfchöpfers zu erloͤſen und zur
vollkommenen Seligkeit zu führen.
Die Gnoſtiker ſuchten ihre Syſteme nicht zur Kirchenlehre zu erheben,
fontern fahen meift in ſtolzer Abgeichloffenheit auf den volfsthümlichen
Kirhenglauben herab. Gnoftifchen Anſichten Huldigten auch Apologeten,
wie Tatian und Arnobius. Der chriftliche Neuplatonifer Syneflus, 410
zum Biſchof von’ Ptolemais geweiht, anerkannte den befiehenden Kirchen«
295
glauben ungeachtet feiner tualiftiichen Phtlofopheme, deren Eonfequenz ihm
den Glauben an die Auferfichung des Leibes und den Untergang der Welt
nicht erlaubte. Dagegen fuchte die rein chriftliche Gnoſis der Alerandriner
Clemens und Origines beſtimmend auf die Kirchenlehre einzuwirfen. Sie
konnten ohne das Wiſſen keinen rechten Glauben, ohne den Glauben kein
rechtes Wiſſen anerkennen. Glauben und Wiſſen ſollten nach Origines
durch allegoriſche Schriftauslegung allein vermittelt werden können. Durch
die Philoſophie dachten die Alexandriner den Glauben zur Vollendung zu
erheben. Das Syhſtem des Origines, frei von Dualismus und Emana⸗
tionslehre, gründet ſich auf philoſophiſche Auffaſſung der Dreieinigkeit.
Eigenthümlich derſelben iſt die ſtrenge Unterordnung des Logos unter Gott
Vater, des heil. Geiſtes unter den Logos. Die Dreiheit erſcheint dem
Origines als die nothwendige, ewige Form der Selbſtoffenbarung des Einen
Gottes. Bekanntlich war der Origenismus der Kirche zu philoſophiſch; ſie
eilte, ihn beſtmöglichſt auszuſcheiden (origeniſtiſcher Streit). Mit philoſophi⸗
ſchem Geiſte hat unter den Kirchenvätern nur noch Auguſtin ſein, wie er
meinte, kirchliches Glaubensſyſtem aufgeſtellt. Das Schickſal deſſelben in der
Kirchenlehre iſt früheren Ortes berührt worden.
7.
Den Inhalt der chriſtlichen Offenbarung hatte Origines als den
alleinigen Gegenſtand der Philoſophie bezeichnet und der letztern ſomit ihre
Graͤnze angewieſen. Den Uebergang zur Scholaſtik, welche die Schranke
der Kirchenlehre als Gränze der Philoſophie betrachtete, bildet im 9. Jahr⸗
hundert Johannes Scotus Erigena mit ſeinem Hauptwerk De divisione
naturae. Nehnlich den Alexandrinern, erklärte er die wahre Philoſophie
für die wahre Religion und die wahre Religion für die wahre Philoſophie.
Sein Syſtem ift vorwiegend pantheiftiich, da er Die ideale und finnliche Welt
ala ein bloßes Sichmodifiziren und Geftalten der Gottheit betrachtet und
eine allmälige Rückkehr derfelben in die zöttliche Wefenheit annimmt. Die
(platonijche) Idealwelt bezeichnet er als erichaffen und doch felbft jchaffend,
als den Inbegriff aller unfichtbaren Urſachen der fidhtbaren Dinge, - Um die
in das Materielle verfunfenen Menjchen zu ſich zurüdzuführen, hat Gott ſich
noch einmal unmittelbar in die Materie verfenft und ift in Jeſu erfchienen.
Darum wird Feine Seele verdammt bleiben.
Mit Scotus Erigena begann diejenige Richtung der Philofophie,
296
welche die allgemeinen Begriffe oder Ideen (universalia) ald außerhalb des
menschlichen Denkens für fi beftchend (real) annahm und daher als Rea⸗
lismus bezeichnet wurde. Unter den NRealiften der erſten fcholaftiichen
Periode, weldye mit dem Nominaliften Johannes Roscelinus (1090) endet,
find zu nennen Gerbert von Aurillac (farb als Papft Stluefter II), Berengar
von Tours, Lanfranc und Anfelmus, Erzbiichöfe von Canterbury. In diefer
erften Beriode, welche nod nicht zum eigentlichen, weientlid ariftoteliichen
Scholaſticismus gehört, Herrichte die platonifche Richtung allein. Die durch
Bekanntſchaft mit den Arabern vermittelte ariftotelifche Philoſophie rief den
Nominalidmus hervor, d. b. die Anſicht, daß die Univerfalien bloß im
menfchlichen Denken erifliren und ihre Nealität einzig im Individuellen
haben. Roscelinus ging ſoweit, die Univerjalien ald bloße Worte (nomina)
zu bezeichnen, woher Dieje ariftotelifche Richtung ihren Namen erhielt. Das
Meberhandnehmen ded Nominalismus, welches die Vhilofophie tiefer in das
Falte Gebiet der Logik hineinzog, wedte ten philoſophiſchen Myſticiomus,
welcher fich vorwiegend mit Meligionsphilofophie von praftiicher Richtung
beichäaftigte und als feine Hauptaufgabe erfannte, den Weg zur innigften
Vereinigung der Seele mit Gott nachzuweifen. Neben den beiden Bictoren
ift von den Moftifern Bernhard v. Clairvaur zu nennen, welcher als des
Menschen höchſte Beftimmung die felige Anichauung mit Gott, wodurch bie
Seele in Gott überfließe, bezeichnete.
Ungeadtet erſt in der 3. Periode der Scholaftit (1250 — 1320)
die ariftotelifche Philojophie vollftändig befannt wurde, gelangte doch
der Realismus wieder zu ausfchließlicher Herrſchaft. Dagegen that fich
innerhalb defjelben ein neuer großer Gegenjag auf, hervorgerufen durd
Zhomad von Aquino und Dund Scotud. Die Berfchiedenheit beider
Syſteme, aus welchen ein auch nach der Reformation fortdauernder Schul-
zanf hervorging 1), beruht wejentlich auf drei Punkten. Thomas erklaͤrte,
daß die Univerlalien, bevor ſie fich mit der Materie verbinden, nur Der
Möglichkeit nach vorhanden feien, jobald fte fich aber mit der Materie zu
Individuen verbunden haben, feien fte Feine wahren Univerfalien mehr.
Duns Scotus hingegen behauptete, die individuellen Dinge jeten nur Spie-
gelbilder der an fich eriftirenden Univerfalien, weldye die Kraft befigen, Durch
Individualiftrung der Materie in die Erfcheinungswelt einzutreten, Werner
1) Die Jefuiten erklärten fi gegen die Brancisfaner für Thomas von Aquino.
297
erhob Thomas die Erfenntniß Gottes, als den höchſten Zweck des Menfchen,
zur Hauptaufgabe der Theologie. Duns Scotud hingegen, welchem bie
Seligkeit als. höchſter Zweck des Menfchen galt, faßte die Theologie ald aus⸗
Schließlich praktifche Wiffenichaft. Dies kam daher, weil Thomas den Ver⸗
Hand, Duns Scotus den Willen für die höchfte Geiſteskraft des Menfchen
anſah. |
In der legten Sauptperiode der Scholaftif (1320— 1561) nahm ber
Nominalismus den Kampf mit dem durch Thomas von Aquino erfchütterten
Nealismud von Neuem auf und gelangte endlich zum Siege, vornämlich
durch Wilhelm von Okham, Iohannes Buridan 2) und Gabriel Biel, Die
immer mehr in abfurde Spibfindigfeit, in die Dialektif des „Höheren Blöd⸗
finns * 3) ausartende Scholaftif verlor ihren Einfluß auf die hriftliche Theo⸗
logie und rief eine zweite Reihe von Myflikern hervor, deren Bertreter dad
Ewige weientlic durch Gefühl und Willen zu erfafien ſuchten. Johannes
Gerfon (geb. 1363) erklärte das unmittelbare Erkenntnißvermögen des Ueber⸗
finnlichen für bes menfchlichen Geiſtes höchſte Erfenntnigkraft und die my⸗
ftijche Theologie, da fle ich auf innere Erfahrung eines frommen Strebend
gründe, für die wahre Philoſophie. Raimund de Sabunde (un 1436)
fuchte das Verſtaͤndniß der geoffenbarten Religion vermittelt frommer
Naturbetrachtung. |
8,
Während die Scholaftif allmälig erlofch, machte die durch das erneute
Studium des platonifchen, ariftotelifchen und ftoifchen Syſtems, fo wie durch
das einft ſchon von Roger Bacon (geb. 1214) angeregte Studium der Natur-
wiflenfchaften geläuterte Wiffenfchaftlichfeit den Verſuch, felbfiftändig,, ohne
Ruͤckſicht auf Die Kirchenlehre, zu philoſophiren. Merkwuͤrdiger Weife finden
wir aber die philoſophiſchen Syſteme der Reformationdzeit faft alle in Ita⸗
lien, wohl aus dem Grunde, weil die Ideenbewegung Deutfchlands, Frank⸗
2) Autor der berühmten Kabel vom Bel, welcher aus efelhaften Serupeln zwifchen
zwei Heubünbeln verhungerte.
3) Welche alles Ernſtes Fragen discutirte wie diefe: „Kann Gott etwas Ge:
ſchehenes völlig ungeichehen machen und demnach aus einer öffentlichen Dirne eine
Jungfrau? Wie viele Engel haben Platz auf einer Nadelſpitze? Warum hat Adam
von einem Apfel und nicht von einer Birne gegeſſen? Wie hätte Chriſtus die Er-
löfung vollbracht, falls er in Geſtalt eines Kürbifies auf die Welt gekommen wäre?“
298 | oo
reichs und Englants damals Hauptfächlich auf das praktiſch und kirchlich
Religiöſe gerichtet war. Der deutfhe Theoſoph, Jakob Böhme, ift der erfte
wichtige Philoſoph innerhalb des ſchon befeftigten Proteſtantismus.
Mit Uebergehung der Philoſopheme deutſcher Platoniker dieſer Zeit
(Reuchlin, Agrippa von Nettesheim, Paracelfuß) wenden wir und ſogleich
zu den italiſchen Philofophen )). Girolamo Cardano (geb. 1501) erfaßte
Bett ald das eine ewige Sein, die Well aber als die Entfaltung feines
Lebens. Bott der Dreieinige, ald welcyer er Almacht, Anſchauung des Un⸗
endlichen und Liebe in fich vereinigte, iſt das felbftbemußte Leben ter Liebe.
Des Menſchen Geift ift ewig, weil er Gott, die Welt und das Unendliche
in fig aufnehmen kann, fie immer mehr vollendet und nicht alter. Der
Geift wird immer wieder geboren und nimmt neue Lebendformen an
(Seelenwanderung). Als Narurforfcher hat Cardano ſich eine eigenthüm⸗
liche Raturphilofophie gebildet, melche er aber mit feiner Lehre von Gott in
feinen foftematifchen Zufammenbang bradyte. Die drei überall ſich offen-
barenden Prinzipien: Materie, Form und Seele, die Sympathie, melde
das Univerſum beberricht, bringt er in Feine anfchautiche Beziehung zum
görtligen Walten. — Die Weltprinzipien des Bernardino Teleflo (geb.
1508) find: Gott, der die Menſchenſeelen fchafft, die Materie und deren
Dewegen: Wärme und Kälte Bei ihm berricht die auf bloße Sinnes⸗
wahrnehmung, ftatt auf Vernunftfchlüffe gegründete Betrachtung der Dinge
(Senfualisnus) zu fehr vor, als aß er in Gott die rechte Einheit des Als
hätte erfaſſen köͤnnen. Gr ift fo wenig Xheolog, daß er felbft die Ver⸗
werfung derjenigen unter feinen Anfichten, weldye der Kirchenlehre oder der
heil. Schrift zuwider wären, für billig Halt. Für die Geſchichte der Philo-
fopbie jheint uns fein Syſtem wichtig als bie erfte Probe eines entſchiede⸗
nen Senfualidmus. — Die Weltanfchauung ded Giordano Bruno (gefl.
auf dem Scheiterhaufen der Inquifition zu Rom i. 3.1600) ift ein Ratur=
philofophle und Theologie phantaftevoll verfchmelzender Pantheismus, wel⸗
cher immer und überall im Weltganzen eine unendliche Harmonie ſucht und
findet. Das Sein Gottes ift, Bruno zufolge, dad Sein ſchlechthin, aber es
1) Eine fo einläßliche und treffliche Darlegung dieſer italiſchen Philofophie, wie
fonft meines Wiſſens in der deutfchen Literatur fonft nirgends, findet fih in Moriz
Carriere's bekanntem Buch: „Die philofophifche Weltanfchauung der Reformationg-
zeit“, ©. 318—606.. Ich muß mich natürlich unverbältnißmäßig viel kürzer faffen,
verdanfe ihm aber viel,
299
muß als That gedacht werden. Gott, die höchſte Intelligenz, erſchließt ſich
in- der Welt, um fein eigenes Wefen anzuſchauen; der göttliche Geift oder
die abfolute Einheit ift zugleich Das, welches begreift und welches begriffen
wird. Die Materie fegt Bruno nicht außer, jondern in Bott; denn Gott
als der Allgegenwärtige tft nicht der Raumlofe, fondern nur der Dur feinen
Raum Beſchränkte, vielmehr der allen Raum Erflllende, und Eins ift die
Materie oder der Leib, Eins die Form oder die Seele, Ein ewiges unendliches
Sein. Die göttliche Borfehung iſt Eins mit der Freiheit und Nothwendig⸗
feit, nämlich als Selbftbeflimmung. Als fchöpferifche Weſenheit nennen
wir Bott den Vater, ald die den Dingen eingeborene Kraft und Weisheit
Sohn, endlich Geiſt als die Liebe, welche durch die Betradhtung der Schönheit
erzeugt wird und das Endlihe zum Unendlichen zurüdführt. Die Liche wirft
in dem Menfchen die Wiedergeburt des Geiftes und Gemäthes, kraft welcher
die Gottheit in ihm Wohnung nimmt. Die Seele ift unſterblich. Je nad)
ihrem höheren ober njedrigeren Streben wird fie nach dem Tode in einen
höheren oder niedrigeren Leib, in eine höhere oder niedrigere Welt wan⸗
dern, — Cäſar Bantni (als „Atheiſt“ verbrannt zu Toulouje 1619) mag
des frivolen Wiges wegen; den er gegen Eirchliche Dogmen richtete, als ein
Vorläufer Voltaire's angejehen werden. : Sein Gottesbegriff reiht an den
Bruno’ihen nicht Hinan. Auch Vorklänge des modernen Materialismus
finden fich in feinen Schriften. So, wenn er fagt, die Seele ſei in jedem
Körperteile ganz und nichts Anderes als ber felbfibewußte Nervengeift,
deflen gute und ſchlimme Neigungen von den Samen und Säften abhängen,
welche in unſer Wefen eingehen. — Tomaſo Campanella (geb. 1568) ver-
räth in feinem Syſtem noch die meifte Abhängigkeit vom Platonismus und
ftreift nahe an Dualimus. Das Entftchen der endlichen Dinge aus Gott,
dem unendlichen, ewigen Sein, welches dreieinig ift in Macht, Weisheit und
Liebe, kann er nur dadurch erflären, daß er dad Nichtfein mit feinen brei
Prinzipien: Ohnmacht, Unmiffenheit und Haß ald Begränzung bed Seins
auffielt. Daher haben alle endlichen Dinge Theil eben jo wohl am Sein,
ald am Nichtfein. In Gott eriftiet zuerft die Idealwelt, angefüllt mit
Engeln, die man Tugenden nennt. Sie denfen die Iteen. Auf der Ideal⸗
welt beruht die mathematifche Welt, worin die Geifter die geometrifchen
Körper bilden. Auf diefer endlich beruht die materielle Welt, beflehend
aus der Materie, Wärme und Kälte. In allmäliger Reihenfolge biltet
Gott diefelbe zu Himmel und Erde aus durch Die Nothmentigfeit, das
300
Shidial und die Harmonie. Die von der Materie gefeflelte Seele kehrt durch
die göttliche Hülfe der Religion wieder zu Gott zurück. Seligfeit ifl die Er-
fenntniß, daß wir in Gott find und Gott in und. Campanella Hofft eine
Wiederbringung aller Dinge, wo alle Seelen zum Bater zurüdfehren und in
ihm wechfellofe, unvergängliche Seligfeit genießen werden.
In Deutſchland bat zu Anfang des 17. Jahrhunderts ein einfacher
Handwerker, Jakob Böhme (geb. 1575), die chriſtliche Idee mit philoſophi⸗
ſchem Genie durchdrungen und dadurch Ter nordiidhen Myſtik den vollkom⸗
menften Austrud verlichen. Nah Böhme iſt Gott die ewige Einheit, ver
ewig ſich in ſich ſelbſt gebärende Wille. Als Wille ſchlechthin ift Bott der
Bater, als Geminh und Gerz des Willens (das Wort) der Sohn, als
Auszahg vom Willen und Gemüth die Kraft und ter Geil. In folder
Dreieinigfeit iſt er ewig feiner felbft bewußt. Wie Bruno bezeichnet aud)
Böhme Gottes Denken ald Schaffen. Intem Gott das Wort ewig aus
fih ſelbſt gebiert und durch das Wort alle Dinge Schafft, gebiert er alle
Dinge in fih ſelbft. Darum nennt Böhme dad Weltall den Leib Gottes,
Inneres und Aeußeres in feiner Einheit den lebendigen Bott. Die Notb-
wendigfeit der göttlichen Selbſtbeſtimmung bringt, wie alle andern Gegen⸗
ſätze, jo auch den Gegenſatz des Guten und Böfen hervor. Das Vöſe ifl
nothwentig zur Offenbarung des Guten. Sofern nun Bott das Böje nur
zur Offenbarung ded Guten will, ift es für ihn aufgehoben. Im Menfchen
erfcheint das Böje ald der von Bott fi jcheidende, das Fürſichſein begeh⸗
rende Wille. In der Liebe zu Bott und ten Menfchen einiget fidh Die Seele
wieder mit dem göttlichen Willen und empfindet nun Gott ſelbſt ald Liebe,
während fie ihn zuvor ald Zorn empfunden bat. Als Chrifus geboren
wurde, ward Gott ald Menfch geboren; aber Chriſti Seele ift eine Greatur,
wie Die unfere, nicht vom Himmel herabgebracht. Chriſtus, der mit Gott
vollkommen geeinigte Menſch, muß in und geboren werten; Dann geben
wir ein in Gottes Willen und haben Berzeihung der Sünden?) Die
äußere Menſchheit Ehrifti mußte am Kreuze erfterben, damit durch biefe
völlige Hingabe das ewige Wort in der Menfchheit allein herrſchend werde,
2) Denfelben Gedanken hat auch ein jüngerer Zeitgenofle Böhme’s, der myflifche
Poet Johann Scheffler (Angelus Silefius), in feinem „Cherubinifhen Wanders⸗
mann“ fehr prägnant ausgeſprochen: —
Wird Chriſtus tauſendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir; du bleibft doch ewiglich verloren.
301
Durch den Slauben an Chriftus erflirbt die Ichheit und kommt das ewige
Wort zur Herrichaft au in und. Der Tod führt aus dem Reiche der
Natur ind Reich der Himmel, wo Alles Harmonie, Ruhe und Freude ifl.
Die Höllenqual der Böfen faßt Böhme Ähnlich wie Bruno, nur ohne See⸗
Ienwanderung. 8 wird jede Seele das, was ihrer herrichenden Begierde
entfpricht.
9.
Frankreich hat waͤhrend dieſer Periode ſtatt aufbauender Philoſophen
Skeptiker hervorgebracht. Michael Montaigne (geb. 1533) ſuchte durch
den Satz, daß die Vernunft nicht im Stande ſei, die Wahrheit zu erken⸗
nen, die Offenbarung aber allein die Wahrheit enthalten könne, ſeine
Zweifel an der chriſtlichen Religion zu beſchwichtigen oder wenigſtens zu
verhüllen, wogegen ſein Schüler Pierre Charron den Skepticismus gegen
die Religion wandte mit der Erflärung, daß feine Meligion, auch die
hriftliche nicht, dem angeborenen Tugendtrieb des Menfchen ganz genüge.
Aus dem franzöflfchen Sfepticismus aber ging das Syflem des Garteflus,
welches felbft mit dem Zweifel beginnt, hervor. René Descarted (geb.
1596) ward der Befreier der Philoſophie von der Theologie und dem alt-
claffiihen Syſtemen. Aus allen Zweifeln bleibt, fo lehrt uns Garteflus,
nur die Eine Gewißheit übrig: „Ich denke, daher bin ich* (cogito, ergo
sum). In Folge deffen unterfucht Garteflus das denkende Ich und findet
darin eine Anzahl angeborener Begriffe und Wahrheiten. Zu den angebo«
renen Begriffen gehört befonderd die Idee eines volltommenften Weſens
(Gottes), welche dem Menfchen nur von dieſem felbft mitgetheilt fein kann.
Auf die Gottesidee gründet ſich alle Gewißheit der Philoſophie. Wahre⸗
Subftanz, d. H. Grund feiner feldft, ift nur Gott. Subſtanzen im weitern
Sinne, d. 5. Dinge, die den Grund ihres Seins einzig in Gott haben,
find Geift und Materie. Das Attribut (d. h. weſentliche Eigenfchaft) des
Geiſtes iſt das Denken; das Attribut ber Materie Die Ausdehnung. Gleich
Anfangs Hat Bott die Welt vollendet geichaffen und durd feinen fortwäh-
renden unmittelbaren Beiftand (coneursus) wird fle erhalten. Der Menſch
bat eine immaterielle Seele-(denfende Subftanz), welche von dem Körper
ihrer Natur nad) ganz verfchieden tft und in der Zirbeldräfe ihren Sit hat.
Beil die Thiere nicht denken, fo haben fie Feine Seele und find daher bloße
Automaten. Indem Descarted vermittelt diefer Grundgedanken daB Prin⸗
302
Ay aänzlicher Borausfegungslofigfett in der Philoſophie und das Ausgehen
der Speeulation vom felbftbewußten Ich geltend machte, indem er endlich
den alten Gegeniag von Geiſt und Materie ald den Gegenſatz der Begriffe
von Denfen und Sein ind Bewußtfein hineinſtellte, bat er der modernen
Bhilofophie ihre Sigenthümlichkeit gegenüber der antiken verliehen.
Was die Carteflaner Beulinr und Malebrandhe vergeblich auſtrebten,
den Dualismus zwijchen Sein und Denken aufzuheben, gelang befler, wie⸗
wohl keineswegs ganz, dem großen Juden Baruch Spinoza (geb. 1632 in
Amſterdam). Bon Gartefius entlehnte er den Begriff der Subſtanz, ver-
volltändigte ihn aber dahin, daß er alle näheren Beſtimmungen, weil dies
jelben doch nur Negationen enthalten würden, von ihm ausfhlog. Den
Dualismus des Carteſtus juchte Spinoza dadurch zu heben, daß er Denken
und Ausdehnung (cogitatio et extensio) für die beiden einzigen Attribute
erklärte, unter welchen der menſchliche Berftand die Subſtanz anzuſchauen
vermöge, ohne daß doch Diele Attribute der Subflan; wirklich zukommen.
Ulle Eörperlichen Dinge find nur Mobdiflcationen der Ausdehnung, alle gei-
fligen Individuen nur Modificatiouen des Denkens. Gegenfeitige Einwir-
fung des Körperlihen und des Geiſtigen auf einander fchließt Spinoza
firenge aus; fte ift bloß ein das menſchliche Vorftellen täufchenter Schein.
Dagegen findet zwiichen der Ordnung und dem Zuſammenhang der förper-
lichen Dinge einerſeits und der geifligen Dinge andererſeits eine vollftändige
Uebereinftimmung flatt, jo daß z. B. jede Veränderung im Körper einer
Veränderung In der Seele, und jeder Zuftand der Seele einen Zuftande
tes Körpers entſpricht, weil ja Körper und Serle eigentlidy in der Subſtanz
daſſelbe find, nur unter verfchiedenen Uttributen angefchaut. Seiner Sub⸗
ftanz, deren Begriff das alleinswahre Sein tft, ſpricht Spinoza, obwohl er
fie Gott nenni, alles Selbftbewußsiein und allen Willen ab. Da der
Menſch nur aus zwei Modiftcationen befteht, nur eined ter zahllofen ver⸗
fhwindenden Momente der Subflanz if, fo hat er Eeinen freien Willen,
jondern iſt von allen Seiten ber determinirt (zum Wollen und Handeln ge=
zwungen). Gonfequent hebt Spinoza auch den realen Unterjchied zwiſchen
Gut und Böſe auf. Böſe oder Sünde nennt der Menich nur, was einem
ihm feſtſtehenden Begriffe von Vollkommenheit nicht entſpricht; dad Voll
fommene aber ift die Subſtanz, ohne welche auch das Böje nicht geſchieht.
Erkenntniß und Liebe Gottes ift die höchſte Tugend, zugleich die wahre
Seligfeit. Mit dem Tode hört die Individualität, das Selbfibewußtfein
303
der Seele auf, da fa bie Zerſtörung des Leibes auch Die Auflöfung der
Seele, als ihrer entfprechenden geiftigen Modification, zur Folge haben
muß. — Carteſius und Spinoza übten auf die philoſophiſche Auffaffung ber
Religion feinen unmittelbaren Einfluß. Diefer ift erſt fpäter, mit der
Wiebererwedung Spinoza's durch Schelling, mit Macht Hervorgetreten.
Dagegen haben die gleichzeitigen englifchen Freidenker auf die philoſophiſche
Behandlung des Chriſtenthums um fo bedeutender eingewirkt.
10.
Die Entdeckung Amerika's (1492) und des Seeweges nach Oftindien
(1498) hatte den Geſichtskreis der chriſtlichen Nationen erweitert und die
Erde aus einer flachen Scheibe unwiederbringlich in eine Kugel umgewandelt.
Kopernicus ſodann (geſt. 1543) hatte es gewagt, die Erde um die Sonne
kreiſen zu laſſen und damit der menſchlichen Eitelkeit, welche das von ihr
bewohnte Sandkorn als den Mittelpunkt des Weltalls betrachtete, einen ge⸗
waltigen Stoß verſetzt. Kepler ergründete eben die Geſetze der Planeten⸗
bahnen, Galilei aber erfand das Mikroſkop, richtete zuerſt das Teleſkop
nach den Geſtirnen und ward der Vater der Phyſik, als Bacon von Veru⸗
lam (geb. 1561) das Syſtem der Wiſſenſchaften reformirte, indem er die
Philoſophie auf die Erfahrung zurüdführte, alle Weltanſchauung auf er-
fahrungsgemäße Naturpbilofophie gründete und den ganzen Wuſt abſtracter
Theorien und überlieferter Vorurtheile aus der Philoſophie verbannte. Da⸗
durch ward ſowohl der kirchliche Autoritaͤtsglaube tief erſchuͤttert, als auch
die Freiheit des Denkens wieder hergeſtellt. Es konnte daher nicht fehlen,
daß ſich das befreite Denken auch an die Kirchenlehre und an die geoffenbarte
Religion ſelbſt machte.
Die engliſchen Freidenker legten zuerſt mit vollem Bewußtſein die
Vernunft als oberſten Maßſtab an ten Offenbarungsglauben 1). Der Erſte
unter ihnen iſt Herbert v. Cherbury (geb. 1521). Ueber das Verhältniß
des Glaubens zur Vernunft ſprach er folgende Anſicht aus: „Beide haben
ihr eigened Gebiet, und der Glaube kann nur dad Anjehen haben, welches
ihn die Vernunft zufpridt. Er kann nur dann feſtſtehen, wenn er ber
nn |
41) Ausfuͤhrliche Darlegungen des englifchen Freidenkerthums geben, wie befannt,
Schloffer (Gefch. d. 18. Jahrhunderts, Bd. 1.), L. Noack (die Freidenfer in der Re⸗
ligion,, Bo. 1.), 9. Hettner (Literat:irgelch. d. 18. Jahrhunderts, Pb. 1).
304
Bernunft nicht zumiderläuft und den Schuß der Priefter verbient nur ber-
jenige Theil feines Inhaltes, welcher aus ten Grundlehren der rechten Ver⸗
aunft zufammengefegt if.“ In Folge diefer Anficht hat Herbert 5 Grunds
artifel der Vernunftreligion aufgeftellt, von denen er behauptete, daß fle
den Kern des Ghriftenthung enthalten. Da wir bier unter den englifchen
Freidenkern nur Locke und Tindal einer nähern Betrachtung unterwerfen
können, fo wollen wir die Stellung der Uebrigen zum Chriſtenthum in
Furzen Sägen bezeichnen. Thomas Hobbes war ein Päpftler im Sinne der
anglikaniſchen Kirche. Er geftand nämlich einzig dem Staatsoberhaupte
das Recht zu, Megel und Richtſchnur für die Auslegung der heiligen Schrift
aufzuftellen. Nur foweit follte die Autorität der Offenbarung gelten, als
fle durch die Autorität de8 Souverains geheiligt werde. Blount wollte Fein
Wunder ohne Prüfung der Gewährsmänner glauben. Entfchieden wurden
die Wunder und Weifjagungen der Schrift beftritten von Collins (welcher
ben Namen „Breidenfer * (Free-thinkers) aufgebradyt bat), Woolfton und
Annet, während Toland die betreffenden Stellen für bloße Erziehungsmite
tel der Vernunft erklärte. Shaftesbury faßte als das Weſen des Ehriften-
thums die Sittlichkeit, von welder alle Glückſeligkeit abhänge. Chubb
fuchte als eigentliche Lehre Chrifti nachzuweiſen, dag Nichts als die Ueber⸗
einftimmung der Seele und tes Lebend mit der ewigen Megel des Rechten
den Menfchen Gott angenehm machen könne; daß wir uns, von diefer Ne-
gel abgewichen,, einzig durch Buße und Beflerung der göttliden Gnade ver⸗
fihern können; daß endlid Bott die Welt mit Gerechtigkeit richten und
Jedem nach feinen Werken vergelten werde.
John Locke (geb. 1632) beftritt die Behauptung des Carteflus, daß
es angeborene Ideen gebe, und lehrte, daB die Seele ihren ganzen Inhalt
den Eindrüden zu verdanfen habe, weldye die materiellen Dinge auf fie ma=
hen. Aus ten einfachen Ideen, welche der Berftand theild durch die Sinne,
theils durch Reflerion erhält, bilden fi) die zufammengefeßten der Mori
(3. B. des Raumes, der Zeit und des Denkens) der Subftangen und Ver⸗
hältniffe. Aus den einfachen und zufammengefegten Ideen bilden ſich die
Erkenntnifſe. Zur Offenbarung ftellt ſich ſein Syſtem alfo: „Eine Offen-
barung kann Feine neuen Vorftellungen geben und die Nefultate der Ver
nunff , nur beſtäͤtigen, aber nicht widerlegen; im Gegentheil Hat die Ver⸗
nunft. allein. zu entfcheiden, ob etwas für Offenbarung Ausgegebenes wirf«
lich Offenbarung. fei oder nicht." — Nach den die Stügen des Autoritäts-
glauben® zerflörenden Arbeiten feiner Borgäuger begann Matthäus Tindal
(geb. 1656) den Aufbau des erften deiſt i ſchen Syſtems. Wan erflärt
oft für Deismus die Anfiht, daß Bott feit der Schöpfung nicht mehr un⸗
mittelbar, fondern nur durch die ein für alle Mal gegebenen Naturgeſetze
und Naturfräfte in der Welt fortwirke, gleich einem Uhrmacher, der eine
nur einmal des Aufziehens bebürftige Uhr zuwege gebracht und ihre auf-
gezogene Mafchine dann ſich felbft überläßt. Doch diefe Nnficht läßt ſich
weder in Tindald, nod in Morgans und Bolingbroke's Werken nachweifen.
Bollkändig entwidelt haben wir fie erft in dem von K. Bogt aus dem Eng⸗
liſchen überfegten Buche „Natürliche Gefchichte der Schöpfung“ gefunden.
Bielleiht haben die Gegner Tindals Anftchten bis zum läppifchen. Epiku-
raͤiomus entftellt nur in der. Abſicht, jeine Behauptungen betreffend die Of⸗
fenbarung Gottes, die Erhörung des Gebets u. f. w. lächerlich zu machen,
Betreffend die Offenbarung lehrt er: „Obwohl Gott fein Geſetz durch Chri⸗
flus äußerlich verfündigen ließ, fo hat er e8 doch noch beftändig allen Men⸗
ſchen, ſowohl Chriften als Nichtchriſten, ind Herz gepflanzt." Hinſichtlich
des Gebetes hebt Zindal hervor, der Menſch könne durch daflelbe die ewige
Weisheit nicht beftimmen, wie fte bei ihrer Fürforge für alle Geichöpfe han⸗
dein folle, noch Gott überreden, bie ewigen Geſetze zu ändern, bie er vor
der Weltfchöpfung feftgeftellt habe. um alle Dinge in ihrem georbneten -
Gang zu erhalten. Die Unveränderlichkeit des Naturgeſetzes, weldes
Zindal zufolge Bott felbft niemals übertritt, war den Wundergläubigen
natürlich ein Dorn im Auge; noch mehr, daß Zindal.offen erklärte, er
wolle zwar die Dreieinigfeit Gottes und die Gottmenſchlichkeit Ehrifti nicht
läugnen, fet aber doc) nicht gefonnen, Etwas zu glauben‘, was nicht die
Brüfung der Vernunft aushalte.
11.
In Deutfchland if das Freidenkerthum aus den freieren Elementen
der Reformation hervorgegangen und Hat ununterbrochen feine Bertreter
gefunden bis auf den heutigen Tag. Wie kühne Behauptungen ſchon vor
Zutgers Zeit audgelprochen wurden, zeigt dad Beiſpiel des Hermann Ryofi⸗
wyk, welcher in den Niederlanden die Anftcht verbreitete, weder Chriſtus
fet Gottes Sohn, noch die Bibel ein göttliches Buch, das ganze Chriſten⸗
thum vielmehr Thorheit und Unfinn. Unter den Freidenfern der Reforma⸗
tionszeit ift beſonders Sebafttan Brand hervorzuheben, welcher die Bernunft
Gere, Gef. d. Religion. U. 20
für das innere uud. eigentliche, Die Sibet nur für daS äuferlihe Wort Got⸗
ted erllänte, in dee Vibel Nichts fir Gottes Wort anetannte, als was dem
twwers Gotteßtwons bee iprnunfs entipeedie ,, und daher ber Buchfinben Den
@chrift „des Irufela Sig, Gieg und Schwert.” nannte, im Begenfag zu
Suther, der Die Bernumfs „des Keufeld Gerne ſchalt.
Da die Leibnit ⸗Wolſſche Philaſoyhie auf das deuiſche Freidener ihnm
in feiner Geſtalung als Naturaliamus feinen Einfluß geübt hat, fo wollen
wir bie Geſchichte deſſelben fortſegen, bevor wir zu Leibniigz übergehen.
Die von Mathiak Kauten geſtiftete Partei der Gewiffener (um 1872)
wollte das Gewiſſen alo die albeinige Quelle bes Religion auexfenuen. Kau-
rad Dippel (geb. 1073) forderte auf zu freier Schriftauslegung durch Yen
heiligen Grit, dor jedein Ausleger fort und fort fich mittheile. Die che
bang der Dernunfs über bie Bibel ipracı Edelmann (geb. 1698), der nich
umgetriebene Obyſſeus ter beutichen Denfircibet im 18. Jahrhundert, am
sohtommenfien aus. „Zur Regel meines Glaubens und Lebens“, ſprach
eo, „IM mir Nichts als die Vernunft gegeben.“ „Wo ihr nicht den Ich
gen Bott andens konnen lernen wollt, ald ihn ewere Hexenlaterne, die Bio
bei, faſt durchgehendo heſchreibt, fo werdet ihr ihn nimmermehr kermes
bernen.* Edelmanns Grundanſicht ſtützt ſich auf Verallgemsinerung Des
johannetfhen Logodolehre:· „Der Logos, welcher von Anfang hei Gott war,
MR nicht bloß in Jeſu, fontern in allen Menſchen Fleiſch geworden *1).
Eine vollflännig abgerundete, son der Theologie ganz unabhängige
Weltanſchauung tritt um& nad. Spinvza's Shſtem ſofom in dein Leibnitz ſchen
entgegen. Gottfried Wilhrim Leibnitz. (geb. 1646) ging in feiner Mona⸗
denlehre war ebenfulld, wie Syinoza, vom Begriffe der Subſtanz aus, de⸗
finirte jedoch denſelben ganz anders. Die Subſtauz iſt nach Leibnitz thätige
Kraft, welche nach allen Seiten hin abſtoßend wirft, daher reine Individua⸗
litaͤt Monade. Er dachte fich eine unendliche Vielheit von Monaden, weil
das Sein einer Anbinidualität dad Sein unendlich vieler anterer Indivi⸗
Iuaßteten vorausfege, und bie Monade ſelbſt als. unendlich Kleines, ale
Put. Die Gottheit iſt ebenfalls Momabe, aber diejenige, deren ſchöpfe⸗
riſcher Wille alle übrigen Monaden durch Ausſtralung (.Efulguratien“)
1). Da haben, wir alio ſchon den „idealen Chriſtus“ des David Friedrich Strauß
Nichts Neues unter der Sonne! Reichlichſtes Material zur Kenniniß und Beurtheilung
Dippels und feiner Nachfolger liefert dir „Bibliochek der deutſchen Auſrer des 18.
Jahrhunderts“ von Martin v. Geiſmar.
37
ſchafft. Je nachdem eine Monade der göttlichen Vollklommenheit in höherem
oder geringerem Grabe theilhaft iſt, beſitzt fie eine hellere oder truͤbere Vor⸗
ſtellung vom ganzen Univerſum, iſt fie ein hellerer oder trüberer Spiegel
beffelßen.. obwohl fie gegen alle übrigen Monaden vollfommen abgeichkoffen
bleibt. Da alle Veränderungen in einer einzelnen Monabe von Gott aus⸗
gehen, jo muß ſich das ganze Unizerfum darnadı richten, daher 3. B. jeder
Beränkerung in der: menſchlichen Seelenmouade eine ähnliche Veränderung
in den Monaden des Körpers entiprechen. Darin befteht die von Leibnig
jo genannte präflabilirte Garmonie. Der legte Zwed der Weltfchöpfung
ift Die Errichtung eined Gottesreiches. Diefen zu erreichen, flimmt Die Has«
monie bed Nasurreiched mit der Harmonie der moralifhen Welt zufammen
zu einer höchſten Harmonie, Eraft welcher das Gute ſtets belohnt, das Böſe
ſteis beftraft wird. Da nun die ganze Welrharmonie im Dienfte des Guten
ſteht, fo ift die vorhandene Welt die befle, bie gefchaffen werben konnte
(Optimismus). Von den angeborenen Ideen lehrt Leibnitz, fie ſeien nur
ber Anlage nah in der Seele enthalten. Die Seele tft als Subftanz
unfterblih. Das Böfe läßt Gott nur zu, weil ohne daſſelbe weber fltt-
liche Freiheit noch Tugend eriftiren Eönnen. Es tft nichts Neales, ſondern
geht aus den obenerwähnten größern oder geringern Unvollkommenheiten
der Monaben hervor und kann demnach die Weltharmenie nicht flören. —
Ehriftian Wolf (geb. 1679) bat viele Gedanfen von Leibnig in fein Syſtem
aufgenommen, die Monabologie jedoch bedeutend abgeändert. Gr umfaßte
alle Wiffenfchaften zu einem Syſtem der Philoſophie, welches er in einzelne
Disziplinen zergliederte. Die Haupttheile feines Wiflenfchafteniofems find
die theoretifche und die praftiiche Philaſophie. Zur erſtern gehört bie
„notüriche Theologie *, ald deren Stifter Wolf befonders großen Einfluß
erlangt bat. Da er bie Philofophie befkimmte als die „Wiflenichaft tes
Möglichen“, d. h. Defien, was feinen Widerſpruch enthält, ſo fuchte er die
Theologie weſentlich auf diejenigen Lehsen des Chriſtenthums zu beſchränken,
welche einander nicht widerfpzechen. Die Wolflaner, unter denen Bilfinger,
Baumeifter, Baumgarten und Meier zu nennen find, fuchten die Vhiloſophit
ihres Meifters in den einzelnen Disziplinen auszubauen. Die Theologen
von Wolffcher Richtung behaupteten die Nothwendigfeit des philofophifchen
Beweifes für die Kehren der Grifflichen Meflgton.
Un die populär gewordene Wolf'ſche Philoſophie ſchließt Eh Sie
beutiche Yaurflärung, Freiheit von. jehem Autoxitätszwange in religlöſen
20*
308
und wifienfhaftlihen Dingen war ihre Loſung, die Glückſeligkeit des Indi⸗
viduums der Zweck ihrer Forſchungen und Beftrebungen. Daher ward bie
Unfterblichkeitöfrage beſonders lebhaft beſprochen (Moſes Mendelsſohn),
das Chriſtenthum als Gluͤckſeligkeitslehre dargeſtellt (Steinbart), das Moral⸗
lehren in der Philoſophie (Garve, Engel) und auf der Kanzel Mode 2), über
das hiſtoriſche Chriſtenthum aber ein merfwürbiger Wirrwarr von Meinun⸗
gen Toßgelafien. So ftellte Reimarus (1694 — 1765), Verfaſſer der
„Wolfenbüttler Fragmente“, das Unternehmen Jeſu als einen verfehlten
Empörungsverfuch dar, welcher dann durch eine vorgebliche Auferftehung zu
Ehren gefommen ſei. Wünfch Hielt Iefus für einen redlichen Schwärmer,
der ein Opfer feiner Täufchung geworden, Venturini übte feine Phantafle
in der „natürlichen Befchichte ded großen Propheten von Nazareth". Die
Sittenlehre des Chriſtenthums Hat Mauvillon (1787) angegriffen. Der
Philoſoph Eberhart flellte Sokrates und Ehriftus auf eine Linie. Bahrbt
endlich wollte das Chriſtenthum wieder bei den PHilofophen „zu Ehren
Gringen* dadurch, daß er in feinen Briefen über die Bibel Alles, was ind
Gebiet des Wunderbaren flteifte, befeltigte. — Ueber biefe werfeltägigen
Aufklärer erhob fi das auffläreriiche Genie eines Leſſing, wie ſich der
Thurm einer gotbifchen Kathedrale über an feinem Fuße Elebenden Trödel»
buden erhebt. Leffing war auf allen Bebieten feiner umfaffenden wiffen-
ſchaftlichen Thätigkeit derfelbe Eenntnißreiche, Elare, maßvolle und humane
Mann. Die Krone feiner theologifchen Autorſchaft bilden jene unvergleich⸗
lichen, bie befte deutſche Profa enthaltenden, durch die Herausgabe der
Molfenbüttler Bragmente (1774) veranlaßten Streitfchriften gegen den
Hamburger Hauptpaſtor Götze. Er machte darin geltend, daß das Chriften-
thum äfter ſei, als das erft innerhalb der Kirche entflandene neue Teftament,
welches er als einen bloßen Bauriß des chriſtlichen Glaubens bezeichnet. Er
tadelte das einfeitige Feſthalten der Broteftanten an dem gefchriebenen Wort,
wodurd der lebendige Geiſt der Kirche zu fehr In den Hintergrund gedrängt
worden ſei. ine abgerundete theologifche Anficht Hat Leffing übrigens
bekanntlich nicht aufgeftellt. Zu feinen Grundgedanken gehört, daß er die
2) Rifolai, der Typus der Aufklärung in der Bluͤthe ihres utilitarifgen Proſais⸗
mus, zeichnet in feinem „Sebaltus Nothanfer“ folgendes Ideal eines Pretigers: „Er
(diefer Brediger) war beftändig befliffen,, feinen Bauern zu predigen, daß fle früh auf:
fließen, ihr Dich fleißig warten, ihren Acker und Garten aufs Beite bearbeiten follten. *
309
Dffenbarung nicht als eine fett beftimmter Zeit abgeichlofiene, fondern als
fortwährende, flufenweife Erziehung des Menfchengeihledhts durch Gottes
Geiſt betrachtete. Leſſing ift für Deutſchland und die Welt der eigentliche Vor⸗
läufer und Wegbahner einer tieferen und ideelleren Geiſtesrichtung geweien.
12.
Bon Locke's Senjualismus ging Eondillacs (geb. 1715) Syſtem aus,
welches weſentlich in dem Verſuche beftand, die ganze geiftige Thätigkeit bes
Menſchen als eine flufenweile Entwiclung ter finnlihen Empfindung dar-
zuftellen. Er nannte den Menſchen das vollfommenfte Thier, jedoch ohne
die Materialität der Seele zu behaupten oder das Dafein Gottes zu Täugnen.
Charles de Bonnet (geb. 1720) leitete durch die Behauptung, alle menſch⸗
liche Seelenthätigfeit jei bloße Bolge der Nervenbewegung, den Senfualis-
mus zum Materialismus hinüber. Die moralifhen Confequenzen des Ma⸗
terialismus zog Helvetius (geb. 1715), indem er auch den fittlichen Willen
der finnlihen Empfindung unterwarf und die Selbftliebe zum Brinzip
aller Moral erhob. Den Materialidömus vollendete La Mettrie (geb.
1709). Die Seele, behauptete er — die Seele iſt der denkende Theil des
Körpers, das Gehirn. Mit dem Tod ift die Voſſe ausgefpielt. Der Glaube
an Gott hat keinen vernünftigen Grund ; nur durch den Atheismus Tann bie
Welt wieder glüdlih werden. Die von Diderot und d'Alembert heraus⸗
gegebene philofophifche Encyklopädie wandte die Weltanichauung auf alle
Berhältndffe des Lebens an, freilich mit jener Delicatefie, ohne welche man
den Sranzofen Nichts plaufibel machen kann. Dem Allem fügte der durch
Mevifton tes Calas'ſchen Prozefied zuerft berühmt gewordene Voltaire
(1694— 1778) feinen beißenden Spott, feinen von Esprit funfelnden Wig
über die dogmatifchen Lehren des Chriſtenthums, über die Perſönlichkeiten
und Wunder der Bibel bei, fo daß jene Revolution, in deren Verlauf das
Chriſtenthum abgeichafft wurde, in der öffentlichen Meinung Frankreichs bie
kraͤftigſten Keime anfegte 1). Die Deutfchen, bei deren höhern Ständen
— — eier ——
1) Voltaire's Haß gegen das kirchliche Chriſtenthum ſteigerte ſich bekanntlich zu
dem Wuthwort: ‚‚Ecrasez !’infame!‘* Der Diderot'ſche Bere:
Et des boyaux du dernier pretre
Serrer le cou du dernier roi —
führte diefes Thema weiter aus, weldyes aus der Theorie in die Praxis zu überiegen,
die franzöfifche Revolution alles Ernftes verfucht hat. Wie Jedermann weiß, war übris
310
fett Ludwig XIV. franzöftiches Wefen für guten Xon galt, nahmen den Bot⸗
tairismus mit Vergnügen auf, und während Friedrich der Große in diefer
Binſicht ziemlich Flein war, meinten die übrigen deutſchen Nachahmer da⸗
durch groß zu fein. Die Voltaire'fche Weife, Über Das Religiöſe zu ſprechen,
hatte übrigens ſchon vor ihm der Englänter Bolingbrofe angeftimmt, nur
bat Voltaire ernfllicher auf den Glauben an Gott und Linfterblichkeit gehal-
ten, als jener Philoſoph der Blaftrtbeit, welcher die Kirche nur als Staats⸗
inftitut, vie hriftliche Meligion nur als Zaum und Zügel des ungebilbeten
Poͤbels gelten ließ.
Der aufrichtigſte und genialſte aller franzöſtſchen Philoſophen diefe®
Zeitalters iſt Iran Jacques Rouſſeau (geb. 1712). Ungeachtet feiner
großen @infeitigfeit in Würdigung der menſchlichen Gultur und in ten
Brundfägen der Erziehung, iſt er nicht nur ein wahrer Apoſtel Des anges
borenen Menſchenrechtes geworden, fordern fein Idealismus hat audy zugleich
ein wohlthätiged Gegengewicht gegen Den Alles blafirenden Matertaliömuß
gebildet. Als ein Mann von Gerz, dem bie Religion und das Denken zus
gleich Sache des Herzend waren, hat er bie ernften Angelegenheiten ver
Menſchheit ftets mit einer Würde beiprochen, vor welcher Voltaire und die
Materialiften beihämt flehen mußten. ®ott, fittliche Freiheit und Unfterb-
lichkeit der Seele Hält ex feſt, betrachtet Das Leiden und Sterben Chriſti tt
tiefer Verehrung, und betreffend die unbegreiflichen Stellen des Evangeliums
räth er jene Befheidenheit an, weiche hienieden auf völlige Gewißheit ver⸗
zichtet, in der Hoffnung, jenfeitd zum Schauen zu gelangen. Freilich nimmt
er bei Alledem ten übrigen Reltgionen gegenüber eine ähnfidye Stellung ein,
wie Leffing in feinem Nathan: Alle Religionen find tem Bildungsltende
jedes Volkes angemeſſene Heilsanſtalten. Jeder foll nad feiner Religion
leben. Damit übereinſtimmend ließ auch ber alte große Fritz, Jeden nach
feiner Facon felig werten *.
13.
Die Borläufer der Tranfcendentalphilofophie, an welche der Begründer
ber legteren, Kant, unmittelbar anfnüpfte, waren der Schotte Hume (geb.
1711), welcher dad Ich, die Seele, für eine Einbildung erflärte, und der
gens der Spötter Voltaire auch zugleich Prophet. In feinem befannten Briefe an
Ehauvelin (dat. vom 2. April 1764) hat er die Revolution des Beflimmteflen vor:
hergefagt. Ich komme im folgenden Kapitel auf Boltaire zuruͤck.
Year Berkelch (geb. 1088), wilder bloß vonfektden Weſen wirkliche Eriſten;
yeidwicb, abe koͤrperlichen Dinge dagegen flir weimeinfe, durch Bstt gewitkie
Bestellungen hielt. Inmanuel Rant (geb. 4724 zu Königsberg) legte fein
vrhiloſovhiſches Syſtem nieder in einer Meihr von Merken, als even widhtigfie
he „Mritif ber reinen Veruunft“ amd vie „ Kritik der vaaltiſchen Bernanft *
gu betrachten find. Wie wir aus feinen „Vreiegomena* jehen, if Kent
vornaͤmlich durch Die Unterjudumg Hume's über den Wegriff. von Urſache
und Wirkung zu feiner „Kritik des Erkenntnißvermögens“, Deren Reſultat
et Ten „Teanicendentaden Idealiemus“ nennt, geführt worden. Der Gtund⸗
gedanfe feines Syſtems beftche Darin, daß wir in uns sinerfeitd Dentformen
vorfinden, welche nicht ans ber Erfahrung hersorgehen, dieſelbe vielmehr
Überfleigen (daher Die Bezeichnung „tranfcenbental‘*), daß wir aber anderem
fine Die reale Griſtenz einer Außenwelt auzunehmen Durch die Grfahrung
gezwangen werden, jedoch nicht im Stande And, deren Brfßandtheile, die
Dinge an ſich, im ihrer Weſenheit zu erfermen. Zu Den ſubjertiven Denb
formen gehört unter andern auch das Verhältniß von Urſache und Wirkung,
Da jede Erfenntnig aus Erfahrungsſtoff und Darauf angewenbeter Denke
form beſteht, fo gibt es feine aus bloßem Denfen gewonnene Erfenntniß und
jo gehört indbejondere die Erfenntniß des Ueberſinnlichen ind Gebiet der
Unmoͤglichkeit. Was von der zeimen Beruunft ansgefchlofen werben muß,
das Ueberſinnliche, finder aber feine Heimat im Gebiet ver praftifchen Men
wanft, welcher wicht die Erbenntuiß, fondern ber Wille, die erfahrungagemäß
vergefundene firtliche Freiheit, angehört. Die Uwtesjschmeg über Die Rich⸗
eng, welche ver Wille annehmen foll, führt zumäft anf den „ latrgorkſchen
Inperatio*, d. h. Die innere Nöthigung zum Guten, ſodann auf bad höchſte
Bat als Birk bed Willrns. Das hürhſte But, beſtehend in ber mit höchſter
Glückſeliakeit verbumtenen höchſten Tugend, erfordert ga feiner Realiſirung
einerfeks vie Unfterblichkeit der Geele, andeverfrits das Dafrin Gottes, ala
des Urcheberd der natürlihften und fittlichen Weit, als deu whetften Intellis
genz, welche unfern ſittlichen Baftand fenut ımd uud darnach vergilt-
Was Kants übrige religisie Grundſähe angeht, je hut er dieſelden im
einem beſondern Werke: „Die Religion innerhalb der Granzen ber zeinen
Beraunft” — zufammengefaßt. «Gier ‚gründet er die Religion dutchweg
auf vie Moral, erklaͤrt den hiſtvriſchen Schalt der Schrift Für gleichgültig,
den mornlifchen für die Hauptſache und flellt ald das Weſen aller religiöſen
Entwicklung ven allmäligen Uebergung vom Kirdenglauben zum WBernunfle
818
glauben hin. — Unter. den Anhängern bes Kantiſchen Kriticismus, welder
das Syſtem weiter ausbauten, haben fih Reinhold, Fries und Rrug am
meiften audgezeichnet.. Der Kantianismus bildete ſich aber auch eine ſtarke
Partei unter den Theologen. Der Rationalismus Der. Wolfichen Theologen,
mit dem der Kantianer vereinigt, trat nun erft recht in entſchiedenen Gegea⸗
fag zum Supranaturaliömus und jo flanden ſich damald zwei große Theo⸗
logenparteien gegenüber: die rationaliftifche, welche alles nicht Ra⸗
tionale ausſchied, mit .einjeitig moralifirenter, und die fupranaturali«-
ſtiſche, welche das biftorifche Chriſtenthum als übernatürliche Offenbarung
fefthielt, mit einfeitig dogmatifirender Richtung. Den Rationaliömud ver»
traten als Dogmatifer Wegicheider und Brerjchneider, Röhr mehr ale
Sournalift. — Den auf Bernunft und Willen gerichteten Prinzipien Kants
gegenüber juchte Jakobi (geb. 1743) auch das Gefühl wieder in feine Rechte
einzufegen. Er behauptete die Möglichkeit einer Erkenntniß bed Ueber⸗
finnlihen und fuchte diefelbe zu erweiſen durch Annahme der auf Nöthigung
des Gefühle berupenden „VBernunftanfchauung *, welche freilich im Grunde
als ein ganz Unbeſtimmbares ericheint,
14.
Der tranfcendentale Idealismus Kants entwickelte ſich zunächſt ein⸗
ſeitig zum ſubjeetiren Idealismus des älteren Fichte (geb. 1762), welcher
einfach darin beſteht, daß Fichte nur das Ich als real annimmt, die ganze
Außenwelt hingegen zum weſenloſen Product des vorſtellenden Ich verflüchtigt.
Das Cogito, ergo sum des Carteſius verwandelte er in den Satz: „Ich bin Ic
und fege mich felbft *. Das unbekimmbare , Ding an fi *, welches Kant noch
hatte ſtehen laſſen, warf er weg und faßte das Ich als fich felbft und alle Bilder
der Außendinge, legtere in Form des Nicht⸗Ich, unaufhörlich erzeugend, als
bad abjolute Werden, welches zugleich menfchliched Subject ift. Fichte bat dies
unhaltbare Syſtem nachmals aufgegeben und in einen dem Schelling’ichen
ähnlichen objectiven Idealismus umgewandelt. Schellingd Naturphilofophie
war ihm aber hierin bereitd zuvorgefommen. Hatte Fichte das Ich zum abfo-
Inten Werden gemacht, fo faßte Schelling ſeinerſeits das abfolute Werden als
das Ih im unendlichen Sinne, d. h. ald das Weltih, welches in der Ratur
als unbewußte Vernunft wirft, beiden Organismen zum Bewußtfein übergeht
und im Menfden zum Selbfibemußtjein gelangt, Scellings Bhilofophie
iſt zunaͤchſt Naturphilofephie. Die ſchiefe Richtung, welche er der Natur⸗
313
wiſſenſchaft gegeben hat und weiche ‚auch das Genie feine® Schülers Olen
micht zu rechtfertigen vermadhte, ſpricht fich beutli in. den Gägen aus:
„Ueber tie Natur philefophiren, Heißt fo viel als bie Natur fhaffen *.
„Die Darfiellung der Identität: der Natur mit der Ideenwelt iſt durch bie
Naturphiloſophie zu leiſten“. Diefen Grundfag der Identität zwiſchen
Sein und Denken, weldem bie Schelling’fche Philofophie au den Namen
der Identitaͤtsphiloſophie verdanft, finden wir in. Schellingd Syſtem überall
durchgeführt. In der Identität des Geiſtigen und Körperlichen beſteht im
das Abſolute (Bott). Die.Ipentität des Seins und Vorſtellens, wo das
Angeihaute zugleich das Anfchauende ift, macht das felbftbewußte Id aus.
Die Weiterentwidlung ded Syſtems, wo das Abfolute bereitd als abjolute
Bernunft (Identität des -Objectiven und Subfectiven) gefaßt wird, ift auf
die Hinneigung Schelling® zu Spinoza zurüdzuführen. Zur Theoſophie
endlich geftaltete fih feine Weltanfhauung durch dad Studium der My
flifer , beionderd Jakob Böhmes. Nun ericheint ihm das Böſe als der
menichliche Eigenwille, auf deflen Kampf mit dem göttlichen Univerſal⸗
willen die Gefchichte beruht, Chriſtus als dad menſchgewordene Prinzip der
Liebe, welches den Willen. des Menſchen mit dem Willen Gottes verjöhnt,
das Ziel aller menſchheitlichen Entwicklung als die vollendete Herrſchaft des
Univerfalwillend, wo. Gott Alles in Allen fein wird.
Der Umſchwung, welcher durch Schelling in der Philojophie eintrat,
hatte in der Theologie ſchon mir Herder (geb. 1744) begonnen, ein Ein⸗
kehren ver Geiſter in die Tiefe, ein Stihabwenden vom Sfepticidmud und
oberflichlicher Verftändigfeit sugleih. Herder hat durch feine rein menſch⸗
liche, Den @eift alter Zeiten durchdringende Auffaflung die Bibel wieder zu
höherem Anichen gebracht, die Verwechfelung theologifcher Tehrmeinungen
mit der Religion ſelbſt zu befeitigen geſucht, bie Religion zur Sache des
Gemüths, des innerften Bewußtfeind gemacht. Feſthaltend an dem hiſtori⸗
ſchen Chriſtus, hob er an ihm mit Vorliebe das Menſchliche hervor und
ſtellte das Goöttliche des Gottesſohnes gern in Geſtalt des menihlich Edlen
und Liebenswürdigen dar. - Ein theologiſches Syſtem hat Herder jedoch fo
wenig entworfen als Leſſing. Dieje beiden großen Männer konnten fih an
dem Ruhm genügen laffen, den Humanismus des 18. Jahrhunderts am
edelften wiflenfchaftlih zur Geltung gebradht zu haben. — Die Leffing-
Gerder'ſche Richtung in der Theologie ſehte mit großem Erfolg Schleier
macher (geb. 1768) fort. In freier Benugung Schelling'ſcher Brundfäge
814
machte er den Gedanken Ber Immanenz Sortes (das Imemchnen des göte-
Uchen Weſens im der Weit) theslogüſch wirkſann und frgte Die Religion im
tie Beſinnachelt des Gefühle, alle Wegehenheitn ale Haublungen Gottes
vorgufteflen und Gott als lebendige Binheit Des AUs, fi sei aber won
Alm gänzlich mbhängig zu übten. Was ihm um der Kircenlehre utıht Halte
Gar ſchien, gab er kuͤhnlich auf, hielt Dagegen ale Grandiage des Chriſten⸗
ubams den hiftoriſchen Chriſtus ſeſt, wie er einſt geiebt habe, jegt noch
verſoulich fortlebe und geiſtig einwirke anf die Kirche. Chriſtliche Religiv⸗
Maät it ibm, mit Chriſtus In Geiſtes⸗ und Herzendgemeiwichuft zu treten
as in ihm zu loben.
15.
Unter allen philoſophiſchen Syſtenen Kat wohl das KHegel’fche den
tefften und umfaifendfien Einflug auf die Entwidlung ber religtöſen
Sven fih zu werichaffen gewußt. — Hegel (geb. 1770) begreift als Ba6
Abſolute nicht mehr das Ich oder das Werden uber die Vernunft, ſondern
Die Idee, welche in unmittelbarer Exifbenz der Lebendprozeß, in ihrer Diüffe
song gedacht, das Wahre und Sute ik. Dieſes ganze Leben des Univerfwnd
beſteht in der Selbſtentwicklung ver abſoluten Idee. Indem bie Idee fich
ihrer ſelbſt entäußert, iſt fie die Natur. In des Natur entwidelt fie ſich
ſtafenweiſe 618 zum Menichen empor, in welchem fie zum freien, vernünftigen
Sch wird und ebenfalls frufenweiſe ihre Selbftbefreiung zum ſelbſtbewußten, fltt«
lichen Geiſte vollbringt. Die Selbſentwicklung ber Idee innerhalb der Natur
bat die Naturphiloſophie, die Selbſtentwicklung ber Idee tm Menfchen Hat
Die Geiſtesphiloſophie darzuſtellen. — In Recht und Staat erfheint bie
abſelute Idee ald der objeetive Geiſt. Im Staate iſt die Geſammtheit ber
Dwoect, der Einzelue dad Mittel, der Staat daher, indem er die Handlungen
wer Einzeinen beauffichtigt und leitet, ber ſtitliche Geiſt. Inſofern ericheint
Die Weltgeſchichte (die Geichichte der Staaten in ihrer Wechſelwirkung) als
der Entwicklungsprozeß des ſtitlichen Geiles: „Die Weltgeſchichte iſt ons
Betgeriht*. — Zum abſoluten Geiſte wird die Idee in Kunſt und Reli⸗
gion, durch jene koinmt fbe zur Anſchauung, durch biefe zur Vorſtellung. Des
Veſtimmung gemäß, dafı das Beten aller Biligkon in der Berfögnung bes
Endlichen mit dem Unendlichen, des Menſchen mit Gott, befieht, unterſchei⸗
der Hegel drei Staufen der Religeon: Die Matmreligion, im welcher Gott
noch weientitch als Naturmacht erſcheint; die Keligion ber gelftigen Indisi⸗
315
dualitaͤt, in welcher die Sottheit entweder als Eine ober als mehrere geiftige
Individunalitaͤten erfägeint (Juden einerſeits, Romer und GSriechen anderer
ſeits); die abſolute Religbon, dad Chriſtenthum, welche die Werfähuumg
gwiſchen Bott und Menſch vollzieht, indem fle das Göusfiche und Menſchliche
in dem Gottnenfchen Ehrifius vereinigt und Bott offenbart ald den ficdh
ſelbſt Entaͤußernden (Bater), als den aus feiner Allgemeinheit und Unend⸗
Achkeit in die Beflimmung Der Endlichkeit Herausgetretenen (Sohn) und
48 den auß diefer Entäußerung zu ſich Zurückkehrenden Cheil. Geil). Se
RR benn die Dreieinigfeit nur die abfolnte Idee In Form des Vorſtelleus.
Daher die Hegel’ihe Oruntanfiht: Man fege an die Stelle ber Vorftellung
den reinen Begriff, jo erfennt man dad Chriftenthum und die abfolute Phi⸗
Tofophie ald Ein umd Daſſelbe. |
Unter Hegeld zahlreihen Anhängern und Schülern haben, während
Herbart leibnigifche und Eantifche Prinzipien eigenthbümlich weiter bildete,
Daub uud Rofenfrang befonderd Dad Gebiet der Pipchologie, Band die
Mehtsphilofophie, Henning die Logik, Hotho, Bifkher und Ruge die Aeſthe⸗
it, Michelet Die Moral umd Geſchichte ver Vhlloſophie, Strauß, Fenerbach
und Marheinecke die Meligionsphilofophle bearbeitet. Die Schule hat ſich
aber in eine rechte und linke Seite getheilt. Die Hegelianer der Linken,
auch Jungbegelianer genannt, find jelbfiftandig über Hegel hinausgegaugen.
Beſonders Strauß, Beuerbah und Ruge. Dieſer vornebmlid ale Hand»
huber einer glänzenden Kritik, deren Organ die „Halliſchen“, nachmalb
„Deutſchen“ Jahrbücher waren und welche vom theologiſchen, philoſophi⸗
ſchen und literariſchen Gebiet allmälig ſehr einflußreich auf das politiſche
und ſoziale hinübergriff, bis alle bisherigen religiöſen, philoſophiſchen,
(dievamiichen , volitijchen und ſoezialen Standpunkte glüdlid „überwunden ®
wıren, d. b. auf Dem Papier. Aus feiner Meligionsphiloiophte zu
fchließen, hatte Hegel (das behaupten auch die Hegelianer der redhten Seite)
an der hiſtoxiſch wirklichen Erſcheinung Chrifti feftgehalten. Strauß dagegen
het die Perſon Chrifti ald eine nie dageweiene, fondern als eine nur my⸗
chiſch entflandene dargeſtellt. Chriſtus tft ihm Die bloße Idee der Gottinenſch⸗
lichkeit im Gewand des religiöſen Mythus und, von dieſem Gewand ent⸗
kleidet, niemand Anderes als die mit dem Abſoluten ſich Eins wiſſende
Menſchheit. Es war der Evangelienkritik der Tübinger Schule (Chr. Baur,
Schwegler, Zeller) vorbehalten, einen hiſtoriſch wie llicen Jeſus wieder an
die Stelle dieſes idealen zu fegen.
316
Zubwig Feuerbach endlich hat ſich gänzlich von aller biäherigen, au
von der Hegel'ſchen Philoſophie loßgefagt. Er wollte eine neue Philoſophie,
Die „Bhilofophie des Menfchen *, gründen , deren höchſtes Brinzip die Ein⸗
beit des Menfchen mit dem Menſchen ſei. Die Philoſophie tritt fortan im
die Stelle der Religion; denn in dieſer „verhält ſich der Menſch zu Bott
nur als zu dem Andern feiner ſelbſt“, ein Standpunkt, der aufgegeben wer⸗
den muß. „Einſamkeit it Endlichkeit und Befchränftheit, Gemeinſchaftlich⸗
Seit ift Kreiheit und Unendlichkeit. Der Menſch für ſich iſt Menſch im ge⸗
wöhnlidhen Sinn, der Menſch mit dem Menſchen — die Einheit son 34
und Du — if Bott“ 1).
1) Feuerbach iR von den chrenhaften feiner Gegner als ein durchaus ernfler und
reblicher Denker anerkannt worden. In der That kann Nichts verfehrter fein, ale
diefem Manne Frivolität vorzuwerfen. So, wie Feuerbach thut, fpricht und ſchreibt
nur eine innige, mannhafte, muter tiefen Schmerzen errungene Ueberzeugung. Was
es eine urfprünglich wei, ſanft und gläubig angelegte Natur, wie Feuerbach if,
loſtet, um zu einem foldyen Refultate zu gelangen, davon haben freilich weder die Kris
volen noch die Fanatiker eine Ahnung. Unter aflen Umfänden lohnt es ſich der
Mühe, daß man eine ſolche Ericheinung beachte. Feuerbach fagt: „Das Geheimniß
der Lehre von Bott ift die Lehre vom Menfchen“. Hiervon ausgehend hat er das Ergeb⸗
niß feiner Sebanfenarbeit in feinen „DBorlefungen über das Weſen der Religien”
(Sämmtl. Berfe, Bd. 8, S. 21 fig.) in diefen Sägen bündig zufammengefaßt: —
„Die Theologie if Anthropologie‘, d. h. in dem Begenflande der Religion,
ben wir griechiich Theos, deutich Bott nennen, fpricht ſich nichts Andres aus als das
Weſen des Menſchen, oder: der Gott der Menfchen if nichts Andres als das vergötterte
Weſen des Menfchen, folglich die Religions: oder was eins ift, Gottesgefchichte — denn
fo verfchieten die Religionen , fo verfchieden find die Goͤtter, und die Religionen fo
verfchieden, als die Menfchen verfchieden find — nichts Andres, als tie Befchichte der
Menſchen. So gut, um ſogleich diefe Behauptung an einem Beifpiel, das aber mehr
als ein Beifpiel ift, zu erläutern und veranſchaulichen, der griechifche,, römifche, übers
haupt heitnifche Bott, wie felbR unsre Theologen und Philoſophen zugeben, nur ein
Gegenſtand der heidnifchen Religion , ein Weſen ift, welches nur im Glauben und in
der Vorſtellung eines Heiden, aber nicht eines chriftlichen Volkes oder Menſchen Eris
flenz Bat, folglich nur ein Ausdruck, ein Bild des heibnifchen Geiſtes und Weſens if;
fo gut iſt auch der chriſtliche Bott nur ein Gegenftand der chriſtlichen Religion, folglich
auch nur ein harafteriftifcher Ausdruck des chriſtlichen Menichen-Geifles und Welens:
Der Unterſchied zwifchen dem Heidnifchen Gott und dem chrütlichen Gott oder Volke.
Der Heide ift Patriot, der Chriſt Koemopolit, folglich ift auch der Gott der Heiden
ein patriotifcher, Der Gott der Chriften dagegen ein fosmopolitifcher Gott, d. h. ter
Heide hatte einen nationalen , befchränften Gott, weil der Heide ſich nicht tiber die
Schranke feiner Rationalität erhob, die Ration ihm über den Minfchen ging; der
47T
Nachdem der idealiftiſche Pantheiomus der Hegel'ſchen Schule Die per⸗
fönliche Unſterblichkeit neuerdings in Frage geftellt, nachdem Marheinecke
Chriſt aber hat einen univerfellen, allgemeinen, bie ganze Welt umfaflenden Gott,
weil er ſelbſt fich über die Schranfe der Nationalität erhebt, die Würde und das Weſen
des Menfchen nicht auf eine beftimmte Nation einfchränkt. Der Unterfchied zwifchen
dem Polytheismus unt Monotheismus iſt nur der Unterfchied zwifchen den Arten und
der Sattung. Der Arten find viele, aber die Gaitung ift nur Eines, denn fie iſt es
$o, worin die verſchiedenen Arten übereinfiimmen. Go gibt es verfchiedene Menſchen⸗
arten, Raflen, Stämme oder wie man es fonft nennen will, aber fie gehören doch alle zu
einer Gattung, zur Menfchengattung. Der Polytheismus ift nur da zu Haufe, wo
fih der Menfch nicht über den Artsbegriff des Menfchen erhebt, wo er nur ten Men⸗
ſchen feiner Art als feines Gleichen, als gleichberechtigtes, gleichbefähigtes Weſen ans
erfennt. In dem Begriff der Art liegt aber die Vielheit, folglich gibt es ba viele
Götter, wo der Menſch das Weſen der Art zum abfoluten Wefen macht. Zum Mono⸗
theismus erhebt fi aber da der Menſch, wo er fich zum Begriff der Gattung erhebt,
worin alle Menfchen übereinfimmen , worin ihre Art⸗, ihre Stammes», ihre Natios
nal-Unterjchiede verfchwinden. Der Unterfchied zwiichen dem Ginen, oder was eins
ift, allgemeinen Gott der Monotheiften und den vielen, oder was eins iſt, befonderen
Rational-Bdttern der Heiden oder Polytheiſten iſt nur der Unterfchied zwifchen den
vielen verichiedenen Menfchen und zwifchen dem Menfchen oder der. Gattung, worin
Alle eins find. Die Sichtbarkeit, Handgreiflichkeit, kurz Sinnfälligfeit der polytheiftis
fchen Götter ift nichts Andres als die Sinnfälligfeit der menfchlichen Art: und Natio⸗
nalunterfchiede,, der Grieche 3.3. unterfcheidet fich ja fihtlih, hHantgreiflich von andes
ren Bölfern — die Unftchtbarfeit , Unfinnlichkeit der monotheiſtiſchen Götter iſt nichts
Anderes als die Unfinnlichkeit, Unfichtbarkeit der Gattung, worin alle Menſchen über:
einftimmen, die aber nicht als folche ſinnlich, handgreiflich exiſtirt; denn es exiſtiren ja
nur die Arten. Kurz der Unterfchied zwifchen dem Polytheismus und Monotheismus
reducirt fi) auf den Unterfchied zwifchen Art und Gattung. Die Gattung ift allers
dings unterfchieben von der Art, denn in ihr laſſen wir ja eben die Unterichiede weg;
aber deßwegen ift die Gattung nicht ein eignes, felbfiftändiges Weſen; denn fle ift ja
nur das Gemeinfame der Arten. So wenig der Battungsbegriff des Steine ein fo zu
fagen übermineralogifcher Begriff iR, ein Begriff, der über das Bebiet tes Steinreiche
Binausgeht, ob er gleich verichieden ift von dem Begriff des Riefels, des Kalks, des
Flußſpaths, ja gar keinen beſtimmten Stein ausfchließlich bezeichnet, eben weil er alle
befaßt; eben fo wenig fällt auch der Gott überhaupt, der eine und allgemeine Gott,
von dem alle die körperlichen, finnlichen Bigenfchaften der vielen Goͤtter abgeftreift
find, außer das Weſen der menſchlichen Gattung; er if vielmehr nur der vergegens
flänplichte und perfonificirte Gattungsbegriff ter Menſchheit. Oder deutlicher ausge⸗
druͤckt: find die polytheiſtiſchen Goͤtter menfchliche Weſen, fo iſt auch der monothei⸗
ſtiſche Gott ein menſchliches Weſen, ſo gut als der Menſch, ob er gleich uͤber die vielen
beſonderen Menſchenarten hinausgeht, uͤber dem Juden, dem Griechen, dem Inder
ſteht, deßwegen doch kein uͤbermenſchliches Weſen iſt. Es if daher nichts thoͤrichter,
bie Berfiellung vom reinem feligen Leben im Ienfeits in die eines feligen
Lehent im Disffeits aufzulöfen und Feuerbach überhaupt aus die Stelle deu
theologiſchen die anthropologiſche Weltanſchauung zu ſezen unternommen
hatte, trat dieſer Speculation der naturwifſenſchaftliche Naterialismus
neueſter Zeit zur Seite, verfochten insbeſondere von Moleſchott, Vogt,
Büchner, bekaͤmpft von anderen Naturforſchern, wie Liebig und Schleiden 2).
Es laͤßt ſich nicht verkennen, daß die materialißiſche Richtung des Beitaltent
ihres philoſophiſchen Ausodrucks bedarft hat, um zu erfahren, wo ſie aus⸗
münden müßte. Im Uebrigen hat der modernfſte Materialismus gerade
Durch feine Verachtung aller ſpeculativen Philoſophie on den Tag gelegt,
daß er. die geiflige Seite des Menfchen zu wenig, kenne oder berüdjichtige
und bie Erledigung der Borfragen, welche zum Aufbau einer Weltan⸗
ſchauung gehört, gänzlich vernadzläfftgt Gabe. Die Geſchichte beginnt besrit®
über ihn wegzufchreiten, wie fie über den ebenfo einfeitigen Idealismus
Berfeley’3 und Fichte's Hinmweggefchritten if.
16.
Die großartigen Vötlerbewegungen ber napoleoniſchen Zeit haben iu
der Theofogte eine Reſtauration zur Folge gehabt. Im der deutſchen Bur⸗
ſchenſchaft erwachte ein begeifterte8 Streben nach volksthümlicher Religiofttät,
weldem ſelbſt des Standpunkt. Schleiermachers nicht niehr genügte. Die
Romantik. der in Amt und Würden getretenen Burichenfchafter gebar die
newe Orthodorte, welche den Wortglanben ber alten mit ber Gemuͤthlichken
dee Pletismus verband und fih dabei der Formen moberner Bildung bes
iente. Einer ihrer älteflen und ehrlichſten Vertreter war Klaus Harms,
zu den neueren gehören Gengftenberg und Leo. Cine beſonders firenge,
ſpezifiſch lutheriſche Partei, welcher ſelbſt Hengſtenberg nicht mehn „gläubig.”
genug iſt, hat ſich ſeit einigen Jahren bemerkbar gemacht. Ste verwirft alle
Kritik der Schrift, alle Philoſophie und haͤngt ſich an die Lutheriſche Lehte
als wenn man den chriſtlichen Bott nom Himmel auf die Erbe kommen läßt, den Ur⸗
fpeung der chriſtlichen Meligion aus ber Offenbarung, eines von. Menſchen unter fi -
denen. Weſena ableitet. Der chriftliche Gott if. eben fo gut in und aus dem Menfchen
entſprungen als der heidniſche. Gin auberer Gom als der heaidniſch⸗ if er nur deß⸗
wegen, weil auch der chriſtlicha Menfdrein anderer if, abs der haidniſche“
2) Das phaloſephiſche und foziale Credo der materialiſtiſchan Schule gibt Boyd
in feiner. Stesitjcyeift „Röhlenglaube und Wigenfhefi“, 1. Aufl, ©. 123-123.
— —— — — — — ——
388
ya völligen Verderbaiß der menſchlichen Mater, nen ber Unhigkeit Art
Versenfi, Dan Goͤuliche zu begreifen. Bei Alledem fehlt es nicht an
Xhenfogen, weiche eine zwiſchen ven Frinemen mermwilitcinte Richtung ein⸗
halten und eine chriftlidwreligiäie. Lebenſsauſchauuug gar wohl mit wiſſen⸗
ſchaftlicher Auffaffung zu vereinigen. willen. Gehen Member, ehwohl er in
ber Miffenfchaft Da& Erbauliche zu ſehr hervorhoh, regat dieſe vermittelnde
Richtung an, Ulmann, Julius Möller, Nitzſch Rothe ſatzten Diejekhe fort,
Tholuck hat wenigftens den alten mechaniſchen Infpiratienäbegriff aufge
geber und eine durch Gott gewirkte.innene Erregung. an beffen Stelle geſetzt.
Die ſchweizerijch⸗reforminte Kirche ſtelli bieten Männern Alexander Schweb⸗
ger. Gagenbach und Schenkel zur Seite. — Mit nit unbebeutenten Go
folge wirft gegemmärtig auch eine, lauge Brit ulht gebührend beachtete phi⸗
loſophiſche Richtung, deren Vertveter, der jüngere Fichte, Weiße, Wirth,
Ulrich, Chalybaͤus und Carriare, die Wiſſenſchaft mit vielen hervorragenden
Asbeiten bereichert haben. Caxuriare begeichnek ihre Eigenthamlichtein fa:
„Nieſe Richtung bekämpft ſemohl den Pantheismus, ald ben Deismud, und
weiſt zugkeich ben Kern: beider zu, bevahren. Ste han die Idee eis ſawohl
unendlichen als ſelbſthewußten, der Welt einwehnenden und fd im eignen
Weſen ala Perſoönlichkeit erſaſſenden Gattes aufgeftellt und entwickalt, fe
ſucht Natur und Geſchicuue in. Seit, Gurt in Natur und Geſchichte zu
begreifen *.
17. |
Nachdem wir der Entwaicklung son Theologie und Philoſophie im deut⸗
ſchen Proteſtantismus lange unausgeſetzt nachgegangen, fordern Ericheinum
gen auf dem kathaliſchen Gebiet unfere Aufmerlſamkeit. — Im 18. Jahr⸗
haudert war fethi: in dem tieforfunfenen Italien wieder eine lkitfländig
seiigiäfe Weltanſchauuug erwacht. Un Giordane Bruno anknüpfend, be
tradyteie Vico das Univerſum als Die Offenbarung der. ewigen Ideen
Gotta: — „Bon Sort, in Geta, zu. Bott And alle Dinge“. Den Begeiff
Bed Mesichen fiehe er nicht im bloßen Iidividuum, nielmehr in bar Gier
ſammtheit bes Menſchen ung deven Schickſalen verwirklicht. Den Bantkeitr
uud Schellings und Gegelß nerpflangen Inter Gioberti auf incliſchan Boden.
o Dası Weſen“, faga er, „.Ichafft: die Criſtenzan, die endliche Walt geht: aus
dem Mnendlkhen harnor, welches fie: durcharingt und erhaälz“. Die Wahr⸗
heiten der Väiteksphie wart. er: auch für Das religiöſe Gebiet gelb.
Derfelsen Richtung huldigte Mamiani, welcher ih kühn genug dahin
audſprach, der Entſcheid der Vernunft fei aller kirchlichen Autorität vorzu⸗
zieben. Gegen das Ghriftenthum erklärt er ſich nicht, fondern will die Leh⸗
ren befielben auslegen im Sinne ter freien Bernunft, der Duldung und
Liebe. Cine Kritik des Bewußtfeins, ähnlich der Kantiſchen, hat Galuzzi
unternommen. Dem religiöfen Nihiliemus ergab ſich Bonavino, die Unter⸗
ordnung der Vernunft unter die Autorität des katholiſchen Glaubens ver-
fündigte Ventura.
Die politiiche Reftauration in Frankreich rief auch die religtöfe hervor.
Letztere begann aber noch unter der Herrfhaft Napoleons und hatte ſich
fogar fchon unter der Schreddenäherrfchaft vorberetiet. Den Anfang machte
die katholiſche Myſtik St. Martins, deren Geiſtes⸗ und Gemüthötiefe Viele
wieder für das Ehriftentbum gewonnen haben mag. An ihn fchlofien fi
Ghoteaubriand und die Frau von Stasl, welde das Chriſtenthum von
aͤſthetiſcher Seite empfahlen. In feinem berühmten Buch ,‚Genie du
Christianisme‘‘ hat Chateaubriand die Bertheitigung des romantifchen
Katholicidmus geführt. Plumpere Reflauratoren find die Theofraten De
Maiftre und Bonald gewefen. Befonders der Erftere ftrengte fich ungeheuer
an, die Vernunft der Infallibilität des Papfles zu unterwerfen und die
tühnflen Hoffnungen Gregors VII. in ein philofophifches Syſtem zu brin⸗
gen. Ein extremer Kopf konnte durch das Befeg des Gegenfaged wohl zu
ſolchen Philofophemen getrieben werden in einem Lande, wo man wenige
Jahre zuvor das Ehriftenthum abgeſchafft hatte. An De Maiftre und Bonald
ſchloß fich zuerft au Lamennais an, kam aber bald von dieſer Anſicht ab
und wollte die Vernunft nur dem in der Kirche vertretenen Urtheil der
Mehrheit unterwerfen. As ihm jedoch diele Mehrheit felbft unbequem
ward, fand er für gut, an dem Urtheil der eigenen individuellen Vernunft
feflzubalten. Durch Eoufin, den eleganten Efleftiker, wurde das Hegel'ſche
Syſtem in Frankreich befannt, obwohl er feinerfeitd den Theismus verthei⸗
digte. Ungeachtet feines Theiömus aber nahm er gegen das Chriſtenthum
eine fonderbare Stellung ein. „Das Chriſtenthum“, äußerte er, „bat noch
300 Jahre im Leibe; darum ziehe ich vor ihm billig den Hut ab. *
Am tiefflen wurde der Katholiciemus im Deutfchland vom Geiſte ber
Wiffenfchaft berührt. ine Tavaterifähefentimentale Richtung, jedoch ver⸗
bunden mit edler Duldfamfeit, erkennen wir in dem Biſchof Johann Michael _
Seiler (geb. 1751), äfthetifhen Ratienalismus in den Schriften Heinrichs
son Weſſenberg. Dom Kantiſch⸗Fichte ſchen Stampunkt aus ſuchte Georg
Sermes das katholiſche Dogma zu begründen. In feinem Syſteme geht ex,
wie fon Carteſtus, won Zweifel aus, um zur Wahrheit durchzudeingen.
Als genialer, Eoumpffertiger und terroriſtiſcher Verteidiger des hierarchiſchen
Karbolieteums iſt Joſeph von Görres berühmt geworben. Einer der
wiſſenſchaftlichfien katholiſchen Theologen der neweßen Zeit war aber Adam
Möhler, weldher aus ber Rüſtkammer der idealiſtiſch⸗pantheiſtiſchen Philo⸗
fophie die Waffen zur Bekämpfung des Proteſtantiomus und zur philofor
phiſchen Bertheidigung bed katholiſchen Dogma’s entlehnt bt. Neueſtenß
HM beſonders der Verſuch Günther's, die katholiſche Glaubenslehre fperufatte
zu rechtfertigen, im katholiſchen Deutſchland nicht, ohne Wirkung geweſen;
aber die papfläiche Curie Bat, wie ſchon früher gelegentlich bemerkt werden;
biefen wohlgemeinten Berfuch ale ketgeriſch verworfen. Man fell nick
denken, fondern bloß glauben — hierin wenigſtens fimmen der Tatheltiche
und ber proteflantifche Hierarchismus brüderlichſt zuſammen.
18,
Die den Hrifllihen Nationen eigenchümlichen Anſtalten zur Pflege der
Miſſenſchaft find die Univerſttäten. Bon ber Akademie, worin Blato, dem
Ayfeion, worin Ariftoteleß, der Stoa potlile, worin Bewen feine Schüler um
fi verfammelte, unterfcheiden fle ftch weſentlich durch ihre zunfigemäßre
Berfaffung, welche ihren Mitgliedern von jeher gewiffe Vorrechte gegeben,
durch die Mehrzahl ihrer Xehrer, den größeren Umfang ihrer Wiffenichaften,
weldye feit alter Beit in vier Sauptgebiete (Facultäten) eingetbeilt worden
find, und endlich) namentlich dadurch, daß fle die Religion in wiffenichaft
licher Form behandelten, während jene griechiſchen Schulen eben ausſchließ⸗
lich Philoſophenſchulen mit beftimmter ſyſtematiſcher Nichtung gewefen find.
Die ältefte, im 11. Jahrhundert geftiftete Univerfität, Bologna, war An-
fangs bloß eine nach dem Muſter der altrömiſchen eingerichtete Nechtsichule,
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurden tie hohen Schulen son Paris
und Oxford, wo zuerft nur Theologie und Philoſophie gelehrt worden, zu
Univerfitäten im wiſſenſchaftlichen Sinne badurh, daß aud alle übrigen
Wiſſenſchaften in das Gebiet ded Lehrftoffs aufgenommen wurden. Anfaͤng⸗
th verftand man unter Univerfität (universitas) nar die Gorperationen ber
Schüler (Bologna) oder der Lehrer (Sorbonne in Parid); ven. nun. aber
eine Anfinlt, wo die Geiammtheit der Wiſſenſchaften gelohnt wird. Um ſich
Scherr, Geſch. d. Religion. IN. 21
dieſen aͤlteſten Uiniverfitäten gegenüber das gehörige Anſehen zu verihaffen,
fuchten die jüngeren meift paͤpſtliche Stiftungebriefe nad und auch ohne
dies verfäumten die Bäpfte nicht, dieſe Sige ter Wiſſenſchaft, melde im
Mittelalter meiſt die Leitſterne ber öffentlichen Meinung waren, durch
Gunſtbezeugungen fh zu verpflichten. Im 13. Jahrhundert entflanden
noch Die liniverfitäten von Cambridge, Salamanca und Liffaben, im 14.
Jahrhundert die von Rom, Pavia, Lyon, Avignon, Prag, Wien, Heidel⸗
Berg, Köln und Erfurt, im-15. Jahrhundert Die von Turin, Florenz,
Glasgow, Bordeaur, Ingolftadt, Würzburg, Leipzig, Roſtock Greifswalde,
Breiburg, Bafıl, Tübingen, Wittenberg, Uipfala uud Kopenhagen. Das
Beitalter der Reformation errichtete aus Kirchen⸗ und Kloftergütern die
Univerfitäten von Marburg, Königäberg,, Genf, Jena, Straßburg, Leyden,
Helmftedt u. a. m. Im den Gebieten ter Reformation wurden bie alten
Univerfitäten umgeftaltet und nebft den neuen fchlagfertige Heerlager bes
PBroteflantismus. Geflaltete ſich die Univerfität Wittenberg zur Haupt⸗
burg des orthodoren Lutherthums, fo errichtete dafür ber calviniſtiſche
Berliner Hof eine Hauptburg Ted Calvinismus in der Univerfität Halle.
Aber gerade dieſe Parteiftellung Hat der Pflege ter Wiffenfchaften auf den
Univerfttäten oft ungebübrliche Feſſeln angelegt und jegt noch üben gewille
Geiſtesrichtungen auf dieſe Gelehrtencorporationen eine vereinfeitigende,
Die Breiheit der geiftigen Entwicklung befchränfende Gewalt aus. So oft
indeſſen die Umiverfitäten die Kortbildung der Wiffenfchaft zunftmäßig oder
kirchlich einfeitig beichränkt haben, die Heroen der Wiflenfchaft find doch
großen Theile an diefen Stätten gebildet worden und haben bafelbft den ber
fruchtendften Wirfungsfreis gefunten.
— — — — —
Elſtes Kapitel,
Die Kunſt.
1.
Eine untergehende Welt reißt auch das Schöne in ihren Trümmer⸗
flurz. Doch daſſelbe bleibt, weil ewig, nicht für immer unter den Ruinen
eines vernichteten Gefellfchaftöbau’& begraben, fondern es feiert, ſobald die
323
ungeheure Kataflrophe verraufcht ifl, immer wieber feine Auferfiehung und
hebt jein Rillmächtig Leben von Neuem an. Vom Often her erbob fid der
fpirituelle, vom Norden ber fanı der materielle Orkan, welche mitſammen
bie entnervte, alt und Eindiich gewortene Roma zu Boden warfen. Man
möchte jagen, Ehriftenthun und Bermanenthum hätten ſich auf den Ruinen
der antiken Welt die Hände reichen wollen zu dem Bunde, durch welden
jenes in diefem erft recht feine weltgefchichtliche Bedeutung gewonnen. Wo
aber, wie bier gefchab, einc große Idee die rohe Naturfraft zu ihrem Träger
gewinnt, da mag dad Befichende auf Verheerung und Berftörung ſich gefaßt
maden. Nicht umſonſt floßen wir in den Schriftwerfen der römijchen
Kaiferzeit auf Männerblide, welde voll geheimen Grauens nah Judaͤa
ſowohl als nad den germaniſchen Wäldern gerichtet find. Die Ahnung
erfüllte fih, die große Göttertämmerung brach herein. Eine Welt. voll
Schönheit — aber einer Schönheit, teren Bildungen bis an die Schultern
in den Sumpf fittliher Fäulniß verfunfen waren — erlag dem germani-
hen Streithammer und der Keule einer fanatifhen Mönderei. Konnte der
germanifche Eroberer, noch heiß vom Zorne der Schlacht, die maßvolle
Plaftik der griechifchen Kunft refpectiren , er, deſſen religiöfe Phantafle in
Schöpfung Eolofjaler Nebelgebilde fich gefallen hatte? Mußte der ChHrift, zu
einer Zeit, wo die tiefe Milde und Liebe der Ausfprüche Jeſu fchon fo viel-
fach vergeflen und verfchollen war, nicht bei der erften Gelegenheit eine zer-
ſtöreriſche Fauſt gegen die Götterbilder erheben, er, deffen Glaubensgenoſſen
man gemordet, weil ſie vor dieſen Götterbildern nicht anbetend und opfernd
hatten knieen gewollt? Jean Paul Hat nicht übertrieben, wenn er, vom
zerſtöreriſchen Walten des Chriſtenthums in deſſen erſtem Siegedfieber redend,
fagte, daſſelbe habe wie ein jüngfter Tag die ganze Sinnenwelt mit allen
ihren Reizen vertilgt und zu einem Grabhügel zufammengedrüdt. Allein
er ſelbſt gibt den Schlüffel zu diefer Erjcheinung,, indem er hinzufügt, alle
Erdengegenwart fei durch das Chriftenthum zu Himmelszukunft verflüchtigt
worden. Gerade das ift der Punkt, auf welchen man aufmerkffam machen
muß, wenn man das feindjelige und verheerende Verhalten des jugendlich
maßlofen Chriſtenthums gegen die antife Cultur und Kunft nicht ungerecht
beurtheilen will.
2,
Das Chriftenthum war die Reaction des einfeltigen Spiritualismus
gegen den einfeitigen Materialisınus der heidniſchen Welt. Es Hilft Nichts,
21*
884
mit Platen zu beklagen, daß die Erſcheinung des Chriſtenthums in ein ver⸗
derbtes Beitalter gefallen fell). Gerade weil das Heitenthum zu dem ge»
worden, was es zulegt war, mußte das Chriſtenthum kommen. Nach den
wuthenden Orgien, in welchen die antike Welt den letzten Heft ihrer Lebens⸗
kraft ausgeraft, that Die chriſtliche Faſteneur der Menſchheit noth. Ertrem
ruft dem Extrem. Das Ehriſtenthum iſt ebenſo weſentlich idealiſtiſch, als
dad Heidenthum realiſtiſch war. Dieſe Gegenſäthe traten an zu einem
Kampf auf Leben und Tod. Aber der chriſtliche Idealiomud entwickelte eine
Energie, wie fle der heidniſche Realismus in feiner Verrottung nicht aufzu⸗
Bieten vermochte. Er erlag und über feiner Leiche erhob der Sieger einen
wilden Triumphſchrei. Mit maßlofefter Verachtung blickte ter Geift auf die
Natur herab, bis wieder für dieſe die Zeit der Heaction gefommen war. Die
chriſtliche Idee ſpitzte füch zu einer totalen Verwerfung des Nasürlichen und
Wirklichen zu. Den Alten war das Diefſeits Alles, das Jenſeits Nichts
geweien. Das Ehriftenthum kehrte das Verhältnig um. Es proclantirte
die Erde ald ein total Berwerfliches, den Simmel als das allein Gültige
und Erſtrebenswerthe. Wit fanatiſchem Ingrimm verwarf ed Die „Welt
und daB „Bleifh". Im der erflen Epiftel Iohannis?) fleht geſchrieben:
„Habt nicht die Welt lieb, noch was in der Welt il. So Iemand die Welt
lieb Hat, in dem tft nicht die Liebe des Vaters. Denn Alles, was in der
Welt ift, nämlich des Fleiſches Luft und der Augen Luft: und heffärtiges
Leben, iſt nicht vom Bater, fondern von der Welt. Und die Welt vergehet
mit ihrer Luft; wer aber den Willen Gottes thut, der bleibet in Ewigfeit*.
Bier ift firengfle Verwerfung der Welt, ihrer Schönheit, ihrer Luſt ge=
fordert. Der Chriſt foll ih von der Welt, von der Wirklichkeit, vom Irdi⸗
ſchen ab⸗ und mit all feinem Sinnen und Trachten dem Ienjeitd, dem Ueber⸗
trdifchen zuwenden. Er foll unaudgefegt daran arbeiten, das Fleifch aus⸗
zuziehen, um ganz Geifl zu werben.
Allein die Welt, die Wirklichkeit, die Materie iſt nun doch einmal ba.
Selbſt die ſchwindelndſte Abſtraction, die verzückteſte Nyſtik kann fich dieſer
Thatſache kaum auf Augenblicke entſchlagen. Wie half ſich das Chriſten⸗
1) Chriſtus erſchien; doch leider in hoͤchſt unſeligem Zeitraum,
Als ſich das Menſchengeſchlecht neigte zu tiefem Verfall.
Langſam drang ſein lehrendes Wort in barbariſche Seelen,
Drang in verderbte zugleich, die es ſophiſtiſch entweiht
2) Ray. 2, V. 15—17. |
328
thum dagegen? Sehr einfach dadurch, daß es das ganze Gebiet der Materie
denn Widerſacher Gottes zuwies, dem Teufel. Die große Verteufelung der
Menfchheit hob an: dem chriftlichen Bewußtſein in jeiner ſtrengſten Con⸗
fequenz war die Welt nur eine Teufelei. Nichts Naturloferes, Gottver⸗
laſſenered als diefer fpiritualiftifche Schwindel des Chriſtenthums in Der
Blüthe feines Wahns. WUberwig aller Art, tollſte Willkür war das noth⸗
wendige Reſultat. Das Heidenthum hatte die Natur vergättert, das Chris
flenthum verteufelte fie. Am liebften Hätten die chriftlichen Asketen und
Enthuflaften ſie ganz. gelengnet, aber da Dies felbft dem Wahnſinn unmög⸗
lih war, mußte man fich jo zu jagen begnügen, ſie wenigſtens möglichſt
ſchwarz anzuſtreichen. Es iſt unglaublich, zu was für rohen und flupiden
Anſchauungen der fpiritualiftiiche Zelotismus gelangte. Alles Natürliche
und Naturgemäße war ihm zulegt Tenfelöwerf. Kein Wunder daher, daß
ehriftliche. Asketen von ihrem Haß gegen die Natur bis zur Selbſtentmannung
fid treiben liegen. -
Der Grieche hatte die Schönheit angebetet. Als jene attifche Hetäre,
ber fhaumgeborenen Aphrodite gleich, in der nachıen Herrlichkeit ihrer Schön⸗
‚heit aus dem Waſſer der Bat von Eleufld auftauchte, begrüßte das am Ufer
seriammelte Wolf dieſe Erfcheinung als eine Offenbarung des Göttlichen
mit lautem Frohlocken. ine chriftliche Verſammlung hätte darin nur eine
Dffenbarung von Teufliihem gefehen. Die Anwendung hiervon auf dad
Verfahren der Ehriften gegen die heidniſchen Kunſtideale und Kunſtſchöpfun⸗
gen ergibt fih von felbfi. Die heidnifchen Göttermythen, die heidnifchen
@Bötterbilder, die ganze wunderbare Fülle von Schönheit, welche das claſſiſche
Altertum in Wort, Bild und Schrift gefchaffen — das Alles -erichien den
Chriſten als Teufelswerk. Die Heidnifhen Götter felb waren ihnen Teufel
und es ift charakteriftifch, daß in der mittelalterlicden Sage vom Tannhäufer
die Odttin Venus, die holdfelige Mutter der Liebe, als eine „Zeufelin* auf
tritt. Die chriftlichfpiritualiftiiche Anficht, dad Alles, was wir umter beim
Begriff Natur zufammenzufaflen pflegen, nur ein teufliiher Abfall von
Gott, nur ein Widerfpiel des Grifles fet, führte in den erften Jahrhunderten
des Chriftenthun zu einer förmlichen Achtung der Schönheit. Was natür«
lich, was ſchön, war fatanifch, alfo verwerflich. Der Menſchenleib ſelbſt
wurde, ald Verführer zu Teuflifchem, zu einem Gegenſtand bes Abſcheu's.
Die Welt war eine Eitelkeit, ein Jammerthal, höchſtens gut genug zu einer
Vorbereitungsfchule für das Ienfeits, Allerdings wirkten, neben ber fpirir
326
tualiftifhen Idee des Ehriftenthums, noch antere Motive zur Bildung Piefer
Anihauungsweife mit: die aus dem Judenthum überfommene Vorftellung
eined firenggeiftigen,, bildloſen Gottes, der Anblick der moralifhen Ver⸗
fumpfung des Heidenthums, welche tem chriſtlichen Sitteniveal fo grell
widerſprach, und endlich der Haß gegen Eultformen, deren Nichtbeachtung
oder Verachtung fo viele Taufente ton Märtyrern mit dem Leben bezahlt
hatten. Diefer Haß war nur conjequent, als er, zum Siege gelangt, an bie
Stelle des Schönen das Efelhafte fette und auf die Altäre, von welchen die
herrlichen Geflalten ter olympifchen Götter Herabgeflürgt worden waren, ten
haͤßlichen Moder ter Heiligenffelette erhöhte.
Aber die Schönheit und ihre Offenbarung in den Künften gehört nun
einmal zum Leben und leben mußten tie Chriften doch, aller Himmelsſehn⸗
jucht zum Trog. Die Natur blühte fort und fort und zeigte ihren undank⸗
baren Kindern in jedem Frühling die bolde Schönheit ihres nie alternden
Antliges Tächelnd wieder. Der Himmel leuchtete und die Geſtirne rollten
in ihren ewigen Bahnen, unbefümmert um alle die Weltgerichtöviftonen eines
finfteren Fanatismus. Die Welt lebte von Neuem auf nad furchtbaren
ErfYütterungen, auf den Gräbern einer untergegangenen Geſellſchaft richtete
fich eine neue wohnlich ein und, ach, das, Fleiſch“, das verachtete und ver⸗
worfene Fleiſch machte bald alle feine Rechte wieder gebieteriich geltend.
Der Aſchermittwoch des Urchriſtenthums fonnte nicht ewig währen. Das
unaustifgbare Verlangen des Menfchen nad Barbe, Ton und Bild, nad
bildlicher Anſchauung feiner Ideale, nah Schönheit und Beitfreude erwachte
mit verdoppelter Stärke wieder und wandte fich, mit jchlechtverhehltem Seh⸗
nen zu den der Berflörung entgangenen Schönheitsreften des Heidenthums,
gottesdienſtlichen Uebungen, wie zu dem geielligen Spielen und Vergnügun—
gen der Vergangenheit zurück. Es war hohe Zeit, dem Realismus bedeu⸗
tende Ginräumungen zu machen, wenn der Idealismus nicht Gefahr laufen
follte, feine Faum erlangte Herrichaft wieder zu verlieren. Die Kirche, Flug
wie fle war, erfannte dad und fanctionirte, — wenn auch widerftrebend, mit
vielen Seufzern über die menſchliche Schwäche und nicht ohne offizielle
Proteſterhebung gegen die „Werke des Teufels“ — factiſch Die Thatſache,
daß der Menſch nicht lauter Geift fei und daß demnach auch feine Sinne
einigermaßen Anſpruch auf Befriedigung hätten.
Die Folge bievon war die Entwicklung des chriftlichen Cultus und Die
Entfaltung der chriſtlichen Kunſt. Jenen Haben wir in einem früheren
— —
— — — — | [ui —
Kapitel. betrachtet und wir weiſen auch im Betreff einiger. künſileriſchen Mo-
mente auf daffelbe zurüd?). Dieje führen wir jest in ihren bedeutendſten
Phaſen vor, natürlich mit Vermeidung des Detaild, welches in die Aeſthetik
und Kunftgefchichte gehört. Würde jedoch bier noch die Frage aufgewarfen,
ob denn nicht im dhriftlichen Dogma ſelbſt ein Punkt vorhanden gewefen,
son welden das chriftliche Kunſtideal ausgehen fonnte und mußte, fo gaben
wir zur Antwort: allerdings. Diefer PBunft war die Vorſtellung vom
Bottmenfhen. Bott war Fleiſch geworden, er war fichtbar in der
Körperlichkeit erichienen — warum follte feine Erſcheinung nicht in Bild
und Farbe feftgehalten werden Dürfen? Died einmal zugegeben, zügerte Die
hriftliche Kunft, zumal bei wachjendem Heroen = oder Heilligendienft, nicht
mehr, alle Anregungen der antiken zu benußen, um einen vollſtändigen chriſt⸗
Tihen Olymp zu fchaffen. Freilich war Anfangs noch der Spiritualiduns
fo mächtig, daß dad Dieffeitd nur für eine Folie des Jenſeits galt und Alles,
auch in der Kunft, auf eine Vergeiſtigung, oder hriftlich. zu iprechen, auf
eine Verklärung des Irdifchen hinauslief. Daher in der altchriftlichen Kunft,
und auch fpäter immer wieder, fo oft das altchriftliche Ideal zu neuen An⸗
jehen kam, die asketiſche Vernachläfſigung der fchönen Leibesformen, die
hektiſch⸗ himmelsſehnſüchtigen Gefichter, ter verachtungsvolle Bild auf Das
„Fleiſch“. Sonft aber brach der ganze blühende Realismus des hellenifchen
Heidenthums in die hriftlihe Kunſt herein, um in den höchſten Aufichwüns
gen derjelben eine vollentete Verſchmelzung mit dem Idealisſsmus zu erleben,
eine wahrhafte Irandfiguration, im höheren als im kirchlich⸗beſchränkten
Sinne.
Dies vorausgeſchickt, reden wir zunächſt von der Architektur, dann
son Biltnerei und Malerei und endlich von Muſik, Scaufpielfunft und
Poeſte. 2 Ä
3.
Es liege in der menfchlichen Natur, dag beim Beginn einer neuen
Weltperiode, fo ſchroff auch immer die Idee derjelben dem Beifte der vorher⸗
gegangenen entgegenftehen mag, die Prarid der Anfnüpfungen an das Ver
gangene nicht entrathen kann. Nur allmälig fchafft fi eine neue Welt-
3) 3. B. in VBelreff der Ausbildung der Liturgie, in welder, wie Jedermann
weiß, die Anfänge der chriſtlichen Dramatik wurzein, und in Betreff der Bauart der.
älteften chriſtlichen Kirchen.
328
anſchauung Bormen, die ihr. adäquat find. Hunächſt bedient fie ſich bes
bereit vorhandenen ; aber fie bildet Diefe, indem fie fie mit ihrem Geiſte
erfüllt, nach und nad vollfländig um, bis fie zuletzt Ichäpfungsnädtig genug
ift, ihren eigenften Gedanken zur finnlichen Erfcheinung zu bringen. Dies
gilt auch von der Baukunſt im Chriſtenthum. Wie wir im Kapitel vom
Cultus ſahen, eignete fich die Kirche zunörberft die Bafllifen des griechifch⸗
sömiichen Heidenthums zu gotteßdienfllichen Bweiden an ober errichtete in
diefem Styl neue Gotteshäuſer. Später beveicherte fih ter altchriſtliche
Styl durd Adoption und reichliche Anwendung des römiſch⸗bhzantiniſchen
Auppelbaue’s. Im 10. Iahrhundert, wo die Emanzipation Des ChHrifllichen
vom Antiken ſchon bedeutende Worſchritte gemacht Hatte, Fam der Bauſtyl
auf, welchen man jegt den romaniichen zu nennen pflegt, wriler, unter ben
Boͤlkern romaniihen Stammes entwickelt, von diejen aus im die Laͤnder ber
abendländiichen Kirche fid) verbreitete. Ex behielt Die Grundform ver ali»
chriſtlichen Baflifa bei, an die Stelle der flachen Bedeckung der Naume aber
fegte er das Gewölbe und bradıte dafleibe in der Form des KHalbfreifes
(Halbrundbogens) zu der mannigfachſten Durchbildung und Gliederung.
Roc war aber In diefer Ardhiteftonif viel zu viel Antikes zurüdgeblieben,
als daß ſchon in ihr das Ideal chriſtlicher Baufunft zu voller Erſcheinung
gelommen wäre. |
Die chriftliche Ider, d. h. die Emportragung der Seele über dad Ir⸗
diſche, baufünftleriich zu verwirklichen, war, nachdem fich Die Kraft des roma⸗
niſchen Styls im 12. und 13. Jahrhundert erfchöpft hatte, jeuer Architeftur
vorbehalten, welche man gewöhnlidy die gothifche nennt, Die aber von neue⸗
sen Kunſthiſtorikern mit Recht als die germaniſche bezeichnet wird, weil
fie zu Der angegebenen Zeit in allen germaniidyen oder wenigftend vom Ger
manismus getränkten Rändern mit gleicher Energie hervorgetreten ift was
diejelben mit colofjalen Monumenten bedeckt hat. Ueber den Urfprung des
germanijchen Bauſtyls, deſſen Hauptmerfmal, wie Federmann weiß, der
Spitzbogen iſt, hat man viel geſtritten und es fehlt nicht an gewichtigen
Stimmen, welche die Entſtehung deſſelben auf orientaliſch-ſarazeniſche Ein—
flüſſe zurückleiten 1), Wie mir ſcheint, thut es auch der Erhabenheit
1) Schon Sörhe nannte den Kölner Dom „eim ſchöne ſarazeniſche Blume, im
Abendland entfaltet”. J. Bram (Geſch. d. Kunſt, I, 10) will den Uriprung der
Borhif ſtatt im himmelanſtrebenden Sinn tes germanischen Mitielalters vichnelge
*
829
der. germantiden Architektur Eeinen Eintrag, wenn ſich Die abſolute Ori⸗
ginalitaͤt derſelben nicht beweiſen ließe. Gibt es denn überhaupt eine
abſolite Originalität? Der germaniſche Bauftyl beweiſt ja ſeine germaniſche
Natur gerade dadurch, daß er univerſell alle vorhandenen brauchbaren archi⸗
tektoniſchen Elemente, altchriſtliche, srientaltiche und romanifche, in ſich aufs
nahm und Tas Vorhandene mit feinem Geiſte, mit feiner tiefen Iunerlich«
keit durchhauchend, für alle Zeit das Ideal des chriſtlichen Tempels ſchuf.
Denn er bat, im directen Gegenſatz zum griechiſchen, den Olymp zur Erbe
herabzichenden und daher breit und wohlig ber Erde fich anſchmiegenden
Tempel, die hriftliche Idee der Vergeiftigung des Irdifchen voll und gan
zur Erideinung gebradt, indem er feine Dome, au welchen Alles in bie
Höhe Airebt, als eine verſteinerte Himmelsſehnſucht in die Lüfte fleigen ließ.
Die ven ber Tradition geheiligte ſymboliſche Kreuzform ber altchriftlicken
Bafllifa mit ihren drei weientlihen Theilen: Vorhalle, Schiff und Chor,
bat auch die germaniſche Architeftur beibehalten ; ſonſt aber arbeitete fie in
dem ihr eigentgümlichen Geiſte. Dem Spigbogen gefellte fie Gurtgewölbe
und Strebepfeiler, von denen letztere nad außen den eigentlichen Mauerkern
bildeten und in mannigfaltiger Gliederung als theils in Giebeldächer theilb
in kleine Thürme auslaufende Stügen die Fintönigkeit der Mauerwand aufs
hoben, währen? fie im Innern als cylindriſche Säulen mit elaftiicher Kraft
aufichießend mit den Blaͤtierkronen ihrer Kapitäͤle In die Gurte der Wölbung
fi verflochten. Was die Außenſeite ihrer Tempelbanten angeht, jo hat Die
Gothik ihren größten Reichthum an des Bagade und den Thärmen ent
faltet. Die Ornamentif der erfleren haͤuft fih um und ber dem Haupt⸗
yortal. Die Uebergiebelung defielben conftruirt ſich zu einem beſonderen
Zwiſchenbau, in deflen Witte ein müchtiges Prachtfenſter (die Roſe) das
Licht in das Mittelſchiff des Münſters firdmt. Die Thürme, in welchen der
himmelanftrebende Grundgedanke des ganzen Baues potenzist wiederkehrt
und deren gewöhnlich zwei Die Fagade frönen oder doch krönen ſollten, ſtei⸗
gen, dur ein vielgliedriges Pfeilerfoften belebt, zunächft viereckig anf.
Das Obergeſchoß dagegen Hat meiſt eine achtedige Grundform ımb von da
aus fpringt Die achtſeitige, Aligranartig durchbrochene Spige wunderbar kühn
und ſchlank aufiwärts, ein fteinerner Stral, und da, wo an ihrem äußerften
— — —
geradezu und ganz ſpeziell in der ſarazeniichen Architeliur der Tulun⸗Moſchet in Kairo
finten, von wo dieſer Bauſidvl durch die Mormennen nach Europa gekommen ſei.
330
Ende die acht Rippen ſich zufammenfchließen,, breitet eine in Kreuzesform
gemeißelte Blume Ihre Blätter dem Ihau des Himmels entgegen. — Dies
im Allgemeinen der Charakter des chriftlich-germanifhen Tempelbau's.
Größeres als feine Servorbringungen und der chriſtlichen Idee nur halb⸗
wege fo Entiprechendes hat die Architektur in ber chriftlichen Welt nie wie⸗
ver geichaffen. Dan muß die Wirkung von Kathedralen, wie die Straß«-
durger und Kölner find, jo recht empfunden haben, um-zu wiffen, was die
mittelalterliche Hingabe an das riftliche Glaubensideal, zu deren Organen
die in einem früheren Kapitel erwähnten Baugefellfchaften fih gemacht
hatten, zuwege bringen fonnte. Später, zur Zeit der Renaiſſance, gewann
das antike Element in der Baufunft wieder flarfe Geltung und feither ift,
ganz abgeiehen von dem platten Ungeſchmack der Zopfs und Perrücken⸗
yeriode, in der Architektur eine oft wunderlichſte Miihung von antiken,
byzautiniſchen, orientaliſchen, romaniſchen und germaniſchen Elementen und
Motiven herrſchend geworden. Zu einem eigenthümlichen, ihre Seele ver»
körpernden Bauſtyl bat es Die moderne Zeit noch nicht gebracht; es wäre
denn, daß man in Fabriken- und Kaiernenfyl eine Berförperung diefer
Seele erbliden wollte.
4,
Nachdem „der Bund ber Kirche mit ten Künften * 1) einmal gefchloffen
war, wurden neben der Architektur auch die biltenten und redenden Küsfke,
Bildnerei und Malerei, Muſik und Poeſte, dem Cultus dienftbar gemacht.
So lange der ipeziftich chriſtliche Geiſt in der Kirche wach und mächtig blieb,
zeigte auch die ganze fünftleriiche Thätigkeit einen jchroffen Contraſt gegen
die Formenſchonheit und Sleifcheöfreude bes Heidenthums auf. Die bildende
Kunft der Alten hatte ihren höchſten Triumph in der vollendeten Nach»
ſchöpfung des vollendeifien Gebildes der Natur, d. i. der Menſchengeftalt,
geſucht und gefunden. Die hriftlihe Kunft nun, getreu ihren am Ein⸗
gang dieſes Kapiteld entwidelten Ideal, wollte mehr. Denn überall über
der Natur ein „höheres Wahen“ vorausjegend, wollte ſie dieſes Walten
seranichauliden, weldes die natürlichen Erſcheinungen durchdringe und dem
1) Unter diefem Titel hat A. W. Schlegel in einem befannten Gedicht das
Thema behandelt, welches uns hier beihäftigt. GE if intereflant zu fehen,, wie der
„Reuromantifer* fih Mühe gibt, zu katholiſtren, und wie duch all den katholiſchen
Pomp feiner Berfe die veotehantifche Rüchterngeit Ducchicgeint.
— — — — —n — — DJ 3 m —- ad — D DU 4
331
fich die Menfchenfeele entgegenzumenden babe, „wie die Pflanze tem Licht“.
Mit einem Wort, die antife Kunft bat die ſchöne Sinnlichkeit, die chriſt⸗
liche hatte das jchöne Gemüth zum Vorwurf. Jene hatte Wundervolles
geſchaffen, indem fie fih begnügte, Natürliches in harmoniſchem Gleichmaaß
darzuftellen, dieſe konnte zunachft nur Rohes und Unzulängliches zuwege
bringen, weil ihr Streben, rein @eiftiged zu veranfchaulichen, im Grunde
ein fünftleriih unmdgliches war. Erft dann, ald das Heidnifche Kunſtideal
im Chriſtenthum wieder foweit mächtig geworden, daß es die ewige Wahr⸗
heit, der Menich fünne über den Menfchen nicht hinaus, den chriftlichen
Künftlern fühlbar machte, begann der Auffchwung der bildenden Kunſt in
der hriftlichen Welt. |
Bevor mit der ſtillſchweigenden Anerkennung jenes Satzes eine chriſt⸗
liche Mythologie ſich entwickelte, oder, mit andern Worten, bevor in der
Vorſtellung vom Gottmenſchen der künſtleriſche Accent allmälig von der
erſten auf die letzte Sylbe hinüberrückte, brachte es die altchriſtliche Kunft
nur zu einer dürftigen Symbolik oder vielmehr Hieroglyphik ), aus welcher
ſich freilich fpäter die ganze Fülle ſymboliſcher und allegoriiher Darftellung
herausbildete ; ferner zu Anfängen der Bildnerei in kirchlichen Brachtgeräthen
und Prachtgewändern, in Elfenbeinfchnigereien , in reliefartigen und flatuae
rifhen Darftellungen; endlich zu Verſuchen in der Mofaif-, Wand - und
Zafelmaferei. Auch die Illuſtrirung der heiligen Echriften vermittelſt
Miniaturmaferrien Fam fon frühzeitig vor, gelangte aber erft weit ipäter
zu hoher Bollendung. Mit den Ueberbleibjeln dieſer altchriſtlich⸗byzantini⸗
fchen Bildnerei und Malerei, deren Tippen in der orientaliſch⸗griechiſchen
Kirche bis auf den heutigen Tag flehend geblieben, bat man befunntlich
zur Neftaurariondzeit modifche Abgötterei getrieben, welche die abſonderlich-
ſten Kunſtſchrullen zu Tage förderte, jetzt aber verſchollen iſt.
In der Periode des romaniſchen Kunſtſtyls, welcher das frühere Mittel⸗
alter beherrſchte, erhob ſich die bildende Kunſt, beſonders in Deutſchland und
in Italien, über die engen Schranken des Byzantismus. Die Einflüſſe der
Antike gewannen allmälig Boden gegenüber der flarren Tradition. Die
Technik in Bildnerei und Malerei vervollfonmte fih und im den Geftalten
—
2) In diefer Bilderfibrift bedeutete 3. B. der Weinſtock den Grlöfer, ebenfo der
Fiſch und das Lamm, das Schiff die Kirche, das Kreuz den Opfertod, die Leier den
Sottesdienfl, Der Palmzweig ven Heiland als Sieger über den Top.
333
küͤndigte fich die Berichuselzung des hellenifchen und des chriſtlichen Ideale
fhon leife an. Doc behielten in dieſer Periode, wie aud in der folgenden
des germaniichen Style, Bildnerei und Malerei noch vorwiegend den decora⸗
tiven Charakter, und was aud) im Einzelnen die Stein und Metallifulptur,
bie Wand» und Tafelmalerei Vortreffliches leifteten, im Ganzen blieben fie
der Arditektur unterthan, deren Werke fie iymüden mußten. Was ind«
beſondere tie Bildnerei angeht, To hat fie ed, jo lange ſie eine ſpezifiſch
&riftliche war, zu einem jouverainen Auffichſtehen, in der Weile der antiken,
nie gebradt. Sie bewegte ſich baher mit Vorliebe in ter Sphäre des
Reliefs, weil fie in dieſer Form am paflendfien als architeftoniiche Zierde
terwendet werten fonnte. In der Sladmalcrei, die freilich erfi am Ende
bes 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts zu höherer Blüthe gelangte,
fiberte ſich die hriftliche Baukunft einen neuen Schmuck. Jenes gebänpfie
und doch phantafliiche Licht, jenes träumerifche Helldunfel, welches mit Glate
malereien bedeckte Benfter in das Innere der gothiſchen Münfter falten laſſen,
ſtimmte jo recht zur chriſtlichen Andacht. Im Uebrigen macht ſich in den.
Werken ber bildenden Kunft ded Mittelalters Häufig ein fatirifcher Zug be=
merkbar. Wie der Volfögeift es Tiebte, in ben früheren Orts berührten
Narren» und Ejelöfeften Die kirchlichen Geremonien poſſenhaft zu traveſtiren,
fo liebte es die mittelalterlige Kun, vermittelt groteöfer Bildungen bie
Ausicreitungen der Pfaffgeit zu perfifliren, ja nicht felten auf das Dogua
felöft ein ironiſches Streiflicht zu werfen. |
Mit dem 15. Jahrhundert begann die Entwidlung der Kunft des
modernen Styls, auf welche Die in immer größerem. Umfange wieder
erwachende und gepflegte Kenntniß des claffiihen Alterthums son mafe
gebendem Einfluß war. Cine Zeit bob an, in welcher Lie fünftlerifhe Ver⸗
bindung des chriſtlichen Ideallsmus mit dem antifeheidnifchen Realismus ſich
vollzog. Das im Katholicismus zur Meife gediehene mythologiſche und
fomboliiche Element befleibete ſich mit helleniſch ſchönen Formen und von
Stufe zu Stufe fchritt Die Kunft vor, bis in den Gebilden eines Mafael das
chriſtliche Kunftideal, das Durcleuchtetiein des Natürlihen vom Geifligen,
Die Verklärung des Irdifchen zum Himmliſchen, die Erhebung des Menſch⸗
fihen zum Göttlichen, erfüllt wurde. In den florentinifchen, umbrifchen
und venetlanifchen Malerſchulen und ihren vorragendften Meiftern (Xeonardo
ta Vinci, Correggio, Micdyelangelo, Buonarotti, Rafael Santi, Tiziano)
ſehen wir diefe Kunſthöhe in ihrer ganzen Größe, Farbenherrlichkeit und
— —
333
Anmuth entfaltet: unvergleichlihe Majeftät in Buonarotti’s Propheten und
Sibyllen, unvergleihliche Gottmenſchlichkeit in Rafaels Madonnen und
Chriſtusbildern, eine bis zur heidniſchen Fleiſchesfreudigkeit geſteigerte
Farbenpracht und Anmuth in den Gemälden Tizians, der ja dem chriftlichen
Olymp zur Seite kühn feine wundersollen Benusbilder aufftellte Mit
weit größerer Strenge, als bie Italiener, kamen bie- Meifter der beutichen
Schule, ein Hand Holbein, Lucas Kranach und Albrecht Dürer, den Forde⸗
zungen des hriftlichen Idealismus nach und namentlich erjcheint in Dürers
Geftalten die fittlidre Idee des Chriſtenthums in’ ihrer größten Reinheit.
Dagegen flug in der. niederländifchen Schule des Peter Paul Rubens ber
Idealismus in blühendſten Realismus um und modiflzirte ſich dieſer in den
Werfen der holländiſchen Maler zu keckſtem — und derbſtem Materialismus.
Die fpanifche oder, genauer geſprochen, die ſevillaniſche Malerfchule des 17.
Jahrhunderts hatte das Eigenthümliche, daß fie im Idealiftiihen und Reali—
fttichen gleich art war. So insbeſondere ihr Großmeifter Murillo, welcher
tim Genrebild die vollendetfte Naturwahrhett erreichte, während er in der
chriſtlich mythologiſchen Malerei den höchſten Schwung religidfer Begeifte
rung mit holdfeligfter Anmuth verband.
Die Reformation if der bildenden Kunft nicht günftig geweien. Zwar
die Reformatoren ſelbſt waren der Mehrzahl nach keineswegs fo bilderſtür⸗
merifeh gefinnt, wie viele ihrer Anhänger es waren; allein der Geift der
Reformation drängte doch überall vom Aeußerlichen auf das Innerliche, vom
Mythologiſchen zum Begriff, vom Symbol und Bild zu Wort und Shift
zurück und äußerte fih dann im calviniftifchen Puritanerthum geradezu
tunftfeindlich und oft vandaltfch genug. Auch die Fatholifche Kunſt ſank am
Ende des 17. Jahrhunderts in rafchen Berfall, nachdem fie in Italien ſchon
früher das finnlihe Element auf Koften des fpirituellen effecthafcherifch be⸗
gimftigt hatte. Eine zweite Schöpfungäperiode der modernen Kunfl brach
erft wieder mit dem Ende des 18, und dem Anfang des 19. Jahrhunderts am.
In die Lorbeeren derjelben theilen ſich hauptſächlich eine deutfche, eine fran-
zöftiche und eine belgiſche Malerſchule, fowie die Meifter der monumentalen
Maſtik der Neuzeit, welche aber ganz entjchieden mehr vom Hellenismus als
som Chriſtenthum infpirirt wurden.
334
5.
Bon allen Künften hatte ſich am früheſten die Muſitk mit dem chriſt⸗
lichen Cultus verbunden. Bieter fie doch dem Menfchen ein nächſtliegendes
Mittel zur Ausftrömung jeiner Gefühle. Die Pialmen und Hymnen famen
aus dem Judenthum in das Chriſtenthum berüber und jene tiefen Herzens⸗
töne ter Hebräifchen Lyrik wurden und blieben der Grundklang des chriſt⸗
lichen Kirchengeſanges. Er tönte ſchon, bevor es noch eine Kirche gab,
ſchon bei dem Abendmahl Chriſti mit feinen Jüngern, dann bei den Agapen
ber erfien Gemeinden. Die Kirche begriff bald Die Vortbeile,, welche Mufif
und Befang als Andahhtsmittel darboten. Bon dem Eoncil von Laodicea
(364) an, welches zuerft tie Einführung regelmäßiger Kirchengeſaͤnge decre⸗
tirte, dann weiter von Ambroflus und Papſt Gregor I. an, mwelder Letztere
den Shoralgefang begrüntete, war die Hierarchie für Entwidlung der Muſik
nad Zheorie und Praxis unausgeſetzt thätig. Aus dem Choral mochte fich
der vierſtimmige Geſang entwideln,, aber zur Ausbildung der Harmonie hat
das Eingreifen der Inſtrumentalmuſik und vor Allem der Orgel das Weſent⸗
lichfte gethan. Mit der Vervolllommnung der Saiten- und Bladinftrumente,
fowie ter Orgel, ging e8 freilich nur langfam vorwärts. Erſt 1444 foll
Meifter Droßdorf aus Mainz die erfte große Orgel mit Pedal gebaut haben
und die Scheidung des Pfeifenwerks in beflimmte Regiſter kam erfi im 16.
Jahrhundert Hinzu. Die Theorie war der muflfaliihen Praxis vielfach
porausgeeilt, indem fchon zur Zeit Friedrich Barbaroſſa's Meifter Franko
aus Köln die höchſt bedeutſame, mannigfachfte Vorſchritte von Melodie und
Harmonie begründende Erfintung des Menfuralgefanges gemacht hatte. Im
15. Jahrhundert entwidelte fih die Figuralmuſik und von da an geflaltete
ſich Geſang und Muſik in der römiſchen Kirche immer Funftreicher, fo daß die
Gemeinde dieſen Verfchritten nicht mehr folgen konnte und die Ausübung
der Kirchenmuſik Sängern und Muſikern von Fach anheimficl. Große
Zondichter kamen diefem Fünftlerifhen Drang im Katholicidmus zu Hülfe,
befonders in Italien. So im 16. Jahrhundert Paleftrina, im. 17. Mar⸗
cello und noch im 18. Pergoleſe. Aber es ließ fich nicht überfehen, daß bie
italifche Muſik, wie von der Gemeinde, fo auch vom Kirchlichen mehr und
mehr ſich emanzipirte und häufig in weltliche, fogar in finnlichelüfterne
Weiſen auslief. Die Reformatoren, und vor Allen Luther, bemühten fi
energifch, den ſchon damals opernhaft außgearteten Kirchengefang wieder zu
335
feinen Wefen zurüdzuführen, d. 5. ihn wieder zur Sache der Gemeinde zu
madyen. Und damit war der Einfluß der Reformation noch nicht erichöpft.
Wenn fle ſich zu den bildenten Künften cher feindſelig verhielt, fo war fie
Dagegen für die Muflf von ebenjo tiefgreifender ‚ala nachhaltiger Anregung.
Machte fie doch die Religion, welche zu einer Sache äußerlicher Convenienz
geworden war, wieder zur Sache ded Gemüthes und mit diefer Einkehr des
Menſchen in ſich felbft war auch der Grund gelegt zu jener großen Neform
und Vollendung der Muſik, welde zu den fihönften Thaten des deutſchen
@eiftes gehört. Denn in Deutichland wurde, während die italifche und
franzöftihe Muflf in zopfiger Verjchnörfelung und wüften Opernipectafeb
anterging,, eine Tondichtung wach, welder Fein anderes Volk etwad auch
nur annähernd Ebenbürtiges entgegenzuftellen hat. Nachdem in der erften.
Hälfte des 18. Jahrhunderts Bach und Händel dem religtöfen Tonftyl jeine-
claffliche Geftalt gegeben, begründete Gluck einen edleren dramatiſchen Styl.
in der Muſik und verſchmolz Haydn in feinen großen Tongemälden daß reli«
gidfe Element mit dem weltlichen in anmuthigfter Weile. Auf dieſe Vor⸗
gänger folgten dann Mozart und Beethoven, welche die deutſche Tonſchöpfung
vorerft gerade fo zur Vollendung und zum Abſchluß brachten, wie Göthe und
Schiller mit der Poefte tbaten. _
6.
Gegen feinen andern Zweig der antifen Kunft hatte fih das Ehriften-
thum mit dem Grad von Born und Energie erhoben, weldyen e8 gegen die
Schauſpielkunſt in ihrem ganzen Umfang entwidelte, und man muß fagen,
daß es Hier im vollften Rechte war. Nicht nur bie niedrigeren Gattungen.
der Schaufpiele, die wüften Thierhetzen und die graufamen Gladiatoren⸗
kaͤmpfe, forderten die chriſtliche Oppofttion in tie Schranken, fondern au
das eigentliche Drama. Gegen die furdtbare Entartung defielben im römi⸗
fhen Reiche boten die Kirchenväter das ganze Beuer ihrer ftrafenden Beredt⸗
famfeit auf. Einer derfelben, Chryſoſtomus, bezeichnete die Theater ale
„Wohnungen des Teufeld, Schaupläge der Unſittlichkeit, Xehrfäle der
Schwelgerei und Ueppigkeit, Gymnaſten der Ausfchweifung, Katheber der
Peſt“ — eine ebenfo firenge als wahre Charakteriftil. Denn wie das an-
tife Drama aus gotteßdienftlichen Uebungen hervorgegangen war, fo theilte
ed in feinen letzten Zeiten auch ganz den fittlichen Verfall der heidniſchen Re⸗
ligion. Nicht mehr befchritten die erhabenen Geftalten eines Aeſchhlos und
336
Sophokles die Bühne, fondern dieſelbe war nur noch der Schauplatz ge-
meinfter Gankelel und der Befrietigung Haflrten Braufamfeits - und Wol⸗
Iuftfigel®. Wie weit mußte es mit einer Geſellſchaft gekommen fein, weldge
die Tragif darin fand, daß man Verbrecher Die Rollen des Herafles und
Daͤdalos zu fpielen zwang und die Unglücklichen auf der Bühne ſelbſt einen
fhredlichen Rartertod finden ließ1)! Dies für Die Grauſamkeit des Publi⸗
eumd. Bür feine Wolluft waren Komödien da, in welchen die mythologi⸗
fhen Licbeöfzenen der Paſiphae mit dem Stier oder der Leda mit dem
Schwan in nadtefler Ratürlichkett gefpielt wurden, und andere, we nackte
Zänzerinnen obfeöne Batefzenen aufführten?). Kein Wunder, wenn bie
. Kirche diefe von Blut und Schmup ſchlüpfrige Bühne entfchieben verdammte
und, in Erneuerung altrepubfitenifch-römifcher Anſichten über Schaufpieler
md Schaufpielerinnen,, diefe mit den Kupplern und Luſtdirnen in eine
Klafie ſetzte und für ehrlos und infam erflärte.
Aber das Chriſtenthum follte auch auf tiefem, wie auf fo vielen ande-
zen Bebicten noch, erfahren, daß fein Wort von tes Geiſtes Stärfe und des
Fleiſches Schwäche umgefehrt am allerwahrften fei. Denn auch bier beflegte
das lebensluſtige, „ fündige Fleiſch“ den asketiſchen Geiſt oder nöthigte ihm
wenigftend weitgehende Conceſſionen ab. Die „ Augenluft*, von welcher bie
oben citirte Epiftel Johannis, wahrſcheinlich mit fpezieller Rüũckſichtnahme
auf das Theater, verdammend gefprocden, wollte fi nicht bannen laffen.
Da half kein Gedonner kirchenväterlicher Berettiamfeit, da frommten feine
oft wiederholten antitheatralifchen Concilienbeihlüffe. Das ‚‚Panem et
circenses‘‘! blieb auch noch im Chriſtenthum bie Lofung der Menge und
überdies hatte die Vollziehung der firchlichen Evicte gegen das Schaufpieler-
volf ihre Miplichkeiten in Zeiten, wo ein Zufall die verbußltefle und ver=
worfenfte aller Komöbdiantinnen, welde feit Beſtehen der Welt die Bretter
— — — — —
4) In der Rofle des Herakles den Flammentod auf dem Oeta, in ber Rolle des
Daͤdalos das Zerrifienwerden durch ten Minstaures im vabyrinth, wobei ein wüthen:
der Eder den Minotauros „machen“ mußte.
3) Se befonders in der berüchtigten Komödie „Majınna“, welche aus ber Zeit
des Konſtantin ſtammt. Wie fche das Publicum. auch das chriſtliche noch, an diefem
ärgerlihen Stüd hing, verräth ter Umfand, daß die Aufführung der Majuma bie zu
den Seiten des Honorius und Arfadius nicht weniger als acht Mal verboten und doch
immer wieder erlaubt wurde.
337
a
betreten, in der Perfon der ſchönen Theodora, der Gemahlin Juftiniang,
zur allgebietenden Kaiferin des römiſchen Reiches erheben Eonnte.
Unter ſolchen Umftänden machte es die Kirche mit dem Schauſpiel—⸗
weien, wie fle unter ähnlichen mit Anderem that. Was fie nicht bewaͤl⸗
tigen Eonnte, das eignete fle fich an And verwandte e8 „ad majorem Dei
gloriam“. Wer nicht in Abftractionen lebt und fich fein abftractes Bild von
den Menſchen macht, wird ſich kaum einfallen laſſen, dieſe Politik der Kirche
zu rügen. Indem fie e8 mit Menſchen zu thun hatte, wie fle nun einmal
find, handelte fte, wie fle mußte, ald fie, wie die übrigen Künfte, fo auch
die Schaufpielfunft in den hriftlichen Eultus einführte und dadurch fance
tionirte, um fo mehr, da der vom Heidenthum entlehnte theatralifche
Apparat Durch Die gotteödienftlichschriftliche Weihe zugleich fittlich geläutert
wurde. Bald war die oberfle Direction de? ganzen Schauſpielweſens bei
der Kirche und fo kann Das moderne Drama einen nicht weniger religiöien.
Urfprung für fid in Anſpruch nehmen ald das antife 3).
Die Kirche mußte fh, nad Tangem vergeblichem Kampfe gegen Lie
„Augenluſt“ ihrer Gläubigen, damit zufrieden geben, dieſe Luft wenigftend
auf fromme Gegenftände zu Ienfen. Bu diefem Zwecke benutte fie die ſchon
im Cultus der Urfirche liegenden dramatiſchen Elemente 2), um dieſelben im
Verlaufe der Zeit zu einem vollftändigen liturgijchen Drama, zur Meſſe aus-
zwbilden. An dieſes gotteödienftliche Schaufpiel reihten fih dann bald
- andere firhliche Dramen an, die biblifh-mäthologifchen „Mofterten *, jo
genannt, weil fie ſich mit den Geheimniſſen ded chriſtlichen Dogma's vor⸗
zugsweiſe bejihäftigten. Zuerſt wurden in den Kirchen an den großen chrifte
Tichen Beften, bejonderd zur Weihnachts- und Öfterzeit die Szenenfreife,
welche die Geburt, die Paffton und den Tod Jeſu umſchloſſen, von den Geifte
lichen dramatifch dargeftellt, — Anfangs pantomimifch,, dann dialogiftrt,
und zwar Letzteres jo, daß früher der Dialog im Eirchlichen Latein, ſpäter
aber in den verjchiedenen Zandesiprachen verfaßt war. Aus diefen Myfterien
ift das Drama aller europäifchen Kiteraturen erwachlen; in der ſpaniſchen
aber blieben fe unter dem Titel Autos (Acte) auch ſpäter eine ſtehende
Titerarifche Gattung und erhielten dort auch die vollendetfte poetiſche Geftalt.
Bei Aufführung der Myiterien hatten die Kirchenräume die Schaaren Der
3) Dgl. Thl. I, ©. 196.
4) Die Wechfelreten des Priefters, des Diakonus und der Gemeinde.
Scherr, Geſch. d. Religion. III. 22
338
frommen Zuſchauer bald nicht mehr faffen fünnen And man war daher ge⸗
nöthigt geweien, auf Kirdhöfen und anderen freien PBlägen die heilige
Schaubühne aufzuſchlagen, welche fih nah und nach mit izeniihem Apparat
aller Art, bunten Coſtüms, Decorationen, Flugmaſchinen und Verſenkungen
bereiherte). Das alte und dad geue Teſtament und alle die Märtyrer
geichichten und SHeiligenlegenten lieferten die Stoffe. Selbſtverſtändlich
war die Dramatifirung noch eine ſehr rohe). Sie war nicht mehr als
eine planloje Aufeinanterfolge von in epiſcher Breite fih abwidelnden Sze-
nen, deren erfte manchmal mit der Weltſchöpfung anhob und deren legte mit
dem Weltgericht ſchloß. Da iſt e8 denn begreiflich, daß fo ein Myfterium oft
mehrere Tage, ja eine ganze Woche dauerte und daß man, die Geduld der
Zuſchauer zum Audharren zu bewegen, mitunter zu dem Mittel greifen
mußte, an das vollftändige Anhören eines dieſer unendlichen heiligen Schau-
fpiele eine Ablaßertheilung zu fnüpfen”). Selbfiverftändlih ift auch, daß
bei einer Erweiterung der Myſterienſpiele, weldye oft in einem Stüd hun⸗
dert Acteurs und ganze Schaaren von Engeln, Teufeln, Heiligen und
5) Die Möyfterienbühne war gemöhnlih in drei Etodwerke getheilt: das obere
ftellte den Himmel vor, das mittlere die Erde, das untere die Hölle.
6) Nach unferem Gefühl oft fogar eine frech traveſtirende, blasphemifche,, nach
mittelalterlid‘em freilich , wie die Berehrer des Mittelalters ın foldyen Fällen zu fagen
pflegen, nur eine naive. Alt, in feinem vortrefflihen Bud „Theater und Kirche“
(S. 389) führt an: — In einem franzöflihen Müyfterium fah man während der
Kreuzigung und Grablegung Ehrifti Bott ten Bater oben auf feinem Himmelsthron
fchlafend. Zwifchen ihm und einem Engel, ter ihn wedte, entipann fich folgender
Dialog.
Eng. Pöre Eternel, vous avez tort,
Et devriez avoir vergogne;
Votre fils bien-aime est mort,
Et vous dormez comme un yvrogne,
Gottvater. Il est mort?
Eng. D’homme de bien.
Gottvater. Diable m’emporte, qui en savais rien.
7) Unter ver Regierung Heinriche IV. von England wurde zu Cheſter ein Myſte⸗
rium von der Weltfchöpfung und tem Weltuntergang aufgeführt, welches eine volle
Woche lang fpielte. Iedem, welcher diefem Schaufpiel ununterbrochen anwohnen würde,
war ein taufendjühriger Ablaß zugeſichert. Bgl. Collier, Hist. of English dram. poetry,
11, 173. . In Frankreich hießen die kirchlichen Schaufpiele Mysteres, in Deutfchland
Weihnachts: und Ofteripiele (Paſſionsſpiele), in England Miracle-Plays (Wunder:
fpiele), in Spanien Autos, in Italien Vangelii oder Commedie spirituali,
339
Kriegsknechten auf die Muͤhne führte, der Klerus nicht mehr alle Rollen bes
ſetzen konnte. Man mußte alfo die vagirenten Joculatoren, Hiftrionen
und Spielleute zur Aushülfe nehmen und bald agirten mehr Laien als
Kleriker die Firchlihen Dramen. Hiemit war der erfte Schritt zur Emanzi⸗
pation des Theaterd von der Kirche angebahnt. in zweiter gefchah da⸗
durch, daß ſich dem bibliſch⸗mythologiſchen Myſterium als eine weitere dra⸗
matiſche Gattung die moraliſche Allegorie geſellte, die „ Moralität *, deren
Charaktere PVerfonificationen von Tugenden und Kaftern waren. Gegen
Ende des Mittelalters finden wir die Myſterien und Moralitäten in den
Händen eigener Spielgeiellihaften, der fogenannten Pafftonshruderfchaften,
die im Vorſchritt der Zeit dem weltlichen Element in den geiftlichen Spielen
einen immer breiteren Raum geflatteten. In der Mitte des 15. Jahrhun«-
derts ſehen wir die weltliche Komödie als „Fafſtnachtsſpiel“ in den deutſchen
Städten ſchon feleftftändig neben der kirchlichen ftehen. Damals begann ſich
in Italien auch die. Oyer zu entwideln und etwas fpäter, zur Neformationg-
zeit, finden wir neben diefen von der Kirche emanzipirten dramatiſchen Gat⸗
tungen das gelehrte Schuldrama floriren, in welchem die Reminiscenz des
claſſiſchen Alterthums den Ton angab. Dieſe Reminiscenz beſtimmte, wie
befannt,, die Geftaltung der dramatifchen Poefle Italiens, Frankreichs und
zunächft auch Deutfchlande. Nur zwei Ländern, England und Spanien,
war ed gegönnt, unbeirrt von antifen Vorbildern, auf nationalen Grund»
lagen eine reichfle dramatiiche Literatur aufzubauen.
7.
Es fonnte nicht fehlen, daß die hriftliche Idee in ihrer erſten Strenge,
Herbigfeit und Düfterniß auch die Poefle, dieſe ewige Tröfterin und Jugend⸗
verleiherin der Menfchheit, zu den „verdammlichen itelfeiten der Welt *
warf. Jedoch griff, wie in Betreff der Muflf, fo ebenfalld in Betreff der
geiftigften Kunſt ſchon fehr frühzeitig eine mildere Anſchauung Platz. Die
dichteriſchen Bücher des alten Teſtamentes übten zu bedeutenden Einfluß auf
die Bekenner des neuen, als daß eine Fortführung der in jenen angeſchlage⸗
nen Töne hätte ausbleiben können, und wo noch ein Bedenken gegen die
Handhabung poetiſcher Formen auftauchte, half man ſich daruͤber hinweg,
indem man der „yheidniſch⸗weltlichen“ Dichtung eine „chriſtlich⸗geiſtliche
entgegenſetzte. Auf Originalität hat dieſe altchriſtliche Poeſie geringe An⸗
ſprüche. Ihre Vorbilder blieben, wie ſchon angedeutet worden, einestheils
22*
340
der Jubel⸗ und Klagegefang der hebrätfchen Pijalmiften, anterntbeils Die
viftonäre Orakelſpendung der hedrätihen Propheten. In Wiederaufnahme
des Iegteren Elemente ſchuf die Poeſie der Urfirche jenes merfwürbige Werk,
welches unter dem Titel der „ Apofalypfe (Offenbarung) Johannis * in den
Kanon der neuteftamentlihen Schriften aufgenommen wurte. Die Apofa-
Inpfe gehört zu den feltenen Hervorbringungen der Phantafle, welche die
Signatur eines ganzen Zeitalters geben. Die bizarren und furdtbaren Vi⸗
flonen eines Ezechiel und Daniel find bier noch überboten. Der Gegenfak
der Kriftlihen Himmelsſehnſucht gegen die heidniſche Erdenfreutigfeit in
feiner ganzen Schroffheit, aller Schmerz, aller Zorn, alle laute Klage und
geheime Siegeshoffnung des unter Verachtung und Verfolgung ringenten
neuen Glaubens {ft hier in Bildern von ätzender Schärfe dargelegt, welche
zuweilen Die Seele triumphirend emporflügeln in die efftatifhen Wonnen
des himmlischen Jeruſalem, noch öfter aber fie mit der Wucht einer unge⸗
heuren Traurigkeit zu Boden drüden!). Kein Wunder, daß die Apofalypie
unter Denen, welden fle nicht ein Dichterwerk, fondern eine Yuntgrube
gläubiger Grübelei ift, fo viele Verrückte gemadıt bat.
Roſenkranz hat vorgefchlagen 2), zu befferer Ueberjichtlichkeit der Steale
äriftliher Poefte drei große Kreife anzunehmen, den der griechiicheorientali«
ſchen, den der lateiniſch-romaniſchen und den der germanifch-proteftantifchen
Kirhe. Der Charakter des erften wäre die „Refignation *, der des zweiten
tie „Nitterlichkeit*, der des dritten die „Selbftgewißheit*. In weiterer
Ausführung deſſen beftimmt dann der genannte Nefihetifer die Neflgnation
als tie „noch negative Baflung der Freiheit als Gehorfam gegen das
Dogma*, die Ritterlichfeit ald „pofttive Geftaltung der Freiheit ald Kampf
für da8 Dogma*, die Selbftgemwißheit endlich als „abjolute Manifeftation
der Freiheit ala Kritik des Dogma’3 und ald Vorbehalt der Kritik für alle
feine praftifchen Gonfequenzen“. Wer nicht einen unbedingten Aberwillen
gegen das Handtiren mit philofophifchen Kategorien hat, Fann fi am Ende
diefe Schabloniflrung der PVoefte im Chriſtenthum gefallen laſſen, d. H. im
1) „Die Poeſie der Propheten Hat fi bis zu jener bittern, heftigen, ſchoͤnheits⸗
feindlichen Lauge hinaufgefleigert, womit viele Blätter der Apofalypfe überzogen find,
welche chlorartig allen Lebensrofen die Röthe abägt und das Leben zu einem verbranns
ten Eactusflengel macht mit wenigen übertriebenen Blüthen, zu einer heißen Sand:
wüfte mit wenigen Oaſen“. Fortlage, Geſch. d. Poeſie, ©. 154.
2) „Die Poefie und ihre Gefchichte”, S. 408 fg.
. — — — —
341
Großen und Ganzen; im Einzelnen aber ift fle nur mit demjelben Zwang
durchzuführen, der ſolchen Schablonifirungen überhaupt anhaftet. Denn die
taujenderlei Modificationen und Nuancen, welche zu allen Zeiten in Auf-
faffung, Werthung und Wirkung des Chriſtenthums ſich kundgaben, ſprachen
ſich auch in der chriftlichen Poeſte aus.
8.
Die Väter der griechifchen Kirche waren die älteften chriftlichen Dichter
und für den älteften derfelben Fann Klemens von Alerandrien (um 200)
angeſehen werden, der Verfafler eines berühmten Hymnus auf den Sotes
Ehriftus. Ihm reihen fich bis ins 5. Jahrhundert hinein Gregoriod von
Nazianz, Upollinaris von Laodifeia, Syneſios von Kyrene und Methodios
von Patara an. Dad cdharafteriftiiche Merkmal diefer alerandriniichen und
byzantinifhen Hymnenlyrik if die Verbindung der bebräifchen Pſalmen⸗
inbrunft mit der würdevollen Einfachheit hellenifcher Formen. Der Ton
diefer altchriftlichen Gefänge ift in der That ein reflgnirter, adfetiicher ; es
find Lieder, wie fie im Schooße einer leidenden und ftreitenden Kirche ent«
ftehen Fonnten und mußten. In der Tateinifchen Kirche, in welcher die
Hymnenlyrik durch den berühmten Mailänder Bifhof Ambroftus eingeführt
und durch Papft Gregor I. weitergebildet wurde, kündigt fidh der Triumph
des Chriſtenthums ſchon frühzeitig dichteriih an. Doc erft mit den 11,
Jahrhundert, wo der Eieg der römifchen Kirche fchon entichieden war, bes
ginnt ihr Belang machts und prachtvoll aufzutönen. So ein Pradtlied
kirchlichen Triumphes ift des Cardinals P. Damtani (ft. 1072) Hymnus
auf die Sreuden des Paradiejes!). ALS ein Gegenftüd zu dieſem triumphi⸗
1) Der fromme Dichter beginnt feine Schilderung, in welcher tie riftlichen
PVorftellungen von den himmlifchen Wonnen in der abentländifchen Kirche zuerft eine
feſte poetiſche Geflaltung erhielten, mit einem fehnfuchtsvollen Aufblid aus bem biefleis »
tigen „Cxil“ nad) dem jenfeitigen „Vaterland“ und fährt dann alſo fort: —
Ach, wer fchildert Das Entzüden in des Friedens ew'gem Stral,
Wo fich aus lebend’gen Perlen bebet der Baläfte Zahl,
Wo von Bold die Tiiche jchimmern in dem hochgewoͤlbten Saal.
Denn aus Grelfteinen find die Häufer diefer Stadt gebaut,
Und belegt mit reinem Golde werden Straßen bier gefihnut,
Ohne Schmug und Unreinheiten, fein Getöf’ auch macht fich laut.
312
renden Frohlocken kann der dumpfdröhnende Donnerton betrachtet werden,
womit in dem allbefannten, mit ziemlicher Sicherheit Dem Minoritenmönd
Winters Kälte, Sommers Hitze drüden niemals diefen Ort,
Wieſen grünen, Saaten reifen, Bäche Honigs fließen dort,
Und in ew’gem Frühling blühen hier die Rofen fort und fort.
Balſam ſchwitzt, es glüht der Safran, Lilien blühn im weißen Kleid,
Wo der Duft von edlen Hoͤlzern und Aromen iich zerftreut,
Und in grünen Wältern reifen Früchte ver Unfterblichfeit.
Sonn’ und Mond find bier erlofchen, wie auch der Geſtirne Heer,
Denn das Lamm taucht ſelbſt den Wohnort ein in feines Kichtes Meer,
Gin nie untergeh'nter Tag if, Nacht und Zeiten find nicht mehr.
Auch die Heil’gen glänzen jeder wie die Sonne Hell und far,
Bringen nah vollbrachtem Siege jubelnd Preis und Ehre tar,
Ueberzählend ihre Kämpfe, der befiegten Feinde Schaar.
Aller Kehl it abgewaſchen, alle Lockung, aller Schmerz,
Und das Fleiſch ift Weit geworden, Leib und Geift find nur Bin Herz,
Sie genießen ew’gen Frieden, aller Streit fanf niederwaͤrts.
Und fie ziehn in ihren Uriprung, vom Beweglichen befreit,
Schaun die gegenwärt’ge Wahrheit ohne Schein und ohne Kleid, |
Trinken aus lebend'gen Quellen urgeborne Süßigfeit. |
Daher ſchoͤpfen fie des Lebens ewige Srneuerung,
Klar, lebendig, lieblich ohne jegliche Berminderung,
Ohne Krankheit, immer blühend, ohne Alter, ewig jung.
Daher ziehn Re unvergaͤnglich's Dafein, denn es flarb der Tod,
Daher blühn fie Hell und grünen, denn in Roth fam hart die Noth,
Und tas Recht ift abgerungen, womit lang der Tod gedroht.
Und fie fennen den Allweifen, Nichts ift ihnen unbekannt,
In der Sremten Bruft Geheimniß dringt ihr Heiliger Verftand,
‚ Und ihr Wollen und Rit-Wollen ruht auf Ginem Gegenftand. |
Und wenn Jeder gleich ter eignen Arbeit Früchte ernten muß,
Streut die Liebe Allen reichlich doch aus ihrem Ueberfluß;
Und fo wird, was Einer ernfet, allen Andern zum Genuß.
Um ven heil'gen Leichnam Sammeln fie wie Adler fh zumal,
Wo ſich mit den Engeln leget Heil’ger Serlen große Zahl,
Und die Bürger zweier Welten effen Brod von Einem Mahl.
. Und Genuß hier und Begierde quillt im unerfhöpften Fluß,
“ Denn die Reizung ſchafft nicht Qual hier, der Genuß nicht Ueberdruß,
. Der Genuß treibt nur zur Reizung, und die Reizung zum Genuß.
ü 343
Thomas von Gelano (um 1250) zugeichriebenen ‚Dies irae dies illa“ —
die Schrecken des Weltgerichte8 verfündigt werden. Ein Jahrhundert früber
hatte Bernhard von Clairvaur in feinem „Jesu duleis memoria* — und
anderen Hymnen feinem driftlichen Stoicismus begeifterte Worte geliehen
und fpäter verherrlichte Thomas von Aquino das Fronleichnamsfeft in einem
myſtiſchen Hymnus und ſang der Mönch Jacoponus fein ſüßmelancholiſches
„Stabat mater“.
Wenn man dieſen Fortgang der kirchlichen Hymnologie mit Aufmerk⸗
ſamkeit anſieht, ſo bemerkt man unſchwer, daß die chriſtliche Poeſie von ihren
erſten ſchüchternen und asketiſchen Tönen ſchon zum Reicheren, Vielgeſtaltige⸗
ren und — Sinnlicheren vorgeſchritten iſt. Wir nehmen das letztgebrauchte
Wort ſelbſtverſtändlich im beſten Sinne, nämlich in dem von Natur. Es
ift überhaupt ein Irrthum, zu glauben, die Freude an der Natur fet im
‚ Chriftenthum nit frühzeitig wieder erwacht. Selbſt ſchon zu einer Zeit,
wo ter fpiritualiftifche Enthuflasmus des Chriſtenthums mit größter Ver⸗
achtung auf das Natürliche und Wirfliche herabſah, hatte fich fogar ein fo
mönchiſcher Charakter, wie Baſtlius der Große war, nicht enthalten können,
in einem Briefe an Gregor von Nazianz dem Ausdruck feiner finnigen
Naturfreude Raum zu geben, und mit Recht hat Humboldt diefen Brief als
ein Beugniß poetiicher Landſchaftsmalerei angeführt 2). Aber das Ver⸗
balten der Ehriften zur Natur war nicht dad naive, unbefangene der Hel⸗
lenen. Der Chriſt konnte freilich ſeine Augen der Herrlichkeit der Natur
nicht auf die Länge verſchließen. Er mußte, ſofern ihn die Askeſe nicht
gefühllos oder wahnfinnig gemacht, die Natur bewundern und lieben. Allein
diefe Bewunderung und Liebe war eine fo zu fagen nur im Geheimen zu
befriedigende. Die Reize der Natur waren für ihn verbotene, Daher nur
—— nn — — —
Aus der ſuͤßen Floͤtenſtimme quillt der Bach der Melodie,
Inſtrumente, ſüß den Ohren, toͤnen jauchzend Harmonie,
Denn ſie fingen Preis dem König, welcher ihnen Sieg verlieh.
Gluͤcklich, gluͤcklich ift die Seele, die vor ihrem König fteht,
Unter deren Füßen unten ſich des Weltall Are dreht,
Sonn’ und Mond git den Geſtirnen ferne nur vorübergebt.
(Fortlage's Ueberf.)
88 if nicht unintereffant, die Schilderung des hriftlichen Paradieſes mit ter des mos⸗
lemitchen zufammenzuhnlten. ©. u. 6. Buch, 3. Kap., 5, Anm. 12.
2) Kosmos, II, 27.
344
mit einem geheimen Schauder und Grauen betrachtete und genoſſene. Aus
dieſer Dämonijchen Reizung und Lockung und der geheimen Angft davor ift
| jenes romanttiche Naturgefühl entiprungen, weldes in der modernen Poefte
: und Kunft eine fo höchſt bedeutende Rolle Ipielt.
Der in Frage lebende Brief des Baſilius bietet auch noch einen weiteren
Geſichtspunkt. Es findet ſich nämlich darin eine mythologiſche Anfpielung,
die jich im Munde eines Kirchenvaterd und Anachoreten ziemlich jonderbar
audnimmt, Wir Dürfen aber nicht vergeflen, daß die Väter der Kirche
durdichnittlich in der clafjlichen Literatur wohlbewandert waren, und mochte
Diefe auch zu den „verdammlichen fleiſchlichen“ Dingen gehören, dennoch
fonnten die frommen Männer dem Zauber ded Menſchlich-Schönen, welder
in der antifen Mythologie und Poefle waltet, nicht immer widerftehen. Sa,
noch mehr, wir floßen in der altchriftlihen Dichtung auf Werke, deren
Verfafſer bei den „armen blinden * Heiden die umfaffendften poetifchen An⸗
leihen machten, woraus fid dann der wunderlichfte Durcheinanter von Chrifte
lihem und Helleniihem ergab. So, um cin berühmtes Beifpiel anzufüh«
ren, in dem Paſſtonsſpiel Xguorös zuoywr, angeblih von dem ſchon ge=
nannten Gregor von Nazianz verfaßt, mit wahrhaft großartig ungenirter
Benügung bed Euripites3). Aller Wohlgemeintheit ungeachtet, welche
nian diefem Stück zuerfennen mag, fann man doch nicht umhin, zu
lächeln, wenn die Jungfrau Maria, nachdem ihr das bevorſtehende
Leiden ihres Sohnes angekündigt worden, ihren Schmerz in Worten
Luft macht, welche Euripides feinen Hippolytos ſprechen ließ, als Liefer
von der blutfchänderifchen Liebe ter Phätra zu ihm unterrichtet wor-
den ward),
Ein weit reinerer und originalerer Ton als in derartigen Mifchwerfen
hob in der chriſtlichen Poeſte zu Elingen an, ald nach verftummtem ungeheu=
ren Getöfe der Völkerwanderung in der Farolingijchen Zeit die chriftliche
Idee dad germanifche Gemüth zu erfüllen und zu bewegen begann. Zu
erörtern, wie bie chriftlich-geiftliche Eultur in das Germanenthum einging
und wie ſich allmälig aus ber lateiniſch-geiſtlichen Dichtung die deutjch-
— —
3) Vgl. über dieſes merkwuͤrdige Product altchriftiher Dichtung die treffliche
Abhandlung, welche Elliſſen feiner mit einer metrifchen Heberfegung begleiteten Tert⸗
ausgabe vorfegte. „Analekten der mittels und neugriechiichen Literatur”, J.
4) Q yaia unteg, nAlov Ü' avanıuyai! cet. Xe. r. 267. Hipp: 601.
— u — — u —- — - — — — — — —Ni — — RT — — — - m
— — — — — — —
345
geiftliche heraudbiltete, ift hier nicht ver Ortd). Wir jprechen daher nicht
von den einichlägigen Bemühungen eined Hraban, Norfer, Williram und
Anderer, felbft von der möndijchegelehrten, althochdeutichen, ald Spradys
quelle außerordentlich wichtigen Evangelienharmonie des Benedictinerd Ot⸗
frid, welche in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts gedichtet wurde, —
wohl aber furz von, der etwa zwei oder drei Jahrzehnte früher entflandenen
altſächſiſchen Evangelienharmonie „Heliand“ (Heiland). Dieſes in Stab⸗
reimen gedichtete, auf die Berichte der Evangelien baſirte Epos iſt ohne
Frage das eigenthümlichſte Werk germaniſch-chriſtlicher Ppeſte. Mit der-
ſelben wunderbaren Naivetät, womit Homer feine Götter ſprechen und huns
deln laͤßt, iſt hier der Stoff der evangeliſchen Geſchichte behandelt. Ein
zweites derartiges Werk exiſtirt nicht. Ton und Färbung find ganz germa-
niſch-national. Keine Spur von mönchiſcher Gelahrtheit. Alles volks—
mäßig, klar, ruhig, echtepiih. Der unbefannte Dichter hat Dem Geiſt des
Chriſtenthums einen germanischen Leib gegeben. So ſchildert er un die
Hofhaltung des Herodes als die eined altfüchflichen Herzogs, läßt den Chriſtus
wie einen germanijchen Adaling unter feinem Dienftgefolge erjcheinen und
macht aus der Bergpredigtverfammlung ein deutſche Herzen anheimelnded
altgermaniiches Volksthing.
9.
| Die Kreuzzüge — in der umfaflenden, an früherer Stelle von uns
dDargelegten Bedeutung gefaßt — führten jene Blüthe der mittelalterliche
hriftlichen Poefte herauf, welche wir die ritterliche Romantik zu nennen pfle-
gen. Morgenland und Abendland, bag durch Byzanz vermittelte Wieder-
erivachen der antifen Erinnerungen, die Einflüffe arabijcher Cultur und das
riftlich-Tpiritugliftifche Liebesidenl verbanden fih zur Schöpfung einer poetie
ſchen Welt, deren Seele die Minne war, ſich offenbarend ald Gottedminne
und al& Trauenminne Mittelpunkt diefer romantiſchen Wunderwelt blieb
das farholiiche Dogma, aber gerabe weil tiefes Dogma nad) allfeitiger fünft-
lerijcher Geſtaltung rang, mußte der chriftliche Spiritualismus dem realifti=
jhen Prinzip in der Poefle die weitgehennften Einräumungen madhen. In
ber That jehen wir denn guch den bluͤhendſten Realismus in den romanti⸗
8) Bine fleißige und reihe Sammlung der altdeutſch⸗geiſtlichen Dichtung. gibt
Sötefe in feinem „Mittelalter“, Abfchn. 2, 3, 4.
346
ſchen Regionen walten, weldye Dame „Aventüre * ald Mufe durdichweift,
einen Realismus, hinter welchen der chriftliche Idealismus oft jehr beſcheiden
zurüdıritt.
In der Provence zunähft, dann in Nortfrankreih äußert fih die
ritterliche Romantif lyriſch, didaftiih und epiih. Die farolingiichen und
bretoniſch⸗keltiſchen Sagenkreiſe liefern vorwiegend das Material. Aber ein
höherer Gehalt wird dieien Stoffen erft eingehaudt, eine edlere Kunftform
erhalten fie erft in Deutichland, wo Nitterepopde und Dinnegeiang zur
Bollendung geführt werden. Die Höhepunkte dieſer deutſch⸗romantiſchen
Nitterdichtung bezeichnen ald Lyriker Walther von der Bogelweide, ald Epiker
Wolfram von Eſchenbach und Gottfried von Straßburg. Wolframd Par⸗
zival ift eine8 der merfwürbdigften Werke des Menſchengeiſtes, ein pſycholo⸗
giſches Epos voll Tieffinn und Gedanfenhohheit. Gottfried Triftan da⸗
gegen gehört zu dem Anmuthigften, was die Poeſte je geſchaffen. Wolfram
ift myſtiſcher Ipealift, Gottfried lebensfreudiger Realiſt. Jener fchöpft feine
Infpiration aus der himmlifchen, diefer die feinige aus der irdiſchen Minne.
Im Parzival ringt die Hriftliche Himmelsſehnſucht, im Triftan pulftrt die
heidniſche Leidenſchaft. Wolfram laßt den Gott, Gottfried läßt den Men⸗
fen triumphiren. Beide Dichter fiellen in fih den großen Gegenſatz
zwifchen Idealismus und Realismus dar, welder ſich fpäter in der deutſchen
Literatur noch oft wiederbolte!). Eigenthümlich ift das Verbältnig der
volfsmäßigen deutſchen Heldendichtung zur ritterlicheromantijchen Kiteratur.
Die altnationalen Gagenfreife, von fahrenden Sängern Jahrhunderte lang
durch mündliche Tradition fortgepflanzt und dann zu Anfang des 13. Jahr⸗
hunderts von kunftmäßigen Dichtern überarbeitet, bewahrten ihre heidniſche
Natur. Der Stolz des germanijchen Heldengelanges, das Nibelungenlied,
iſt im Wefen und Ton durdaus heidniſch. So au die Gudrun und das
Eleine Heldenbuch. Chriftliches wird zwar Häufig darin erwähnt, aber
ganz beiläufig und aͤußerlich. Diefg grandioſe Epik ift naiv finnlich, welt⸗
lich, heidniſch.
Das Ziel, welches zu Anfang des 13. Jahrhunderts der Deutſche
Wolfram mächtig angeſtrebt hatte, die Geſtaltung der chriſtlichen Idee zu
einer Univerfaldichtung,, erreichte im 14. der Italiener Dante. Man bat
ihn nicht mit Unrecht den Homer des Chriſtenthums genannt, denn wie bie
1) Klopftod und Wieland, Schiller und Göthe, Börne und Heine.
%
347
homeriichen Gefänge das Helleniihe Dogma mythologiſch auseinanderfalten,
fo thut Dante's große Dichtung, die Divina Commedia, mit dem chriſt⸗
katholiſchen. Die göitliche Komödie löſt das Dieſſeits ind Jenſeits auf,
verfluͤchtigt den Realismus des Menſchendaſeins in die phantaſtiſchen Zus
kunftswelten der Hölle, des Fegfeuers und des Himmels. Durch einen
Genius von ungeheurer Energie iſt in Dante's Gedicht dad ganze unermeß⸗
liche Material, welches heidniſche und chriſtliche Phantafte ſeit Jahrhunderten
und Jahrtauſenden zur Conſtruction eines vorgeſtellten, gehofften ſowohl
als gefürchteten Lebens nach dem Tode aufgehäuft hatte, zu einem Rieſenbau
verwendet worden, der feines Gleichen nicht hat?). In diefem Wunderbau
ift Alles myſtiſch, ſymboliſch, allegoriich ; das Wirkliche erfcheint als unmög«
lid, das Unmögliche als wirklid. Mit unvergleichlicher Meifterichaft hat
der Dichter im Fortgang feiner Wanderung durch die Welt der chriftlichen
Mythologie den Entfinnlihungsprozeg veranfchaulicht, welchen dem hriftlichen
Dogma zufolge die Menſchenſeele durchmachen joll. Im Inferno ftehen wir
noch auf dem realen Boden der Leidenjchaften, aber wie wir mit dem Dichter
aus den Höllenbulgen heraus und die Stadien des Yegefeuerberges hinans
Reigen, bleibt Schritt für Schritt alles Reale Hinter und zurüd und im
Paradiio vollends geht allmälig die ſinnliche Begreiflichkeit ganz aus. Da
wandeln wir in der Aetherluft der reinen Idee und alle Vorftellungen ver-
fäufeln zulegt in efftatiihen Wonnen, für die e8 feinen Ausdruck mehr gibt.
Das Fleisch ift Geiſt geworben.
Dante's Komödie fieht am Eingang der ttaliihen Literatur als Die
größte Leiftung derfelben. Hier war die Fatholiiche Idee zur großartigften
dichterifchen Erfcheinung gefommen und fogleih trat ein Niedergang Liefer
Idee ein. Das antife Element wurde in der italifchen Poefte neben dem
hriftlihen mächtig. Weniger deutlich erkennen wir dad in der hriftlich-
2) Es fieht zu vermuthen, daß Dante eine äußerliche Anregung zur Schöpfung
der göttlichen Komödie duch den franzöflihen Minftrel Raoul de Houdan erhalten
habe, welcher um 1190 Das Gedicht „‚La vove vu la songe d’Enfer‘‘ verjaßt hatte.
Selbftverftändlich haben die antifen Mythen vom Elyſium und Tartarus auf die Ges
ftaltung der chriftlihen Vorftellungen von Himmel und Hölle eingewirft. Falls Dans
te's Name nicht dadurch entweiht würde, möchte ich fagen, daB für Deutfchland der
Pater Kochem eine Art vollsmäßiger Yante geworden if. Sein „Himmelsihlüffel“
läßt befanntlich die Folterphantafte aller Inquifltoren und Herenrichter Hinter ſich.
In dieſem grotesfen Buch feiert die hriftliche Mythologie ihr „Narren: und Gjelsfeft“.
348
platoniihen Sentimentalität Der Sonnettendichtung des Petrarca, aber ſehr
deutlih ſchon in der Norelliftif des Boccaccio, welder tie Möndyerei mit
dem Spottgelücdhter beidniicher Fleiſchesluſt überſchüttet. Dieſer Zug von
Ironie und Spott zieht fih auch Turd Lie romantijche Epik ter Pulci und
Arioſto jehr vortretend hindurch, und wenn ed; tem Taſſo mit tem chriſt⸗
katholischen Ideal hoher Ernſt war, io iſt er in jeinem aroßen Kreuzzugs—
gedicht Tod ein zu offenfuntiger Nachahmer ter antifen Epifer geweien, als
dag fein Werk für einen reinen Ausdruck jenes Ideals gelten könnte. Noch
entjchiedener und geradezu Tominirend tritt die antife Reminiscen; in Des
Portugieien Samoed herrlichem Heldenlied von den Yufiaten auf. Da wird
ſchließlich die hriftlihe Verteufelung der heidniſchen Götter ganz fallen ge=
lajjen und werden, wenn auch mit Unhängung allegoriider Deutung, die
Umarnungen helleniiher Nymphen criftlihen Helten ala lodendfte Beloh—
nung für beftandene Gefahren und Mühſale Hingeftellt. — Biel reiner und
firenger ericheint das katholiſch-romantiſche Ideal in der ſpaniſchen Poeſie.
Nachdem der Kreuzzugsgeift in den Romanzen vom Eid eine jhönfte Ver:
förperung gefunten, fam Die ganze Ritterwelt zu breitefter Darlegung in
jenen Romanen, weldhe man nad ihrer typiichen Hauptfigur Almatiromane
zu nennen pflegt. Allerdings fand dieſe Ritrerdichtung, wie ihre höchſte
Vollendung, jo zugleih auch ihre Vernichtung durch das mit Recht welt—
berühmte Buch des tieffinnigen Cervantes, welcher Den Gegenſatz von Ideas
lismus und Realismus mit fouverainer Genialität zu einer Tragikomödie
des menſchlichen Lebens geftaltete und an dem Schidjal des edlen Mancha-
ners nachwies, Daß der Menſch nicht ungeſtraft die Verhältniſſe der Wirk—
lichfeit mißachte- Dennoch aber trieb erſt nach Cervantes das katholiſche
Dogma in Spanien ſeine reichſten und prächtigften poetiſchen Blüthen, in
den Dramen eines Zope und Calderon. Hier wird die chriſtliche Himmels—
ſehnſucht zur Verzückung, die kaum mehr vom Wahnfinn zu unterſcheiden
iſt, die chriſtliche Rechtgläubigkeit zu fanatiſcher Ausſchließlichkeit, die Glau—
bensbegeiſterung zu wilder Graufamkeit. Es iſt etwas Mänadenhaftes, Or-
giaſtiſches in dieſer Lope-Calderon'ſchen Dichtung. Sie haucht einen narko—
tiſchen Duft, welcher die Sinne umnebelt und das Herz zuſammenſchnuͤrt.
10.
Das Prinzip der Glaubensautorität, die katholiſche Idee, wie ſie im
ſpaniſchen Drama des 17. Jahrhunderts ihre vollſte und blendendſte poetiſche
349
Darftellung gefunten, hatte fih an der Reformation zu neuer Lebensfaͤhig—
keit aufgefrifcht. Nur im Gegenfag zum reformatorifhen Germanismus
war der Romanismus zu jenem energiichen Abſchluß gelangt, welchen ihm
Die Befchlüffe ded Tridentiner Concild gaben. Das proteftantifhe Prinzip,
die, freie Selbftbeflimmung des Individuums, das „Ideal der Selbftgewiß-
beit *, ift feiner innerften Natur nach eben fo weſentlich germanifch, als der
Katholicismus wefentlich romanifch iſt. Die beiden großen Gegenfäge im
biftoriichen Chriſtenthum, die fatholiihe Veräußerlihung und die proteflan-
tifche Verinnerlichung defielben, blieben auch nattonal abgegränzt, Denn die
bleibenden Eroberungen, welche der Proteftantißmus unter den romaniſchen
Völkern gemadıt, ſtatuiren höchftens eine Ausnahme von der Regel. Auch
in Betreff der poetifchen Production. Denn wenn aud, um einige vor=
zagendfte Beifpiele anzuführen, zur Reformationszeit ein Rabelais die Spring-
flut feines cynifhen Sarkasmus gegen den Fels der Kirche anbranden ließ;
wenn fogar fchon früher ein Pulci das Eirchliche Dogma ganz offen verhöhnt,
ein Arioſto taffelbe ironisch belächelt, ein Macchiavelli die jeſuitiſche Caſui—
ftil, bevor es einen Jeſuitenorden gab, in feiner zügellofen Komödie La
Mandragola blutig gegeißelt hatte — nirgends doc war e8 zu einem ent=
ſchiedenen Bruch mit der Hriftlichen Autorität gefommen.
Der germanijche Ernft vollzog diefen Bruch. Die Bibel einerfeit,
das claſſiſche Alterthum andererjeitd wurden für die Völker germanifchen
Stammes die Grundlagen einer neuen Weltanfhauung. Der Kampf der
Freiheit gegen die Autorität begann auch in der Poeſte. Diefer Außerte ſich
zunaͤchſt vorwiegend polemiſch und Iegte überall den Maafftab einer verftän-
digen Kritik an die Vergangenheit. So in den religids-politiichen Faſt⸗
nachtöfpielen jener Tage; fo in den Werfen jener Reihe von Babuliften und
Satirifern, welche von Brandt bis auf Fiſchart herabreicht; fo in der bei
aller abfichtlichen Unclaffleität dennoch clafftfähen Satire der Epistolae viro-
rum obscurorum, welche aus den Kreifen der deutſchen Humantften bervors
gegangen iſt, wo der Wig des Erasmus und der edle Enthuftasmuß des Uls
rih von Hutten den Ton angaben!). Bezeichnend ift auch, daß auf der
1) Erhard, in feiner „Geſchichte des Wieteraufblühens wiſſenſchaftl. Bildung *,
11, 380, weift mit nicht geringer Wahrfcheinlichfeit nach, daß der erſte Theil der „Duns
felmännerbriefe” von Johann Erotus verfaßt fei. Seine Mitarbeiter feien Peter Eber⸗
bady und Herinann von Nuenar gewelen. Zum zweiten Theil könne Hutten beige:
fteuert haben.
350
Bränzicheide des 14. und 15. Jahrhunderts Das uralisgermanifche Thierepos,
welches fi im Verlaufe Der Zeit zur derben Ironifirung des Pfaffenthums
beraufgebildet batte , in dem niederdeutfchen „Reinefe Vos“ feinen dichteri=
fen Abſchluß fand. Als poſitive Dichteriihe Schöpfung konnte tie Refor⸗
mationdzeit in Deutidhland zunächſt nur das proteftantifche Kirchenlied auf⸗
weiten, zu welden Luther die marfige Weiſe angegeben hatte.
Dagegen ſchickte der germaniicye PVroteftantismus in England zwei
Dichter vor, durch welche das proteftantiicde Prinzip feine höchſte poetiiche
Weihe erhielt: Shakſpeare und Milton. Wir nehmen natürlich das Wort
Proteftantismus hier nicht in dem engen confeiftonellen, ſondern im weiten
und weiteſten Sinn. Proteſtantismus ift und alfo Die freie Selbftbeftim-
mung des Menichen und in diefem Sinne nennen wir Chaffpeare einen pro=
teftantiichen Dichter. Der wunderbare Genius tiefes Mannes, tem ohne
MWiderrede der Thron des Univerjaldichters der modernen Welt eingeräumt
ift, wußte Nichts von Dem mittelalierliben Gebuntenjein des Geiſtes. Das
kirchliche Dogma hat ihm nicht imponirt. Die Charaftere, die er geichaffen,
find frei, ſie beſtimmen fich jelbft, ihre Handlungen find Acte ihres Willens.
Sie find feine ſchemenhaften Darionetten an den Drabten des firdlichen
Dogma’d und der kirchlichen Moral, fondern Menſchen, volle und ganze
Meniden, von innen heraus lebend, auf fich felbft geftellt. Nun aber ſteht
dem freien Menichenwillen ein Ewiges, Geheimnißvolles gegenüber, was die
Menſchen Verhängniß, Schidial, fttlidie Nothwendigfeit, Gott nennen. An
diejer Schranke bricht ſich die menſchliche Selbftgemißheit ; fie geht an ihr zu
Grunde, falls fte nicht zugleich Selbftbeichränfung if. Das if Shafipeare’s
Tragik. Die menicliche Freiheit artet leicht in Willtür aus, welde im
Anrennen gegen jelbftgefeßte, unweſentliche, nichtige Schranfen ein eitled und
thörichtes Spiel treibt, in deſſen Verlauf fie haltlos in fi) zuſammenbricht,
um aus ihrer Vernichtung das Rechte hervorgehen zu laflen. Das ift
Shakſpeare's Komif. So hat Shafipeare in Tragif und Komif, zwiſchen
welchen” jein tiefernfler und zugleich olympifch beiterer Humor tie vermit⸗
telnde Brücke ſchlägt, die ethiiche Idee des Chriſtenthums in ihrer ganzen
Tiefe erfaßt. Milton feinerfeits verficht in feinem großen Gericht vom ver-
lorenen Paradies ebenfall8 die proteflantifche Idee der Freiheit, aber nicht fo
faft in dem weltweiten Shakſpeare'ſchen als vielmehr in dem begränzteren
Sinne des Puritanismus. Die Schranke, an welcher hier die menſchliche
Selbftbeftimmung zu Grunde geht, ift nicht das ewige Sittengefeß, ſondern
351
das bibliſche Dogma in ſeiner puritaniſchen Auffaſſung. Hierin liegt der
Grund der dogmatiſchen Verkümmerung der großen Ingention von Miltons
Merk, hierin auch der weitere, warum Klopſtocks Verſuch, den von Milton
angeichlagenen Tonim 18. Jahrhuntert fortzuführen, nur eine fehr vorüber-
gehende Wirkung gethan hat.
Denn dieje 18. Jahrhundert ging, wie Jedermann weiß, recht eigent«
lich darauf aus, alle Schranken der gefchriebenen und traditionellen Autori«
tät niederzuwerfen und die Prinzipien der Reformation vom religiöien aud
auf die übrigen Gebiete des Lebens herüberzupflanzen. Der Geift dieler
Beit war ein hriftlicheidealiftiicher, jofern er ein weientlich Eosmopolitifcher
war; er war aber aud ein antifsrealiftiicher, jofern er die Gruntfäge des
Humanismus allieitig zur Geltung zu bringen ſuchte. Die religiöfe Sfep-
tik, von den englijchen Breidenkern auf die franzöflichen Encyklopädiften üher«
gegangen, hatte hier, nachdem das antike Schönheitsiteal in der franzöſiſchen
Tragödie zum Eritifchen Mefler geworden, eine deiftiiche Poefte erzeugt, ale
deren Hauptrepräfentant Voltaire erfcheint. Er übergoß die Eirchlichen Dog«
men, die Hierarchie, das biftoriihe Chriftentyum überhaupt mit der Lauge
bitterften Spotte8 2), aber zugleich anerkannte er huldigend die Grundlehren
des chriftlichen Glaubens und der chriftlichen Sittenlehre). Er war jo fehr
Deift, daß er in Verjen, die zu feinen glängendften gehören, den berühmten
Ausfpruh that, wenn Gott nit wäre, müßte man ihn erfinden ?). Im
—_ _ — —
2) Die Quinteſſenz deſſelben iſt zuſammengefaßt in der 1722 geſchriebenen Epi⸗
ſtel an Uranie (l.e Pour et le Contre).
3) Keiner ter Zeloten, welche eine wüthende Grimafle fchneiten, fo oft Vol⸗
taire's Name genannt wird, würde es zu jener hohen Anficht des ethiſchen Prinzips
im Ehriftenthum bringen, welche Voltaire in feiner Alzire Darlegt, da, wo er den Chris
ften Gusman zu dem Heiden Zamore fagen läßt: —
Des dieux que nous servons connais la difference:
Les tiens t’ont commande& le meurtre et la vengeance;
Et les miens, quand ton bras vient de m’assassiner,
M’ordonnent Je te plaindre et de te pardonner.
&) Ils (les peuples) ont adoré tous un maltre, un juge, un pere;
Ce systeme sublime à I’homme est necessaire::
{ C’est le sacre lieu de la socidte,
Le premier fondement de la sainte equite,
Le frein du scelerat, l’esperance du juste.
Si les cieux, depouilles de leur empreinte auzuste,
352
deutſchen Rationalismus und Humanidmus wurde dann dieſes deiftiiche
Prinzip zum weltbürgerlichen Idealismus erhoben und erhielt feine claiitiche
dichteriſche Geſtaltung in Leſſings Nathan, dieſem, Bild edelfter Menſchheit *.
Houffeau, flatt wie Voltaire an den „ Esprit“, appellirte an das Gemüth
und ſetzte Dem bibliihen Evangelium ein Naturevangelium, der geoffenbar=
ten Religion die natürliche entgegen, Deren Eredo er immer und üferall, am
beredteften aber in der berühmten Profession de foi du vicaire savoyard
verfündigte. Auch Rouſſeau ift ein Gläubiger, aber flatt ein Theologe zu
fein, ift er ein Menſch. „Wage es, ruft er jeinem Emil zu, — ten Philos
fophen gegenüber Bott zu bekennen! Wage c8, den Unduldiamen gegenüber
Humanität zu predigen!“ Der enthuflaftiiche Ruf nad Natur und Freiheit,
welchen Roufſeau erhoben, fand Iauteften Wiederhall in Deutjchlant. Hier
nahmen ihn die, Stürmer und Dränger * auf, welchen Gerber, in Fortſetzung
der Mifflon Leffings, als Fritiiher Bannerträger voranſchritt. Göthe und
Skhiller erhoben dann die naturaliftiiche Wreiheitdidee der Sturm- und
Drangperiode in die Sphäre der Kunft. Wie fi die beiden großen Män-
ner im eben befreundet waren, jo ergänzen fich ihre Werfe gegenieitig. Hier
ift das Ideal der Humanität, in welchem Heidnifches und Ehriftliched, ge—
läutert im euer der modernen Bildung, zum modernen Griechenthum ver=
fhmilzt, voll und ganz zur poetijchen Erſcheinung gefommen. Abgewandt Beide
dem kirchlichen Dogma und oft in den jchärfften Ausdrüden dicje Abneigung
manifeftirend, find doch Göthe und Schiller vom lauterſten und innigften reli=
giöſen Gefühle befeelt. Ueberall ift und wirft in ihnen der Gott. Wunder-
bar haben fie die Verteufelung ter Natur überwunden und im Menſchlich⸗
Schönen herrlih das Göttliche aufgezeigt. Die Göthe⸗Schiller'ſche Poeſte
ift die Summe einer adhtzehnhundertjährigen Bildungsgefchichte der Menſch—
heit. Daher wird ed auch Jahrhunteste währen, bis wieter fo eine „ Men—
ſchengeſchick beſtimmende“ Dichtung gereift it. Was einftweilen nady Göthe
und Schiller Dichterifch zu Tage getreten, ift bei aller Genialität im Einzel—
nen doch im Ganzen nur Unfertiges, Unreifed. Die durch EChateaubriand
in Sranfreich, tur die romantiiche Schule in Deutſchland begründete mit—
telalterlichefatholiftrende Reaction gegen ten humaniftifhen Idealismus Hat
zwar der Contrerevolution Sandlangerdienfte geleiftet, aber Fünftleriih nur
Pouvaient cesser jamais de le manifester,
Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer.
... 393
fohr wenig Bleibendes geichaffen und ift dann, an ſich felber verzweifelnd,
theils in quietiftiiche Blafirtheit, theild in wilde Berriffenheit umgeſchlagen.
In dem Sumpf der Blafirtheit verſchwanden die deutfchen Romantiker. Die
rothe Fahne der Zerriffengeit und Verzweiflung — einer wirklichen ober
blo8 gemachten — ſchwang Byron Hodhtrogig gen Simmel und ihm find in
Deutſchland Heined) und feine Schule, in Branfreih Hugo und feine neu⸗
tomantiichen Anbänger nadgeganyen. Bon einer „Pocfle und Kunft der
Zufunft * wird dermalen viel geiproden und geichrieben, aber die wirkliche
Erſcheinung derfelben {ft jelbft am fernften Saum des Horizontes der Ge⸗
genwart noch nicht wahrzunehmen.
Anhang zum fünften Bud.
Das Judenthum in der chriſtlichen Zeit.
1.
Mährend das Chriſtenthum ſich ſtets in höherem Maße als welt-
erobernde Religion bewährte, in die Eigenthümlichkeiten aller Nationen ein⸗
ging und alle Gebiete Des geiftigen Lebens durchdrang, erwies ſich das
Judenthum, deffen Anhänger durch Die legte große Niederlage unter Bar⸗
Cochbah noch weiter über den Erdkreis zerftreut worden, al8 die confervative
Religion, welde ſchon wegen ihres nationalen Charafterd und mehr nody
wegen der Verwerfung ihrer geichichtlich » nothwendigen Entwidlung im
Chriſtenthum, Feiner jelbftftäntigen Entwicklung mehr fähig ſein konnte.
Zugleich aber bietet und die weitere Gefchichte des Judenthums den in der
Weltgeſchichte einzigen Anblick eines Volkes, welches, obwol es Feine Heimat
mehr befigt und feinen Staat mehr bildet, doc nicht in die übrigen Völker
anfgegangen if, fondern fich als eine geiftige Einheit behauptet hat.
Man hat die Entftehung der neuen Geſetzbücher, die Beränderungen in
— mn
5) Melcher aber doch zwei Gedichte geſchrieben hat, die zu den fchönften gehören,
welche überhaupt im und vom Chriftenthfum hervorgebracht wurden ; — die „Wall:
fahrt nach Kevlaar“ und das Nortfeebild „Frieden“.
Scherr, Geſch. d. Religion. IM. 93
der Berfaffung der jüdiſchen Religiondgenofienidiaft und im Eultus, die
Beripaftung Der Juden in Selten als weitere Eutwiciungen bed Judenthums
anfehess wollen ; aber es wird fi bri näherer Betrachtung zeigen, Daß das⸗
felbe in allen dielen Dingen theils an das Althergebrachte gefeſſelt geblieben,
theils unter dem Einfluffe des Chriſtenthums und des Islam geftanden ift.
Die Leiftungen juͤdiſcher Belehrten vollends in ter Philoſophie bangen ganz
son Einflüffen ab, welche dem Judenthum fremd find. Ein Mofes Maimo⸗
nides, Spinoza und Mendelsfohn philofopbirten fo wenig im Geifte des
Judenthums, ald Arifigteles im Geiſte der homeriſch⸗heſtiodiſchen Volförelis
gion philofophirt hat. Ein kurzer Ueberblick über Die Geſchichte des Juden
thums feit den Zeiten Hadriand wird vorftehende Behauptung beftätigen.
92,
Von den Phariiäern her waren mündliche Ueberlieferungen neben dem
moſaiſchen Gefege im Gebrauch. Als nun mit bem Tempel auch dad mo=
ſaiſche Prieftertfum ein Ente genommen, erhoben fid die Synagogenlebrer
(Nabbinen) zu Erben der Vriefler una Hohenprieſter. Die Rabbinen lei⸗
teten die Gemeinde nah der Halacha, d. h. dem allgemein anerfannten
Herkommen. Unter ihnen bildete ſich zwar die Tradition mündlicher Ge⸗
ſetze weiter, aber gegen Ende bes 2. Jahrhunderts verſchwand ber Urheber
dieſer Tradition, der Pharkjäismus, in Verachtung gefallen burd die nier
drige Scheinheiligfeit feiner Glieder, und mit ihm zugleich ter Sadduzaäis⸗
mus, gegen welchen cinige der neueren Gelee fpeziell gerichtet waren. Die
Samariter verwarfen conjequent au die rabbinifche Tradition. Ihre
firenge geiflige Abgefchloflenheit, gegründet auf das alleinige Feſthalten am
geichriebenen Gelege Moſis, hat fie jo vereinzelt, Daß ihrer gegenwärtig nur
noch ein paar Hunderte vorhanden fein mögen.
Die rabbiniſche Tradition fahte um 230 n. Chr. Jehuda der Heilige
in der Miſchna zuſammen, einem neuen Geſetzbuch, weldyes unter den Ju⸗
den bald allgemeine Gültigkeit gelangte. Statt wie zuvor dem alten Teſta⸗
ment, wandte fidh jegt das Stutium (Gemara) allgemein der Mifchna zu.
Um 359 wurden fänmtlihe Commentarien zu derfelben gefanımelt und
daraus, mit Bugrundelegung des Mifchnatertes, entftand ver Talmud, def=
jen erſte Redaction Die Bezeichnung der Jeruſalemitiſchen führt. Erſt der
fogenannte Babylonifche, weil von den batylonifchen Rabbinen Aſche und
Abina redigirte, Talmud erlangte jedoch allgemeine Anerkennung. Auch die
— —
3
freie Umerbeitung ded Talmud, welche im 12. Jahrhundert Mofe Ben Mai⸗
mon (Maimonides) unter dem Einfluß arabiſch⸗ariſtoteliſcher Philoſophie
vdruahm, kam unter dem Titel, Jad Chaſaka“ bei den Inden gu großem An⸗
ſehen, wenigſtens unter den heller denkenden. Daß unermeßliche Raterial,
waß die verſchiedenen Mebactionen,; Erweiterungen und Erlaͤuterungen der
Talmude anhäuften, wurde dann poetiſch ausgenützt von Selten: jener
in pulgär⸗ aramäiſcher Sprache ſich bewegenden Dißtung, welche vie
Hagada (d. 1. Geſagtes) heißt). - Mofe Corduero brachte im 16. Jahres
hundert die von Alters ber traditionell unter den Juden fortgepflanzte my⸗
ſtiſch⸗ magiſche Geheimlehre der Kabbala, welche zu fo viel Humbug und
Schwindel Veranlaſſung gegeben, zum Abſchluß. Sie enthält, in einer
dunfeln und bilderreichen Sprache verfaßt, ein wunderlichſtes Geuiſch von
jüdifchen, perſiſchen, aͤgyptiſchen, griechiichen und arabtichen Anſchauungen
und Meinungen.
3.
Die Berfaffung der Judengemeinden bat ſich nad) den politiſchen Ver⸗
bältniffen der Völker gerichtet, unter denen „Iirael in der Zerſtreuung“
lebte. Die in Palaͤſtina zurücgeblichenen Iuten errichteten aus den anges
fehenften Rabbinen das aliherkömmliche Synedrium, deſſen Vorfiger den Ti-
tel Naſt führte. Unter Jehuda dem Heiligen aber exiflirte fon Fein
Synedrium mehr. Er, der Nafl, war nur noch Vorſteher eines geifflichen
Berichtes, weldyes aus ihm ſelbſt und zwei Beiſttzern befand und bie Befug«
nif der Verhängung von Geißelung und Bann befaß. Die babylonifchen
Judengemeinden fanden anfänglid) unter einem rein weltlichen Oberhaupte,
dem Reſch⸗Glutha, d. h. Haupt ber Coloniſten. Um 260 errichtete dieſer
zwei einander beigeordnete rabbinifche Gerichtshöfe, den einem in Nahardea,
den andern in Sura, wo ſich die beiden wichtigſten Rabbinenſchulen befan-
den. Im 8. Jahrhundert Famen durch die Bekehrung eines Fürſten der
Ehafaren am kaspiſchen Meer Juden auf den Thron dieſes Reiches. Dritte
halb Jahrhunderte hindurch Herrfchte daſelbſt ſtets ein Jude mit einem: juͤdi⸗
fchen Miniſter und einem aus Juden, Ehriften und Mohammedanern gebils
deten Math. Allgemein galt der Brundfag ber Oteligiondfreiheit. Inter
4) Eine Sammlung Hagadifcher Gedichte, ind Deutfche übertragen, gibt: Jolo⸗
wie?’ 3 „Polyglotte der oriental. Bocfle*, ©. 286-316.
23*
386
der maurifchen Herrihaft in Spanien entftanden ebenfalld rabbiniſche Ge⸗
richtshöfe, welche ihre Sprüche nach Maßgabe des Talmud fällten. Der
Islam, insbeſondere der mauriich-fpanifche, befchämte überhaupt im Mittel«
alter die hriftliche Intoleranz gegen die ISuden, von welder wir im 9. Ka⸗
pitel des 5. Buches gehandelt haben!). Erſt der Humanidmus des
18. Jahrhunderts und mehr noch die franzöftiche Revolution und die Na-
poleon’sche Geſetzgebung begannen die barbarifchen Feſſeln zu brechen, in
welche das mittelalterliche Ehriftenthum die Judenſchaft gefchlagen hatte.
Napoleon, um den Juden Gelegenheit zur Aeußerung ihrer bürger-
lichen Gefinnung nad den Grundfägen ihrer Religion zu verfchaffen, berief
auf den 10. Juli 1806 alle jüdiſchen Notabeln Frankreichs zu einer Ver:
fammlung nad Paris. Diefe erklärte ſich mit Berufung auf einen frühe-
ren Synodalbeſchluß für die Monogamie, für Eheſcheidung nur unter Bes
willigung ter Landesgeſehe und die Schließung gemifchter Ehen mit Ehriften.
Sie verwarf den Wucher, erflärte Branfreih für dad Vaterland der darin
wohnenden Juden und ſprach cd aus, daß der Einfluß der Habbinen nur auf
dem Herfommen berube. Dadurd befriedigt, berief Napoleon den großen
Sanhedrin, d. h. dad jüdifche Synedrium für ganz Sranfreich, ald oberfte
Behörde der Judenſchaft, um die Beſchlüſſe der Notabelnverfammlung zu
fanetioniren, was auch wirflih geſchah. Schon zuvor war die von neun
Notabeln in Verbindung mit Faiferlihen Commiffarien entworfene Verfafz
fung der Judenfchaft eingeführt worden. Kraft diefer flanden je 2000 Ju—
den unter einem Confiflorium, alle Eonftflorien des Reichs unter einem
4) Unter dem Schuge moslemifcher Toleranz war dann auch jene neuhebräifche
Gultur in Spanien zur Blüthe gefommen, welche in den Werken ber ſpaniſch⸗juͤdiſchen
Dichterichule, deren Hochmeifter Juda Ha⸗Levi (geb. um 1080) if, einen fchönen Bei-
trag zur Weltliteratur geliefert hat. Bol. Iolow’gza.a. DO. S. 317—337. Die fuͤdiſchen
Philoſophen, an deren Spike der fhon genannte Maimonides fteht, waren auch Lie
bauptfächlichften Vermittler zwifchen der arabifchsariftotelifchen Philofophie und ter
chriſtlichen Scholaſtik. Ueberhaupt verdanft die Wiflenfchaft den aus der pyrenaͤiſchen
Halbinfel nach dem Norden gewanderten füdifchen Gelehrten viel. Im Uebrigen ift
zu bemerfen, daß der Fühnfte, originellfte und edilfte Denker, welchen die neuhebräifche
Bildung hervorgebracht hat, Baruch Spinoza, fein großes pantheiftiiches Syſtem nur
: Schaffen konnte, nachdem er fi von allen Borausfegungen des Mofaismus wie des Rab-
binismus freigemacht hatte. Auch Mofes Mendelsfohn war fein Jude mehr; ſonſt
hätte er nicht den mißlungenen Verſuch machen fönnen, die Denffreiheit als jüdifch-
religiöfes Prinzip nachzuweiſen.
357
Gentralconftftorium in Paris. Seit 1831 wurde fogar die frühere Bes
fimmung, daß die Rabbinen von ihren Gemeinden bejoldet werden müß-
ten, aufgehoben und die Befoldung der Rabbinen ebenfalld dem Staat
überbunden. — In ten legten Jahrzehnten hat tie „&manzipation der
Juden“ in allen civilifirten Ländern Europa's zu weitläufigen geletgebes
rifhen Erörterungen geführt. In England, Belgien, Deutichland und Hol-
land machte dieſe Emanzipation auch praftifche Vorfchritte, welche der bür-
gerlihen Gleichberedhtigung der Juden mit den Chriften mehr oder weniger
nahe kommen. Völlige Befreiung vom Joce der mittelalterlichen Barbarei
haben jedoch die Juden vorerft nur in Branfreih und Nordamerika erlangt.
Schfles Bud,
Der Islam ä
—— — —
«
Erftes Rapitel.
A abien.
1.
Wenn dad Buch vom Chriſtenthum, ungeachtet wir befliffen waren, e8
nah Möglichkeit zu fürzen und zufanımenzudrängen, ung unter der Hand zu
einem Umfang angeſchwollen, welcher zu dem ter übrigen Bücher unſeres
Werkes in mißlichem Verhäͤltniß ſteht, io fönnen. wir, Dagegen glei) zu An⸗
fang dieſes ſechſten und letzten Abichnitted dem Leſer die beruhigende Vers
ſicherung geben, daß er hier nicht jo lange feftgehalten werden foll, wie dort.
Nicht etwa, ald ob der breife Raum dort; der fhmale hier durch Sympathie,
und Untipathie bedingt wäre — jeder Einfidhtige wird, glauben wir, und
das Zeugniß geben, daß wir mit Der Unbefangenheit, wie fie dem Cultur⸗
hiftorifer zukommt, fämmtliche Erfheinungsformen der religiöfen Idee bes
tradıtet haben — nein, die außführlidyere Behandlung des Ehriftenthums,
die gedrängtere de8 Mohammedanerthums war und iſt, wie übrigens Jeder
mann weiß, durch die Natur der beiden Religionen geboten. Die reihe in⸗
nere und äußere Entwicklungsgeſchichte, wie das Chriſtenthum ſie beſitzt, geht
dem Islam ab. Zwar dort, wie Hier, wurde das Dogma firirt, al⸗
lein ſchon der Umſtand, daß biefe Firxirung im Chriſtenthum zu verſchiede⸗
nen Zeiten, nach langen Zwiſchenraäumen vor ſich ging, während fie im Mo—
hammedanismus mit Abſchluß des Koran ein für allemal geſchah, begründet
einen höchſt bedeutenden Unterſchied. Freilich hat auch der Islam, wie das
Chriſtenthum, ſeine Mythenbildung, ſeine Tradition, ſeine Sekten, ſogar
feine Philoſophie; aber alle dieſe Entwicklungsſtadien halten mit denen des
Chriſtenthums keine Vergleichung aus. Der Jolam iſt ſtarr, ſchroff, ſtei⸗
362
nern wie fein monotheiſtiſches Symbolum; das Chriſtenthum flüfftg, bieg-
fam, vielgeftaltig, in einem unendlichen Entwicklungsprozeß begriffen. Ent-
lich iſt dieſes univerfell, weſentlich kosmopolitiſch, jener ſpezifiſch orientalifch,
ſo ſehr, daß ſelbſt der bedeutendſte Sektenzwieſpalt, welcher in feinem
Schooße entſprang, der zwiſchen Sunniten und Schiiten, wie wir ſehen wer⸗
den, ſeinen letzten Grund in einem Haremszank hatte. Daher auch bog,
der mohammedaniſchen Ausbreitungs: und Eroberungspolitif ungeachtet, im
Islam der religiöfe Gedanke, obgleih von Chriſtenthum vielfach beeinflußt,
vom Idealen und Menfchheitlichen wicder zum Realen und Nationalen zurück.
2.
lee —
Von der ſyriſchen Wüſte im Norden begränzt, dehnt ſich, von einem
Volke ſemitiſchen Stammes bewohnt, die Halbinſel Arabien zwiſchen
dem rothen Meer im Weſten und dem perſiſchen Golf im Oſten nach Süden
weit in die indiſche See hinaus. Dieſem weiten Raum, welchet unge⸗
faͤhr 50,000 Quadratmeilen enthalten mag, verliehen feine Gtänzinarken,
Meer und Wüfle, von Alters her den Charakter einer Abgeſchloſſenheit,
welche Sahrtaufende hindurch bewahrt wurde. Wenigſtens von denen feiner
Bewohner, welde ſich als die eigentlichen Gingeborenen und Söhne des
Landes anzuſehen liebte, bon den Arabern, bie ſich Bedewinen (Beduinen),
d. i. Beinohner der Wüfte nannten. Es paßt jedod die Vorftellung, vie
füßarenartige, welche wir mit diefem Worte zu verbinden pflegen, nicht ganz
auf die Wohnſttze der äditen Nraber. Denn die von ihnen bewohnte Hoch⸗
Häche, obgleich ungeheure Sandfteppen In fich bergend, bietet doch nicht das
einförmige Bild einer Sahara. In das arabifhe Plateau find wildzerrif-
fene Schluchten eingeſprengt, wo ſich Ouellen- und Regenwaffer zu Baͤchen
ſammeln, welde ihrerſeits weiterhin Die Sohlen unt Seiten fantvaler Thaͤ—
ler mit Grün beffeiden. Ueber der Flaͤche weiter Steppenſtriche tagen ſchroff
jene feltfamen Felskegelbildungen auf, wie fie duch der Salbinfel ves Sinai
ein fo bizarreß Nusfehen geben, 'und hinter den wandelbaren Hügeln bes
Slugfandes hervor blühen dem Techzenden Auge des Wanderers Oafen ent-
gegen mit ihren Weideplägen, Brunnen und Dattelpalmen. Im Ganzen
hat diefe®Land mit feirien plöglichen Uebergängen- vom wildeſter Eindde zur
feppigfeit tropifcher Vegetation, init jeiner Abgeſchloſſenhelt und Unzirgäng-
lichkeit , mit feinem den größeren Theil bed Jahres. über waltenlofen Firma
ment, aus welchem bet Tage eine brennende Sonne Ihre Stralenguͤſſe nieder⸗
—.
363
fendet , während bei Nacht die Geftirme groß und klar herableuchten — Dies
ſes Land mit frinen prächtigen Gewittern, mir feinen Sandhofen auftbüre
menden und fortwirbeinden Oxfanen, mit jeinen Luftipiegelungen und ras
jenden Wolkenhrüchen Hat etwas an's Unheimliche ſtreifendes Figenthümliches
die Phantafte in hohem Grade Aufregended und Wacherhaltendes. Aber
“nicht: ganz Arabien iſt fo ein Wüſtenplatean. Nah drei Seiten.fällt bie
arabifche Hochebene jeewärtd ab und zwilchen fie und die obengendnnten
Meere und Golfe iſt ein jchmaler Küftenftrih eingelagers, deflen Boden
ſchon in altefter Zeit um feiner Sruchtbarfeit willen weitberühnt war. Gier
gedieben die £oftbarften Fruͤchte und Gewürze, und wie bie phyſiſchen Lebens⸗
bedingungen andere waren, al& im Innern, jo waren auch Beichäftigungen und
Sinnedart der Bewohner von denen ihrer Stammgenoffen beteutend verſchieden.
3.
In den Küſtenlandſchaften der Halbinfel ſaß in Dörfern und Städten
ein betriebſames Geſchlecht. Emſige Bodencultur zeitigte eine Mafie ander»
wärs vielbegehrter Produkte, Das Meer lud zur Verſchiffung berielben en,
regte alfe den Handelsgeiſt an und diefer entwidelte, verbunden mit dem
Sinn für feineren Lebensgenuß, welcher fih im Gefolge bes Wohlſtandes
‚überall einfellt, die erfindfame Kunflfertigkeit der Küftenbeuöfferung, Un⸗
tes diefes alſo war ſchon frahzeitig eine ſeßhafte, Aderbau, Gewerbe und Han⸗
tel treibende Givilifation daheim, welche, wenn auch von vorherrſchend ma⸗
terieller Richtung, immerhin eine bebeutende geiflige Begabung und Regſam⸗
feit vorausſeht. Die Wüſtenſtämme bagegen waren Tein fehhaftes, fondern
ein nomadiſches Bolt, Ste wohnten eigentlich gar nicht, fondern zogem mit
ihren Heerden waftät von Weideplatz zu Weideplatz. Schon dieſe Unſtäte
bedingte jenen. dem aächten Araber unaustilgbar eingeborenen Zug und Hang
der Abentenerlichktit. Der Beduine war, was er noch jetzt iſt, Hirt, Jaͤger,
Krieger und Raͤuber, gewöhnlich das Alles zuſammen. Ehafe, ſtameele
und Pferde machten feinen Reichthum aus; ſte waren der Gegenſtand feiner
friedlichen Beichäftigungen ald Hirt und ebenjo das Ziel feiner Tapferkeit
und Beuteluſt als Krieger und Wegelagerer. Bon Jugend auf. durch bie
Mühiale, Wechſelfälle und Gefahren bed Lebens in der Wüfte geſtählt, früh⸗
zeitig gewöhnt, Alles nur won ſich ſelbſt oder höchſtens nach von feinem
Stayme zu erwarten, erwies der Beduine als erften, Charakterzug sin un⸗
bandige® Freiheitsgefühl, weichem ganz natusgemäß ein aͤußerft veizbares
364
und eiferfüchtiges Ehrgefühl ſich gefellte. Damit verband ſich weiter eine
wilde Racheluſt, die mit todverachtender Kühnheit und zugleich mit ſchlaue⸗
ſter Lift nach Befriedigung trachtete. Im Berneren eine ritterliche Gaſtlich⸗
feit und Galanterie, Treue in Freundſchaft und Haß, Freude am Helden
baften und Wagnifvollen, entlid „eine höchſt feurige Phantafle, die im
Sinnlihften zu jhwelgen liebte und doch daneben wicder eine Kraft der Ab-
firaction bewährte, wie fie nur wenigen Völkern eigen if. If fa doch das
femitiiche Abftractionsvermögen, wie e8 ſich in dem abftracten, flarr jenfeiti-
gen Gotteöbegriff des hebräifchen und miohammedaniihen Monotheismus
offenbart, vielleicht Das größte, welches die Welt geſehen.
4,
Wenn je der Sap, daß die Poeſie die höchſte Blürhe des intellectuellen
Dafeins eines Volkes fei, auf eine Nation angewendet werden darf, jo muß
er von den Bewohnern ded alten Arabiens gelten, Der Araber iſt ein ges
borener Babulift und Mährcenfreund von Anfang ber geweſen. Er ift es
jegt noch und wir werden ſeines Ortes Gelegenheit haben, zu fehen, wie bie
arabiiche Gultur auf der Höhe ihres Glanzes eine Bülle von Werfen der
Phantafle hervorbrachte. Ziemlich einfeitig freilich ift die arabiſche Dich-
tung immer geblieben: fie hat es weder zur höheren Epik nody zur höheren
Dramatik gebradt. Das lyriſch⸗didaktiſche Element einerſeits, das ditaf-
tifch»epifche andererfeitd war und blieb flet3 in ihr tonangebend. Der vor⸗
mohammedanifchen Zeit eignet die größere Originalität und Kraft, ter
mohammedanifchen die formale Verfeinerung. In der alten Zeit war die
Poeſie der natürliche Ausdruck jeder höheren Stimmung. Der altarabiiche
Dichter war. zugleich auch Held und Übenteurer, oft der Prophet und Schieds⸗
richter, immer der Liebling feined Stammes. Diefe wilden Kinder einer
wilden Natur haben, wenn man dad Unfehen der Dichter und Dichterinnen
unter ihnen in Betracht zieht, das bichteriiche Wort offenbar ald eine Offen-
barıng von Göttlichem betrachtet und verehrt. Die wildbizarren Natur
ſzenen des Landes, der Stolz auf eine unvermijchte Abkunft, Die Begebniffe
einiamer und gefahrvoller Wüftenftreifereien „ der Breiheit Hochgefühl, ber
Tapferkeit und Abenteuerluft rubelofer Drang, Lobpreifung der Kühnheit
"und Gaftlihkeit, Hohn über Beigheit und Kargheit, die unaufhörlichen
Fehden der Stämme unter einander, der Blutradye unverbrüchliches Gefep,
endlich eine Ziebe, wie fte jo herzig und glähend zugleich nur in Zeiten mög⸗
365
lich war, wo das Weib, noch nicht zur Haremsbewohnerin erniedrigt, "dem
Bewerber als freie Perfönlichfeit gegenüberſtand — dieſe Motive befeelen
und tragen die altarabiiche Volkspoeſie, welche man kennen muß, um bie
Energie zu begreifen, womit diefed Volk, als feine Stunde gekommen, er»
obernd aus feinen Steppen hervorgebrochen.
Diefe altarabijche Lyrik, oft flarf mit epifchen Tönen verfegt, oft die
daftiich zum Sinn», Sprüch⸗- und Räthielwort ſich zujpigend, Hat einen
eigenthümlich rapiden, wortfargen Ausdruck, der Diction ter Edda nicht
unähnlid. In Beziehung auf ihre Form der Sylbenmeſſung Ten Endreim
gefellend, gibt fie, voll von Fühnen und bligenden Bilvern , fletd nur Die
- Sauptinomente, alle Nebenumftände der Bhantafie des Hörers überlaflend.
Ihre älteften Pfleger, wie jener unheimliche Nede und Räuber Taabbata
Scharran und jener berühmte Bogenſchuͤtze und Läufer Schanfara, find vom
Nimbus der Mythe und Sage umgeben. Durch mündliche Ucberlieferung
fortgepflangt, zeugten die alten Lieder ſtets neue Sproffen und fo konnte
Abu Temmam im 9. Jahrhundert nad) Ehriftud die Gefänge von 521 Dich«
tern und 56 Dichterinnen in feinem berübinten Liederbud „Hamafa * ſam⸗
meln. Später fchloflen ſich dieſer Sammlung noch weitere an. Uber die
gefeiertften, die eigentlich claſſtſchen altarabiſchen Nationalgebichte find die
fieben , Moallakat“, verfaßt von Amru, Hareth, Tarafa, Suheir, Antara,
Lebid und Amrilfais, Diefe Gefänge find Ergebniffe der Dichteriichen Wett⸗
fänpfe, welche alljährlih auf der menſchenwimmelnden Meſſe zu Okhadh
abgehalten wurden und die außerordentliche Theilnahme Der arabifchen Be⸗
völferung hinlänglich bezeugen. Das Gedicht, welches den Preis erhielt,
wurde jeded Mal mit goldenen Lettern auf perfliche Seide geichrieben und
zum ewigen Ruhme des Dichterd am Eingange des uralten Nationalheilig⸗
thums der Kaabah zu Meffa aufgebangen, woher der Name (Monllafat, d. i.
die aufgehangenen, Gedichte nämlich 1)).
5.
Eines dürfte bei Betrachtung Der altarabifchen Volksdichtung ſehr auf«
fallen: die fpärliche Aeußerung fpezifiichereligiöfer Gefühle. Die religiöfe
4) Bol. Rofenmüller im 6.Br. der „Nachträge zu Sulzers allg. Theorie der
fchönen Kuͤnſte“ Hammer: Geſch. d. arab. Literatur. Weil: die poet. Lit. d.
Araber vor und unmittelbar nad Mohammed. Rüdert: Die Hamafa, überfegt und
erläutert. Rückert: Amrilfais, der Dichter und König. Altmann: Die Wüllens
harfe, eine Sammlung arabifcher Volfelieder.
366
Stimmung mangelt freilich nidyt völlig, aber man kann fi Ihren Ausdruck
faum bager denfm. Daher gewährt die Hamaija keine ſehr feften Anhalts⸗
punfte zur Befimmung deflen, was die alten Araber geglanbt haben. Ein
ſyſtematiſches Glauben war unser ihnen jedenfalls nicht vorhanden, aber
ſchon in den älteften Volksliedern fehen wir jenen fataliſtiſchen Zug, weldyer
nachher im Islam dogmatifche Geſtaltung gewann, fehr poſttiv auftreten.
Die Ineinsbildung des Gotteßbegriffes und des Schickſalsbegriffes fcheint
demnach altarabiſch zu ſein ?). Werner Hat man zwar fe die Behauptung
aufgeftclit, die Araber vor Mohammed Hätten immer nod eine, wenn auch
vielfach polytheiſtiſch verbunfelte, Erinnerung an den urſprünglichen Mono⸗
theiomus der femirifchen Bölkerfamilte bewahrt; allen wir haben feined Or⸗
tes gefehen, daß die Vorftellung von einem urfprüänglidden Monotheismus
der Semiten überhaupt eine ganz willfürliche iſtz). Wie die übrigen ſemi⸗
tifchen Stämme, huldigten in alter Zeit auch die Araber einer Naturreligion,
weldye aber bei ihnen nicht zur Schaffung concreter menflicher Götterfor⸗
men vorſchritt, fondern zum Fetiſchismus entartete. Das Idol trat an Die
Stelle der Idee, und, wie da& fo in der Naturreliglon, ja In der Religion
überhaupt zu geben pflegt, die anfänglichen Symbole des Göttlichen wurden
zu dieſem felbft, die Zeichen zu Weſen. Das waren die Götzen, gegen welche
Mohammed eiferte.
Aller Religion Grund und Anfang, des Menfchen Gefühl feiner Ab⸗
bängigfeit von der Natur, hat auch die alten Araber zur Verehrung wohl⸗
thätiger oder fhredlicher oder aud nur befonders auffälliger Naturdinge
geführt. So erwiefen fie Ehrfurdt den Geſtirnen und ſchrieben benfelben
einen beilfamen oder auch unbeilfamen Einfluß zu, fo hatten ihnen Quellen
und Bäche etwas Goͤttliches, was ſtch in einem waflerarmen Rande leicht be⸗
4) Bol. das Gericht „Duldmuth und Ausdauer? in Rüderts Hamafa, I, 76.
2) S. Thl. II, Kay. 3, auch Kap. 4, 13 und noch befonders Anm. 16. Aller:
dings kommen in den altarabifchen Gedichten manche Stellen vor, welche auf eine ge:
läuterte Vorftellung von Bott fchließen laſſen. So heißt es z.B. in der Moallafa
des Suheir (MR. H. 1, 147 fg.):
Berberget nicht vor Gott, was ihr hegt in eurer Bruft,
Berheimlihenn! Was Bott ihr verbergt, ift ihm bewußt —
allein Suheir war ein Zeitgenoſſe Mohammeds, und daß deſſen Lehre auf ihn einges
wirft, zeigt gleich der Nachfag zu der angeführten Stelle:
Sei es nun aufgehoben und in das Buch geſtellt
Zum Tag der Nechnung, ober die Strafe gleich gefällt.
367
greift; fo waren ihnen feltfam geformte Belfen und Berggipfel heilig, ebenſe
ungewöhnlich geftaltete oder gefärbte Steine 3), und galten ihnen auf) ge⸗
wiffe Ihiere für Wohnſitze übermenſchlicher Weſen. Da war denn allen
den zahlloien Bizarrerien fetiichiftiichen Aberglaubend Thüre und Thor
geöffnet. Daß ferner ein Volk, welches jo viel auf unvermijchte Abkunft
hielt, aus eine Art Cultus der Vorfahren hatte und die Gräber derfelben
heilig hielt, {FR gang in der Drönung. Der Glaube an eine Fortdauer
nach tem Tode, wenn er überhaupt vorhanden, war jedenfall ein fehr un:
beftimmter, übereinftinnmungdlojer. Dagegen umterliegt e8 feinem Zweifel,
daß die altarabifche Religion, wie jede Religion, aud ihren Bottesdienft
hatte. Mit Gebeten, Gelübden und Baften ſuchte man die überirdifchen
Mächte zu verföhnen und zu gewinnen. Gegen bie als böfe gedachten
wandte man mancherlei Zauberpractifen, Amulete uw. dgl. m. an und guten
und böfen brachte man Opfer dar, wobei die alten Araber, ald Achte Seniiten, -
wohl mitunter auch den Menichenopferbraud übten. Endlich mag bei der
fhroffen Zerflüftung der Stammeögenoffenfchaften noch mit ziemlicher
Sicherheit angenommen werten, baß jeder Stamm feinen eigenen Stammes⸗
gott oder Stammesfetiſch hatte.
Das Gefagte gilt, wie für die Beduinen, im Allgemeinen aud) für bie
Küftenbewohner. Nur waren bei diefen, in Bolge ihres Handelsverkehrs
mit den Nahbarvölfern, die einheimifchereligiöien Vorftellungen fehr bedeu⸗
tend mit fremden verfegt. Bedenkt man, wie fehr Mohammed auf den
Ueberlieferungen ded Moſaismus fußte, wie fehr er diefelben bei feinen
Landsleuten als befannt voraußfegte, und ferner, wie die Araber vermittelft
des Glaubens an ihre angebliche Abſtammung von I8mael, dem verfloßenen
Sohne Abrahams, den Gedanken der Blutsfreundichaft mit den Hehräern
fefthielten, fo wird man nicht anftehen, zu fagen, daß insbeſondere die culti«
pirteren Araber, die Städtebewohner, fchon frühzeitig mit den religiöfen
Anfhauungen des Hebräismus befannt geworden fein müſſen. Ebenfalls
weift der altarabifche Geifterglaube die Einflüffe der perſiſch⸗juͤdiſchen Lehre
von den Engeln und Dämonen deutlih auf. Sodann fonnte auch das
Chriſtenthum den Arabern nicht unbekannt geblieben fein, da fte lange vor
— nn
3) Der altarabifche Brunnens und Steincult Hat fi mit Modiftcationen auch
noch im Islam erhalten. Er wurde aus Göttertienft Reliquiendienf. Vgl. was
unten im 4. Kav. vom Brunnen Zem:Zem und vom fchwarzen Etein in der Kaabah
in der Beſchreibung diefes Tempels gefagt iſt.
PS
368
Mohammed mit Ehriften in friedliche und feindliche Berührungen gefonımen
waren. Alle dieſe religiöfen Elemente, heimiſche und fremde, wirrten fidy
unvermittelt Durcheinander. Und der Wirrwarr befriedigte das religiöje Be—
türfniß nicht nur nicht, fondern brachte ed nicht einmal in feiner ganzen
Tiefe zum Bewußtfein. in dunfles Gefühl des Mangel einer religiöfen
Einheit mußte freilich fhon lange durd die arabiſchen Stämme gehen, Denn
ſonſt wären die Erfolge des Islam unbegreiflicd ; aber bevor der Mann auf-
ftand, der diefen Mangel Allen Elar machte und zugleih Abhülfe deſſelben
bot, begnügte man ſich mit einem fehr Außerlichen Griag. Es war Lies
dad religiöfe Band, welches Lie Wıllfahrt nach ter Kaabah in Meffa um Die
arabiſchen Stämme ſchlang. In dieſem uralten Nationalheiligthum, welches
im Befig des Stammes Koreiſch und von demſelben erbaut war 9), flanden
bie verichiedenen Sole "altarabiichen Gottesdienſtes. Es mag Tas Allem
nach eine wunderliche Götterverſammlung gewefen fein. Aber fo jebr harte
ſich die Vorftellung von der Heiligkeit dieſer Stätte dem arabijchen Bewußt-
fein eingeimpft, daß der Jolam wohl die Bögen in ver Kaabah zerichlagen,
jedoch) den Tempel ſelbſt in feinem Anjehen nicht ernietrigen konnte, fondern
noch erhöhen mußte. Die Kaabah ift gleichlam ter Durchgangspunkt des
alten Araberthums ind neue geweſen unt jo ift fie aus einem nationalen
Heiligthum zum beiligften Ort der mohammetaniichen Welt geworben.
6.
Jahrhunderte waren über dad alte Arabien hingegangen, wirkungslos,
wie Wolfenfchatten über den Spirgel der See binftreiben. Wenn aud
nicht mehr in den Küftenlantichaften, jo hHerrichte Doch im Inneren des
Landes noch immer ein fozialer Zuftand, wie er, dem Buch der Geneſis
zufolge, ſchon in den Tagen der hebräiſchen Patriarden geweien war.
Beduinenicheichd, wie Abraham einer gewejen, führten über Die einzelnen
Stimme ein patriarchalifches Regiment, gegründet auf eine beifpielloje
Zähigkeit der Staummesüberlieferungen,, welde bis ind Einzelnfte nachzu—
weifen vermochte, wie und in welchem Grade der Stammfürft mit Jedem der
Etammgenoffen blutöverwandt war. Zwiſchen den einzelnen Stämmen gab
4) ©. den 16. Doppelvers in der Moallafa tes Suheir (R. H. 1, 147). Die
Lıgende freilich will, tie Kaabah fei von feiner geringeren Perſon als Jomael im Ver:
ein mit feinem Bater Abraham erbaut worden.
899
ed Freundſchaften, aber noch weit mahr Feindſchaften, verurſacht einestheils
durch Die ſehr laren argbiſchen Begriffe vom Mein und Dein, anderntheils
durch Dad Gebot der Plutrache, welches Jahrhunderte hindurch eine ununter⸗
bradyene Kette non Wechſelnwrden ſpannte. Trog ererbten Haſſes unter
einander betradgteten ſich jedoch die Bebewinen hinwieder als zuſammenge⸗
hoͤrend. namlich ten Staͤdiebewohncen gr ‚gegenüber, weldye ber aͤchte Wüſten⸗
araber ald vom arabiſchen Prinip der Unvermiſchtheit des Blutes und der
Sitte abgefallen anſah, während ihrerſeits dieſe, Abgefallenen“ ihre Stam⸗
mesbrüder in der Wüſte als Bettler und Räuber verachteten, dabei aber doch
im Geheimen die Reinheit des Blutes und der Sprache dieſer Barbaren
bewunderten und beneideten ). Das große Vermittlungsmotiv zwiſchen
den Bölfern, das gegenieitige Iutereffe, war aber auch bier thätig und
brachte die fchroffen Gegenſaͤtze zwiſchen nomadiſchen und feßhaften Arabern
vielfah zum Schpeigen. Dann fo einfach Die Beriuindfie ber Wüſtenbewoh⸗
ner waren. ihre Befriedigung mußte doch theilweife in den Städten gefucht
werten, wohin aud) Die Rohproducte der Nomadenwirthſchaft gebracht wur«
den, um in den Handel zu fommen. Ueberdies hatten die Städtebewohner
ihrerfeit gemichtige Gruͤnde, nrit den Beduinen freundliche, auf gegenfeitigen
Vortheil baflrte Berhältniffe zu unterhalten, wenn die Handeldkarawanen,
welche auf dem Landweg vach Syrien und den Euphratländern gingen
oder van dorther Famen, die Wüſtenſtraßen ungefährbet yafliren ſollten.
Für alle hieie materiellen Wechſelbeziehungen zwiſchen Wüſte und
Sur, Beduinenthum und Civiliſotion bildete Wekfa, gerade wie für bie
zerfahrenen religibſen Anſchauungen, den Sammelplatz und Mittelpunkt.
Dieſer Ort mußte alſo aus beiderlei Urſachen weitbekannt und hochangeſehen
ſein im Lande, um ſo mehr da ihm die Rolle des Verwittlers zwiſchen den
Gegenſaͤtzen qrabiſchen Lebens weſcatlich erleichtert wurde durch den Umſtand,
daß ſeine Bewohnor großen Theild zugleich Hirten, Ackerbauer, Händler und
Krieger waren. Mekka vereinigte demnach, mie es, örtlich angeſehen, zwi⸗
ſchenr der t Waſtenhochebene und dem Küſtenland mitten inne lag, in feinen
4) Ruh in der Zeit nach Mohammed nor. Am Kingang ber 32. Malame bes
Hariri erzählt Hareth Ben Hammam: — „Mi trieb in meings Jugend ein Geluͤſte
aua ven Städten in die Wülle, zum Umgeng mit den freien Leuten, welche wohnen
unter den Haͤuten (der Zelte), um zu lernen ihre Sitten, bie ungefärbten,, and ihren
teogigen Stolz, Jen angrexhten,, ſammt ihrer Zunge Meinheit, dev arabiſchen Mebe
Fejnheit“. Müderis Hariri, 1, 3.
Scherr, Geſch. d. Religion. II. 24
370
Mauern die verfchtedenen Elemente des Araberthums. Es mußte Daher
von größter Vedeutung jein, daß gerade an diefem Drte der Mann aufftand,
welcher ter gefchichtöioien Abyeichloffenbeit Arabiens ein Ende machte. Bon
Mekka aus, dem Brennpunft feines phyſiſchen und intellectuellen Lebens,
brady das arabiſche Volf, nicht aufgerieben, fondern nur geflählt dur jahr-
bundertelange innere Fehden, erobernd auf die Bühne der Weltgeicbichte
hervor, unwiderſtehlich gleich den Wüftenorfanen feiner Heimat.
nn nn
weites Rapitel.
Mohammed und der Korant).
1.
Legendarifche Pietät will den Stammbaum des arabifchen Propheten
bis zu Jsmael binaufleiten; doch begnügt ſich die rechtgläubige Genealogie
4) Mohammed hat leider unter feinen Zeitgenofien feinen Biographen gefunten,
der mit nüchterner Treue die Lebensgefchichte des Propheten aufgezeichnet hätte. So
war denn, als überhaupt biographiſche Aufzeichnungen über Mohammed begannen, die
Berfon und Geſchichte defleiben ſchon mit jenem Wufl von Fabeln umgeben, womit die
Bollsphantafle, und vollends bie orientalifche, die menfchlihen Züge der Heilande und
Propheten ins Uebermenfchliche zu fleigern, d. h. zu verzerren liebt. Fuͤr die befte
Biographie des arabifchen Propheten galt lange die von dem berühmten arabifchen
Gelehrten Ismael Abulfeda verfaßte, duch 3. Gagnier ins Latein übertragen
‘(De vita et rebus gestis Mobammedis, Oxon. 17233). GEndlich unternahm es ein
deutfcher Orientaliſt, &. Weit, auf der Balls ganz neuer Forſchungen das Leben
Mohammeds zu fchreiben („M., fein Leben und feine Lehre, aus handſchriftl Duellen
und dem Koran geichöpft“, 1843). Dies ift meines Wiflens bie befte bisherige Leis
fung auf diefem Gebiete, neben welcher das hübfch erzählte „‚Life of Mohammed‘: von
Waſhington Irving feine wiflenfchaftlihe Beteutung bat. Bor einiger Zeit börte
ich, es ſei in Galeutta eine neue, auf ganz neu in oftindifchen Archiven aufgefundene
Urkunden geftügte Lebensgefchichte des Propheten erfchienen, von einem bdeutfchen
Forſcher (Dr. Sprenger) engliſch gefchrieben. Ich konnte mir aber weder dies Buch
verſchaffen noch überhaupt etwas Näheres darüber in Srfahrung bringen. — Mas
den Koran angeht, fo find tarüber zu vergleichen Sale (Obserrat. hist. et crit. sur le
Mahometisme), Hammer: Purgftall (die bezügl. Aeußerungen in den Fundgruben
3
— — — — —
371
gewöhnlich damit, dem Stifter des Islam zwanzig Ahnen zu geben. Jeden⸗
falls war feine Bamilie, dem Stamme Koreiſch angehörend, eine zu Mekka
ſehr angefehene und in ihren befieren Tagen mit.der Hut der Kaabah und -
mit der Bewirthung der Walltahrer betraut geweien. Noch der Großvater
des Propgeten, Abdalmuttalib, Hatte Diele geehrte Stellung eingenommen.
Unter feinen Söhnen aber Fam die Bamilie herunter und die Habe feines
zehnten oder elften Sohnes Abdallah befchränkte ſich auf etliche Kameole
und Schafe und eine abyifiniihe Sklavin. Diefem armen Abdallah —
die wahren Helden der Menfchen kommen ja far fletd aus den Hütten, nicht
aus den Paläften, — gebar jein Weib Amina im April 571 den Knaben
Mohammed oder, wie der Name eigentlid lauten follte, Muhammad, d. i.
der Bielgeprieiene. Abdallah flarb fchon zwei Monate nach der Geburt
feines Sohnes und ijeine Wittwe und Waiſe hatten alle Prüfungen ber
Dürftigfeit zu erfahren. Nur mit Mühe konnte Amina für ihren Knaben
eine beduinifhe Amme gewinnen, wie die mekkaniſche Sitte e8 wollte.
Später freilich bat man, was Amina's Schwangerfichaft betrifft und Moham-
meds Geburt und Kindheit, die allerpräcdtigften Wunder gedichtet, aber wir
befaffen und nur ganz gelegentlich Damit und befchränfen und überhaupt auf
die vorragendften thariächlien Züge im Leben des Propheten. Wer bie
Mythenbildnerei der moslemiſchen Kirche noch nicht kennen follte, Tann die
des Orients, in der Geſch. d. osman. Reiches, in ter Geſch. d. arab. Literatur),
Weil (Hikorifcyekritifche Binleitung in den Koran), Gräße (Allg. Literaͤrgeſch. I,
308 fg.). Ueber die rechtliche Ceite des Koran bat Tornaumw eine vortreffliche
Monographie gegeben („Das Moslemifche Recht“, 1855): An Berdeutichungen der
Bibel des Islam if fein Mangel. Abgeſehen von einer älteflen, durch Schweigern
nach einer italifchen Verſion 1616 angefertigten, befigen wir eine von Wahl („Der
Koran oder das Geſetz der Moslemen“, 1828) und eine neuere von Ullmann („Der
Koran, aus dem Arabifchen wortgetreu neu überlegt”, 1840, 3. Aufl. 1844) ; außer:
dem metrifch überſetzte Bruchitüde von Hammer. — Ueber den Islam an fi und
über fein Berhältniß zum Ghriftentgum haben außer den ſchon Genannten von Deut:
ſchen geichrieben Möhler, Maufe, Gerod, Krafft, Geiger, Rofenkranz,
Kolb, Döllinger, Abeken u. A. Sehr zu berüdfichtigen find die bezüglichen
Abfchnitte in Gibbons Hist. of the decl. and fall of the Rom. empire, (Chap. 80 —
81). Endlich darf nicht überfehen werden die geniale Charafteriftif, welche Carlyle
in feinen Lectures on heroes, bero-worship and the heroic in history von Mohammed
gegeben hat (im Orig. pag. 68 seq., in der Neuberg'ſchen Ueberſ. S. 74—137).
Ueber das Chalifat Hat wieter &. Weil das beteutenpfte Werk geliefert („Geſch. d.
Chalifen“, 1848 fg.).
24*
372
bunten Schöpfungen berfelben bei Abulfeda, Irving und in den Anmerkun-
gen bes Weil'ſchen Buches nachleſen. Als Probe mag hier fichen, daß Die
Schafe, wenn fie an dein Kinde Mohammed vorübergingen, fi ehrfurchts⸗
sol verbeugten, daß der Mond, wenn Ihm der Knabe aus der Wiege zu-
winkte, fich zu demſelben Herunterneigte und daß das Wunderfind unmittel⸗
bar nach feiner Geburt fprechen konnte — Hierin abrigens Jeſn nachſtehend,
welcher nadı moslemiſcher Tradition fon im Mutterleibe jeinem Naͤhrvater
Joſeph eine von diefem an Frau Marta gerichtete ffeptifche Aeußerung ſehr
nachdrücdtich verwied. Seltfamer Welfe gefhah neben ven vielen über-
flüffigen Wundern, welche Mohammeds Wiege umgaben, gerade das eine
nothwendige nicht, die Heilung des Anaben von epiteptifchen Unfällen, welche
auch no dm Mann peinigten.
| 2.
Sechs Jahre alt, verlor er feine Mütter und bald darauf auch feinen
GSroßvater Abbalmuttalib. Seines Vaters Brüder Abu Talib und Zubeir
nabmen ſich des Verlaflenen an und er machte, heranwachſend, mit Tiefen
Beiden Oheimen mehrere Hanbelsreifen. Zwanzig Jahre alt, hat er zuerft in
einem Treffen geftanden,, in einer Fehde, welche die Koreifhiten gegen die
som Stamme Hawazin führten. In feinem fünfundzwanzigſten Jahre be⸗
gegnet er und wieder, ald Viehhirt in der Umgebung von Meffa, dann kurz
darauf al® Gefchäftsreifenter eines Leinwandhändlers Namens Saib. An
diefer Stellung wurde er mit einem gewiflen Hakim befannt und dieſer
empfahl ihn als Gefchäftsführer feiner Tante, der reichen Kaufmannswittiwe
Chadidija. Die anerkannte Treue und Redlichkeit Wohammeds war der
Grund diefer Empfehlung, welche eine höchſt bedeutende Wendung in fein
Leben brachte. Denn aus dem gefchäftlichen wurde bald ein trauteres Ver-
haͤltniß zwifchen Herrin und Diener. Als Mohammed von feiner zweiten &e-
ſchaͤfisreiſe heimkehrte, ſah Chadidia von der Terraffe ihres Haufed aus, wie
zwei Engel mit ihren Sittigen den Heimkehrenden beſchatteten, d. h. die gute
Mirtwe hatte ihren ſchönen und brasen Geſchaͤftoführer lieb gemonnen. Kurz
darauf heirateten fe einander, nachdem Chadidja ihren Vater Chumweilap,
der Nichts von einem armen Eidam wifjen wollte, im Weinraufch feine Ein⸗
willigung abgeliftet hatte. Mohammed erwies ſich dankbar. Er hielt jeine
Frau Chadidja fo hoch, daß er hei ihren Lebzeiten, um ihr Verdruß und
Aerger zu erfparen, feinen außerordentlich großen Luſttrieb möglichſt baͤn⸗
378
digte und ihr, nachdem fle geftoshen, das liebenollf und ehrendſte Andenken
bewahrte. Es gefchah daher ganz im Sinne des Propheten, wenn Der
Koran die Chadidja zum Range einer vollfommenften Frau erhob 1). Nah
feiner Verehelichung bat Mohammed bis zu feinem vierzigſten Lebensjahr
als Kaufmann gelebt. Dann ift er ald Prophet aufgetreten. Doch muß
ihn ſchon zuvor Höheres als der Handel beiehäftigt haben, fo fehr, daß er
dem legteren feine rechte Aufmerkiamfeit mehr ſchenkte. Darauf deutet
wenigſtens die Nachricht, er ſei feines erheirateten Vermögens verkuftig ge
worden. Auf die Beichäftigung mit Höheren als merfantilen Dingen weiß
der Umſtand, Daß Mohammed viele Zeit dem einfamen Nachdeufen widmete
und fid zu dieſem Zwecke bald allein bald wit Chadidja in eine Höhle des
Berged Hara zurücdzog, tagelang, wochenlang. In diefer beſchaulichen Ein»
famfeir mag ihn dad Geheimniß jeiner Befimmung zuerft Mar geworden
fein. Er batte jo ziemlich alle Seiten des arabiſchen Lebens kennen gelernt:
er hatte in der Wüfte und in Städten gelebt, er war Hirt und Händter,
arm und reich geweſen und hatte aud) den Krieg geiehen. Alle dieſe Lagen,
Beichäftigungen und Erfahrungen hatten ihm feine Befriedigung gewährt.
Wie alle Menfchen, in welchen der Genius lebt, dachte er mehr an Audere
als an ſich ſelbſt. Ihn erbarmite die nationale Zerfahrenheit feines Volked,
al& deren Grund er nit Recht den Mangel einer einheitlichen Religion, eines
oberjten, mächtigen und umfaffenden religiöfen Gedankens erkennen mochte.
Nah Art tharkrüftiger Naturen verihmähte er aber, über feiner Erfenutniß
elegisch zu brüten. Er ſtellte fein Licht nicht unter den Scheffel, es forte
vielmehr über ganz Arabien hinleuchten, und wehe denen, die es zu löſchen
verſuchen würden. Es käßt ſich nicht leugnen, mit Adhtarabiicher Berftän-
Digfeit und Schlauheit, aber zugleich nicht minder mit aͤchtarabiſcher Dee
geifterung und Tapferkeit ging Mohammed an fein Werk.
3.
Des Beftimmteflen verneinen wir, wie die unbefangene Betradgtung,
zweifeldohne thun muß, gleich hier die Zrage: IR Mohanımed «ein Betrü⸗
ger geweien? Wir finden e8 fogar feltiam, daß noch Irping!), der doch
4) Die vier vollfommenften Frauen find nach dem Koran: Mirjam, die Schwes
ſter Moſe's, Marin, die Mutter Jeſu, Ehadidja, die erfle Gattin Mohammeds,
um Fatima, des Propheten einziges hinterlaſſenes Kind, mit Ali vermäblt.
4) Life of Mebammed, chep. 16.
374
font ein Mann von Geiſt und Geſchmack iſt, ſich damit abgeben mochte,
diefe Trage alles Ernſtes zu erörtern. ine weltgeichichtlihe Bewegung,
wie der Islam war, fann zu ihrem Grundmotiv nicht den Betrug haben.
Man gründet überhaupt nichts Großes und Trauerntes auf Lug und Trug.
Sp auch Feine Religion. Erſt dann, wann der religiöie Gedanke fich zu
verbunfeln anfängt, fucht und findet er in dem Betrug einen zweibentigen
Helfer. Mohammed war ein Menfch von Ueberzeugung; fogar, wenn man
will, ein Fanatifer war er, wie denn wahrhaft Bedeutendes eigentlich gar
nie ohne einen gewiffen Grad von Fanatismus geleiftet wird.
Als fcharf beobachtender und die gewonnenen Anfhauungen denfend
verarbeitender Mann hatte er auf feinen Meilen die Religtonen der Juden
und Ehriften näher fennen gelernt. Was von feiner Befanntfchaft mit einem
chriſtlichen Mönch, Namens Neftor, welcher ihn unterrichtet und ihm fein Pros
phetenthum gemweiflagt haben foll, berichtet wird, hat einen zu Icgendenhaften
Auſtrich, um fehr ind Gewicht zu fallen. Indeflen fegt fein Wiffen von Jũdi⸗
fhem und EChriftlichem einen Umgang mit gebildeten Juden und Ehriften um
fo mehr voraus, ald er, der „ungelehrte Prophet, * wie nicht zu fchreiben jo
auch nicht zu Iefen verfland und demnach auf mündliche Belehrung über die
heiligen Schriften und Bräude der genannten beiden Religionen angewiefen
war. Daß er unter den @inflüffen von tiefen beiden Seiten ber die Selbſt⸗
ftändigfeit feines Gedankens wahrte, zeugt für die Eigentbiimlichfeit feines
Genius. Man bat da leicht fagen, nur die Eitelkeit habe ibn neben Tem
Mofaismus und dem Chriftenthun eine dritte Religion fliften laſſen.
Diefe Unterftellung ift weiter Nichts als ein jüdiichschriftlihes Vorurtheil.
Daß der vage Sternendienft und der plumpe Fetiſchismus jeined Volkes
inhaltslos und nichtig fei, Dad war Mohammedd Orundgedanfe.. Bon
diefen Bunfte aus fann er auf Reform. Diejed Wort ift aber vielleiht ein
übelgewähltes, weil unzulänglicyes. Denn wir leugnen entichteden, daf die
Araber vor Mohammed unter den abgöttifhen Symbolen von Menichen- .
und Thiergeftalten oder anderen Fetiſchen ein einiges höchſtes Weſen ver-
ehrt haben. Das tfl Hier, wie überall, wo fpätere Betrachter ihre eigenen
monotheiftiihen Anftchten den polytheiftiichen Völkern angedichtet haben,
unwillfürlidh, wie wir zugeben. Mohammed fand in Arabien nur ein viel-
götteriiches Bewußtfein vor und der Monotheismus, weldhen er an deſſen
Stelle feßte, ift weientlich fein Werl. Er war jedoch weit entfernt, fi an⸗
maßlich als den erften Berfündiger der wahren religidjen Idee binzuftellen:
375
er gab fih nur für den Vollenver des Werfes von Adam, Noah, Abraham,
Mofed und Jeſus 2). Er ließ Die hebräiſche Tradition gelten unt bis zu
einem gewiffen Bunft auch die hriftlihe. Er verehrte in Moſes den Her⸗
fteller des Begriffes eines geiftigen, außerweltlidyen, einzigen Gottes. Er
verehrte in Jeſus den großen Reformer des Judenthums, weldyer dieſes zum
Humaneren fortzubilten und vom leeren Beremonienwefen zu reinigen unter«
nommen hatte. Dennoch genügte ihm weber das Judenthum noch da
Chriſtenthum. Jenes nicht, weil es die Reform durch Iefus- verworfen,
dieſes nicht, weil ed Durch die VBergottung Jeſu den monotbeiftiihen Gotteds
begriff getrubt hatte. Er wollte alio ein Drittes: den moſaiſchen Grund⸗
gedanfen der Einheit, Alleinheit und Geiftigfeit Gottes, verbunden mit
einer Religiondübung welche, entgegen dem jüdiichflarren Ceremoniendienſt,
die humanen Elemente des Chriſtenthums zur Entwidlung bringen follte.
Hierin nun, ſcheint ung, liegt ver Kern des Islam, aber auch ſeine
Schwäche, — Dir Schwäche, welche jedem Eflefticismud anflebt. Moham⸗
med hatte ohne Zweifel eine Ahnung von Ten bildenden und humanifirenden
Elementen im Chriſtenthum, vermöge welcher diefes das Judenthum über-
wand, weil er aber die chriftliche Idee einer Verföhnung von Gott und
Menſch, Geiſt und Natur nicht zu faſſen verſtand, beraubte er feine Reli«
gion ter Entwidlungsfähigkeit und ſetzte mit feinem. woſaiſch⸗ſtrengen
Gottesbegriff zugleich eine Stabilität, weldye nothwendig zu der Ausſchließ⸗
lichkeit des Judentbhums zurücführte. Die Ereluflvität, die Intoleranz liegt,
was auch ältefter und jüngfter Zelotismus fagen mag, nidt im Weſen des
Chriſtenthums; wobl aber liegt fte im Weien des Islam und daher gereicht
ed feinen Befennern um jo mehr zur Ehre, wenn fie trogdem vielfach eine
größere Toleranz bewieien als die Ehriften 3).
2) Diele Fünfe gelten ven Moslemin als ächte und wahre Propheten des alleinigen
Gottes vor Mohammed. Nach einer anteren Trabition fpannt fich freilich eine Kette von
nicht weniger als 124,000 Bropheten.unt Anofteln von Acam bis zu Mohammed herab.
3) E86 ift ein großer auf Mohammed Haftender Mafel, daß er von an’änglicher
Toleranz zur Intoleranz rüdwärts fchritt. Jener fchöne, Duldſamkeit athmende Vers
des Koran (Sura 5, B. 78): — „Diejenigen, weiche glauben, Juten, Chriſten und
Sabäer, wer an Gott alaubt und an ten füngfien Tag und gute Werke übt, der hat
Nichts zu fürchten und wird nicht betrübt“ — murde fpäter förmlich widerrufen durch
mebrere andere, insbelondere aber durch tiefen: — „Wer einer andern Religion als
dem Islam anhängt, ter fintet durch fie feine Aufnahme bei Bott und gehört in jener
Welt zu den_ Verdammten“ (S. 3, B. 84). Da haben wir ben befimmteften Ans
4.
Menn ein ungewöhnlicher Geift einmal zum Gefäß eines großen Ge⸗
dankend geworden iſt, jo läßt ihm Liefer weder Naft noch Ruhe mehr. Die
beherrſchende Idee erfüllt das ganze Weien des Menſchen, pulftrt in jeder
feiner Adern, vermiſcht fich mit allen ſeinen Vorſtellungen und verleiht ſei—
nem ganzen Daſein einen erhöhten Schwung. Ein Enthuftasmus, der To
den Menſchen in feinem Innerften aufrüttelt und fein Nervengeflecht in
Schwingung verfegt, bringt leicht eine Eranfhafte Reizung mit ſich, die in
phantaflevollen Naturen zu fomnambuliftifcher Efftafe id fteigert. So eine
Natur war aber Mohammed und zudem, wie wir fchon Angedeuter haben,
eine epileptiihe. Daraus, meinen wir, erklärt ed ſich, daß die ihn erfül-
Iende Idee ihm zuleßt viſtonär gegenftänplidh wurde, daß er das, was er
dachte und wollte, in himmliſchen Traumgeftchten zu erbliden glaubte. Die
moslemiſche Tradition drüdt diefen pfychologiſchen Prozeß jo aus: Im vier-
zinften Lebensjahre Mahonımeds erfähten ihm der Engel Gabriel ald Ueber⸗
Bringer der görtlihen Offenbarung und befahl ihm, dieſelbe als Propbet des
hoͤchſten Gottes den Menſchen mitzutheilen )). So wurden dem Bropheten
Me einzelnen Abſchnitte Des Koran dur den genannten Engel geoffenbart.
In den erflen drei Jahren nach feiner „Erleuchtung“ hat ſich Moham⸗
med nur feinen vertrauteften Breunden mitgetbeitt. Zuerſt der Chadidja,
die ihm nicht nur Braun, ſondern auch inniufte Breuntin war. Chadidja
empfing die Mittheilumg mit Begeifterung , beieitigte Die Zweifel ihres Gats
ten, beftärkte ihn in feinem Vorhaben und ward feine erfte und eifrigfte
Jüngerin. Durd ihre Mitwirkung ward der erfte Pleine Kreid von Beken⸗
nern des Idlam gewonnen, Abu Bekr und Othman, die nachherigen Cha⸗
lifen, Mohammeds Sklave Zeid und fein junger Vetter Ali, „der Löwe
Sotted *, ferner Abdurrabman, Saad, Talha und Zubeir. Die Eleine Ge—
meinde verfammelte fich im Geheimen zu Gebet und Betrachtung und ver⸗
ſtaͤrkte ſich zwar allmälig, namentlid durch den Beitritt von Frauen, hatte
ſpruch auf Alleinſeligmacherei. Freilich gibt es eine Tradition, weldyer zufolge gerade die
8. Sure tes Koran, in welcher tolerantere Meußerungen vorkommen , die zuletzt durch
den Propheten feinen Anhängern miigetheilte wäre. Dies bewirfe, daß Mohammed
am Ende feines Lebens wieder duldfamer geffimmt gewefen ſei. Moͤglich, daß dem fo
war; aber in dem kriegeriſchen Tumult, ven der Islam nach des Propheten Tod erhob,
verhallte bieſe Mahnung zu. Dulpfamkeit.
1) Die Schhilderung der Bifionen I. bei Weil, S. 42 fa.
aber bald auch Hohn, Waberſtaad und Verfolgung ja befahren Virke
Wiperwärtigfeiten wuchſen, ald Mohammed nach eitiiger Zeit Offemekich in
der Kaabah jeine Lehre zu verfüntigen begannen hatte. Mngeſehenſte Maͤu⸗
ner des Stammes Koreiſch, ja aus der Reihe ferner nächſten Berwandten
traten gegen den Propheten auf, und wie das in ähnkichen Fällen auch
anderwaͤrts geſchah, forderten die Widerſacher vor alten Dingen, er möge
Much Wander den Wahrheitsbewris für ſeine Sendung führen. Da gab
er denn, wie eiaft auch Zarathuſtra in ſolcher Rage gethan haben ſoll ®},
wiederholt die Antwort, er ſei nicht neinndt, Wunber zu thun, fondera nur,
den Menichen das ihm von Bott geoffenbarte Buch zu bringen, deſſen Ins
bat Wunders genug ſei. Ä
Die Koreiſchiten jedoch jahen die Sache anders an. WimestGeils von
dem Standpunkt aus, welchen die Mittelmäßigkeit bem Genius gegrnüber
einzunehmen pflegt, anderntheils unter dem Geſichrepunkt ihres Intereſſeb
als Huͤter der Kaabah, welches fie durch die nent Lihre geführben glaubten.
Endlich mag zur Ungunſt, welche Mahommed erfuhr, auch ber Umſtand
mitgewirkt haben, daß er nicht mehr reich war. Cinem Reichen pftegen iu
die Menſchen Alles zu verzeihen, nie aber einem Armen Geiſtesgröße und
Seelenhoheit. Indeſſen vergrößerte ſich doch allmälig die moslemiſche Ges
meinde und zuweilen erlebte der Prophet die Freude, einen heftigſton We
derſacher zu befebren. So den Omar, einen der angefehenften Männer 06
Stammes Koreiſch, ſpäter als zweiter Chalif eine der Grundfäulen des
Jolam. Solchem Gewinn hielt ein großer Verluſt die Waage, der Tod
Chadidja's. Kines Erſatzes bedürftig,, fuchte denjelben der Prophet, in dem
Verlöbniß mit Aiſcha, der. ichönen, klugen und räͤnkevollen Tochter Abu Welrs;
aber Aiſcha war feine Chadidja und fo bat fich denn Mohammed von pet an
den Fordernugen feined glübenden Zemprraments im Umgang mit den Frauen
ruͤckhaltslos Hingegeben. Er, der in jungen Jahren der alternden Chadibja,
übereinftimmenden Zeugniffen zufolge, die Treue gehalten, war im alten
Tagen Befiger eined Harems von Brauen und. Kebfinuen.
5.
In diefer Beit unabtäfflger Aufregung, 100 von einem Tag zum andern
ber Erfolg mit der Verfolgung und umgekehrt wechſelte, icheint das viſto⸗
— — — ———-
2) Vgl. Thl. I, ©. 166.
·2
378
näre Element in Mohammed ganı aufrrorbentlih mächtig geworden zu fein.
Berzudung folgte auf Berzüdung, Erideinung auf Erſcheinung. Wenigſtens
fegt Die mos lemiſche Tradition in dieſe Periode eine Fülle von Viſionen
und Öffenbarungen, welche Dem Bropheten wurten. Da werden und Rüffe
zugeworfen,, die freilich nur etwa Der &laube Fnaden kann. Das berühm-
tefle dieſer Geſichte iſt Mohammeds Nachtreiſe von Mekka nach Ieruialem
und von da durch die ſieben Himmel!). Aber „der Prophet gilt Nichts in
jeinem Heimarlande*. Dem Koreiſchiten genägten Diele Traummunder nicht,
oder vielmehr war es zwiſchen ihnen und Mohammed ſchon fo weit gefom-
wen, daß eine Katafleophe unausweihlihd war. Mehrmals ſchon Hatte er
vor feinen Feinden aus Mekka weichen und mit jeinen Anhängern in der
Wüfte, in Höhlen und Schluchten Zuflucht ſuchen müſſen. Immer zwar
war er wieder in die Baterflatt zurüdgefehrt, aber jegt mehrten fi die
Anzeichen, daß die Koreifchiten zum Aeußerſten zu fchreiten ſich entfchloflen
hatten, um des Menfchen ledig zu werden, den fie nur für einen eingebil-
deten Störenfried anfahen, welcher die Frechheit hatte, fle aus ihrem behag⸗
lihen Schlendrian aufzurütteln. Inwieweit fle das belichte Moment der
— —— — — —
1) Das if allerdings eine Offenbarung, naͤmlich eine glaͤnzendſte der arabiſchen
Bhantafle. Mohammed machte die Reife auf dem Wunderroß A Boraf (der Blitz),
welches ihm der Engel Gabriel zu diefem Zwecke zuführte. Das Roß hatte, wie menſch⸗
liche Sprache , fo auch ein menſchliches Seficht, aber die Backen eines Pferdes; feine
Augen waren wie Hyazinthen und funfelten wie Sterne; feine ganze Geſtalt firalte von
GErelfleinen und feine Arlerflügel glänsten wie Sonnenftralen. — Im fiebenten und
hoͤchſten Himmel wurde der Prophet von Abrakam empfangen. Diele Wohnung der
Seligen it aber von fo überfchwänglicher Herrlichkeit, daß feine Menichenzunge fie be:
ſchreiben kann. Was aber von einem der feligen Bewohner gefagt wird, reicht hin,
eine Vorſtellung von den übrigen zu geben. Nämlich fo ein Infaß des fiebenten Him⸗
mels übertrifft an Größe die ganze Erde; er befigt 70,000 Köpfe, jeder diefer Köpfe
aber wiederum 70,000 Munde, jeter dieier Munde 70,000 Zungen und jede dieſer
Zungen fingt in 70,000 verfchiedenen Sprachen unabtäffig das Lob tes Höchſten. —
Sehr wunderbar ift auch der zur Rechten von Allah's unfihtbarem Thron ftehende Lo⸗
tosbaum Sidrat. Jedes Samenforn feiner Früchte umfchließt eine Houri, d. 5. eine
jener ewigen Himmelsjungfrauen, welche zur ®lüdicligfeit der wahren Gläubigen bes
fimmt find. — Nachdem Mohammed getanfenfchnell noch einen ungeheuren Raum
vol blendenden Lichtes und tieffler Finſterniß dDurcheilt Hatte, fah er fich zwei Bogens
fhüfle weit von Allah’ Gegenwart entfernt. Aber das Antlig Gottes war mit
20,000 Schleiern bedeckt, denn der Anblick deſſelben müßte jeden Menfchen auf der
Stelle vernichten.
379.
„Meligionägefahr* gegen die Neuerer wirkfam machten, ift nicht ganz klar.
Es wird aber wohl auch Hier bedeutend mitgelpielt haben.
Mohammed hielt der Gefahr bis zum Aeußerſten Stand. Er fühlte,
wie wichtig e8 war, gerade. von Mekka aus feine Lehre Vorfchritte machen zu
laflen. Und fie hatte auch wirklich fchon beträchtliche gemacht. Die für die
Folge widhtigften in der Stadt Medina, wohin fie durch, Wallfahrer gebracht
worden, denen fie der Prophet auf einem Hügel bei Mekka gepredigt hatte.
Nach Medina richteten fich daher die Blicke Mohammeds, ala feine und feiner
Befenner Stellung in Mekka unhaltbar geworden. Die moslemiſche Ges
meinde ſiedelte nach Medina über, doch blich der Prophet ſelbſt mit Abu Bekr
und Ali in Mekka zurück, bid er feine Stunde, feine Minute mehr vor dem
Mortfiahl der Koreifihiten fiher war. Schon hatten die Meucelmörter
näcdhtlicher Weile Mohammeds Haus umzingelt, da erfl entwich er vor
ihnen, mit Anwendung ächtbeduiniſcher Lift 2), Er entfam mit Abu Bekr
nach mancherlei Faͤhrlichkeiten glücklich nach Medina, wo er mit Jubel em⸗
pfangen wurde und wo ſich bald alle jeine Anhänger um ihn fammelten.
Bon diejer Hidjrah (Flucht) des Propheten im I. 622 n. Chr. datirt
die modlemifche Zeitrechnung.
6.
Nun verbindet fih in Mohammed mit dem Amt des Bropheten. das
des Kriegerd und Zürften. Aeußerlich zwar blich feine Fürſtlichkeit vorerft
noch von jehr beduinifcher Einfachheit, wie die Hochzeit feiner geliebten
Torhter Fatima mit dem treuen Ali darthut, welche lange nad der Ueberſited⸗
lung nach Medina flattgefunden zu haben ſcheint 1). Weußerlicher Glanz
gab aber damals feinen Maaßſtab für arabiſche Macht. Beweis hierfür iſt,
dag Mohammed, trotz feines aͤrmlichen Haushalts, bald im Stande war,
— — -_ _—
2) Alt legte fich, mit Mohammeds Kleidern angethan, fo im Haufe nieder, daß
ihn die lauernden Koreifchiten von außen fehen fonnten. Sie hielten -ikn für Mo⸗
hammed und glaubten daher, es jei überflüfftg, die übrigen Theile des Haufes zu bes
wachen. So gelang es dem Propheten, auf der entgegengelegten Seite unbemerft
über die Mauer hinunterzufteigen.
1) Die ganze Ausfteuer des Paares beftand aus zwei Nöden, zwei fllbernen
Armbändern, einem Becher, einer Handmuͤhle, zwei Waflergefäßen , einem Trinffruge
und einem ganz armfeligen Bette. Der Hochzeitsſchmaus war auch patriarchaliſch
genug; er beſchraͤnkte ſich nämlich auf eine Echüffel voll Datteln und Dliven.
380;
ale Heeresflerſt feiner Behre mit Tem Schwerte Nachdruck an geber. Er
hielt hiebei an dem richtigen Gedanken feſt, daß der Gewinn Metka's für
feine Gache entſcheidend ſein mäßre, und fo ſehen wir dan Team vun Medina
aus angriffoweiſe gegen bie Koreiſchiten vorgehen, nachdem er ben Krieg
genen die Ungläubtgen fürmlich als vin Gebot Gottes procamirt hatte.
Seinen erfin Sieg gegen die Kodetſchiten gewann er bei Vedr. Inteflen
wären die genenfeitigen Kriegsfahrten vorerſt meiſt nur beduinifche Raubzuͤge,
Razzin’s Im altnationaten Styl, und lange ſchwankte die Entfcheidung. Eine
erſte Bereunung Mekka's mißlang, aber anderwärts gewann der Prophet
Terrain; allmälig fo viel, Laß die moraliſche Ruͤckwirkung auf die Korriichi⸗
ten nicht ausblieb. Mehrere Häuptlinge Terjelden anerkannten ten Pro⸗
pheten, fo 3. B. der gefürchtete Khaled, der ſtch ipäter den Titel „ Schwert
Gottes“ erward. Endlich, zu Ende des Jahres 629, war Mohammed im
‚Stande, mit eimen Heer von zehntauſend Streitern vor Mekla zu rüden,
une nach furzer Belagerung zog er im Jannar 630 als Sieger in die heilige
Stadt ein. Die verſtockteſten Koreifchiten vrrfielen wem Tode, ſonſt aber
ließ Der Steger eine Auge Mäßigung walten. Die Kaabah wurde, nade=
dem die Gögenbilder zerichlagen worden, zum Haupttempel des Islam
geweiht.
Gerade aber die Reinigung des Nationalbeiligthums von den Spuren
der Stololatrie brachte unter ſolchen arabiſchen Stänımen, welthe noch an der
alten Religion fefthielten,, eine große Gonföderatien zumege, deren Made
Mohamined durch die im Februar 636 im Thale bei Honain gefchlageme
Schlacht brach. Bon da an gebot er uͤber Arabien und konnte feine Waffen
bereits aach Syrien tragen, gegen den Kailer von Byzanz Doch war dies
nur ein erfier Anlauf des Yalam anf ter Bahn der Ersderung. Der Pro⸗
phet mo@te fühlen, daß zunaͤchſt in Atabirn felbft nach genug zu thun fei,
um baflelbe auf dem Fuß der neuen Lehre zu organiftren. Das that er denn
auch) von Medina aus, weldhe Stadt er mit Recht fehr lichgewonnen hatte.
Im zehnten Jahre der Hidjrah machte ex noch eine Wallfahrt nad Mekka,
welche durch Zahl und Glanz ſeines Sefolged und durtch Die allgemeine Ber-
ehrung, die ihn dabet entgegenkam, zu einem wahren Triumphzug feines
Propherenthums wurde. Nad Medina zurückgekehrt, erkrankte er, nachdem
er ſchon auf der Reiſe den Gefährten feine Ahnung vom Nahen des Todes⸗
| ongelö uisgetheilt und aud bei Liefer Gelegenheit wieder, wie öfter ſchon
Berfuchen, feine Perſon zu vergottea, gegemüber, alles Grnftes betont Hatte,
381
er ſei ein Menſch wie andere. Seine ſtrankheit nahm zu, obgleich ex Fah,
Die Gemeinde im Glauben zu Härten, no täglich im Die Moſchre fchlenpte
und ypredigte. Die Nachrichten über feine Lehten Lebendtage weichen ſehr
won einander ab und fo iſt auch nicht mit völliger Sicherheit ausgemittelt,
ob her 7. oder B. Juni des Jahres 632 fein Todestag it 3). Kiniges über
feinen Ausgang ficht jedoch Feft. In feiner Leuten äffentlichen Rede ſprach
er au der befiuumenten Gemeinde unter Anderem: „Ich hörte, der Kan eures
Bropheren erflille euch mit Schredden. her bat ie ein Prophet vor mir
ewig gelebt, daß Ihr glauben Fünntet, ich würde mic nie von ech Inennem ?
Ich wankere Zegt zu meinem Herrn, euch aber ermahne id) gu gegenſeitiger
Eintracht.“ Auf Dem Stevbrlager ſcheufte ex feinen Gflnuen hie Freihnit
und befahl, alle Beld, was in feiner Kafle ſai — es mar wenig gemag,
fecha bis fieben Denare — an die Urmen zu vertheilen. Wepor er bad Me⸗
mußtfein verlor, hat er gebeket: „Gott fiche mir hei im Tohesfamapfe ! *
Dann iſt er in den Arsen der Mifcha perſchieden mit hen Warten: „Bm Kam
höchſten Befährten im Raradiefſe!“ An der Stelle, mn fein Krembenleger
geſtauden, wurde ihm fein Grab gegraben, jeht das Ziol der Wilgenfahrt von
Millionen 3).
7,
-Sür einen wahrkakt Berufenen und Begeifterten wird den Saifter des
Yalanı Seder anfehen, der unbefangen as ihn heramiriet. Immer hilicken amd
der mizatulofen Berzerrung ſeines Bibdes durch die legendenſüchtige Kyrdition
menſchlich edle Züge. Gr ſelbſt, wir wiederholen es, trat jedem Bergettungs⸗
verſuch entgegen. Als ein Meubeschrter ihn fragte: „Bft du Gottes Sohn?”
gab er zer Antwort: „Wort bat feinem Sohn; er wand nicht gezeugt und
zeugt nicht.“
Die arabifche Myrhonſucht Hat natürlich fid) beeilt, audy Die harperliche
Erſcheinung Mohammeds mit dem Nimbus des Wunderbaren zu umgeben 1).
— —
2) Die meiſten moelemiſchen Lebenobeſchreiber Mahammeds geben den Monag,
den 438. Tag des Rabia⸗l⸗Awwal don 14 Bahare der Hidjwah an.
8) Wir fommen unten m A. Rap. darauf zusüd.
1) Er konnte von hinten fo gut fehen wie vom vornen, denn ex hatte zudidgen den
Schultern zwei Augın, fo Heim wie Nadelöhre, womit er Dusch Me Kleider ſah. Kaein
Speichel konnte das Seemaſſer verſiͤißen. aim Schweißtronien glichen Beten , fie
wurden als Aroma gebraucht, u. dgl. m.
R
382
Wiſchen wir dieſen Nebel von ſeinem Bilde, ſo bleibt immerhin noch eine
ſtattliche Perſonlichkeit übrig. Mittlerer Statur, Hatte er einen wohlgeform⸗
ten Kopf, ein rundes, rothwangiges flarfbebartete® Befiht, eine lange '
ſchmale Nafe, eine hohe Stirne, große fhwarze Augen. Obwohl, wie wir
gemeldet, oft die Beute einer ſchrecklichen Krankheit, war er auödauernd im
Ertragen von Hunger und Durft, Hige, Froſt und Strapazen aller Art, ein
kühner Reiter, perfönlich tapfer, ein ſcharfblickender Anführer, umſichtiger
Volitifer. Dabei im Benehmen von mildem Ernft, im Umgang von an«
muthiger Leusfeligkeit, in feinen Blanen und deren Durchführung von tiefer
und umfaflender Menſchenkenntniß geleitet. Gewöhnlic, wortfarg, erhob er
ib, wenn Drt und Stunde e8 forderte, zu einer unwiderftchlichen Berebt-
ſamkeit, die in gewaltigen Worten die Unfchauungen feiner glühenden, von
frühauf mit den Erzeugniſſen der Volkspoeſte feines Rantes genährten Ein⸗
bildungskraft außftrömte. Daß Liebe zu den Menſchen der Grundzug feines
Charakters war, mögen nur Solche bezweifeln, welde nicht willen oter nicht
wiffen wollen, daß er fidh jelbft die größte Frugalität der Lebensart aufer-
legte, um dem rafllojen Hange zum Wohlthun nachleben zu fünnen, der ihn
befeelte und fid immer in anſpruchloſeſter Form, oft fogar humoriſtiſch
äußerte2). Er liebte überhaupt einen harmlofen Scherz und zeigte fidh den
Menſchen ftets fo zugänglich und nachſichtig, wie er fi den Thieren mit⸗
leidsvoll erwies. Nur nah einer Richtung Hin, im Umgang mit den
Weibern, hat er, wenigſtens nach abendländifchen Begriffen, die Schranfen
der Maͤßigung durchbrochen. Weihrauchdüfte und eines Weibes Umarmun⸗
gen, batergefagt, entflanmten mehr als alled Andere feine Andacht im Gebet.
Es mag fo fein. Er konnte auch, abgejehen von den hergebrachten Liebeöbräuchen
im Orient und von der altarabiichen Sitte der Vielweiberei, auf fein ganz
außergewöhnlich feuriges Naturell, auf feine faft märcenhafte Lendenfraft
fih berufen). Und wenigflend war er fein geheimer Wollüfling. Er
nn un
2) Als ihn einft einealte Frau bat, er möchte doch für fie beten, daß fie ins Pas
radies füme, verfegte er: „Es kommt feine alte Frau ins Paradies.” Da aber hier:
über die Alte in Thränen ausbrach, tröftete er fie, unter Berweifung auf den 38. Vers
ber 86. Sura des Korans, damit, daß Gott im Paradiefe die alten Weiber wieder zu
Sungfrauen umgeftalte. Uebrigens iſt die angegogene Stelle und mehr noch eine weitere,
Sura 33, Bers 37, 28, 34, ein fchlagender Beweis gegen die irrige Meinung, der
Jolam ſpreche den rauen die Seele und die Unfterblidyteit ab.
3) Er that au fo. Wenigſtens berichtet Petrus Pafchaftus bei Maracci (Pro-
dromus Alcoran, IV, 8585) nad) arabifchen Quellen: — Sibi rober ad generationem
383
barg die Befriedigung glühender Triebe nicht hinter der Maske der Gleis
nerei. Ueberhaupt war in diefem großen Manne, welder eine der größten
Mevolutionen der Weltgeſchichte gemadıt, etwas Offenes, Ehrliches, Biede⸗
res, jo gar nichts Muckerhaftes, und da er in feltenflem Maaße Genie und
Einfachheit, Herzensgüte und Ihatfraft vereinigte, fo durfte ihn Carlyle
wohl einen urjprünglichen Wenichen nennen und — in der Garlyle’ ſchen
hohen Bedeutung des Wortes — einen Helden u
quantum triginta viri habent inesse jactaret, ita ut unica hora posset undecim femi-
nis satisfacere. Nach Abulfeta (de vitaM. p. 140) äußerte fih Ali, als er den Leich-
nam des Propheten wuſch, noch viel erprefflver, fehr naiv bewunderungsvell.
A) Cariyle fchließt Seine bereits oben eitirte Charakteriſtik Mohammeds mit den
Worten: „Für die arabifche Nation war es — Mohammeds Auftreten — wie eine
Geburt aus der Finſterniß zum Licht. Arabien wurde erfi mit Hülfe deſſelben leben⸗
dig. Bin armes Hirtenvolf, unbemerkt feit der Schöpfung der Welt in feinen Wuͤſten
umherziehend: da ward ihnen ein Heldenprophet herniedergefandt mit einem Worte,
das fie glauben Eonnten, und fiehe da, das Unbemerfte ward weltbefannt, das Kleine
ift weltgeoß geworden. Innerhalb eines Jahrhunderts darauf reicht Arabien mit einer
Hand nad) Granada, mit der andern nad) Delhi. Stralend in Tapferkeit und Herr:
lichfeit und hellleuchtentem Genius, glänzt Arabien lange Jahrhunderte über einen
großen Theil der Welt. Glaube ift groß, befeelend. Die Geſchichte eines Volkes wird
fruchtbar, geifterhebenp, gruß, fobalo es glatıbt. Diele Araber, der Mann Moham-
med und das Bine Jahrhundert, iſt es nicht, wie wenn ein Funke gefallen wäre, Gin
Bunfe, auf eine Welt von dem, was fhwarzer, unmerfbarer Sand fchien? Der Sand
erweift fich als entzünpliches Pulver, lodert himmelhoch von Delhi bis Granada! Ich \
fage, der große Menich iſt immer wie ein Blitz vom Himmel; die übrigen Menfchen
warten aufihn gleih Brennftoff und dann flammen auch fie auf.” — Fr. Kolb in feiner
Abhandlung über den Islam (Staatsler. v. Rotteck und Welder, 2. A. VII, 383)
Außert: „Am wahrfcheinlichften däucht uns, daß (in Mohammed) drei verfchiedene
Momente wirkten: Streben nach einem tem Bolfe Gluͤck verheißenden Ziele, eigene
Schwärmerei und felbfifüchtige Zwede.” Zugegeben, biefes ſtrenge Urtheil ließe fich
in allen Theilen rechtfertigen, müßte man dann nicht fagen, ungefähr das nämliche
Urtheil könnte über alle Religionsſtifter, wie über alle weitgefchichtlichen Charaktere
überhaupt, gefällt werden? Ganz fo, wie hier ein Ehrift über Mohammed, Außerten
fih Heiden und Juden über Chriſtus. Vom Standpunkt des berühmten Buches De
wribus impostoribus aus fann man noch weiter gehen und fagen: alle Religionofliftung
iſt nur ein felbftfüchtiger Betrug. Ob aber diefer Standpuntt der hiſtoriſchen Betrachtung
ſtandhaͤlt, ift eine andere Frage. — Gelegentlich weile ich bier noch den oft gehörten Vor⸗
wurf zurüd, Mohammer habe tie Ausbreitung des Jslam vermittelt des Schweries
beiohlen. Ja wohl, aber wo hat es denn je eine weltgefchichtliche Revolution geges
ben, bei welcher nicht das Schwert in erſter oder lepter Kinie mitwirfte? Ic meine,
. 8.
Die Heilige Meligionturtunde der Mohammeraner ift bekauntlich der
Koran. . Dead Wort bedeutet „das Bud“ !) oder „Die Schrift “, alio ganz
bafielbe, wad „Bibel*. Dieſe Bibel des Islam iſt in ihren einzelnen Thei⸗
len des Werk Mohemmeds, aber nicht als Ganzes, d. h. der Prophet hat
den Juhalt Rischweife und zu nerichiebenen Zeiten feinen Anhängern mit
getheilt, aber die Zulaumeenfellung rührt nicht von ihm felber her. Er hat
nicht einmal die Sammlung befohlen. Einzelne Stüde hat er, wie es fcheint,
diefem oder jenem diktirt; wenigften® befanden fich hei feinem Tode Koran-
fragmente, auf Pergament, auf Leder, auf Balmblätter gefchrieben, in ner
ſchiedenen Händen. Undere waren darch Audere vermittelt Aufwendiglen⸗
and vufbewahrt worden. Da Mh aber fihen unter Mohammeds näcftem
Rahfolger ‚Abu Bekr, die Nothwendigfeit, die heiligen Docımmente zu fam-
meln, fühlbar madıte, fo beauftragte der Chalif den ehemaligen Geheim⸗
ſchreiber des Propheten, Zeid Ibn Thabit, mit diefer Arbeit. Schon un-
ur dem Chaliſen Othman gingen jebach in dan Abſchriften des Koran jo
wiele veviiedene Leſsarten um , daß Zeid eine nochmalige Redaction unten
nehmen mußte. Diejer wurde dann canoniſches Anfeben zuerfannt. Oth⸗
man ſandte Abfchriften davon in alle bedeutenden Städte des Reiches und
befahl zugleich, alle früheren zu vesbzeunen. Es iſt ſelhſtverſaͤndlich, daß
Dem fremmen Glauben ter Mohammedauer ter Inhalt ihrer Bibel, wiie
don glaͤubigen Juden und Eheiflen der Inhalt der ihrigen als unmittelbaze
göttliche Offendarung gilt. Die Urſchrift des Koran, fagt der orthutore
Moslem, ift von Urkeginn an im fichenten Himmel vorhanden geweien.
Der Koran, mie er ungs jetzt vorliegt, if befauntlih in 114 Suren
(Abichnitte) eingesheikt, devan jede wieder in eine guößere ober Sheineue An⸗
zahl von Sägen oder Berfen zerfälli. Man theilt diefe Suren au ein in
ſolche, welche während des Propheten Aufenthalts in Meffa, und in jolche,
welche während feines Aufenthalts in Medina geofienbart wurden, in
mekkaiſche und mebinenflirhe Suren alio. Es harrſcht aber in Dem Bu in
Bezichung auf Eintkeilung und Zeitbeftimmung rin gesßer Wirnwarx wa
der Medaetor deſſelben ift offenbar fo willtürlich verfahren, wie e8 eben ber
m Ehrißmmihem AR, twenigfene was die Praxis angeht, durchaus nicht berechtigt,
vom Jolam feine Belehrungsart zum Borwurf zu mahen.
1) Daher heißt der Aoran auch ſchlechtweg Al Kitah (dad Buch, die Schrift, eigtl
kLeſen oder das zu Leſende).
N
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — DE
— — — — — — — — — —— — — — —
Bufull wollte. Einige der Suren find von uwerhaͤltuißmuͤßiget voͤnge, an⸗
- Bere befichen nur aus ein paar Sägen. Jede Sura führt einen eigenen, son
einem in tr vorkommenden Stichwort oder Bild hergenommenen Titel, ber
of barock lautet („die Aub”, „ber Elephant“, „der Bucflabe Kaft,., &x
machte ein zorniges Geht“ u. aäͤ. m.). Dis Bolumen Des Koran erreicht
nicht die Hälfte Dde8 Umfangs ber. Bibel. Den Styl des Koran angehen,
Wer in einer Urt poetiſcher Profa geichrichen, die Häufig am Ende ber Zei⸗
Ton veimt. Die rhyrhmifſche Proſa, wie fte ſteis Klingt, wenn fie ſich erft.auß
Ber gebundenen Redeweiſe berawszubißsen angefangen Bat, gab num ein wib⸗
Üged Gefäß für die Biflonen, Ermahnungen, Drohungen und Vorſchrifton
des Propheten ab. Nicht felten fpricht er als wahrer Dichter, noch öfter
ber ale Rhetor. Sehr oft Freilich iſt der Woran breit, ſchwülſtig verwon-
vom — von einer methobiihen Gliederung feiner Lehren, von einem fogi-
ſchen Organismus iſt feine Spur in ihm — viele Stellen jedoch beurkunden,
dag ber Prophet, fortgerifien von dem Fruer feines Glaubens, für Anfchnuun⸗
gen voll glühender Bhantafle auch einen echt dichteriſchen, hinreißend mäch⸗
tigen Ausdrud gefunden. . Den börhften Schwung der Energie des Zornes
erreicht der Koran, wo er die Schrecken des jüngfien- Berichte und die Qua⸗
ten der Hölle jchildert, die höchſte Anmuth und Seterlichkeit, wenn er die
Belohnung der Seligen im Paradieſe befchreibt 2). Jener wunderbar naiv
epifche Zauber, welchen wir in dem biblifchen Buch der Genefld bewundern,
geht dem Koran gänzlich ab. Die biblifhen Gefhichten von Abraham bis |
CHriftus werden zwar in unendlihen Wiederholungen aufgetiicht, aber mit
wunderlihem Märchenkram verbollhornt. Bid zum Meberbruffe ehrt
die Schöpfungdgeichichte wieder und jpielt dabei der Teufel (I5lid) eine
große Rolle. Ebenſo unleidlih oft müflen wir den Aufruf zum heiligen
Kampfe mitanhören. Den ganzen Koran in einem Zuge durdhzufefen, tft
eine der ermüdendften Lejearbeiten, die e8 geben Tamm).
2) Wir werden Gelegenheit haben, Proben aus dem Koran zu geben. Dieaußer:
ordentliche Wirkung, welche derſelbe auf die Araber machte, foll durch die befannte |
Geſchichte von der Belehrung des gefeterten Dichters Lebid eviwiefen werben. Lebid
hatte fi geweigert, an Mohammeds Sendimg zu glauben; als er aber die Verſe 17 |
uud 18 der 2. Sura vernahm, riß er befhämt feine an der Kaabah aufgehangene
Moallaka herab und brkannte ich zum Jolam.
3) Ich kann mid) felbft durch eine fo große Autorität, wie die Hammers if, nid;
zu einem andern Urtheil uͤber ven literariſchen Werth des. Korans, al6 das oben ge-
gebene ift, beftimmen laffen. Hammer nemmt (Bundgr. d. Orients, I, 35) ven Komm
Schere, Geſch. d. Religion. I. 25
Der Koran, Te, wie er nun einmal if, gibt die canoniſche Norm für
Dad religiöſe, ſoziale und politiſche Leben ber Belenner des Pro—
pheten. Er lehrt den Islam, wie Mohammed feine Meligion nannte,
d. 5. die Ergebenheit, bie abfolute Unterwerfung unter das Schickſal, als
den Willen Gottes). Er flatuirt die Unzertrennlichkeit des religiöſen und
des bürgerliden Geſezes und demnach auch die Vereinigung der höchſten
geiſtlichen und weltlichen Macht in einer und derfelben Hand. Sein In-
halt iſt alio zugleich Dogmatik, Ritualgeieg, Sitten- und Rechtslehre. Nach
diefen drei Seiten bin werden wir ihn auch einer Betrachtung unterziehen,
fobald wir Hier, wa® das Dogma betrifit, ichon oben Angedeutetes noch ein-
mal betont haben: — naͤmlich, dad Mohammed feine Lehre nicht ale etwas
unbedingt Originale gab. Es wäre died auch ein jehr eitled Linterfangen
gewefen. Die Hauptquelle des Islam iſt ganz augenſcheinlich ber Hebrais⸗
muß, aber fie bat fich mit fehr bedeutenden Zuflüffen aus der. altperftichen
und der chriſtlichen Religion vermifht. Auch ift, namentlich in den mosle⸗
miſchen Religionsbräuchen, einiges Altarabiſch⸗Heidniſche zurüdgeblieben.
Der dogmatifche, rituelle und rechtliche Inhalt des Koran beſtimmt
alſo den Inhalt der drei zunachfi folgenden Kapitel).
Drittes Kapitel.
Das moßlemifhe Dogma.
1.
Das Dafein Gottes, d. h. der Glaube daran, ift Grunddogma jeder
Religion. Der Menſch glaubt, es fei ein Weſen über ihm, er verehrt,
das Muſterwerk arabifcher Dichtfunft. Weil dagegen (d. poet. Lit. d. Araber, S.
60) zuerkennt dem Koran nur „vollendete Rhetorik.“ Nach meinem Gefühl kommt
an aͤchter Poefle Nichts im Koran den altarabifchen Gefängen eines Schanfara, Ans
tara und Amrilkais gleich.
4) Islam fommt von der Wurzel Selame, Unterwerfung, Hingebung. Gin Mos-
lem ift alfo ein fi Hingebender (an Bott), ein Glaubender.
5) Die moslemifche Theologie bezeichnet die Dogmenlehre, die Cultlehre und die
MRechtslehre mit den Ausdrücken Usul ed-din, Feru' ed-din, ’Jime fikh.
387
fürchtet, Tiebt dafjelbe, erwartet von ihm Hülfe in diefem, Seligfeit in einem-
zufünftigen Xeben. Die Idee des Dafeind der Gottheit ift alfo der Punkt,
von welchem alle Dogmatik audzugehen bat. Auch die moslemifche; nur
will fie es nicht Wort haben, fofern fle fagt, das Dafein Gottes ei eine fo
bedingungsiofe Vorausfegung, die Borftellung davon fei jedem Menfchen fo
eingeboren, daß ed nicht nur rein überfluͤſſig, fondern jogar fündhaft wäre,
nod davon zu fprecdhen, Diefen ureingeborenen Begriff die Menfchen erft Ich»
ren zu wollen. Es ift, meint der Moslem, rein unmöglich, nicht zu wiffen
oder gar zu bezweifeln, daß Gott if. Das Sein Gottes erft bemeifen zu ı
wollen, wie es bie hriftliche Philofophie aller Zeiten mit fo großer Mühe
waltung fich angelegen fein lieg, würde einem Modlem, wenn überhaupt |
als begreiflich, jedenfalls als eine todeswärdige Ketzerei vorkommen. Die I
moslemiſche Theologie fängt daher damit an, das Wefen Gottes zu bes
flimmen. Hieran reiht fte die übrigen Grunddogmen des Islam und fo er»
halten wir deren fünfe: — 1) das Teuhid, die Einheit (und Eigenfchaften)
Gottes; 2) das ’Edolet, die Gerechtigkeit Gottes (Prädeftination); 3) das
Nebüwwet, da8 Prophetenthum; 4) dad Mi’od, das kuͤnftige Leben; 5) das
Iınamet, die Erbfolge der Imame 1).
2,
„Kein Gott außer Gott!“ lautet dad Symbolum des Islam).
Allah?) ift der eine, alleinwahre Bott. Er hat fein Weien in fich ſelbſt,
genügt ſich felbft, tft weder gezeugt noch zeugt er. Er ift bad Centrum, in
welchem ſich Alles vereint, er erfüllt mit der Unendlichkeit feines Weſens das
Weltall, defjen Urheber und Regierer er iſt. Von Ewigkeit zu Ewigfeit iſt
1) In der Auffaflung einiger diefer Dogmen weichen die beiden großen Selten
des Islam, die Sunniten und die Schiiten, von einander ab. Ich werde diefe
dogmatifchen Unterfchiede, welche übrigens mehr aus einem politifchen als religiöfen
Zwielpalt der genannten Sekten erwuchſen, einftweilen angeben. Der Urfprung des
Zwiefpalts wird weiter unten im Kapitel berührt werden. — Wo ich im Kolgenden
Koranfiellen anführe, find diefelben entweder der Ullmann’fchen oder der Sams
mer ’fchen Berdeutfchung entnommen, fo zwar, daß Eitate in ungebundener Mede ber
erfteren, in gebundener der leßteren angehören.
4) Lo illahe illallah.
2) Zufammengezogen aus al und elah. Wie ſprachlich, To auch begrifflich ſtimmt
dieſe Benennung Gottes — Allah bedeutet der Verehrungswürbige, Grhabene — mit
den hebräifchen Bezeichnungen der Gottheit (E), Eljon, Elohim) überein.
25 %
Ze 7
378
näre Element in Rohammed ganı anfirrorbentlich mächtig geworben zu fein.
Verzückung folgte auf Berzüdung, Ericdeinung auf Erſcheinung. Wentaftens
fegt die mos lemiſche Tradition in dieſe Periode eine Külle von Viſtonen
und Offenbarungen, welde tem Propheten murten. Da werden und Nüfle
zugeworfen, die freilich nur etiwa der Glaube Fnaden fann. Das berühm⸗
tefte diefer Geflchte it Mohammeds Nachtreife von Mekka nad Ieruialem
und von da durch die fleben Himmel 1). Aber „der Prophet gilt Nichts in
feinem Heimatlande*. Den Koreiſchiten genügten dieſe Traummunder nicht,
oder vielmehr war es zwilchen ihnen und Mohammed ſchon fo weit gefom-
men, daß eine Kataflrophe unausweihlih war. Mehrmals fhon hatte er
vor feinen Beinden aus Meffa weichen und mit jeinen Anhängern in der
Wüfte, in Höhlen und Schluchten Zuflucht fuchen müffen. Immer zwar
war er wieder in die Vaterflatt zurüdgefehrt, aber jegt mehrten fich die
Anzeichen, daß Die Koreiſchiten zum Aeußerſten zu fchreiten ftch entfchloffen
hatten, um des Menfchen ledig zu werden, den fie nur für einen eingebil-
deten Störenfried anſahen, welcher die Frechheit hatte, fie aus ihrem behag⸗
lichen Schlendrian aufzurütteln. Inwieweit fie das belichte Moment der
— — — — —
1) Das iſt allerdings eine Offenbarung, nämlich eine glaͤnzendſte der arabiſchen
Phantafle. Mohammed machte die Reife auf dem Wunderroß A Boraf (der Blitz),
welches ihm der Engel Gabriel zu diefem Zwecke zuführte. Das Roß hatte, wie menſch⸗
liche Sprache , fo auch ein menschliches Schicht, aber die Backen eines Pferdes; feine
Augen waren wie Hyazinthen und funfelten wie Sterne; feine ganze Geftalt ftralte von
Grelfteinen und feine Arlerflügel glänzen wie Sonnenftralen. — Im fiebenten und
hödften Himmel wurde der Prophet von Abrakam empfangen. Diele Wohnung der
Seligen it aber von fo überfchwängficher Herrlichkeit, daß feine Menfchenzunge fie be:
fhreiben fann. Was aber von einem der feligen Bewohner gefagt wird, reicht hin,
eine Vorſtellung von den übrigen zu geben. Nämlich fo ein Infaß des flebenten Hims
mels übertrifft an Größe die ganze Erde; er befigt 70,000 Köpfe, jeder dieſer Köpfe
aber wiederum 70,000 Munde, jeder dieier Munde 70,000 Zungen und jede dieler
Zungen fingt in 70,000 verfhhiedenen Sprachen unabläffig das Lob tes Hoͤchſten. —
Sehr wunderbar ift auch der zur Rechten von Allah's unfichtbarem Thron ftehende %o:
tosbaum Sidrat. Jedes Samenforn feiner Brüchte umfchließt eine Houri, d. h. eine
jener ewigen Himmelsjungfrauen, welche zur Sfüdicligfeit der wahren Gläubigen be⸗
ftimint find. — Nachdem Mohammed getanfenfchnell noch einen ungeheuren Raum
vol blendenden Lichtes und tiefer Yiufterniß Durcheilt hatte, fah er fich zwei Bogens
fhüfle weit von Allah's Gegenwart entfernt. Aber das Antlig Gottes war mit
20,000 Schleiern bedeckt, denn der Anblick deſſelben müßte jeden Menſchen auf der
Stelle vernichten.
379.
„Religionsgefahr“ gegen die Neuerer wirkfam machten, ift nicht ganz Elar.
Es wird aber wohl aud Hier bedeutend mitgefpielt haben.
Mohammed hielt der Gefahr bi zum Aeußerſten Stand. Er fühlte,
wie wichtig ed war, gerade. von Mekka aus feine Lehre Vorichritte machen zu
laſſen. Und fie Hatte auch wirklich ſchon beträchtliche gemacht. Die für die
Folge widhtigften in ver Stadt Medina, wohin fie durch Wallfahrer gebracht
werden, denen fie der Prophet auf einem Hügel bei Mekka gepredigt hatte.
Nach Medina richteten ſich daher die Blicke Mohammeds, ala feine und feiner
Bekenner Stellung in Mekka unhaltbar geworden. Die moslemiſche Ge⸗
meinde fledelte nach Medina über, doch blich der Prophet ſelbſt mit Abu Bekr
und Ali in Mekka zurüd, bis er feine Stunde, keine Minute mehr vor dem
Mordftahl der Koreifchiten ficher war. Schon hatten die Meucelmörter
nädhtlicher Weile Mohammeds Haus umzingelt, da erfl entwich er vor
ihnen, mit Anwendung ächtbeduiniſcher Lift?) Er entkam mit Abu Bekr
nach mancherlei Fäprlichkeiten glücklich nah Wetina, wo er mit Jubel em⸗
pfangen wurde und wo fih bald alle jeine Anhänger um ihn fammelten.
Bon dieſer Hidirah (Flucht) des Propheten im I. 622 n. Chr. Datirt
die moslemifche Zeitrechnung.
6.
Nun verbindet fih in Mohammed mit dem Amt des Propheten das
ded Kriegerd und Bürften. Aeußerlich zwar blich feine Fürſtlichkeit vorerft
nod von jehr beduinifcher Einfachheit, wie die Hochzeit feiner geliebten
Tochter Fatima mit dem treuen Ali darthut, welche lange nach der Ueberſited⸗
lung nad Medina flattgefunden zu haben ſcheint 1). Aeußerlicher Glanz
gab aber Damals feinen Maafftab für arabiihe Macht. Beweis hierfür tft,
dag Mohammed, trog feines aͤrmlichen Haushalts, bald im Stande war,
3) Alt legte fih, mit Mohammeds Kleidern angethan, fo im Haufe nieder, daß
ihn die lanernden Koreifchiten von außen fehen fonnten. Sie hielten ihn für Mos
hammed und glaubten daher ,»e8 fei überflüfftg, die übrigen Theile des’ Haufes zu bes
wachen. So gelang ed dem Propheten, auf der entgegengeleßten Seite unbemerkt
über die Mauer Hinunterzufteigen.
1) Die ganze Ausfleuer des Paares befland aus zwei Möden, zwei filbernen
Armbändern, einem Becher, einer Handmühle, zwei Waflergefäßen , einem Trinffruge
und einem ganz armfeligen Bette. Der Hoczeitsihmaus war auch patriarchalifch
genug; er befchräntte fich nämlich auf eine Echüflel voll Datteln und Dliven.
«als Hecrrofteſt feiner Beer mis tem Schuetie Reifen a irn. Gr
hielt hiebei an tem richtigen Gedsaten feR, vaß der Grwinn Mekka’s für
ieine Gate enfiseitent ſein weißer, ums io ichen wir ifn Tenn von Medina
aus angılfidwriie gruen die Koreiſchiten vorgehhen, nabtem er Deu Rrieg
genen Lie Unglänbigen formlib als ein Gebet Gottes yrociamirt hatte.
Seinen erien Gieg gegen tie Roreiiddten gewanu er bei Der. Iutefien
waren Die gegrmieitigen Aricgöfahrten vorerä mei nur betuinikbe Raubzäge,
Kazia’s tm altnationelen Styl, und lange idywanfte Die Enıfhridung. Cine
erſte Beremuung Wells’ mißlanz, aber anderwärtd gewann ter Bropket
Zerrain; allmälig io viel, daß Die moraliſche Rüdwirkung auf vie Aorriichi-
ten nit ausblieb. Mehrere Häuptlinge Terjelben auerlaunten ten Bro-
vheten, fo 3. B. der gefürdtete Khaled, der ſich ipätır den Titel „ Sqhwert
Gottes" erwarb. CEnptidy, zu Ende des Jahres 629, war Mohammed im
Stande, mit einem Heer von zehntaufend Streitern vor Metla zu rüden,
une nach furzer Belagerumg zog er im Ianuar 630 als Sieger in die heilige
Start ein. Die verſtockteſten Koreiſchiten vwerfielen wem Tode, jonſt aber
ließ der Sieger eine Auge Mäßigung walten. Die Kaabah wurde, nad
dem die Bögenbilder zericlagen worten, zum Hampttenpel bed Iölam
geweiht.
Gerade aber die Reinigung des Nationalbeiligthumd von den Spuren
ver Itolelatrie brachte unter ſolchen arabiihen Stämmen, weldhe noch an der
alten Religion fefihielten, eine große Confödrration zumege, deren Made
Mohammed durch die im Februar 630 im Thale bei Honain geichlageme
Schlacht brab. Bon da an gebot er über Arabien und konnte jeine Waffen
bereits aach Syrien tragen, gegen den Kailer von Byzunz. Doc war dies
nur ein erfier Anlauf des Jolam auf ter Bahn der Eroberung. Der Pro⸗
phet mochte fühlen, daß zunädk in Arabien ſelbſt nech genug zu thun fei,
um daſſelbe auf dem Fuß der neuen Lehre zu organiftren. Das that er denn
auch von Medina aus, welde Stadt er mit Recht fehr liebgewonnen hatte.
Im zehnten Jahre der Hidjrah machte ex noch eine Wallfahrt nad Mekka,
welche darch Zahl und Glanz feines Gefolges und durch die allgemeine Ber-
ebrung, die ihm dabet entgegerrfam , gu einem wahren Triumphzug feines
Prophetenthums wurde. Nach Medina zurüdgekehrt, erkrankte er, nachdem
er ihon auf der Meile den Befährten feine Ahnung vom Nahen ded Todes-
omgel& mitgetheilt und auch bei Liefer Gelegenheit wieder, wie öfter ſchon
Verſuchen, feine Merſon zu vergeben, gegenüber, alles Gruſtes betont Hatte,
981
er fr ein Menſch wie anbere. Seine Arandheit nahm zu, obgleich er ih,
Die Gemeinde im Glauben zu flärken, no täglich im die Moſchee fihlepnte
und predigte Die Nachrichten über feine Leiten Lebendtage weichen ſehr
son einamber ab und fo ift auch nicht mit völliger Sicherheit ausgemättelt,
ob ber 7. ober 8. Juni des Jahres 632 fein Todestag iſt 2). Einiges üher
feinen Ausgang fehst jedach feſt. In feiner Leuten öffentlichen Rede fvrach
er zu der hefümmmenten Gemeinde unter Anderem: „Id hörte, Der Kan eures
Bropberen erfillle euch mit Schredden. Aber bat je ein Prophet vor mir
ewig. gelebt, daß ihr glauben Fünntet, ich würbe mic nie vom euch nennen ?
Ich wankere Jet zu meinem Herrn, eu abar ermahne ich zu gegenſeitiger
Eintracht.“ Auf dem Stevbrlager fchenfte ex feinen Gklanen hie Freiheit
und Hefahl, alled Beld, was in feiner Kafle fei — es mar wenig gem,
fech8 bis ſieben Denare — an bie Armen zu vertheilen. Vevor ar Das Me:
mußtfein verlor, hat er gebetet: „Gott Aiche mir Hei im Todetfampfe!“
Damm tft er in den Armen der Mifcha verfibieden. mit Don Warten: „Im Kam
höchſten Brfährten im Paradiefe!“ An der Stelle, mn fein Kranbenleger
geſtauden, wurde ihm fein Grab gegzaben, jeßt das Biel der Wilgenfahrt yon
Millionen 3).
7,
Für einen wahrhaft VBerufrnen und Begeifterten wird Zen Saifter bed
Jalam Zeder anſehen, der unbefangen an ihn heramiritt. Inner baicken aus
ber miratuloſen Verzerrung ſeines Bilbdes durch die legendenſüchtige Tyndition
menſchlich edle Züge. Gr ſelbſt, wir wiederholen es, trat jedem Bergettungß-
verſuch entgegen. Als oin Reubeẽehrter ihn fragte: „BER du Gottes Sohn?”
gob er zur Antwort: „Wort hat Seinen Sohn; er ward nicht gezrugt and
geugt nicht.“ |
Die arabiſche Mynhenſucht Hat natürlich ſich beeilt, auch Die härperliche
Erſcheinung Mohammeds mit dem Nimbus des Wunderbaren zu umgeben 1).
—
2) Die meiſten moslemiichen Lebenobeſchreiber Rehammeds geben tn Monag,
don 18. Tag des Rabia⸗l⸗Awwal des 14 Dahres der Hidjwah an.
8) Wir lommen unten im A. Any. darauf zus.
1) Er konnte von hinten fo gut fehen wie vom vornen, denn ex hatte zutſchen den
Schultern zwei Augın, fo Mein wie Madelöhrs, womit er Dusch De Kleider (ah. Kein
SEheichel konnte das Seemaſſer verfäßen. Gaime Euhweißtronien. glichen Peacken, fie
wurden ale Aroma gebraucht, u. dal. m.
382
Wiſchen wir diefen Rebel von feinem Bilde, fo bleibt immerhin noch eine
ftattliche Berfönlichkeit übrig. Mittlerer Statur, hatte er einen wohlgeform-
ten Kopf, ein runtes, rothwangiges flarfbebartetes Beficht, eine lange '
ſchmale Naſe, eine hohe Stirne, große ſchwarze Augen. Obwohl, wie wir
gemeldet, oft die Beute einer ſchrecklichen Krankheit, war er auddauernd im
Ertragen von Hunger und Durf, Hihe, Frof und Strapazen aller Art, ein
fühner Reiter, perfönlich tapfer, ein ſcharfblicender Anführer, umſichtiger
Volitifer. Dabei im Benehmen von milden Ernft, im Umgang von an-
muthiger Leutfeligkeit, in feinen Blanen und deren Darchführung von tiefer
und umfafiender Menihenfenntniß geleitet. Gewoͤhnlich wortfarg, erhob er
fih, wenn Ort und Stunde es forderte, zu einer unwiderfichlichen Berebt-
famfeit, die in gewaltigen Worten die Anfchauungen feiner glühenden, von
frühauf mit den Erzeugniffen der Volköpoeſte feines Lantes genährten Ein⸗
biltungsfraft außftrömte. Daß Liebe zu den Menſchen der Grundzug feines
Charakters war, mögen nur Solche bezweifeln, welde nicht wiflen oder nicht
wiffen wollen, daß er ſich ſelbſt Die größte Frugalität der Lebensart aufer-
legte, um dem rafllojen Hange zum Wohlthun nachleben zu können, der ihn
befeelte und fih immer in aniprucdlofefter Korm, oft fogar humoriſtiſch
äußerte2). Er liebte überhaupt einen harmlofen Scherz und zeigte fi den
Menſchen ſtets fo zugänglid und nachfichtig, wie er fi den Thieren mit⸗
leidsvoll erwies. Nur nah einer Richtung Hin, im Umgang mit den
Weibern, hat er, wenigftend nach abendländifchen Begriffen, die Schranken
der Mäfigung durchbrochen. Weihrauchdüfte und eines Weibes Umarmun«
gen, hat er gefagt, entflammten mehr ald alles Andere feine Andacht im Gebet.
Es mag fo fein. Er fonnte auch, abgeichen von den hergebrachten Liebeöbräuchen
im Orient und von der altarabiichen Sitte der Vielweiberei, auf fein ganz
außergewöhnlich feuriged Naturell, auf feine faft märdenhafte Lendenkraft
— — nn
2) Als ihn einſt eins alte Frau bat, er moͤchte doch für ſie beten, daß ſie ins Pa⸗
radies kaͤme, verſetzte er: „Es kommt Feine alte Frau ins Paradies.“ Da aber hier⸗
uͤber die Alte in Thraͤnen ausbrach, troͤſtete er ſie, unter Verweiſung auf den 38. Vers
der 36. Sura des Korans, damit, daß Gott im Paradieſe die alten Weiber wieder zu
Jungfrauen umgeſtalte. Uebrigens iſt die angezogene Stelle und mehr noch eine weitere,
Sura 33, Bers 27, 28, 34, ein Ichlagender Beweis gegen bie irrige Meinung ‚der
Jolam ſpreche den Frauen die Seele und die Unfterblichkeit ab.
3) Er that auch fo. Wenigfens berichtet Petrus Paſchaſtus bei Maraeci (Pro-
dromus Alcoran, IV, 585) nad) arabifchen Quellen: — Sibi robar ad generationem
— m 57 a unit 1 —— —
383
barg die Befriedigung glühender Triebe nicht hinter der Maske der Gleis
nerei. Ueberhaupt war in diefem großen Wanne, welder eine der größten
Mevolutionen der Weltgeichichte gemacht, etwas Offenes, Ehrliches, Biede⸗
res, jo gar nichts Muckerhaftes, und da er in feltenftem Maaße Genie und
Einfachheit, Herzensgüte und Ihatfraft vereinigte, fo durfte ihn Carlyle
wohl einen uriprünglichen Menſchen nennen und — in der Garlyle’ichen
hohen Bedeutung des Worted — einen Helden‘).
nn — — —
quantum triginta viri habent inesse jactaret, ita ut unica hora posset undecim ſemi-
nis satisfacere. Nach Abulfeta (de vitaM. p. 140) äußerte ſich Ali, als er den Reich:
nam des Propheten wuſch, noch viel expreffiver, fehr naiv beivunderungsvell.
4) Cariyle fchließt feine bereits oben citirte Charakteriſtik Mohammeds mit den
Worten: „Für die arabilche Nation war es — Mohammeds Auftreten — wie eine
Geburt aus der Finſterniß zum Licht. Arabien wurde erſt mit Hülfe beffelben leben⸗
dig. Bin armes Hirtenvolf, unbemerkt feit der Schöpfung der Welt in feinen Wüften
umberziehend : da ward ihnen ein Heldenprophet herniedergefandt mit einem Worte,
das fie glauben konnten, und fiehe da, das Unbemerkte ward weltbefannt, das Kleine
ift weltgeoß geworben. Innerhalb eines Jahrhunderts darauf reicht Arabien mit einer
Hand nach ®ranata , mit der andern nach Delhi. Stralend in Tapferkeit und Herr:
lichfeit und heilleuchtentem Genius, glänzt Arabien lange Jahrhunderte über einen
großen Theil der Welt. Glaube ift groß, befeelend. Die Geſchichte eines Volkes wird
fruchtbar, geifterhebend, gruß, fobalo es glaubt. Diefe Araber, der Mann Moham:
med und das Eine Jahrhundert, iſt es nicht, wie wenn ein Funke gefallen wäre, Gin
Bunfe, auf eine Welt von dem, was ſchwarzer, unmerfbarer Sand ſchien? Der Sand
erweißt ſich als entzuͤndliches Pulver, lodert himmelhoch von Delhi bis Granada! Ich
füge, der große Menich ift immer wie ein Bliß vom Himmel; die übrigen Menfchen
warten aufihn gleich Brennftoff und dann flammen auch fie auf.” — Fr. Kolb in feiner
Abhandlung über den Islam (Staatsler. v. Motte und Welder, 2. 9. VII, 353)
äußert: „Am wahrfcheinlichfien däucht uns, daß (in Mohammed) drei verfchiedene
Momente wirkten: Streben nad einem tem Volke Glück verheißenpen Ziele, eigene
Schwärmerei und felbftfüchtige Zwecke.“ Zugegeben, diefes firenge Urtheil ließe ſich
in allen Theilen rechtfertigen, müßte man dann nicht fagen, ungefähr das nämliche
Urtheil Eönnte über alle Religionsflifter, wie über alle weltgeſchichtlichen Charaktere
überhaupt, gefäflt werden? Ganz fo, wie hier ein Ehrif über Mohammed, äußerten
Ach Heiden und Juden über Chriſtus. Vom Standpunkt des berühmten Buches De
tribus impostoribus aus fann man noch weiter gehen und fagen: alle Religionefiftung
iR nur ein ſelbſtſuͤchtiger Betrug. Ob aber diefer Standpunkt der hiſtoriſchen Betrachtung
ſtandhaͤlt, iſt eine andere Frage. — Gelegentlich weile ich hier noch den oft gehörten Bors
wurf zurüd, Mohammer babe tie Ausbreitung des Jslam vermittelt des Schweries
beiohblen. Ja wohl, aber wo bat es denn je eine weltgefchichtliche Revolution gege⸗
ben, bei welcher nicht das Echwert in erſter oder letzter Linie mitwirkte? Ich meine,
—— *
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. 8&.
Die Heilige Religiondurkunde der Mohanmmedaner ift bekauntlich der
Koran. .Ded Wort hebentet „das Bud" !) oder „die Schrift“, alio ganz
bafielbe, was „Bibel“. Dieſe Bibel des Jalam iſt in ihren einzelnen Thei⸗
len des Wert Mohammebs, aber nicht als Ganzes, d. h. der Prophet hat
den Juhalt iackweiſe und zu verichiebenen Zeiten jeinen Anhängern mit⸗
gerbeilt, aber die Zufammenftelung rührt nicht von ihm felber ber. Er hat
nicht einmal die Sammtung befohlen. Einzelne Stücke hat er, wie es ſcheint,
biefem oder jenem diktirt; wenigfiens befanden fich hei feinem Tode Koran«
Fragmente, auf Pergament, auf Leder, uf Balmblätter goſchrieben, in. ner-
ſchiedenen Händen. Undere waren dauch Audere permittelft Muiwendigler-
und vufbewahrt worden. Da Mb aber ſchon unter Mohammeds naͤchſtem
Rabfolger , Abu Bekr, die Nothwendigkfeit, die heiligen Docımente zu fam-
meln, fühlbar machte, fo beauftragte der Ehalif den ehemaligen Geheim⸗
ſchreiber des Propheten, Zeid Ihn Thabit, mit diefer Arbeit. Schon un⸗
er Dem Ghalifen Othman gingen jedach in dan Abſchriften des Koran jo
wiele vevilhienene Leſsarten um, daß Zeid eine nechmalige ORtedaction unter⸗
nehmen mußte. Diejer wurde dann canonifihed Anfeben zuerfannt. Orh⸗
man fandte Abfchriften davon in alle bedeutenden Städte des Reiches und
hefabl zugleich, alle früheren zu verbrennen. Es if ſelhſtverſaͤndlich, Rab
Sem frammen Glauben der Mohammedauer ter Inhalt ihrer Mibel, wie
don glaͤubigen Zuden und Ehriſten der Inhalt ter ihrigen ale unmittelbase
göttliche Offenbarung gilt. Die Urſchrift des Koran, fagt der orthotore
Moslem, ift von Urkeginn an im fichenten Himmel vorhanden geweien.
Der Koran, wie er uns jeht vorliegt, if befauntlig in 114 Suren
(Abicheitte) eingetheikt, Devon jede wieder in eine guößere ober fleinere Au-
zahl von Sign oder Berfen zerfällt. Man theilt diefe Suren au ein in
ſolche, weiche während des Propheten Aufenthalts in Mekka, und in foldye,
welche während feines Aufenthalts in Medina geoffenbart wurden, in
mekfaiihe und mebinenfiiche Suren alio. Es harrſcht aber in Dem Bud in
Deziehung auf Eintkeilung und Zeitbeflimmung ein geefer MBirmmarr uud
der Redaetor deſſelben ift offenbar fo wiltfärlidh verfahren, wie es eben der
dae Chriſtenchum iR, wenigfiens was die Praris angeht, durchaus nicht berechtigt,
vom Jolam feine Belehrumasart zum Borwurf zu machen.
4) Daher heißt der Arsen auch fdiebiweg Al Kitah (das Buch, die Schrift, eigtl
Lefen oder das zu Leſende).
385
Bufall wollte. Einige der Suren find von uwerhaͤltnißmuͤßiget Binge, an⸗
vere beſtehen nur aus ein paar Sägen. Jede Sura führt einen eigenen, von
einem in ihr vorfommenden Stichwort oder -Bild-hergenommenen Titel, ber
oft bare Inutet („die Zub", „ver Elephant“, „der Buchſtabe Kaf?, „ &
machte ein zurniges Geftht" u. d.m.). - Das Bolumen Des Koran erreickt
nicht Die Hälfte Des Umfangs der Bibel. Den Styl des Koran angehen,
Mer in einer Urt portifher Profa geichrieben, die Häufig am Ende ber Zei⸗
Ten reimt. Die rhyrhmiſche Proſa, wie fie ſteis klingt, wenn fie ſich erſt 8
Der gebundenen Redeweiſe herauszubilden angefangen Bat, gab nun ein wil⸗
Üges Gefäß für die Biflowen, Ermahnungen, Drohangen und Berfchtiften
des Propheten ab. . Nicht felten fpricht er als mahrer Dichter, noch öfter
aber als Rhetor. Sehr oft Freilich ift der Woran breit, fihwülkig verwor⸗
vom — von. einer merhobiichen Gliederung feiner Lehren, von einem fogi-
ſchen Organismus it feine Spur in ihm — viele Stellen jedoch beurkunden,
daß der Prophet, fortgeriffen von dem Beuer feines Glaubens, fir Anfchaumms
gen voll glühender Bhantafle auch einen echt dichteriſchen, hinrveißend mäch⸗
Aigen Ausdruck gefunden. Den höthſten Schwung der Energie des Zornes
erreicht der Koran, wo er die Schreden des jüngfien Gerichts nnd die Qua⸗
ten der Hölle jhildert, die höchſte Anmuth und Feierlichkeit, wenn er die
Belohnung der Seligen im Paradiefe befchreibt 2). Jener wunderbar naiv
epifche Zauber, welchen wir in dem biblifhen Buch der Genefld bewundern,
geht dem Koran gänzlich ab. Die bibliſchen Gefchichten von Abraham bis
Chriſtus werden zwar in unendlihen Wiederholungen aufgetiicht, aber mit
wunderlihem Märchenfram verballhornt. Bid zum Ueberdruffe kehrt
die Schöpfungsgefchichte wieder und fpielt Dabei der Teufel (Iblis) eine
große Rolle. Ebenſo unleidlih oft müffen wir den Aufruf zum heiligen
Kampfe mitanhören. Den ganzen Koran in einem Zuge durcdhzufefen, ift
eine der ermüdendſten Xefearbeiten, die ed geben kann ?).
2) Wir werden Gelegenheit haben, Proben aus dem Koran zu geben. Die außers
ordentliche Wirkung, welche derfelbe auf die Araber machte, foll durch bie befanmte |
Geſchichte von der Belehrung des gefeterten Dichters Lobid eviniefen werben. Lebed
hatte fich geweigert, an Mohammeds Sendimg zu glauben; als er aber die Berfe 1:7 |
uud 18 der 2. Sura vernahm, riß er befhämt feine an der Kaabah aufgehangene
Moallaka herab und befannte fich zum Jolam.
3) Ich kann mid) ſelbſt durch eine fo große Autorität, wie die Hammers iR, nid;
zu einem andern Urtheil über den literarifchen Werth des. Korans, als das oben ge:
gebene ift, beftimmen laffen. Hammer nennt (Fundgr. d. Orients, I, 25) ven Kovan
Schere, Geſch. d. Religion. I. 25
Der Koran, fo, wie er num einmal if, gibe die comewiidge Asım für
Das seligiäfe, ſo ziale um yoliniidge Leben der Belrmner des Pıre-
pheten. Er letzet en Islam, wie Mobammeb jeine Religion nannte,
». h. tie Ergebenheit, die abielnte Unterwerfung unter dad Schidial, als
den Willen Gottes). Cr Ratuirt Die linzerrennlidgfrit tes religisien und
geifiligen und weltlicgen Nacht in einer unt berielben Hand. Gein In-
yalt iR alio zugfeig Dogmatit, Rituelgrieg, Eitten- un Redttichee. Rad
fobald wir hier, was DaB Dogma betrifit, idden oben Angedeutetes noch eim-
mal betont haben: — namlich, dab Mohammer ieine Lehre nicht als cımas
unbedingt Originale gab. Es wäre dies auch ein ſehr eitles Unterfangen
geweſen. Die Hauptquelle des Jelam iſt ganz augenſcheinlich der Gebrais-
mus, aber fie hat ſich mit ichr bedeutenden Zufläflen aus der altperſiſchen
und der qchriſtlichen Religion vermiſcht. Auch if, namentlich in den moßle-
milden Religionsbräuden, einiges Altarabiſch⸗Heidniſche zurüdgeblichen.
Der togmatifhe, rituelle und rechtliche Inhalt des Koran beflimmt
alfo den Inhalt der drei zunachft folgenden Kapitel).
Drittes Kapitel.
Das moslemiſche Dogma.
1.
Das Dafein Gottes, d. h. der Glaube daran, ift Grundtogma jeder
Religion. Der Menſch glaubt, es jei ein Weien über ihm, er verehrt,
das Muſterwerk arabiiher Dichtfunſt. Weil dagegen (d. port. Lit. d. Araber, S.
60) zuerkennt dem Koran nur „vollendete Rhetorik.“ Nach meinem Gefühl fommt
an Achter Poefie Nichts im Koran den altarabiichen Gefängen eines Schanfara, Ans
ara und Amrilfais gleich.
4) Islam fommt von der Wurzel Selame, Unterwerfung, Hingebung. @in Mos-
lem iſt alfo ein ſich Hingebender (an Bott), ein Glaubender.
5) Die moslemifche Theologie bezeichnet die Dogmenlehre, die Gultlehre und die
Mechtslehre mit den Ausdruͤcken Usul ed-dia, Feru’ ed-din, ’Jime fikh,
387
fürdhtet, liebt daſſelbe, erwartet von ihm Hülfe in diefem, Seligfeit in einem-
zufünftigen Leben. Die Idee des Daſeins der Gottheit if alfo der Punkt,
von welchem alle Dogmatif auszugehen bat. Auch die moslemiſche; nur
will fie ed nicht Wort haben, jofern fie fagt, das Dafein Gottes jei eine fo
bedingungslofe Vorausfegung, die Vorftellung davon fei jedem Menichen fo
eingeboren, daß ed nicht nur rein überflüſſig, fondern jogar fündhaft wäre,
nody davon zu Ipredhen, dieſen ureingeborenen Begriff die Menfchen erft leh⸗
ren zu wollen. Es ift, meint der Moslem, rein unmöglich, nicht zu wiflen
oder gar zu bezweifeln, daß Gott ifl. Das Sein Gottes erft beweifen au |
wollen, wie es bie chriftliche Philofophie aller Zeiten mit fo großer Müh«
waltung fi) angelegen fein ließ, würde einem Moslem, wenn überhaupt |.
als begreiflich, jedenfalld als eine todeswürdige Kegerei vorfommen. Die
moslemiſche Theologie fängt daher damit an, das Wefen Gottes zu bes
flimmen. Hieran reiht fle die übrigen Grunddogmen des Islam und fo er»
halten wir deren fünfe: — 1) das Teuhid, die Einheit (und Eigenfchaften)
Gottes; 2) das ’Edolet, die Gerechtigkeit Gottes (Praͤdeſtination); 3) das
Nebüwwet, das Prophetenthum; 4) das Mi’od, das fünftige Xeben; 5) das
Imamet, die Erbfolge der Imame1).
2,
„Kein Gott außer Gott!" Iautet das Symbolum des Islam).
Allah?) tft der eine, alleinwahre Gott. Er hat fein Welen in fich felbft,
genügt fich felbft, tft weder gezeugt no) zeugt er. Er ift das Centrum, in
welchem ſich Alles vereint, er erfüllt mit der Unendlichkeit feines Wefens das
Weltall, deſſen Urheber und Regierer er ift. Von Ewigfeit zu Ewigfeit iſt
1) In der Auffaffung einiger diefer Dogmen weichen die beiden großen Sekten
des Islam, die Sunniten und die Schiiten, von einander ab. Sch werde biefe
dogmatifchen Unterfchiede, welche übrigens mehr aus einem politifchen als veligiöfen
Zwiefpalt der genannten Sekten erwuchſen, einftweilen angeben. Der Urfprung des
Zwiefpalts wird weiter unten im Kapitel berührt werden. — Wo ich im Bolgenden
Koranftellen anführe, find diefelben entweder der Ullmann’fchen oder der Sams
mer’fchen Verdeutſchung entnommen, fo zwar, daß Eitate in ungebundener Rede der
erfteren, in gebundener der leßteren angehören.
1) Lo illahe illallah.
2) Zufammengezogen gus al und elah. Wie. fprahlich, To auch begrifflich ſtimmt
biefe Benennung Gottes — Allah bedeutet der Verehrungswürdige, Grhabene — mit
den hebräifchen Bezeichnungen der Gottheit (El, Eljon, Elohim) überein.
— 25*
er, ohne Grlelı un WBohazuz ut temneh säremmeun:ı Birem Ürre-
en Monsıkridmus ciupichärten. wirt ker Koran nie mie zu mir wale-
Ber Ginkrir Gottes ivgenkwir Eix:raı ıbun fgazır. ae urben tem Gögen-
Tient namentlich ang ie eriüluhbe Srkre son ter Trteitir AL
Un tod blich Tiefer Farre unt ri’rriuctige Monstteiäunnd zit Dam;
conieauent. Wäre er Vieles zeblieben io mufte tie Berürkkun; einer Bintel-
Aufe mwiiben Gottheit und Menibbrit zanz umırrkleiken, was nid: zeihab.
Sei eb, daß ter yerfiide Duslimnd, weldier in tpiterer Zeit ten Meiaitnnd
gefälit batte ꝰ), Yierin für den Ilam masgebent war, ſei es, ta) Mobrermrt
Die altarabiiä- populäre Tamesuenichre ıu ichenen harte oter x ibrer !eiber
nicht zu entidlagen vermeibte, oter iei es, daũj dieſe beiten Bert ;uiammra=
wirften, genug, Die Beifter frielen im meoalcmiiken Berupiirin cine ’chr
bedentente Holle. Die Engel freilib Ant, wie Seikörfe, ie auch ichlechtbin
nur Boten und Diener Gottes. Anters icheint es ih mit den Tjinnen zu
verhalten. Ich Tage abſichtlich iheint, denn das Berbilmig Dirier Geifter
M im Koran nirgends recht Flar und beflimemt angegeben. Dieſe Diinnen
"bildeten Allem nach, wie bei den jütiiden Rabbinen, io auch bei ten Arabern
eine zwiſchen Nenſchen und Engeln mitten inne ſtebende Glafte geifterbafter
3) Sage: Es iR nur ein einziger Bott! — Tennch haben He Gott Geiñer zus
geſellt (gieigehelit), die er ſelbſt geſchaffen, und in Unwiſſenbeit haben fie ihm Söhne
und Tödgter angedichtet. Lob und Breis fei ihm allein und fern von ihm Alles, was
fie ihm beilegen. Der Shöpvier des Himmels und ter Erde, wie jollte er einen Sohn
haben, da er ja keine Frau bat! Er iſt der Schöpfer aller Dinge und ihm Ant alle
Dinge befannt. Das iſt Gott, euer Herr; es gibt feinen Bott. außer ibm, tem Schöpfer
aller Dinge. Darum dienet nur ihm, tenn er trägt Sorge für Alles. Kein Geſicht
kann ihn erfaflen, doch er erfaflet jenes Geſicht. Er if ter Unerforichliche unt All:
wiſſende. Sura 6. Es gibt Ungläubige — (Lie Ehriften) — welche fagen: Gott
iR der dritte von Lreien. Es ift aber nur ein Bott. Sur. 5. Vgl. außerdem über
das Grunddogma tes Islam Sur. 9, B. 30— 31; ©. 16, B. 53; ©. 18, V. 110;
©. 19,8. 36; S. 21, 3. 108, 5.22, ®. 12; ©. 23, V. 92. Endlich faßt
die 112. Sura das moslemifhe Symbol noch einmal energifch zufammen: —
Gott ift Einer, "
Er ift von Ewigfeit;
Er ward nicht gegeugt
Unt bat nicht gezeugt ;
Ihm gleich ift Keiner !
4) Bgl. Thl. II, ©. 116 fo.
389
Beben. Ihre Bertennung ift ein Collectivname für gute ſowohl ala böſe Geis
fer, Genien und Dämonen im perſiſch⸗jüdiſchen Sinn). Das Haupt der
Dämonen ift der Satan, Ibis, offenbar ein Abklatſch des perſtſchen Ahri⸗
man und ganz im perflich-rabbintichschriftlichen Sinn der Widerſacher Got-
tea, ber Berbörer der Menſchen. Dabei ift e8 aber eigen, daß der Koran
fich ängſtlich bemüht, zu verküten, daß man diefen Widerpart Gottes dieſem
etwa zur Seite, beziehungdweife gegenüber flelle, Das Dafein tes Satans |
wird nicht geleugnet, er ift, aber er ift nur dann, wenn man Ihn anruft, |
d. b. an ihn glaubt, was unfehlbar zur Bertammniß führt). Bei Vers
gleichung ſaͤmmtlicher Stellen des Koran über die Geißler fann man ſich un⸗
ſeres Erachtens kaum des Gedankens entfchlagen, der Islam habe durch Her⸗
beiziehung der Geiſterlehre den Verſuch machen wollen, ein Band der
Vermittlung zwiſchen Gott und Menſch zu knüpfen, habe das aber nicht zu⸗
wegegebracht. Fehlt doch, wie bekannt, das Moment der Vermittlung, der
Berföhnung dem Jelam ganz.
3.
Das Dogma von der Geredhtigfeit Gottes enthält die Lehre von der
Vorherbeſtimmung, jenen Fatalismus, weldyen wir nach den jetigen
Hauptträgern ded Islam, einen türfijchen zu nennen pflegen. Wie ſich
aber die menſchliche Vernunft gegen die Identität von Gerechtigfeit und
Präteftination mit Recht empört, fo ift auch die moslemiſche Lehre von der
Vorherbeflimmung fehr widerfprudhsvol. An vielen Stellen wird mit
fchneidender Schärfe ausgefprochen, daß Gott jeden Ding und jedem Mens
fihen jein Schickſal unwiderruflich vorberbeftimmt Habe und nur Solide
den rechten Weg führe, welche er wolle t). An andern dagegen wird ebenfo
5) Bon den Geiftern redet der Koran in den Suren &, 6, 7, 48, 72.
6) Ich Füge meine Auffaffung des moslemifchen Satans insbefondere auf diefe
Stelle der 4. Sura: — Wer Gott ein anderes Wefen zur Seite feßt, dem verzeiht er
nicht. Sie (die Ungläubigen) rufen außer ihm weibliche Gottheiten an und den aufs
rührerifchen Satan. Gott hatte diefen verflucht, worauf er (der Satan) fagte: Nun
will ich einen beftimmten Theil deiner Verehrer nehmen und verführen und ihnen verz.
botene, böfe Begierden einhauden. Wer num außer Gott den Satan fi zum Be⸗—
fhüger wählt, der wird augenfcheinlich feinen Untergang finden. Satan verforicht:
ihnen wohl und regt ihr Verlangen auf; aber was der Satan verfpricht, ift nur Trug.
Ihre Wohnung wird die Hölle fein und fie werden feine Ausflucht finden.
1) Jedem Dinge haben wir feine Hare und beutliche Beftimmung gegeben ; einent
jeden Menſchen haben wir fein Geſchick vorherbeftimmt. Sur. 17, B. 14. Gott leitet
3%
ſcharf betont, daß Jeder dereinſt für jein Glauben, Thun und Laffen werde
ſtrenge Rechenſchaft ablegen müflen?). Der Widerfpruc if Far.
Allerdings ift es fo recht die Aufgabe des Glaubens, Widerfprüde für
Nichts zu achten, Widerfprechendfle zu glauben. Der Glaube fann nidt
nur Berge verfegen, fondern auch Thäler ausfüllen, d. h. er fdhreitet, wie im
vorliegenden Falle, über die weite und tiefe Kluft der Widerfprücde in einem
Dogma hinweg, ohne fie auch nur zu bemerken. Daß nicht alle Augen für
das Vorhandenſein folder Klüfte blind find, das ift der Urfprung aller
Kegerei und Sektirerei. Auch im Islam, wo gerade das Dogma von ber
Praͤdeſtination den bedeutendftien Riß in die Einheit der moslemiſchen Welt
verurjachte. Hier if der Punkt, wo die Scheidung der Sunniten und
Schiiten eine wirklich innerlidhe, geiftige, religiöfe Bedeutung bat. Die
Sunniten_befennen ſich nämlid zum Dogma der Vorherbeſtimmung in ſei⸗
FR ſtarrſten Folgerichtigkeit und ſprechen demnach dem Menfchen die Freiheit
des Willens unbedingt ab. Sie find Kataliften im firengften Wortfinn und
Daher naturgemäß auch Banatifer. Die Schilten dagegen fahen bie Flaffende
Kluft des Widerſpruches und fprangen nicht hinüber. Sie fanden, tie ewige
Vorherbeſtimmung fei mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar, und weiter,
daß, wenn der Menſch jenfeitö für feine Handlungen gerichtet werden folle,
er diefjeitö die Fähigkeit haben müfle, überhaupt zu handeln. Sie flatuirten
alſo bie Willensfreipeit bed Menichen, halfen fih aber, um dad Vorherwiſſen
Gottes nicht leugnen zu müffen, damit, daß fle annahmen, die Handlungen
eines jeden Menſchen feien von Uranfang in das, Buch der Geſchicke“ einge-
‚tragen, d. h. Bott befannt. Man bat um dieſer abweichenden Auffaffung
des zweiten moslemiſchen Grunddogma's willen die Sciiten als tie Prote—
flanten und Nationaliften des Islam bezeichnet. Die letztere Bezeichnung
mag angehen, aber um die erftere gelten zu laffen, müßte man vergeflen,
daß gerade ein Hauptmitbegründer des Proteſtantismus, Calvin, die Prä⸗
deftinationdlehre in wahrhaft juunitifcher Strenge faßte 3).
auf den richtigen Weg, wen er will. ©. 2, V. 209. Dazu vgl. S. 2, B. 6; S. G,
B. 38; ©. 16, B. 96 und noch eine ganze Menge ähnlicher Stellen.
2) An jenem großen Tage (des Gerichts) wird Jeder nach feinen Handlungen den
Lohn empfangen ; Gott weiß, was Jeder gethan. S. 39, B. 70. Der Barallelftellen
find ebenfalls fehr viele, faſt zahllofe.
3) Weil (HiR. krit. Einf. i. d. Koran, S. 95 fg. Bol. auch Weil, Geſch. d.
Ehalifen, II, 262) fucht fehr fcharffinnig nachzuweiſen, dab Mohammed felbft keines⸗
391
4.
Das: dritte moslemiſche Grunddogma ftellt, wie oben angegeben wars
ben, die Lehre vom Prophetenthum (Nebuwwet) fell. Es geht darauf
aus, dem Begründer des I8lamı eine unzweifelhafte Autorität zu verleihen,
Die Lehrfäge von Bott und von feinem Bropheten find unzertrennfich mit
einander verbunden. „Gott ift Gott und Mohammed: ift jein Prophet *.
Wohlverftanden, Mohammed ift der Prophet. Allerdings nicht der erfte
und einzige der Propheten I), aber er tft der endgültige Vollender des Pro⸗
phetentbums 2). Die Offenbarung von Gottes Wort iſt fo weientlih an |
ihn gebunden, daß der Glaube an eine nicht durch Mohammed vermittelte
Offenbarung ein falicher it). Demnach wäre der rechte Glaube
an Gott durd den Glauben an Mohammed bedingt. Der
Koran kommt fehr häufig auf diefen Punft zurüd, Er polemiſirt, ‚wenn
auch in achtungsvollfter Form, bei diefer Gelegenheit haufig gegen Chriſtus,
d. 5. gegen defien VBergottung. Die Chriſten fagen, heißt e8 in der 19.
Sura, der Allbarmherzige habe einen Sohn gezeugt; daß iſt ein ungeheuers
liches Borgeben! Und in der 5. Sura: Chriftus if weiter Nichts als ein
Bejandter; vor ihm find andere Gefandte hergegangen und feine Mutter war
ein gewöhnliches Weib. Weiter wird in der 4. Sura ganz deutlich zu ver⸗
fteben gegeben, dag Chriftus weit entfernt geweſen, fich felber zu vergotten.
Es heißt da: Chriftus ift nicht jo Hoffärtig, daß er ſich weigern follte, ein
Knecht Gottes zu fein. Mohammed nennt aud ſich einen bloßen Knecht
Gottes, aber allerdings in dem Sinne, in welchem ſich der Papſt einen
Knecht der Knechte Gottes titulirt: denn, wie gefagt, er ift der Prophet der
Propheten, das Siegel an der durd ihn ein für allemal abgefchloffenen Urs
funde der Offenbarung. — Auch binfichtlich dieſes Dogma's eriftirt zwi⸗
hen den Sunniten und den Schiiten eine Meinungsverſchiedenheit. Jene,
geftügt auf die Koranftelle (S. 40, B. 57), wo Mohammed aufgefordert
wege das Dogma von der Borherbeftimmung in befien nachmaliger Starrheit gewollt
habe, fondern daß es in diefer Starrheit erft dann zur Geltung gefommen-, als bie
Chalifen, politiſcher Zwecke wegen, eines blinden Fatalismus und des daraus refultis
renden blinden Gehorſams ter Moslim bedurften.
4) S. 0. Rap. I, 3.
2) Mohammed ift der Gefandte Gottes und das Siegel aller Propheten S. 38,
B. 38. Dazu vgl. ©. 2, B. 209: ©. 6, B. 34; ©. 21; S. 40, V. 78,848.
02,6.94,8.2.
3) ©. die eben citirten Suren und dazu noch bie weiteren 3, B, 19.
wird, täglich zu beten, damit ihm Bart feine Sünden vergebe, behaupten,
des Brophet und Me Propheten überhaupt jeten der Sünde unterworfen ge⸗
Weien, wie die übrigen Menſchen, aber durch befondere göttliche Gnade van
dar Strafe für ihre Berfehlungen befreit worden. Die Schiiten dagegen
wehmen an, Die Propheten feien durchaus reine Wengen geweien, denn fie
hätten unmöglich fündigen können.
5.
Das vierte modlemiſche Hauptdogma umfaßt die Unſterblichkeit der
Seele, die Auferſtehung von den Todten, das jüngſte Gericht, die Beloh⸗
nung der Guten und die Verdammung der Böſen 1). Das Ganze iſt zwei⸗
ſeldohne den yerflichschriftlichen Vorſtellungen nachgebildet, aber im Einzel⸗
nen ebenſo geſchickt als umfläntlich auf die heißsblütige Phantaſie der Araber,
af die ſinaliche Anſchauung der Orientalen berechnet. Die Lehre von ber
Unſterblichkeit der Seele ift Die Baſis der Lehre von ben legten Dingen. Si—
(die Ungläubigen) fagen: Es gibt kein andered Leben, als unfer hieſiges im
diſches Daſein, und wir werden nicht wieder auferwedt. Sollteft du fie
aber ſehen, wenn fie einſt vor ihrem Herrn ericheinen und er fie fragt: IE
die Auferficehung nun nicht wahr geworben? ba werben fie antworten:
Wohl ift fie wahr, o Herr! Und Bott wird jagen: Nehmet nun hin die
Strafe dafür, daß ihe nicht glauben wolltet 2). Ihr (Menſchen) müßt fter«
ben, aın Tage der Auferſtehung aber werdet ihr wieder auferwedt 3). Blaue
bet an Gott und an den Tag des Gerichts! )
Nach feiner Weije wiederholt der Koran die Lehre vom Weltgericht,
som „großen Tag”, vom „Tag der Trennung” (der Guten von den Böſen)
— nn
41) Ich könnte hier auch noch die Geſchichten von der Schöpfung, vom Sündenfall
(Apielbiß) im Baradiefe, von der Sündflut u. f. w. berühren, erachte e&.aber für Raums
verichwentung, ta der Koran diefe Mythen durchaus der Bibel nachgebildet und nur
mit märchenhaften Arabesken verziert hat. Das Verhaͤltniß Gottes zu den Menſchen,
wie es in diefen Geſchichten im Koran zu Tage tritt, if ganz das bibliſche. Auch bie
Schutzen gel⸗Lehre des Islam if der perſiſch⸗jũdiſchen homogen. Sie findet fi am
befimmteften ausgeiproden S. 11, ®. 61 und ©. 13, V. 13. Die leptere Stelle
lautet: — Ein jeter Menfh hat feine Engel, die (von Bott herabgelandt) einander
ablöfen, vor und hinter ihm Heugehen und auf den Befehl Gottes ihn bewachen.
2) Sur. 6, V. 29—30,
3) Sur. 23, 2. 18.
4) Eur. 2, 8. 179.
|
— — — — — —
383
fehr oft und eindringlich. Aber man muß die einzelnen Beſtimmungen Die«
fer Lehre im ganzen Buch zufammenfucen. Gin türflicher Gotteagelehrter,
weldher im 16. Jahrhundert ſchriab, Mehemed Bir Ali, Hat die einzelnen
Szenen des Geritätages fo zulammengehellt?): — Wann bie Beik des
jüngßen Gerichtes heraunaht, gibt der Engel Ißrafil mit feiner Bofaune baa
ZBeichen. Des Befehles Allah's jeden Augenblick gewärtig, hält Liefer En⸗
gel das Mundflü feiner Poſaune beändig an den Mund. Sobald Ißra⸗
fil den Befehl empfangen, Häft er, und es gibt einen entjeglichen Schall, dex
alles Lebende tödtet, dem blaſenden Engel miteingerechnet. Vierzig Jahra
laug bleibt die Welt aukgeſtorben; dann erweckt Allah den Ißrafil wieder.
Dieſer ſtößt ein zweites Mal in die Poſaune und von dem zweiten Schall
werden alle Todton lebendig 6). Die Auferfiandenen find ganz ohne Beflei-
dung; been aber, welche Propheten und Heilige geweien, ſchickt man geflügelse
Himmelörofle (Borals) entgegen und Eoflbare Stoffe aus dem Paradieſe.
Sie fleiden fig in letztere, befleigen die erſteren und reiten auf ihnen ind
Paradies, wo fie in Schatten von Allah's Thron ſich niederlaffen. Die übri=
gen Menschen ſtehen zuianımengedrängt, hungernd, durſtend und ſchwitzend,
8) Nach einer Mittheilung im „Magaz. f. d. Lit. d. Ausl.“ 1886, Nr. 102.
6) Wann in die Poſaune geRoßen wird, dann wird Alles, was im Himmel und
auf Erden ift, leblos niederfürzen, nur die Wefen ausgenommen, welche Gott davon
ausfhlicht. Und wann wieder in die Bofaune geftoßen wird, dann werden fie fi
wieder aufrihten und um fih bliden. Und die Erde wird leuchten Durch das Licht
ihres Herrn und das Buch (worin die Handlungen aller Menſchen gefchrieben find)
liegt offen und die Propheten und Mörtyrer treten als Zeugen auf und in Gerechtig⸗
feit nur wird gerichtet zwifchen ihnen und Keinem Unrecht geichehen. Sur. 39, 2.
-68—69. Das Weltgericht wird eingeleitet durch den Weltuntergang. So heißt es
in der 69. Sura:
Warm in die Bofaune geblafen wirt mit einem Stoß,
Werden Erde und Berge zerrifien werden durch einen Stoß.
An jenem Tage fällt die einfallende Stunde,
An jenem Tage geben die geipaltenen Himmel zu Grunde.
Und in dee 77. Sura: —
Bei den auf einander folgenden Sendungen vom Himmel,
Bei der Sterne Getuͤmmel,
Bei den Gageln, welche tie Fluͤgel ausbreiten,
Dei den Berien des Koran, weldge die Wahrheit deuten,
Melde Grmahnungen geben,
Verheißungen und Drohungen für diefes und jenes Leben —
394
indem die Sonne ihren Köpfen bis auf eine Meile nahe rückt ). Funffigtauſend
Sabre fang — (nach andern Angaben nicht fo lange) — müſſen fle in dieſem
Buftande verbarren. Unterdeſſen werben alle Bücher eingereicht, weldhe bie
Engel über den Lehenswandel der Menſchen geführt haben, und Allah ver-
hört die Seelen ohne Vermittlung eines anderen Welens. Auch eine Wage
wird aufgerichtet, in welcher man das Gute und das Böſe gegen einander
abwägt. Die Seelen, deren Gutes überwiegend iſt, kommen in dad Para⸗
Died, Diejenigen, an denen das Böfe überwiegt, in die Hölle — es ſei denn,
daß Allah ihnen verzeihe oder daß Propheten oder Heilige fie ihrer Fuͤrbitte
würdigen follten. Dod kann Bürbitte nur flattfinden, wenn die Seele
glaäubig aus dem irdiſchen Dafein gefchteden if. Wer im Glauben flirbt,
aber ob der Schwere feiner Sünden Feiner Verzeihung und Feiner Fürbitte
theilhaft geworden, der muß Fürzere oder Tängere Zeit im Höfllenfeuer bren⸗
nen und wird dann ind Paradies entrüd. Ein Atom: des wahren Glau⸗
bens ſchützt übrigens fchon wider die Emwigfeit der Höllenqual®). Ueber
die Hölle hinweg wird eine Brüde (A Sirat), welche fo dünn wie ein Haar
und fo fharf wie ein Schwert tft, nah dem Paradiefe führen?). Alle
Seelen müffen über dieſe Brüde gehen. Einige fommen mit der Schnellig-
keit des Blitzes hinüber, andere mit der eines rennenden Pferdes, wieder
andere im Paßgang, wieder andere ſchleypen fich unter der Laft ihrer Sünden
—-
Es kommt der verheißene Tag:
Wenn die Sterne ohne Licht bleiben
Und die Himmel ſich zerfpalten,
Wenn die Gebirge zerftäuben
Und die Gottgefandten Wache halten.
7) Das flimmt freilich nicht ganz mit dem „Beripaltenfein“ der Himmel, aber
Bolgerichtigfeit in den Details muß man im Koran fo wenig fuchen als in anderen
Religionsurkunden.
8) Der Islam ſtatuirt alſo Feine Ewigkleit der Höllenſtrafen. Er folgt hierin
nicht der chriftlichen, fondern der milderen zorsaftrifchen Anſchauungsweiſe. Berg.
Thl. II, S. 181 folg. Nur für die Nichtmoslim gibt es nach ter fpäteren intolerans
teren Anficht des Propheten (f. o. Rap. II, 3, Anm. 3) eine ewige Verdammniß.
9) Die Brüde Tfchinevad des Zend: Avefta. Bol. Thl. I, S. 180, Anm. 2.
Im Uebrigen ift fo zu fagen auf biefer Brüde vom Erhabenen oder Furchtbaren zum
Burlesfen und Lächerlichen auch nur ein Schritt. Einer Legende zufolge verwandelt
fih nämlich beim Uebergang über al Sirat Mohammed in einen Foloflalen Widder und
fammtlihe Moslims fegen ſich in Gehalt von — Flöhen in feinen Pelz.
395
wanfend vorwärts und noch andere flürzen, wenn fle die Brücke kaum betre=
ten haben, häuptlings in den Höllenſchlund hinab.
Immer, wo er von ben legten Dingen ſpricht, wirkt der Koran tief⸗
ergreifend: Da zeigt fih Mohammed als rechter Dichter. Seine Sprache
iſt hier felder wie der Schall. der Gerichtöpofaune, welcher verſtockte Ge⸗
wifien erbeben macht 103. Die Schilderungen des Ortes der Pein durch⸗
weht etwas wie Höllenglut, die am gewaltigften aufichlägt, wo des Gerichte
gedacht wird, welches der Lügner, der Verleumder und ter Wucherer harrt 11).
Bon dem dunfelrorhen Hintergrunde der Höllenbilder heben ſich dann vie
Gemälde paradiefticher Seligfeit nur um fo reizender ab. In Wohlgeruch
athmenden Schattenhainen, durchmurmelt von ftlberhellen Quellen, bat der
feltge Gläubige feinen Wonneflg. Die Tieblichften Früchte, die füßeften
Meine, fredenzt von anmuthigen Paradiefesjünglingen, erfreuen ihn und in
den Armen fchwarzäugiger, von Schönheit und ewiger Jungfräulichfeit fira«
lender Houri's foftet ex ftetd erneute Freuden 12).
10) So die 101, Sura: —
Die klopfende Stunde, was ift die klopfende Stunte?
Und von der Hopfenden Stunde wer gibt dir Runde?
Es ift der Tag des Gerichts, wo die Menfchen wie Heufchreden verfireuet vom Wind,
Die Berge gleich gefrämpelter Baumwolle find.
Und weflen Wagfchale finft, dein wird's im ew’gen Leben gut;
Und weſſen Schale fleigt, finft in die Flammenwuth.
Weißt du wohl, was da ift die Blammenwuth?
Es ift der Hölle brennendſte Blut.
41) Weh' dem Lügner, der den guten Namen ftreift!
eh’ dem, der nur Schäße auf Schaͤtze häuft,
Weil er ewig fich auf feinen Reihthum fleift.
Weh'! Hinunter in die Höllenflampfe (Al Hutama)!
Weißt du, was das ift, die Höllenftampfe?
Feuer Gottes ift es, hochaufragend,
Ueber Herzen wild zufammenfchlagend,
Blut, wie in ein Gewoͤlbe zufammengebogen,
Flammen, hoch wie Säulen aufgezogen. Sura 104.
12) Die Gerechten trinfen Wein, gemifcht mit Flut vom Kampherquell ;
Davon trinken die Diener Gottes, dad Wafler leitend von Stell’ zu Stell’,
Die ihr Wort hielten und den Tag fürdhteten, deſſen Uebel weit wird Freifen,
Die aus Liebe Gottes fpeiften die Armen, Sklaven und Waifen,
Sagend: wir fpeifen euch Gottes wegen und wollen weber Bank noch Lohn,
Wir fürchten vom Heren den Tag voll Trog und Hohn.
Der Koran, fo, wie er nun einmal if, gibt die canonifde Norm für
Das religisfe, foziale und politiſche Leben der Beienner bed Pro
pheten. Er Ichkt den Islam, wie Mohammed feine Meligion nannte,
d. 5. die Ergebenheit, die abjolute Unterwerfung unter das Schickſal, als
den Willen Botte8?). Er flatuirt die Unzertrennlichkeit des religiöſen und
des bürgerlichen Geſetzes und demnach auch die Bereinigung der höchſten
geiſtlichen und weltlichen Macht in einer und verfelben Hand. Sein In»
halt iſt alio zugleig Dogmatik, Ritualgefeg, Sitten- und Rechtölehre. Nach
diefen drei Seiten bin werden wir ihn auch einer Betradytung unterziehen,
fobald wir bier, was das Dogma betrifft, ichon oben Angedeutetes nody ein-
mal betont haben: — nänılid, dad Mohammed jeine Lehre nicht ald etwas
unbedingt Originaled gab. Es wäre dies auch ein jehr eitles Unterfangen
gewefen. Die Hauptquelle des Islam iſt ganz augeniceinlid der Hebrais⸗
mus, aber fie bat fich mit ſehr bedeutenden Zuflüffen aus der altperflfchen
und ber hrifllichen Religion vermiſcht. Auch if, namentlich in den mosle⸗
miſchen Religionsbräuchen, einiges Altarabiſch⸗Heidniſche zurüdgeblieben.
Der dogmatifhe, rituelle und rechtliche Inhalt des Koran beflimmt
alfo den Inhalt der drei zunächſt folgenden Kapitel 5).
Drittes Kapitel.
Das moslemiſche Dogma.
1.
Das Dafein Gottes, d. h. der Glaube daran, ift Grunddogma jeder
Religion. Der Menſch glaubt, es fei ein Wefen über ihm, er verehrt,
das Muſterwerk arabifcher Dichtfunft. Weil dagegen (d. poet. Lit. d. Araber, S.
60) zueriennt dem Koran nur „vollendete Rhetorik.“ Nac meinem Befühl kommt
an aͤchter Poeſie Nichts im Koran den altarabifchen Gefängen eines Schanfara , Ans
tara und Amrilfais gleich.
4) Islam fommt von der Wurzel Selame, Unterwerfung, Hingebung. Gin Mos-
lem iſt alfo ein ſich Hingebender (an Gott), ein Glaubender.
5) Die moslemifche Theologie bezeichnet die Dogmenlehre, die Cultlehre und die
Nechtslehre mit den Ausdrücken Usul ed-din, Feru’ ed-din, 'Ilme fikb,
387
fürchtet, liebt Daffelbe, erwartet von ihm Hülfe in diefem, Seligfeit in einem-
zufünftigen Xeben. Die Idee ded Daſeins der Gottheit if alfo der Punkt,
von welchem alle Dogmatif auszugehen bat. Auch die moßlemifche; nur
will fie ed nicht Wort haben, jofern ſte fagt, das Dafein Gottes jei eine fo
bedingungsloſe Vorausfegung, die Vorftellung davon fei jedem Menſchen fo
eingeboren, daß ed nicht nur rein überflüfftg, fondern jogar fündhaft wäre,
noch davon zu ſprechen, Diefen ureingeborenen Begriff die Menfchen erft Ich»
ren zu wollen. Es ift, meint der Moslem, rein unmöglich, nicht zu wiffen
oder gar zu bezweifeln, daß Bott if. Das Sein Gottes erft bemeifen zu ı
wollen, wie es bie chriftliche Philofophie aller Zeiten mit fo großer Müh«
waltung fich angelegen fein ließ, würde einem Moslem, wenn überhaupt
als begreiflich, jedenfalld al8 eine todeswürdige Keperei vorfommen. Die
moslemiſche Theologie fängt daher damit an, das Wefen Gottes zu be=
flimmen. Hieran reiht fle die übrigen Grunddogmen des Islam und fo ers
halten wir deren fünfe: — 1) dad Teuhid, die Einheit (und Eigenfchaften)
Gottes; 2) das ’Edolet, die Gerechtigkeit Gottes (Prädeftination) ; 3) das
Nebüwwet, das Prophetenthum; 4) das Mi’od, das fünftige Leben; 5) das
limamet, die Erbfolge der Imame),
2,
„Kein Gott außer Gott!" Tautet dad Symbolum des Islam).
Allah?) ift der eine, alleinwahre Gott. Er hat fein Welen in fich ſelbſt,
genügt fich felbft, ift weder gezeugt noch zeugt er. Er ift das Centrum, in
welchem ſich Alles vereint, er erfüllt mit der Unendlichkeit feines Wefens das
Weltall, deffen Urheber und Regierer er ift. Bon Ewigfeit zu Ewigkeit iſt
1) In der Auffaflung einiger diefer Dogmen weichen die beiden großen Sekten
des Islam, die Sunniten und die Schiiten, von einander ab. Sch werde dieſe
dogmatifchen Unterfchiede, weldye übrigens mehr aus einem politifchen ale religiöfen
Zwielpalt der genannten Sekten erwuchfen, einftweilen angeben. Der Urfprung des
Zwieſpalts wird weiter unten im Kapitel berührt werden. — Wo ich im Folgenden
Koranftellen anfuͤhre, find diefelben entweder der Ullmann’fchen oder der Sams
mer ’fchen Berdeutfchung eninommen, fo zwar, daß Eitate in ungebundener Rebe ber
erfleren, in gebundener der legteren angehören.
4) Lo illahe illallah.
2) Zufammengezogen aus. al und elah. Wie ſprachlich, fo auch begrifflich ſtimmt
diefe Benennung Gottes — Allah bedeutet der Verehrungswürbige, Grhabene — mit
den hebräifchen Bezeichnungen der Gottheit (EI, Eljon, Elohim) überein.
. — 25 %
888
er, ohne Seflalt und Wohnung und dennoch allgegenwärtig. Dielen ſtren⸗
gen Monotheismus einzuſchärfen, wird der Koran nicht nmide und mit wahr⸗
haft Priegerifchem Bigoridmus wird Alles verworfen, was dem Dogma vun
der Einheit Gottes irgendwie Eintrag ihun könnte, alfo neben dem Gögen-
dienft namentlich auch die hriftliche Lehre von der Trinttär 3).
Und doch blieb dieſer ftarre und eiferſüchtige Ronotheismus nicht ganz
eonfequent. Wäre er diefes geblieben, jo mußte Die Borftellung einer Mittel-
ftufe zwiſchen Gottheit und Menſchheit ganz unterbleiben, was nicht geſchah.
Sei e8, daß der perfifche Dualismus, welcher in fpäterer Zeit den Moſaismus
gefäliht hattet), Hierin für den ISlam maßgebend war, jeies, daß Mohammed
Die altarabifch-populäre Dämonenlehre zu ſchonen hatte oder ſich ihrer felber
nicht zu entfhlagen vermochte, oter fei es, daß dieſe beiden Motive zuſammen⸗
wirkten, gemug, die Beifter ſpielen im moslemijchen Bewußtſein eine ſehr
bedeutende Rolle. Die Engel freilich find, wie Geſchöpfe, fo auch ſchlechthin
nur Boten und Diener Gottes. Anders Scheint e8 fih mit den Djinnen zu
verhalten. Ich fage abſichtlich ſcheint, denn das Verhältniß diefer Geiſter
tft im Koran mirgends recht klar und beflimmt angegeben. Diefe Djinnen
"hildeten Allem nad, wie bei den jüdifchen Rabbinen, fo auch bei den Arabern
eine zwifchen Menfchen und Engeln mitten inne ftehende Claſſe geifterhafter
3) Sage: Es iſt nur ein einziger Gott! — Dennoch Haben fie Gott Geiſter zus
gefellt (gleichgefteflt), die er ſelbſt geihaffen, und in Unwifienheit haben fie ihm Söhne
und Toͤchter angedichtet. Lob und Preis fei ihm allein und fern von ihn Alles, was
fie ihm beilegen. Der Schöpfer des Himmels und der Erde, wie ſollte er einen Sohn
haben, ba er ja feine Frau hat! Er iſt der Schöpfer aller Dinge und ihm fint alle
Dinge befannt. Das it Gott, euer Herr; es gibt feinen Gott außer ihm, dem Schöpfer _
aller Dinge. Darum dienet nur ihm, denn er trägt Sorge für Alles. Kein Geficht
Tann ihn erfaflen, doch er erfaflet jedes Seftcht. Er if der Unerforfchliche und Al:
wiſſende. Sura 6. GEs gibt Ungläubige — (die Ehriften) — welche Sagen: Gott
ift der dritte von dreien. Es ift aber nur ein Gott. Sur. 5. Pol. außerdem über
das Grunddogma des Islam Sur. 9, V. 30— 31; ©. 16, B. 53; ©. 18, V. 110;
S. 19, V. 36; S. 21, V. 108; S. 22, V. 12; ©. 23, V. 92. Endlich fat
die 112. Sura das moslemiſche Symbol noch einmal energiſch zuſammen: —
Gott iſt Einer,
Er ift von Gwigfeit ;
Er ward nicht gezeugt
Und hat nicht gezeugt ;
Ihm gleich ift Keiner!
4) Bol. Thl. I, S. 118 fo.
389
Weſen. Ihre Benennung ift ein Collectivname für gute fowohl als böfg eis
fier, Genien und Dämonen im perfifch-fübifchen Sinn). Das Haupt der
Dämonen ift der Satan, Ib1is, offenbar ein Abklatſch des ‚perfifchen Ahri⸗
man und ganz im perflichrabbiniichschriftlichen Sinn der Widerſacher Got»
tes, ber Bethörer der Menſchen. Dabei ift ed aber eigen, daß der Koran
fh ängftlich bemüht, zu verhüten, Daß man dieſen Widerpart Gottes diefem
etwa zur Seite, beziehungdweife gegenüber ſtelle. Das Dafein des Satans |
wird nit geleugnet, er ift, aber er ift nur dann, wenn man ihn anruft, |
d. b. an ihn glaubt, was unfehlbar zur Verbamimnig führte). Bei Ver-
gleichung ſämmtlicher Stellen des Koran über die Geiſter kann man ſich un⸗
ſeres Erachtens kaum des Gedankens entfchlagen, der Islam habe durch Her-
beiziehung der Geiſterlehre den Verſuch machen wollen, ein Band der
Vermittlung zwiſchen Gott und Menſch zu knüpfen, habe das aber nicht zu⸗
wegegebracht. Fehlt doch, wie bekannt, das Moment der Vermittlung, der.
Berföhnung dem Jelam ganz.
3.
Das Dogma von der Gerechtigfeit Gottes enthält die Lehre von der
Vorherbeſtimmung, jenen Fatalismus, welchen wir nach den jegigen
Hauptträgern ded Islam, einen türkischen zu nennen pflegen. Wie fi
aber die menſchliche Vernunft gegen die Identität von Gerechtigkeit und
Präteftination mit Recht empört, fo ift auch Die moslemiſche Lehre von der
BVorherbeftimmung fehr widerfprudsvol. An vielen Stellen wird mit
fhhneidender Schärfe ausgeiprochen, daß -Gott jedem Ding und jedem Mens
ſchen jein Schickſal unwibderruflih vorberbeflimmt habe und nur Solde
den rechten Weg führe, welche er wolle). An andern dagegen wird ebenfo
—
8) Bon den Geiſtern redet der Koran in den Suren 4, 6, 7, 48, 72.
6) Ich füge meine Auffaffung des moslemifchen Satans insbefondere auf diefe
Stelle der 4. Sura: — Wer Gott ein anderes Mefen zur Seite ſetzt, dem verzeiht er
nit. Sie (die Ungläubigen) rufen außer ihm weibliche Gottheiten an und den aufs
rührerifchen Satan. Gott hatte diefen verflucdht, worauf er (der Satan) fagte: Nun
will ich einen beftimmten Theil deiner Verehrer nehmen und verführen und ihnen verz.
botene, böfe Begierden einhauden. Wer nım außer Gott den Satan fih zum Be⸗
fchüger wählt, der wird augenfcheinlich feinen Untergang finden. Satan verfpricht:
ihnen wohl und regt ihr Berlangen auf; aber was der Satan verfpricht, if nur Trug.
Ihre Wohnung wird die Hölle fein und fie werden Feine Ausflucht finden,
1) Jedem Dinge haben wir feine Hare und deutliche Beſtimmung gegeben ; einen
jeden Menſchen haben wir fein Geſchick vorherbefimmt. Sur. 47, B. 14. Gott leitet
390
ſcharf betont, daß Jeder dereinft für jein Glauben, Thun und Laffen werde
ſtrenge Rechenſchaft ablegen müflen?). Der Widerfpruch iſt Har.
Allerdings ift ed fo recht die Aufgabe des Glaubens, Widerfprüde für
Nichts zu achten, Widerfprechendfled zu glauben. Der Glaube fann nit
nur Berge verfegen, fondern auch Thäler audfüllen, d. h. er fhreitet, wie im
vorliegenden Falle, über die weite und tiefe Kluft der Widerfprüche in einem
Dogma hinweg, ohne fie auch nur zu bemerfen. Daß nicht alle Augen für
das Vorhandenſein folder Klüfte blind find, das ift der Urſprung aller
Keperei und Sektirerei. Auch im Islam, wo gerade dad Dogma von ber
Präbeftination den bedeutendften Riß in die Einheit der moslemifchen Welt
verurjachte. Hier iſt der Punkt, wo die Scheidung ber Sunniten und
Schiiten eine wirklich innerlidhe, geiſtige, religiöfe Bedeutung bat. Die
Sunniten_befennen ih nämlih zum Dogma ber Vorherbeſtimmung in feis
— ſtarrſten Folgerichtigkeit und ſprechen demnach dem Wenſchen die Freiheit
des Willens unbedingt ab. Sie find Fataliſten im ſtrengſten Wortſtun und
daher naturgemäß auch Fanatiker. Die Schiiten Dagegen ſahen die Flaffende
Kluft des Widerfpruches und fprangen nicht hinüber. Sie fanden, tie ewige
Vorherbeftimmung ſei mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar, und weiter,
daß, wenn der Menſch jenfeitö für feine Handlungen gerichtet werden folle,
er dieſſeits die Fähigkeit haben müfle, überhaupt zu handeln. Sie flatuirten
alſo bie Willensfreiheit de des s Menfchen, halfen ſich aber, um das Vorherwiffen
Gottes nicht leugnen zu müffen, dam damit, daß fie annahmen, die Sandlungen
| eines jeden Menſchen feien von Uranfang in das „ Buch der Geſchicke“ einge»
tragen, d. h. Bott befannt. Man bat um dieſer abweichenden Auffaffung
des zweiten moölemifchen Grunddogma's willen die Schiiten als die Prote—
flanten und Rationaliften des Islam bezeichnet. Die letztere Bezeichnung
mag angeben, aber um die erflere gelten zu laſſen, müßte man vergeflen,
daß gerade ein Hauptmitbegründer des Proteftantisnus, Calvin, die Brä«-
deſtinationslehre in wahrhaft junnitifher Strenge faßte 3).
auf den richtigen Weg, wen er will. S. 2, V. 209. Dazu vgl. S. 2, V. 6; S. 6,
B. 38; ©. 16, B. 96 und noch eine ganze Menge ähnlicher Stellen.
Z) An jenem großen Tage (des Gerichts) wird Jeder nach feinen Handlungen den
Lohn empfangen ; Gott weiß, was Jeder gethan. S. 39, B. 70. Der Barallelftellen
find ebenfalls ſehr viele, faſt zahllofe.
3) Weil (HiR. krit. Cinl. i. d. Koran, S. 95 fg. Vgl. auch Weil, Geſch. d.
&halifen, 11, 262) fucht fehr fcharffinnig nachzuweiſen, daß Mohammed felbft feines
391
4.
Das: dritte moslemiſche Grunddogma ftellt, wie oben angegeben wors
ben, die Lehre vom Prophetentbum (Nebtuwwet) feſt. Es gebt darauf
auß, dem Begründer des Islam eine unzweifelhafte Autorität zu verleihen,
Die Lehrfäge von Gott und von feinem Propheten find unzertrennlich mit
einander verbunden. „Gott ift Gott und Mohammed: ift jein Prophet *.
Wohlverftanden, Mobammed ift der Prophet. Allerdings nicht der erfte
und einzige der Propheten 1), aber er ift der endgültige Vollender des Pros
phetenthums 2). Die Offenbarung von Gottes Wort ift fo wefentlih an
ihn gebunden, daß der Glaube an eine nicht Durch Mohammed vermittelte
Offenbarung ein faliher id). Demnach wäre der rechte Glaube
an Öott durch den Blauben an Mohammed bedingt. Der
Koran kommt fehr häufig auf diefen Punkt zurüd, Er polemiflrt,, wenn
auch in achtungsvollſter Form, bei diefer Gelegenheit häufig gegen Chriſtus,
d. 5. gegen deſſen VBergottung. Die Ehriften fagen, beißt es in der 19,
Sura, der Allbarmherzige habe einen Sohn gezeugt; das ift ein ungeheuer«
liches Vorgeben! Und in der 5, Sura: Chriftus ift weiter Nichts als ein
Geſandter; vor ihm find andere Gefandte hergeaangen und feine Mutter war
ein gewöhnliches Weib. Wetter wird in der A. Sura ganz deutlich zu vers
ftehen gegeben, daß Chriftus weit entfernt geweſen, ſich felber zu vergotten.
Es heißt da: Ehriftus ift nicht fo hoffärtig, daß er ſich weigern follte, ein
Knecht Gottes zu fein. Mohammed nennt auch fidh einen bloßen Knecht
Gottes, aber allerdings in dem Sinne, in welchem ſich der Papft einen
Knecht der Knechte Gottes titulirt: Denn, wie gefagt, er ift der Prophet der
Propheten, da8 Siegel an der dur ihn ein für allemal abgeichloffenen Urs
funde der Offenbarung. — Auch hinfichtlich dieſes Dogma's eriftirt zwi⸗
fhen den Sunniten und den Schliten eine Meinungdverfchiebenheit. Jene,
geftügt auf die Koranftelle (S. 40, B. 57), wo Mohammed aufgefordert
wege das Dogma von der Vorherbeſtimmung in defien nachmaliger Starcheit gewollt
habe, fondern daß es in diefer Starrheit erft dann zur Geltung gekommen, als bie
Ehalifen, politifcher Zwecke wegen, eines blinden Fatalismus und des daraus refultis
renden blinden Gehorfams der Moslim bedurften.
1) S. o. Kay. UI, 3.
2) MNohammed ift der Gefandte Bottes und das Siegel aller Propheten S. 33,
B. 38. Dazu vgl. S. 2, B. 209; ©. 6, V. 34, ©. 21, S. 40, V. 78; S. 4, V.
62; 6.94, V. 2. "
3) ©. die eben citirten Suren und dazu noch die weiteren 3, 5, 19.
wird, täglid zu beten, bamit ihm Gott feine Sünden vergebe, behaupten,
des Prophet und die Propheten überhaupt ſeien der Sünde unterworfen ge=
weſen, wie die übrigen Menſchen, aber Durch beſondere göttliche Gnade van
dar Strafe für ihre Berfehlungen befreit werden. Die Schiiten dagegen
nehmen an, Die Propheten feien Durdsaus reine Menſchen geweien, denn fle
Hätten unmöglich fündigen können.
5.
Das vierte moßlemiihe Hauptdogma umfaßt die Unſterblichkeit der
Srele, dic Auferſtehung von den Todten, das jüngfle Gericht, die Belob⸗
nung der Guten und die Verdammung der Böien!). Das Banze iſt zwei⸗
felGohne den perflichschrifllichen Borftellungen nachgebildet, aber im Einzel«
nen ebenfo gefchickt ald wuftänklich auf die Heighlütige Phantafie der Araber,
anf die finaliche Anſchauung der Orientalen beredinet. Die Lehre von Der
Unſterblichkeit der Seele ift Die Bafld der Lehre von ben legten Dingen. Sie
(die Ungläusigen) fagen: Es gibt fein anderes Leben, als unfer hieſiges ir⸗
diſches Daſein, und wir werden nicht wieder aufermedt. Sollteſt du fie
aber ſehen, wenn fie einft vor ihrem «Deren ericheinen und er fie fragt: I
die Auferfichung nun nicht wahr geworden? da werben fle antworten :
Wohl ift fie wahr, o Herr! Und Bott wird jagen: Nebmet nun hin die
Strafe dafür, daß ihr nicht glauben wolltet 2). Ihr (Menfchen) müßt ſter⸗
ben, am Tage der Auferflefung aber werdet ihr wieder auferwedt 3). Glau⸗
bet an Gott und an den Tag tes Gerichts! 4)
Nach feiner Weije wiederholt der Koran die Lehre vom Weltgericht,
vom „großen Tag”, vom „Tag der Trennung“ (der Guten von den Böfen)
— — — —
1) Ich koͤnnte hier auch noch die Geſchichten von der Schoͤpfung, vom Suͤndenfall
(Apfelbiß) im Paradieſe, von der Suͤndflut u. ſ. w. berühren, erachte es aber für Raums
verſchwendung, da der Koran dieſe Mythen durchaus der Bibel nachgebildet und nur
mit märchenhaften Arabesken verziert hat. Das Verhaͤltniß Gottes zu den Menſchen,
wie ed in diefen Geſchichten im Kovan zu Tage tritt, if ganz das bibliſche. Auch bie
Schugengel:Lchre des Islam iſt der perſiſch⸗jũdiſchen homogen. Sie findet ih am
beflimmteften ausgelproden ©. 11, 8. 64 und ©. 13, B. 12. Die leptere Stelle
lautet: — Ein jeter Menfch hat. feine Engel, die (von Bott herabgefandt) einander
ablöfen, vor und hinter ihm hergehen und auf den Befehl Gottes ihn bewachen.
2) Sur. 6, B. 29—30,
3) Sur. 23, ®. 18.
4) Sur. 2, B. 173.
393
ſehr oft und eindringlih. Aber man muß die. einzelnen Befimmungen die⸗
fer Lehre im ganzen Buch zufammenfuchen. Gin türkiſcher @otteögelehrter,
welcher im 16. Jahrhundert ſchriab, Mehemed Pie Ali, Hat bie einzelnen
Szenen des Gerichtätages fo zulammengeßellt 5): — Wann bie Zeit des
jüngßen Gerichtes herannabt, gibt der Engel Ißrafil mit feiner Poſaune bad
Beiden. Des Befehles Allah's jeden Augenblick gewärtig, hält dieſer En⸗
gel das Mundftü feiner Poſaune befländig an den Mund. Sobald Ißra⸗
fil den Vefehl empfangen, bläft er, und es gibt einen entſetzlichen Schall, den
alled Lebende tödter, den blaſenden Engel miteingerechnet. Vierzig Jahre
lang bleibt die Welt autgeſtorben; dann erwedt Allah den Ißrafil wieder.
Dieter flößt ein zweites Mal in die Poſaune und von dem zweiten Schall
werden alle Todton lebendig 6). Die Auferfiandenen find ganz ohne Bellei-
bung; denen aber, welche Propheten und Heilige geweien, ſchickt man geflügelie
Simmelsrofle (Borals) entgegen und Eoftbare Stoffe aus dem Paradise.
Sie kleiden fi in letztere, befleigen die erfleren und reiten auf ihnen ind
Paradies, wo fie im Schatten von Allah's Ehren fich niederlaffen. Die übri«
gen Menschen ſtehen zuiammengedrängt, hungernd, durftend und ſchwitzend,
8) Nach einer Mittheilung im „Magaz. f. d. Lit. d. Aust.“ 1886, Nr. 102.
6) Wann in die Bofaune geſtoßen wird, dann wird Alles, was im Himmel und
auf Erden ift, leblos nieberflürzen, nur Die Wefen ausgenommen, welche Gott davon
ausſchließt. Und wann wieder in die Poſaune geftoßen wird, dann werden fie fi
wieder aufrichten und um fih bliden. Und die Erde wird leuchten durch das Licht
ihres Herrn und das Buch (worin die Handlungen aller Menfchen gefchrieben find)
liegt offen und die Propheten und Märtyrer treten als Zeugen auf und in Gerechtig⸗
feit nur wird gerichtet zwifchen ihnen und Keinem Unrecht gefchehen. Sur. 39, V.
68—69. Das Weltgericht wird eingeleitet durch den Weltuntergang. So heißt es
in der 69. Sura:
Wamnm in die Bofaune geblafen wirt mit einem Stoß,
Werden Erde und Berge zerriflen werden durch einen Stoß.
An jenem Tage fällt die einfallende Stunde,
An jenem Tage geben die gefpaltenen Simmel zu Grunde.
Und in dee 77. Sura: —
Bei den auf einander folgenden Sendungen vom Himmel,
Bei der Sterne Getümmel,
Bei den Bagrln, welche vie Klügel ausbreiten,
Bei den Berien des Koran, weldge Die Wahrheit deuien,
Welche Ermahnungen geben,
Verheißungen und Drohungen für dieſes und jenes Leben —
a 0. —— .. --
— —
394
indem die Sonne ihren Köpfen bis auf eine Meilenaherüdt”). Funfzigtauſend
Jahre Tang — (nach andern Angaben nicht To Tange) — müflen fie in dieſem
Buftande verharren. LUnterdeffen werben alle Bücher eingereiiht, weldhe Die
Engel über den Lebenswandel der Menſchen geführt haben, und Allah ver⸗
hört die Seelen ohne Vermittlung eineg anderen Weſens. Auch eine Wage
wird aufgerichtet, in welcher man da® Gute und das Böfe gegen einander
abwägt. Die Seelen, deren Gutes überwiegend ift, fommen in dad Para⸗
die, diefenigen, an denen das Böfe überwiegt, in die Hölle — es jei Denn,
dag Allah ihnen verzeihe oder daß Propheten oder Heilige fie ihrer Yürbitte
würdigen follten. Doch kann Yürbitte nur flattfinden, wenn die Seele
gläubig aus dem irdiſchen Dafetn gefähteden tft. Wer tm Glauben flirbt,
aber ob der Schwere feiner Sünden Feiner Verzeihung und Feiner Bürbitte
theilhaft geworden, der muß fürzere oder Tängere Beit im Höllenfeuer bren⸗
nen und wird dann ind Paradies entrückt. Ein Atom des wahren Glau—⸗
bens ſchützt übrigens ſchon wider die Ewigfeit der Höllenqual®). Ueber
die Hölle hinweg wird eine Brücke (Al Sirat), welche fo dünn wie ein Haar
und fo fcharf wie ein Schwert iſt, nad dem Paradiefe führen?). Alle
Seelen müflen über diefe Brüde gehen. . Einige fommen mit der Schnellig-
feit des Bliges hinüber, andere mit der eines vennenden Pferdes, wieder
andere im Paßgang, wieder andere fchleppen fid) unter der Laft ihrer Sünden
— *
Es kommt der verheißene Tag:
Wenn die Sterne ohne Licht bleiben
Und die Himmel ſich zerſpalten,
Wenn die Gebirge zerſtaͤuben
Und die Gottgefandten Wache halten.
7) Das ftimmt freilich nicht ganz mit dem „Zerivaltenfein“ der Himmel, aber
Bolgerichtigfeit in den Details muß man im Koran fo wenig fuchen als in anderen
Religionsurfunden.
8) Der Islam flatuirt alfo Feine Ewigkeit ber Höllenftrafen. Gr folgt hierin
nicht der hriftlichen, fondern der milderen zoroaſtriſchen Anſchauungsweiſe. Vergl.
Thl. 11, S. 181 folg. Nur für die Nichtmoslim gibt es nach der fpäteren intolerans
teren Anficht des Propheten (1. o. Rap. II, 3, Anm. 3) eine ewige Verdammniß.
9) Die Brüde Tfchinevad des Zend - Avefta. Bel. Thl. I, S. 180, Anm. 2.
Im Uebrigen ift fo zu fagen auf diefer Brüde vom Erhabenen oder Furchtbaren zum
Burlesken und Lächerlichen auch nur ein Schritt. Einer Kegende zufolge verwandelt
fih nämlich beim Uebergang über al Sirat Mohammed in einen Foloflalen Widder und
fämmtlihe Moslims fegen fi in Beftalt von — Flöhen in feinen Pelz.
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wanfend vorwärts und noch andere flürzen, wenn fle die Brüde kaum betre⸗
ten haben, haͤuptlings in den Höllenſchlund hinab.
Immer, wo er von ben legten Dingen ſpricht, wirkt der Koran tief⸗
ergreifend. Da zeigt ſich Mohammed als rechter Dichter. Seine Sprache
iſt hier ſelber wie der Schall der Gerichtspoſaune, welcher verſtockte Ge⸗
wifſſen erbeben macht 10). Die Schilderungen des Ortes der Pein durch⸗
weht etwas wie Höllenglut, die am gewaltigſten aufſchläͤgt, wo des Gerichtes
gedacht wird, welches der Lügner, der Verleumder und der Wucherer harrt 11).
Von dem dunkelrothen Hintergrunde der Höllenbilder heben ſich dann die
Gemaͤlde paradieſtſcher Seligkeit nur um fo reizender ab. In Wohlgeruch
athmenden Schattenhainen, durchmurmelt von ſilberhellen Quellen, hat der
ſelige Gläubige feinen Wonneſttz. Die lieblichſten Früchte, die ſüßeſten
Weine, kredenzt von anmuthigen Paradieſesjünglingen, erfreuen ihn und in
den Armen fchwarzäugiger, von Schönheit und ewiger Jungfräulichfeit ſtra⸗
lender Houri's foftet er ſtets erneute Freuden 12).
10) So die 101, Sura: —
Die Hovfende Stunde, was ift die Flopfende Stunde?
Und von der Flopfenden Stunde wer gibt dir Runde?
Es ift der Tag des Gerichts, wo die Menfchen wie Heufchreden verfiteuet vom Wind,
Die Berge gleich gefrämpelter Baumwolle find.
Und weflen Wagfchale finft, dem wird's im ew’gen Leben gut;
Und weflen Schale fteigt, finft in die Flammenwuth.
Weißt du wohl, was da ift die Flammenwuth?
Es ift der Hölle brennendſte Blut.
11) Weh' dem Lügner, der den guten Namen ftreift!
Meh’ dem, der nur Schäge auf Schäge häuft,
Weil er ewig fich auf feinen Reichthum fleift.
eh’! Hinunter in die Höllenftampfe (Al Hutama) !
Weißt du, was das if, die Höllenftampfe?
Teuer Gottes ift es, hochaufragend,
Ueber Herzen wild zufammenfchlagend,
Glut, wie in ein Gewölbe zufammengebogen,
Blammen, body wie Säulen aufgezogen. Sura 104.
412) Die Gerechten trinfen Wein, gemifcht mit Blut vom Kampherquell ;
Davon trinfen die Diener Gottes, das Wafler leitend von Stell’ zu Stell”,
Die ihre Wort hielten und den Tag fürchteten, deſſen Mebel weit wird freifen,
Die aus Liebe Gottes fpeiften die Armen, Sklaven und Waifen,
Sagend: wir fpeifen euch Gottes wegen und wollen weder Dank noch Lohn,
Wir fürchten vom Herrn ben Tag voll Trog und Hohn.
386
6.
Das fünfte Dogma, das von der Erbfolge der Imame (Imameı), 1%
ein von Sunniten und Schiiten ſehr verſchieden gefaßtes. Seine Natur
iſt, wie wir oßen anmerkten, mehr eine politifche als religiöfe und der Ur⸗
fprung feiner verfchiedenen Beltung bei den beiden grofien Sekten des I6r
am muß geradezu in einer Haremsintrigue gefucht werden. Aiſcha, die
Tochter Abu Behr, nach dem Tode der Chadidja des Bropheten einfluß⸗
reichſte Frau, obgleich fie ihm mehr ale einen Verdruß verurfachte und
fogar ihre eheliche Treue bei einer Gelegenheit. in ſehr zweideutigem Lichte
erfhien, — dieſe Aiſcha haßte den tapfern Uli, den Gatten von Moham⸗
Deßwegen fchirmte fie der Herr vor'm Uebel diefes Tages, gab ihnen heiteres
Geficht und Freude,
Er lohnte ihre Geduld mit dem Paradies und mit Seide.
Dort ruhen fle auf weichen Matten, fühlen weder Froſt noch Hitze,
Es wallen über ihnen fühle Schatten und Früchte neigen fih von der Bäume
Ä Spike.
Es freiien Schalen aus Silber und Becher aus Glas,
Gefäße aus Silber von gehörigem Maaß.
Sie trinken Becher, gemiicht mit dem Gewürz Sendſchebil,
Bon dem Duelle genaunt Selfebil. -
GEs Freifen um fle ewige Jünglinge, zerſtreuten Perlen gleich,
Und ſchauſt du näher, flieht du ewige Gnade und das himmliſche Reich.
Im Kleide aus grüner Seite, mit Gold gefickt,
Sind fie mit filbernen Armbäntern gefchmüdt ;
&8 tränfet fie der Herr mit reinem Trank,
Das ift ihr Lohn, das ift für ihre Deühe der Dank. Sura 76.
In der 38. Sura (B. 49 fg.) heißt es: — Wahrlich, die Frommen follen
einen herrlichen Aufenthalt haben, namlich Etens Gärten, deren Bforten ihnen offen
find. Sie können ch dort niederlaffen und von allen Arten Früchten und ®etränfen
fordern. Neben ihnen werten fein Jungfrauen mit keufchen Blicken und von gleichem
Alter mit ihnen. Die Uebelthäter aber follen einen ſchlünmen Aufenthalt haben,
nämlich die Hölle, in welder fie brennen ſollen. Welch ein elentes Lager iſt dies!
Stinfendes und heißes Wafler und noch Anteres mehr der Art follen fe foften. —
Vgl. über Himmel und Hölle noch die Sura2 (B. 27), 38 (B. 17), 43 (B. 66 fg.),
70 (8. 7 fg.), #7 (3. 16 fg.). Wie ſchon oben bemerft worten, iſt es irrig, zu
meinen, Mohammed babe den Frauen Unflerblicfeit und Seligfeit abgeiprochen.
In der 33. Sura heißt es ausprüdlih: — Für die gläubigen Bänner und Frauen,
"für die wahrhaftigen, getultigen und demüthigen Männer und Frauen, für die
Almoſen gebenden und faftenten und für die feufchen Männer und Frauen, die oft
Gottes eingedent find, hat Bott Berföhnung und großen Lohn bereitet.
397
eds Tochter Fatima, umd fette alle Hebel tn Bewegung, um. die Ernennung
des Gehaßten zum Nachfolger des Propheten zu hintertreiben. Mohammed
hatte die Schwachhetit, diefen Ränfen nicht entſchieden genug entgegenzir-
treten. Wenigſtens unterließ er es, den Alt beflimmt genug als feinen
Nachfolger zu bezeichnen. Zwar that er auf der Hüdfehr von feiner Ab⸗
fhiedswallfahrt nach Mekka die Aeußerung: „Wer mich liebt, der wähle
auch Ali zum Freunde (maula). Gott ſtehe dem bei, der ihn befchügt, und
verlaffe den, der ihn anfeindet”. Allein die Neider Ali's fanden in dem
von Mohammed gebrauchten Ausdruck einen Doppelfinn, welchen fle zu ihren
Bunften auslegten 1). Sie brachten e8 daher, hauptſächlich durch die Ma⸗
chinationen der Aiſcha, dahin, daß nach dem Tode Mohammeds von der
Verfammlung der Gläubigen (Djemo’ er) nicht Ali, fondern Abu Bekr zum
Statthalter (Chalif) des Propheten gewählt wurde. Auch fpäter wurde
Ali noch zweimal übergangen, indem ihm Omar und Othman vorgezogen
wurden, und ald er beim Tode des legteren endlich zum Chalifat gelangte,
vermochte er es feinem Haufe dennoch nicht zu erhalten, wie wir jeined Ortes
ſehen werden.
Die Sunniten nun Teugnen eine erbliche Berechtigung zur Herrſchaft
über das Volf der Moslim und behaupten, nur die bier erften Chalifen,
Abu Bekr, Das Othman und Ali, feien, weil von der Djemo' et gewählt,
aͤchte Imame d. h. die wahren und gefeglichen Lenker ber Gläubigen tn
geiſtl ihen und. weltlichen Dingen ‚gewejen. Die Schiiten dagegen fafien das
Dogma vom Imamet fo, daß Ali und feine Nachkommen ein erbliches Recht
dazu gehabt und daß demnach fomwohl die drei erften Chalifen als auch Die, .
welche fpäter die Söhne Ali's vom Chalifat verdrängten, fammt und fon«
ders Ufurpatoren gewejen feien. Nach ſchiitiſchem Glauben erbte ſich die
oberfte geiftlihe und weltliche Regierung der Moslim in dem Geichlecht
Ali's und Batima’d fort. , Nur die Nahfommen Ali's find den Schii ächte
Imame, Als den zwölften und Iegten verehren fie den Mohammed Mehdi,
welchen fie bei allen Verſammlungen redhtgläubiger, d. h. ſchiitiſcher Mos⸗
lim noch jetzt unſichtbar zugegen glauben. Natürlich haſſen und verfolgen
ſich die beiden Sekten gegenſeitig als Ketzer. Die Sunni?), deren Haupt—⸗
— — — nn
1) Das Wort maula bedeutet ebenſogut Herr und Gebieter als Freund und
Beſchuͤtzer.
2) Dieſen Namen haben ſie von der Sunna, d. i. von der Sammlung von
Lebensregeln für die Glaͤubigen, welche aus den Reden und Handlungen des Pro⸗
ige die Türkei und Aegypten find, haben ihren Gegnern, deren Hauptßg
Perfien if, den Schimpfnamen Schi, d. i. Abtrünnige gegeben, ter aber
son dieſen, wie es mit foldden Bezeichnungen zu geben pflegt, als Ehren⸗
name aboptirt wurde.
Diertes Kapitel.
Der modlemifhe Gottesdienſt.
1.
Man hat gejagt und oft wiederholt, daß ein Unterſchied fei zwiſchen
Dogmatik und Religion, ja fogar, Laß in der erfleren geradezu der religiöien
Idee Widerſprechendes jein könne und nicht felten wirklich ſei. Die Anficht
mag auf dem philojophifhen Standpunkt ihre Berechtigung haben und läßt
fid) aus der Dogmengeſchichte aller Religionen zweifeldohne begrünten. Die
rein culturhiſtoriſche Betrachtung darf aber der philoſophiſchen Kritik des
Inhalts ter Dogmatik ſich entſchlagen; fle faßt denielben einfach als ten
theoretiichen Theil eines Glaubensſyſtems und iſt daher berechtigt, zu jagen:
das Togma ift die Seele der Religion. Dieje Seele jhafft ſich ihren Leib,
den Cult. Die praftiiche, die gotteöbienftliche Seite der Religion iſt der
jeweiligen theoretiichen Entwicklungsſtufe fo ziemlich überall adäquat. Den
reihften, am meiften künſtleriſch organifirten aller Culte befigt ohne Frage
der Katholicismus und ed entſpricht der Fatholifche Gottesdienſt vollftäntig
dem Eatholijchen Dogma, welches, in Berüdfihtigung der finnliden Seite
ber Menicdyennatur, durch Herbeiziehung und Geltendmadhung mythologis
jeher Elemente ten chriſtlichen Spiritualismus der jinnlihen Begreiflichfeit
pheten, wie mündliche Tratition ſolche angeblich aufbewahrt hatte, geſchöpft fint.
Die authentiiche Zufammenflellung der Sunna rührt von Abdallah Mobammed Ben
— — —
Jsmail el Dſchaafi, genannt EI Bochari (ft. 869 n. Chr.), her. Die Schiiten
verwerfen die Sunna, die Sunniten dagegen halten die VBorfchriften derfelben neben
denen des Roran für verbindlihd. In ihrem Berhälmiß zur Tradition könnte man
alfo die Sunni die Katholifen, die Schii die Proteflanten des Islam nennen.
aa ma (| - va —
399
näher zu bringen ſuchte. Micht ganz folgerichtig perhaͤlt ſich der moſaiſche
Cult zum moſaiſchen Dogma. Dem ſtarr abſtract⸗monotheiſtiſchen Gottes⸗
begriff des Hebraismus wäre ein noch einfacherer Gottesdienſt, als der
bebräifche war, entſprechend geweſen. Es ſcheint aber, daß Moſe feinen
durch den Aufenthalt in Aegypten an reiche Cultentfaltung gewöhnten Volke
in dieſer Hinſicht nicht allzu wenig habe bieten dürfen, und dann haben wohl
auch die prächtigen Culte ihrer ſyriſchen Nachbarn auf den der Juden Ein⸗
fluß geübt. Weit confequenter, ald im Hebraismus, ift im Islam das Ver⸗
hältniß zwifchen der Seele und dem Leibe der Religion, zwiſchen Dogma
and Eult. Die firenge Feſthaltung des Begriffes eines jenfeitigen, leib⸗
und bildlofen. Gottes verwehrte jedes Herantreten der Künfte zum Gottes⸗
dienft als gögendieneriih. Einzig und allein die Architektur durfte im
Dienfte der Religion thätig fein, aber auch fie mußte fih — wenigftens jo
lange nicht fremde Bildungselemente in den Islam eingegangen — auf das
Allernothwendigfte beſchraͤnken. So fehlt denn dem moslemiichen Cult das
Element der Schönheit. Das modlemifche Ritual entbehrt aber nicht nur
des aͤſthetiſchen Moments, ed hat überdies etwas Abftractes, fo zu fagen
Vereinzelndes, denn allen Beobadhtern ift im Gottesdienſt des Islam ein ı
gewifler Mangel an Gemeinſamkeit aufgefallen), Der Moslem |
fheint das, was die Chriften unter „ Erbauung der Gemeinde“ „Andacht ı
ber Gemeinde”, „Gottesdienſt der Gemeinde“ verftehen, gar nicht zu |
fennen. Sein Cult ift, obgleich nicht immer vom Einzelnen geübt, dene :
noch weſentlich Sade des Einzelnen. Der Islam kennt aud keine
kirchlichen Gnadenmittel, keine Sacramente, und es darf alfo der Aus⸗
druck, moslemiſche Kirche“, wenn er überhaupt gebraucht werden will, nur
in ganz äußerlihem Sinne verftanden werden.
2,
Die vier großen Pflichten des moslemiſchen Gotteödienfted find:
1) das Gebet, 2) das Baften, 3) dad Almofengeben, 4) die Wall-
fahrt nad Meffa.
Das Gebet (selat) gilt für die erfte und höchfte Eulthandlung. Sie
vornehmlich reinigt Die Seelen). Es ift daher nicht zu verwundern, daß
die Vorfchriften über diefe gottesdienftlihe Uchung bis ind Einzelnfte gehen.
1) Bal. insbeiondere Abeken, „das relig. Leben im Islam”, S. 17 und 37.
1) ©. über das Gebet die Roranfuren 2, 3, 7, 9, 20, 23, 29, 50,
400
Meidung ), Stellung und Baltung des Körpers, Belt, Hahl und Reihen⸗
folge ter Gebete, dies Alles und noch vieles Andere iſt genau feſtgeſetzt.
Der Betende muß fi mit dem Geficht zur Kebleh, d. i. nach der Himmels“
gegend wenden, wo dad Bauptbeiligtbum des Idlam, die Kaabah, Tiept; ex
muß zuerft Rraff aufrecht flehen, mit geman an einander gefthloffenen Yüßen,
dann figend die vorgeſchriebenen Berneigungen abfhum, wobei mit der Stirne
die Erde zu berühren und wohl Darauf zu achten ift, daß Tein unreiner Ge
genftand berührt werde. Bünfmal des Tages wird gebrtet und zwar — ba,
: wie befannt, im Drient der Tag mit den Abend anhebt — beim Untergang
der Sonne, bevor dieſelbe gänzlich verſchwindet, Denn nach Sonhenanter
gang bis gegen Mitternacht bin, ferner kurz vor oder während ber Mitier⸗
naht, dann bei Sonnenanfgang und endlich zu Rittag. Zu jeder biefer
fünf Tages» und Rahtzeiten ruft — weil der Iſslam keine Glocken Bat —
von der Balerie der Mofcheenminarets herab der Muezzin fingend die Glaͤu⸗
bigen zum Gebet auf). Wo er au ſei — nur nicht an einem unreinen
Drte — gehorcht der Moslem, gänzlich unbekümmert um die Außenwelt,
dem Ruf und verrichtet unter mancherlei Wendimgen und Neigungen die
vorgefhrtebene Anzahl von Gebeten. Den Inhalt derfelben bilden An⸗
tufungen und Lobpfeifungen Gottes, wobei das „Allah akbar“ (Gott fi
groß!) Häufig wiederkehrt, ferner Segensſprüche auf den Propheten, Bit⸗
ten um Seil und Gedeihen, Citate aus dem Koran. Den Haupfbe
flandtheil des moslemiſchen Gebetes macht Die Cingangdfure des Koran
2) Männern ift es erlaubt, nackt ihr Gebet zu verrichten; nur die Schamtheile
müſſen bedeckt fein. Die Frauen dagegen muͤſſen beim Beten vollſtändig angezogen
fein und dürfen nur das Geficht, die Hände und die Füße bis zu den Knöcheln unbe
deckt haben.
3) Mit der Formel:
Lo illahe illallah!
Gott iſt groß! Gott iſt groß! Gott iſt groß!
Ich zeuge, daß kein Gott iſt denn Allah!
Gott iſt groß! Gott iſt groß! Gott iſt groß!
Ich zeuge, daß Mohammed iſt der Prophet Goites!
Kommt zum Gebet, kommt zum Gebet!
Herbei zum Tempel des Heils, herbei zum Tempel des Heils!
Gebet ift befler ale Schlaf, Gebet ift befler als Schlaf!
Gott ift groß! Bott iſt groß! Gott ift groß!
Außer Allah Fein Gott!
vw zz“
101
83). Sie ik in der mohammedaniſchen Welt ganz das, was in bet
hriftlihen das Vaterunfer.
3.
Das Faften (saum) iſt eine Abſchwächung deg Opfers und zwar des
Menſchenopfers. Statt fein Leben darzubringen, quält der Menſch feinen
Leib durch Enthaltung von gewohnten, beziehungsweife nothmendigen Ges:
nüffen. Das moslemifche Geſetz kennt verfchiedene Bafttage im Laufe des
Jahres, welche jedoch nur für verdienftlich, nicht für geboten gelten. Geboten
jedoch, durch den Koran, iſt die große Baftenzelt während des ganzen Mo⸗
nats Ramazan, in welchem der Prophet die erſten göttlichen Offenbaruns
gen empfangen haben ſoll. Da muß vom Sonnenaufgang bis nach Sonnen⸗
untergang alle Tage des Monats, hindurch unverbrüchlich. aefaftet. werden.
Nur Kinder unter fleben Jahren, Kranke, MWahnfinnige, Kindbetterinnen.
und Reiſende find davon ausgenommen. MWährerrd der angegebenen Tages:
zeit ift der Genuß jeglicher Speile verboten. Auch darf nichts Flüſſtges
mit dem Munde berührt, ja nicht einmal der eigene Speichel verſchluckt wer⸗
den. Tabakrauchen und das Einathmen von Wohlgerüchen iſt unterfagt ;
ebenfo das Einnehmen purgirender Medizin, endlich das Baden und bie
geſchlechtliche Beiwohnung. Jede Verlegung einer diefer Vorfchriften, ſowie
das Ausiprechen einer Lüge, macht die Faſten gänzlih ungültig und bie
Wiederholung derfelben nothwendig. Außer den Ramazan⸗Faſten gibt e8
aber noch ein Faſten in Folge eines Gelübdes (nezr) und das mit dem foge-
nannten Sähnopfer (kefforet) verbundene Baften. Der Moslem thut nänt-
lich Gelübde, zu einer Heftimmten Zeit zu fuften, nah Mekka zu wallfahren,
befondere Gebete zu verrichten, befondere Almofen zu geben oder auch für
eine beflimmte Zeit der Frauen ſich zu enthalten, — entweder rein „urh
Gottes Willen“, wo alfo die Opfernatur des Gelübdes deutlich zu Tage
tritt, oder um dadurch von Gott etwas Bewünfchtes zu erlangen oder ſich bei
einer Unternehmung den göttlichen Beiftand zu fihern. Das Kefforet da=
gegen {ft eine Eulthandlung, welche dem Moslem in gewiſſen Bällen zur
4) Im Namen des allbarnherzigen Gottes! Lob und Preis Bott, dem Welten: }
herren, dem Allerbarmer, der da herrichet am Tage des Gerichts. Dir wollen wir !
dienen und zu die wollen wir flehen, auf daß du uns führeft den rechten Weg, den '
Weg derer, die deiner Gnade ſich freuen, und nicht den Weg derer, über welche bu:
zürneft, und nicht den Weg ber Irrenden.
Scherr, Gef. d. Religion. I. 26
402
Büßung unfreiwillig begangener Sünden oder zur Reinigung von Ver⸗
geben vorgefchrieben iſt 5).
4.
Die altberühmte arabiſche Gaſtfreiheit hat durch den Islam die höchſte
religiöſe Weihe erhalten. Der Koran erhob die patriarchaliſche Milde gegen
. Bedürftige zu einer Religionspflicht, das Almoſenſpenden zu einem Cultact.
Dieſe Pflicht, dieſen Act ſchreibt der Koran an ſehr vielen Stellen und nicht
ſelten in Ausdruͤcken vor, welche an Humanitaͤt aͤhnlichen Vorſchriften des
Evangeliums durchaus nicht nachſtehen. Auch wurden und werden die Ge⸗
bote der Mildthätigkeit von den Moslim eifrigſt befolgt, wie die zahlloſen
frommen Stiftungen im Orient, die Schulen und Spitäler in den Städten,
die Karavanjeraid und Brunnen an den Wüftenftraßen und dergleichen An⸗
ftalten mehr beweifen. Auch auf tie Sklaven, welche in der moslemiſchen
Welt entſchieden viel humaner behandelt werben als in der chriſtlich⸗ ameri⸗
kaniſchen, erftredt fid) die milde Fürſorge, ja jogar auf Thiere, wie der be=
kannte Taubenipital bei der Bajazid⸗Moſchee in Stambul und die Kapenitiftung
in Damadfus zeigen. Das moslemijche Geſetz handelt von der religiöfen
Pflicht der Wohlthätigkeit unter dem Titel „Abgabe vom Eigenthum *
(zekat) und untericheidet einen nothwendigen oder gebotenen und einen bloß
angerathenen Zekat (zekat wodjib und zekat sunnet). Der erſtere muß
von jedem freigeborenen und volljährigen Modlem nad Maaßgabe ſeines
Vermögens entrichtet werden. Der Ertrag dieſer Steuer füllt an Arme,
als welche alle betrachtet werden, die nicht für ein Jahr die Mittel zum
Lebensunterhalt befigen, an Schuldner, welche ihre Schulden ſchlechterdings
nicht aus eigenen Mitteln bezahlen können, an Fremde, die ohne Subſiſtenz⸗
mittel find, an Unglaͤubige, welche den Gläubigen im Kriege beigeftanden.
Dann wird der gebotene Zefat noch verwendet zum Loskauf von Sklaven,
die von ihren Herren fchlecht behandelt werden, ferner zur Erbauung von
Moicheen, Schulen, Grabmälern, Brüden, Brunnen und zur Einridtung
anderer gemeinnüßiger Unftalten. Die Verwendung des bloß angerathenen
Zekat ift natürlich der Willkür des Einzelnen überlaffen 2).
85) Tornauw, d. moslem. Recht, S. 180.
1) Ueber den Zefat vgl. die Koranſuren 2, 48, 50, 57.
403
5.
Die Wallfahrt nach Mekka (el Heddj) ift eine gottesdienftliche Uebung,
melde ter Koran (Sur. 22) jedem Moslem vorfchreibt. Jeder Gläubige
joll, ftreng genommen, wenigftend einmal in feinem Leben die Kaabah, das
Haus, weldyes Abraham zum Tempel des wahren und einigen Gottes erbaute,
pilgernd betreten. Dieje Pflicht erfüllt zu Haben wird in der ganzen mo⸗
hammedaniſchen Welt als ein großes Verdienſt und Glück betrachtet und
jeder von diefer Wallfahrt Zurüdgefehrte führt mit Stolz den Ehrennamen
eined Hadſchi (Pilger). Indeſſen ift e8 bei den bedeutenden Koften und
Opfern, welche mit diefer Reije verbunden find, ſchlechterdings unmöglich,
dag alle Bekenner des Islam diefelbe unternehmen, und Mohammed felbft
icheint dies bei Zeiten eingejeben zu haben. Wenigſtens werden auf münd«-
liche Ausfprüdhe des Propheten die näheren Beflimmungen zurüdgeführt,
welche in modlemifchen Gefeg betreffd der Wallfahrt nach Mekka gültig find.
Demzufolge ift diefe nur Pflicht unter folgenden Bedingungen. Der Pilger
muß perjönlich frei, d. h. Fein Sklave, volljährig, im vollen Beſitz der Ver⸗
ftandeöfräfte und der Gefundheit fein; er muß ferner die zur Reiſe nötbige
Zeit haben und gewifje Garantien der Sicherheit des Weges, endlich fo viel
Nermögen, daß e3 zu feinem Unterhalt auf der Meije und zur Subflftenz
jeiner Bamilie während feiner Abwefenheit ausreiht. Man fieht, dieje Be⸗
flimmungen find dehnbar genug, um die Fahrt nach Mekka zu feinem abio-
Iuten Müffen zu mahen!), Die auf der Wallfahrt zu beobachtenden
rituellen und moralifchen Vorjchriften gehen ind Einzelnfte. Tracht, Reini⸗
gungen, Gebete, Ceremoniel, innere und äußere Lebensführung auf der
Hins und Herfahrt und am Ziel der Pilgerjchaft ſelbſt, Alles ift dem Hadſchi
aufs Genauefte vorgezeichhnet und es beftehen Die vornehmften Cultbräuche
bei und in dem Heiligthum der Kaabah in Umgängen um daflelbe, im Her⸗
jagen gewiffer Gebetformeln, im Küſſen ded con Abraham beim Bau
des Tempeld geweihten jchwarzen Steind, im Trinken aus dem Brunnen
Zem⸗Zem und endlich im Darbringen eined Opfers (Kurban). in Theil
des geopferten Kameeld, Stiered oder Schafes wird von den Pilgern
1) Die Schüten laflen es zu, daß die Wallfahrt nach Meffa durch Stellvertreter
um Lohn abgemacht wird, wie es ja auch bei den Katholifen Wallfahrer „im Tag:
lohn“ gibt.
26*
404
ſelbſt verzehrt, das Uebrige den Armen ausgetheilt?). Mit der Wall-
jahrt nach Mekka wird die nach Medina zum Grab des Propheten verbun⸗
23) Ich halte es fuͤr angemeſſen, in dieſer und der folgenden Note von den in
weiteren Kreiſen noch wenig bekannten zwei Hauptheiligthümern des Jolam eine aus
Burdhardts Travels in Arabia und Burtons Pilgrimage to EI-Nedinah and Meccak
ausgezogene Beichreibung zu geben. Burckhardt war Befannsfich der erfie Europäer,
weicher die Kaabah, Yurton der erfte Europäer, welcher das Grab des Propheten fa.
Burdharbis Schilderung der Kaabah ift im Nachſtehenden durch den Bericht Burtons
berichtigt und ergänzt. Ich kürze übrigens beide Beichreibungen nach Möglichkeit.
Die Kaabah fleht in einem von einer Mauer umfchlofienen länglichen Viereck,
welches 257 Schritt in Me Länge und 210 Schritt in die Breite mißt. Diefer vffene
Platz ift an der Oſtſeite von einer Säulenhalle umſchloſſen, deren Pfeiler in vierfacher
Meihe Reben. Bon biefer Säulenhalle aus führen mehrere grpflaftente Wege nach ter
Kaabah im Wittelyunft des Biereds. Das heilige Haus if ein länglichee maſſiver
Bau, welcher 85 Fuß Länge, 45 Fuß Breite und 30—40 Fuß Hoͤhe hat. Das aus
grauem Mekka⸗Geſtein aufgeführte Gebäude ficht auf einer 2 Fuß hehen Grundlage,
und da fein Dach flach ift, fo gleicht es im der Berne einem voltfommenen Cubus.
So, wie es jetzt lebt, wurde es im 3. 1629 umgebaut. Der einzige auf ter Nordfeite
befindliche Eingang hat eine Thüre, welche ganz mit Silber überzogen und mit golde:
nen Zierrathen verfehen ik. An der Südoflede der Kaabah, nahe ver Thüre, befindet
fi der berühmte „Ichwarze Stein“ (Hedjar eleswed), über defien Urſprung eine Menge
von Sagen umgeht, von denen bie meiften höchſt abgeichmadt find. Die gäng und
gäbfte bringt diefen Stein, wie den Urfprung ter Kaabah Überhaupt, mit Abraham in
Berbintung. Es if dieſer ſchwarze Stein ein unregelmaͤßiges Eirund von etwa
7 Zoll Durchmeſſer mit einer wellenförmigen Oberfläche, welche aber durch die Millio⸗
nen Berührungen und Küfle abgenügt if. Bin maffiver Bogen von Gold biltet die
Einfafiung des Steines. Auf der Nordfeite der Kaabah, hart an ter Mauer und
gerade neben der Thüre, Befindet fi im Boden eine mit Marmor leicht bekleidete Hoͤh⸗
lung, groß genug, um drei Perfonen Raum zum Eigen zu laffen. Hier zu beten wird
für fehr verdienfttich gehalten, denn diefe Höhlung foll der Ort fein, wo Abraham mit
feinem Sohne Jömael den Kalk und Thon netete, defien fie zur Erbauung der Kaabah
benöthigt waren. Auf ber Nordweſtſeite der Kaabah if Die berühmte goldene Waller:
rößre, durch welche Das auf dem Dach des Gebäudes gefammelte Negenwafler ber:
unterfirömt und zwar auf ein fehr ſchoͤnes Mofaikpflafter. An diefem Plab, behauptet
die moslemifche Legende, liegen Ismayl, der Sohn Ibrahims (Abrahams) und feine
Mutter Hadjirah (Hagar) begraben. Rund um die Raabah fäuft der fogenannte
GL Mataf, d. i. der Blag des Herummwandelnd, ein, mit grauem, vom den Füßen der
Gläubigen wie Glas polirtem Granit gepflaftertes Eirund, umgeben von zweiunt:
dreißig fchlanfen vergoldeten Pfeilern, zwifchen welchen je fieben Glaslampen hängen,
die nah Sonnenuntergang angezündet werden. Unter ven fapeflmartigen Gebaͤuden,
welche innerhalb der Mingmauer der Kaabah Reben, nimmt nach dieſer felbfi an Heilig⸗
keit den erfien Rang ter Makam ein, welcher den Brunnen Zem⸗Zem umfchliegt.
803
den 2). Ein dritter außerordentlich heiliger Ort ift die Moſchee Masjid⸗el⸗
Aska in Ferufalem, ein vierter die Aa Sofla zu Konflantinopel, ans einer
Diefe Kapelle Hat eine viereckige Geftalt und der Cingang öffnet ih nach Süpdoft.
Dee Raum, weicher den Brunnen enthält, if mit Darmoren von verſchiedener Farbe
verziert. Die Mündung des Brunnens felbft ift von einer fünf Fuß hohen und etwa
zehn Fuß im Durchmeſſer haltenden Mauer umgeben. Auf diefe fiellen füch die Leute,
weiche das Waſſer in ledernen Bimern heraufjichen. Das Waller aus dem Brunnen
Zem⸗Zem ift von falzig bitteren Geſchmack und verurfacht keit Diarrhde. Es wird,
zum Trinken und zu Abwalchungen gebraucht, in hoher Berehrung gehalten, obgleich
Burton feinen Gläubigen davon trinfen ſah, ohne daß der Trinfende ein fehr fchiefes
Geficht dazu machte. Das Wort Zem⸗Zem felbft ift zweifelhaften Urfprungs, indem
ed Binige ableiten von Zam-Zam oder Murmeln des Waflers, Andere von Zam! Zam!
(Fülle! Fülle! nämlich die Ylafche), dem Ausrufe Hagars, als fie den Duell zuerſt
erblickte. Dem mittleren Teil der Fronte der Kaabah zugemantt, fteht der Mambar,
d. i. Die Kanzel der Moſchee, aus feinem weißem Marmor gearbeitet. Bine ſchmale
Treppe führt zu der Stelle des Chatyb (Predigers uber welcher fi ein vergoldeter
obelisfartiger Spigthurm erhebt. Hier wird an Kreitagen und an gewiſſen Feſten den
Pilgern gepredigt. u ”
3) Die Stadt Metina, von den Arabern Wedinetsel:Rabi, d. i. Stadt des Pro⸗
pheten genannt, liegt auf einer großen Hochebene Mittelarabiens, in einer 12 (engl.)
Meilen ringsumher heiligen Gegend, welche eine Menge von Heiligthümern, Mofcheen,
Kapellen, Brunnen, Grabmälern u. f. w. enthält. Intereſſant ift in der hübſchge⸗
bauten Stadt mit etwa 16,000 Einwohnern das bunte Gemifch der Vevoͤlkerung,
welde aus Hier zurücdgebliebenen Pilgern aller muelemifchen Racen befteht und von
ber Kübrung, Bewirthung und Anbettelung der Pilger lebt. Das Intereflantefte der :
Statt jedoch ift die von ferne golden bligende Moſchee, in welcher die Geheine Mos:
hammeds ruhen und welche daher Masjidsel-Nabawi heißt. Sie bildet ein längliches,
von vier größeren und zwei Feineren Minarets überragtes Viereck. Burton fagt, ee
fei beim Herantreten an das hochheilige Gebäude ſehr entiäufcht worden. Der Weg
zu demfelben fei von gemeinen Baraden und Buben eingeengt, und je näher er die
Moſchee felbit angeſehen habe, deſto mehr fei fie ihm wie ein ungeheurer Raritäten:
laden vorgelonnmen, vollgepropft mit barbarifcher Zierrath und überladen mit ärmlichem
Schmuck. 6 gelang dem fühnen Englänter, in der Geſtalt eines andäctigen Pils
gers tie heiligen Raͤumlichkeiten genau zu betrachten. Die eigentliche Moſchee Heißt
Haram. Außerdem find nody merfwürdig die Quelle, der Garten und der Redner⸗
Ruhl des Propheten, Sowie das Kenfter, zu welchem der Engel Gabriel hereinflog,
wenn er die himmlifchen Botfchaften an Mohammed beftellte. Mohammed ift be⸗
kanntlih an dem Ort, wo er flaxb, d. i. in dem Zimmer feiner Frau Aiſcha, bes:
graben worden. Diefer Raum nun bildet in dem ſüdweſilichen Winfel der Mofchee
ein großes unregelmäßiges Biere, welches nad) allen Seiten durch eine breite PBaflage
von der Mofchee felbft geichieden it. Im biefem Viereck befindet ich das Maufoleum,
eingefchlofen von einem doppelten Bifengitter, innerhalb beflen ber Vorhang Herabs
406
chriſtlichen Baſtlika in eine türktfche Moichee verwandelt, unter deren Kuppel
der moßlemifchen Legende zufolge der Prophet Elias dereinft feine Antacht
hängt, welcher die Gräber Mohammeds und ber beiden erften. Ehalifen, Abubefr und
Dmar, verhüllt. Gin auf tem Vorhang angebrachter Rofenfranz von Perlen mit
einem Stern in der Mitte bezeichnet das Grab des Propheten. Den Stern nennen
die Moslim das „Juwel unter den Juwelen des Paradieſes.“ Burton dagegen
meint, das Ding fehe ganz fo-äls, wie der Stöpfel zu einer gewöhnlichen Wafler:
flaſche. Ueber Grab und Sarg des Propheten gibt es verichiedene Lesarten. Der
einen zufolge beftcht der Sarg aus einem fchwarzen Marmorblod, nach einer andern
liegt Mohammed tief in der Erde in einem mit Silber befchlagenen Sarge von Eben⸗
holz, eine dritte läßt den Leichnam des Propheten fammt feinem eifernen Sarge bireft
in den Himmel gefahren fein. In Wahrheit ſcheint etwas Beſtimmtes hierüber Nies
mand zu wiflen; denn fo oft der Borhang erneuert werden muß, nimmt man dazu Die
Nacht und zu Arbeitern gläubigfte der Gläubigen, welche um feinen Preis der Melt
Sarg oder Grab felbft anzubliden wagen würden. Auch Burton Fonnte dem Allers
heiligften, d. 5. dem Sarge des Propheten, nicht ganz nahe treten, wie Dies überhaupt
Jedermann firengfiens unterfagt it. Das Heiligihum ift mit geblümten Tapeten belegt,
mit grünen Ziegeln gedeckt, mit fellfamen Arabesfen bemalt und Nachts mit Kante
. Iabern von geichnittenem Glas erleuchtet. Burton fagt, bei Tage habe das Ganze
ziemlih ärmlicd und ſchmutzig ausgeſehen, bei nächtlicher Beleuchtung aber habe es
ganz den Eindeud einer wunderlichen Theaterbeforation gemacht. — Burton fah wähs
rend feines Aufenthalts in Medina auch die große alljährlich von Damaskus her foms
mende Pilgerfaravane in der heiligen Stadt anlangen. Es geſchah dies während der
Nacht und der folgende Morgen, erzählt Burton, beftralte eine ganz neue, über Nacht
wie aus ber Erde hervorgezauberte Welt. Bwilchen den Häufern von Medina war
eine große Stadt von Zelten emporgewachfen, wie Baläfte mit Harems, Küchen und
Ställen, mit vergeldeten Sinnen und koflbaren Shawigebängen, mit Bavillons, Be⸗
ſuchs⸗ und Schlafzimmern; weiße, graue, grüne Zelte als Brivatwohnungen oder als
Buben, aus denen Tabak, Frucht: und Spezereihändier fchrieen. Dazwiſchen ragten
große weiße, fyrifche Dromebare empor, an deren Hödern braune Beduinen Flebten,
ferner Arnauten, Türken und feuerblickende kurdiſche Reiter in ihren malerischen Trach⸗
ten, perfifche PBilgrime, vor Ermüdung in Ohnmacht fallend, rufende Scherbetvers
fäufer, fromme Hadſchi's, einander’ floßend und rämpelnd, fo daß bald hier bald dort
einer unter die Fuͤße der Kameele oder unter die Seile der Zelte putzelte, Ranonens
donner von der Bitadelle, lautes Gefreifch von Frauen und Mädchen in dichtverfchlofs
ſenen Sänften, dus denen fie doch ganz frei herausfollerten, wenn bie Träger über die
Stride und Pflöde der Zelte fielen; weiterhin eine kuͤhn daher reitende Gruppe ara⸗
biſcher Scheils, den Arzah (Kriegstanz) aufführen, im Tanze ihre Gewehre losfenernd,
Schwerter ſchwingend und ſich dazu in wahnfinnigen Sprüngen windend und drehend,
fo daß die hellfarbigen Lumpen ihrer Anzüge luftig im Winde flattern, mit ihren unge-
heuren Speeren ftoßend und fuchtelnd’oder diefelben Hoch in die Luft werfend, unbe:
&
407
verrichtet hat, — und außerdem gibt e8 in allen dem Islam zugewandten Län⸗
dern noch eine Menge von Wallfahrtöflätten, häuflg die Grabmäler berühm⸗
ter Heiliger, Glaubenskaͤmpfer, Geſetzlehrer, frommer Dichter.
6.
Gottesdienftlihe Pflichten der Moslim find ferner: 1) der Krieg
gegen die Ungläubigen; 2) die Reinigungen; 3) die Be
ſchneidung. — „Befämpfet fie (die Ungläubigen), bis alle Verſuchung
(zum Gögendienft) aufhört und die Religion Allah's allgemein verbreitet iſt“!
befiehlt der Koran t) und wiederholt fchärft er den Djehod, d. i. den Krieg
gegen die Ungläubigen, d. i. gegen alle Nichtmoslim, ein 2). Die näheren Be»
flimmungen des Glaubenskrieges find, daß er unternommen werden foll gegen
alle Ungläubigen, welche ſich der moslemiſchen Botmäßigkeit nicht unterwerfen
wollen; ferner gegen foldye Ungläubige, weldye, unter moslemiſcher Herrfchaft
lebend, den Gehorfam und die Steuerzahlung verweigern ; endlich gegen Mo8«-
lim felber, wenn fie fidy gegen die Imame auflehnen. &8 ift alfo zweifellos,
daß die Verbreitung des Islam vermittelft des Schwertes für ein verdienftliches
Merk galt und daß, wie ſchon weiter oben berührt wurde, Mohammed felbft
von feinen früheren toleranten Anftchten zu gewaltfamen überging. So
lange die jugendliche Erpanflufraft des Islam währte — und fie währte
Jahrhunderte hindurch — vollbrachte er vermittelft des Djehod gewaltige
Eroberungswunder, aber gerade dieſes rein äußerliche Verbreitungsmittel
zog den inneren Wurmfraß der moslemiſchen Welt groß. So iſt dem
Rauſch jugendlichen Fanatismus greifenhafte Erftarrung auf dem Fuße ge=
folgt. Sowie der Islam aufhörte, zu erobern, war im Grunde feine welt
gefchichtliche Rolle ausgeipielt. — Der gotteddienftliche Act der Reinigung
(Tehoret) ift offenbar nur die religiöfe Weihe gefundheitpoltzeilicher Vor⸗
fümmert wo und auf wen fie berunterfallen — und zwifchen all tiefem bunten Ge:
wimmel und Getöfe da und bort ein wanfendes, zulammenbrecdentes, zerlumptes
Menichenbild, leiſe betend und mit hohlen Augen umberblidend nad einem ruhigen
Winkel, um dafelbft, auf heiligem Boden, das lebte und höchſte Ziel zu erreichen,
ten Tod,
1) Sura 8, B. 39. In derfelben Sura läßt Mohammed Allah zu den Engeln
fagen: „Ich bin mit euch, ftärfet daher die Gläubigen; aber in die Herzen der Uns
gläubigen will ich Furcht bringen. Darum hauet ihnen die Köpfe ab und hauet ihnen
ab alle Enten ihrer Finger. Cs gefchieht dies deßhalb, weil fle Gott und feinem Ge:
fandten widerſtrebten.“
2) Sur. 9. Sur. 49.
208
ſchriften ). Der Moslem muß ſich reinigen (wachen) vor der Verrichtung
des Bebeted, vor Antritt der Wallfahrt, vor der Berührung bed Koran,
nad dem Beiſchlaf, nad Verrichtung der Nothdurft, nach dem Samenergußñ
im Schlafe, nach Berührung noch nicht erkalteter Leichname, nah Waſchung
von Leichnamen. Ebenſo die moslemiſche Frau nah dem Beiſchlaf, nach
der Menſtruation, nach dem Gebaͤren. — Wie bei dieſen Reinigungen, iſt
auch bei dem Gebot der Beſchneidung der Knaben, welche meiſt vom achten
bis zum zehnten Lebensjahr vorgenommen wird, das ſanitariſche Moment
vorwiegend. Die Opferidee, welche der jüdiſchen Beſchneidung zu Grunde
lag, iſt bei der moslemiſchen ganz in den Hintergrund getreten.
7.
Eine geſchloſſene Prieſterkaſte kennt der Jolam nicht, ja nicht einmal
ein Prieſterthum, ſofern dieſes auf einer eigenen Weihung beruht. E
bedarf keiner ſolchen, um zu den geiſtlichen Verrichtungen zugelaſſen zu wer⸗
den, und dieſe find eben auch nur ein Beruf, wie ein anderer. Das mos—
lemiſche Dogma anerkennt Feinen heiligen Geift und weiß daher auch von
feinem möyftiichen Fortpflanzen deffelben vermittelft der Priefterweihe. Mo⸗
hammed hat allerdings eine Theofratie geftiftet, infofern die höchſte geiftliche
und weltliche Macht bei feinen Stellvertretern, den Chalifen, war. Allein
das Papſtthum oder, wenn man will, der Rafaropapismus des Chalifats
hat befanntlich Feine dauernde Herrſchaft über die moslemifche Welt ſich zu
erhalten gewußt. Wir Fommen im zweitnächſten Kapitel auf diefen Punkt
zurüd und jagen bier nur, daß von der politifchen Zertheilung ded Mohanı=
medanerthums aud die religiöfe Oberhauptöfrage abhängig wurde. Die
große Mehrzahl der Sunniten verehrt in dem türfifhen Sultan (Padiſchah)
den den Ehalifen, das Oberhaupt des Glaubend und den Stellvertreter des
Propheten. Do if den Sunniten von Bez und Maroffo nicht der tür⸗
fifche,, fondern ihr eigener Sultan Glaubensoberhaupt, während bei den
Beduinenſtämmen der arabifchen, fyrifchen und afrifanifchen Wüften die Anne
erfennung eined ſolchen Oberhauptes, wenn überhaupt vorhanden, nur eine
nominelle iſt. Die Schiiten betrachten den Schah von Perſien ald Inhaber
des Chalifats. — gIm türftfchen Reiche gibt es eine Art Hierarchie, doch iſt
bie Gliederung derfelben eine ziemlich kofe. Das Organ, vermittrift deffen
3) Ueber das Gebot der Reinigung f. Kor. Sur. 4, B, AG; Sur. 8, V. 8—9.
109
ber Sultan die geiſtliche Sette.feines Machtnollkommenheit Ferhätigt, IR der
Großmufti, gewöhnlicher Scheich hl Islam (Heltefter Ted laubent
genannt), welchen man mit Unwenbung eines abendlaändiſchen Begriffes Cult⸗
miniſter titulieen Tann, Er tft Präſident der Verſiammlung der Ulema, zu
welcher, Rreng genommen, alle zur @eiftlichkeit und Gerichtapflege gehören⸗
den Perſonen zählen, Die aber allınälig Die Stellung eines kleineren Colle⸗
giums, einer Urt von Oberconfiftorium, eingensmmen bat, unter welchem
die Beiftlichen und Kischendiener höheren und niederen Ranges (Imame,
Khatibs, Sänger, Vorleier, Gebetausrufer u. I. w.) Raben, ſowie bie hack
Anleitung des Koran Recht fyrechenden Nichter (Radis), — Die Mönderei]
bat der Prophet nicht befohlen, ſondern cher quadrücklich verworfen). !
Dennoch Hat der Islam jeine Mönche, Derwiſche („ Armt .), welche bis
drei @elübbe ber Armuth, des Geharfams und Kry Keußbbeit ablegen und
theils ald wandernde Bettler (Fakire), teils unter der Zeitung von
Scheicha in Changahs oder Tekies (Klöſtern) leben, welche meift reich dotirt
find. Schon die erſten Chalifen ſollen, wie mönchiſche Legenden woellen,
Derwiſchvereine geſtiftet haben; geſchichtlich aber ſteht, unſeres Wiſſens, wur
feſt, daß erſt im 3. Jahrhundert der moslemiſchen Zeitrechnung die Möncherei
im Islam auffem, Bon da ab vermehrten ſich die moslemiſchen Mönchs⸗
orden raſch und ihre Geſchichte ift im Guten und Schlimmen fo ziemlid die
der hrifkligen. Auch Heilige Asketen (Santons) und Einſtedler (Ma-
rabuts) bat ter Islam. Sie fiehen bei ber Menge in großem Anſehen
und ihre Gräber werden oft zu Wallfohriöflätten. Natürlich iſt mit dem
Mönhsweien auch eine legendarifche Literatur großgeworden, die an Wun⸗
berbarfeit der chriſtlichen Nichts nachaibt.
8.
In den Blüthezeiten der moslemifchen Macht und Cultur bat ſich im
Morgenland und Abendland (Spanien) die arabifche Architektur in Ers
bauung graudioſer und zierlicher Moſcheen (Medschid) kunſtreich ſehen Jaſſen.
Immerhin aber entſprachen und entſprechen dieſe Tempel mit ihren anmuthig
geſchwungenen Kuppeln und ſchlanken Minarets dem ſtreng monotheiſtiſchen,
allem Mythologiſchen todfeindlichen Gottesbegriff des ISlam. Nie wurden
und werden im Innern Gemälde oder Statuen geduldet; Koranverſe in zier⸗
4) Sura 3, Gura 87.
wei
410
licher Goldſchrift waren und find der einzige Schmud ber nadten Wände.
Eine Kanzel für den Borlefer oder Prediger und Fußteppiche für die knieen⸗
ben Antächtigen find die einzigen Geräthfchaften. Im Borhofe der Moſchee
: fehlt nie der Springgquell, damit die gefegliche Reinigung vor dem Gebet
verrichtet werden fann. — GEbenſo einfach wie das Innere der Moicheen ift
der Borteödienft in denfelben. Wenn er nicht ein privatlicher, d. h. Das
Gebet Einzelner iR, fo befteht er in dem Bortrag von Abſchnitten aus dem
Koran dur den fungirenden Imam, welcher mitunter ter Vorlefung mora=
liſche Erörterungen und Ermahnungen beifügtl. So beionderd am Frei⸗
tag, dem Sabbath der Moslim, welder der „Tag der Berfammfung “
heißt, übrigens keineswegs fo fireng gefeiert wird wie der jüdtiche oter auch
nur mie der Sonntag der Chriften. — Der Islam hat auch feine heiligen
Seiten und_religiöjen Feſte. Unter den erſten find befonders zu erwähnen
die drei heiligen. Nächte, in welchen der Prophet empfangen, geboren und _in
den Himmel erhöht worden; unter biefen das Feſt des kleinen Beiram,
am Ende des Ramadan, der vier Tage lang währende modlemifche Carneval
mit feinen raufchenten Luſtbarkeiten, und der große oder Kurban Beiram
(Opferfeft) während des Pilgermonats. Bei Gelegenheit dieſes Feſtese,
welches ; zum "Andenfen an die beabfichtigte Opferung Iſaaks durch Abraham
gefeiert wird, werben eine Maſſe Rinter, Schafe und Ziegen geichlachtet,
deren Fleiſch man an die Armen vertheilt. Uebrigens richtet fi Die Wie-
derfehr diefer Feſte nach dem orientaliichen Mondjahr, und da dieſes gegen
das Sonnenjahr zu furz ift, jo fallen dabei jene finnigen Beziehungen der
Feſte anderer Religionen zum Naturleben ganz weg. Raſtloſes Losbrennen
von Echießgewehren aller Art, Beuerwerfe und buntefte Beleuchtung- ver
Mofcheen und Minarets find unerläßliche Bedingungen moslemiſchen Feſt⸗
jubels. Eine vorragende religiöſe Geremonie bei diefen Feſten ift das
„Bifr“, d. i. die Erwähnung des Namens Gottes 1). — Endlih erwähnen
— — — —— -
4) Abeken (a. a. O. 24) beſchreibt als Augenzeuge das Zikr fo: — Da ſtellen fid
eine groͤßere oder geringere Anzahl Menſchen, Derwiſche oder auch einfache Laien, in
einen Kreis, bald ſich bei den Haͤnden faſſend, bald vereinzelt; und waͤhrend zu dem
Klange eintoͤniger Muff Sänger, wie fle ſonſt auch bloß zur Unterhaltung des Volkes
dienen, religiöfe Hyınnen und Liebeslieder voll finnlicher Glut in den Worten und
myflifcher Bedeutung im Einne abfingen, reeitirt der Kreis bald die Glaubensformel
des Islam: Es ift fein Gott außer Bott und Mohammed if der Geſandte Gottes!
bald, weil auch diefe Worte noch zuviel find für den inneren Ueberſchwang, den ein:
|
|
|
411.
wir Hier noch, daß ber Jolam vom Meliquiendienft keineswegs ganz frei iſt.
Mantel, Bart und Fahne des Vropketen werden nämlich ale Heiligthümer
aufbewahrt und mit größter Wachſamkeit vor profanen Blicken gehuͤtet.
Alljaͤhrlich am 15. Tag des Ramadan bezeugt der Sultan dieſen Reliquien
feine Ehrfurdt. Außerdem iſt es religiöfer Brauch, bei großer Kriegsnoth
die heilige Fahne öffentlich auszuhängen, und ſtets noch hat der Anblid der⸗
felben feine fanatiftrende Wirkung auf die moslemiſche Volksmenge geübt.
Soweit freilich find Die Moslim im NHeliquiendienft nie gefommen, daß fie,
wie die Chriften thaten, das angebliche Praputiun ihres Propheten und die
angebliche Milch feiner Mutter abgöttifch verehrt hätten.
Fünftes Kapitel.
Die moslemiſche Sitten- und Rechtölehre.
1.
Wenn man die arabifche Breude am Yabuliren bedenkt und die heiß⸗
blütige Maͤrchenphantaſtik vieler Stellen im Koran , insbefontere die Schil⸗
derungen von Paradied und Hölle, ind Auge faßt, fo dürfte ed parabor
flingen, wenn wir lagen, der Islam jei die nüchternfte aller Religionen.
Eine nähere Betrachtung dieſes religidien Syſtems wird freilich den gethanen
Ausfpruch rechtfertigen. Denn wirklich der Jslam iſt, ob auch einzelne
feiner Dogmen mit dem ganzen Bauber phantaftevoller Arabeskenmalerei
umgeben feien, in feinem Kern und Weſen profatfch, vorwiegend praktiſch
und auf praftifche Ziele gerichtet. Da iſt feine Spur von jenem poetifchen
fachen Namen Gottes: Allah! Allah! immer wiederholend, unter wechſelnden Bies
gungen und Stredungen, Lie, wie Lie innere Aufregung ſich gewaltfam fleigert, oft zu
epileptifchen Zufällen werden und den Cindruck einer dämonifchen Raferei machen, in
welcher der Name Gottes kaum noch verftändlich, faft wie eine Blasphemie, aus dem
halberſtickten Gemurmel der heiferen Kehlen heraustönt und ten Hörer mit Enifeßen
erfüllt. Diefe Begeifterten find wie an eine höhere Macht dahingegeben,, fie wähnen
fich gleihfam von dem Namen Gottes in Befiß genommen und beherrfcht. Am allges
meinften ift die Theilnahme an diefen Zikrs wohl in den Ländern arabifcher Zunge,
während fie in der Türkei fih mehr auf die Derwilche zu befchränfen ſcheint.
418
Hau und Duft, welcher auf wealshriligen Masurrefigionen Legt und Deflen
das Chriſtenthum fo viel aus dem Heidenthum herübergenemmen bat. Eine
echte Zeugung des zeflestivenden Verſtandes, ſpraug der Zlam aus dem
Saupte des großen Mannes vom Stamme Koreiſch, der, weil er wußte,
daß das Rüchtern⸗Rationale der Menge vermittelſt bunter Rhetorik einge⸗
ſchaeichelt werden muß, die berübrten Arabedken um feine Lehrſätze ſchlang,
rhetoriſche Blumenguirlanden. Es iſt von Vedeutung, daß Mohammed ent-
ſchieden und zu wiederholten Malen erklärte, er ſei kein Dichter und wolle
beiner fein. Sein Werk war im der That vorwiegend Verſtandeswerk. Daher
:die kahle Broia des mosiemiigen Eultus, der Mangel des Zufammenhauss |
mit dem Naturleben, die Abweſenheit aller Naturſymbolik. Erſt ta, wo der
Ilam mit den religiöfen Anfchauungen eines Volkes arifcher Abkunft in
Wechſelbeziehung tritt, erft in Perſien fommt, wie wir im folgenden Kapitel
fehen werden, in feine theiftifche Starrheit ein beieelend pantheiftifcher
Hauch. In feiner Urfprüngficgkeit und Reinheit verrieth der Islam nicht
die geringfte Neigung zu philofophiicher Speculation. Beftimmt und bes
feblshaberi wie fen Symbolum trat er vor die Völker mit den Worten:
Glaubt mich und befolgt meine Borfchriften! Das reicht aus für dieſes und
jenes Leben. — Es ift auch wahr, der Koran hat fürforglich das Dieffeits
and Jenſeits in den Kreis feiner Lehren gezogen und dad Daftin des Mos—⸗
tem in einer Weiſe geregelt, die einem gläubigen Gemüth vellfommen genü-
gen kann. Mit leichter Mühe lieh ſich deßhalb auf koraniſcher Grundlage
ein vollſtaͤndiges Gebäude moskemiſcher Sitten» und Rechtslehre aufführen,
das wir im Folgenden wenigflens in feinen Haupttheilen muftern wollen,
indem wir aus dem PBoltzeigefeg, aus dem Bürgerlichen Recht umd aus dem
Gtrafrecht die wichtigften Beſtimmungen anführen.
2.
In den Bereich der Geſundheitspolizei fällt die Adoption des mofai-
ſchen Verbote, Schweinefleiſch zu effen, da dieſe fette Speife in heißen
Klimaten leicht Krankheiten veraulaffe. Aus dem gleichen Srunde ift auf
ber Genuß des Fleiſches Erepirter Thiere umterfagt. Mitualer Natur da
gegen ifl dad Verbot, dat Fleiſch von Thieren zu effen, bei deren Schlad-
tung die Nennung des Namens Allah's unterlaffen worden. Ethiſche Bes
deutung hat die Unterfagung des Trinfens von Wein, an welche fich freilich
bie „Aufgefläten* unter den Moslim zu Feiner Zeit fehr gekehrt Haben,
418
Als Belofmuing vieſſritiger Enthaltſumkleit von Geramfchenten Gerraͤnken wird
ben Soligen im Jenfeits das Kredenzen einer Art von Wein in Kunst
geſtellt, welchen nicht berauſcht. Mit dem Verbot des Weins Mt ang
verbunden das ber Glückoſpiele um der aberglaͤnbiſchen Rontbefengung und
Zeichendeuiung 1).
3.
Auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechtes find zumächfl Die Ehrgefege
vorragend. Hier tft aber bie wunde Stelle des Islam. Geb es, daß Mo-
Hammeb Aberhaupt ſich fcheute, der tiefeingewurzelten orientaliſchen Gewohn⸗
beit der Bielweiberei entgegenzutreten, fei ed, daß fein perſönlicher Wollufl-
bang ibm die Gefahr eines folchen Verſuchs in vergrößerten Muaßſtab erſchei⸗
nen ließ, genug, er konnte fih zu tem reinen Begriff dee Ehe, zur
Menegamie nicht erheben. Mit Geflattung der Polygamie waren alle bie
unberechenbaren fittlicden Schäven janetionirt, welche in feßer Geſellſchaft
wuchern, wo die fefte Grundlage aller Kultur, die Heiligkelt der Familie, in
polygamiſche Zerfahrenheit ſich auflöſt. Trotzdem muß zugeflanden werben,
daß durch die Beitimmungen ded Koran über die ohelidten Berhältniffe die
Stellung der Frauen im Orlent wenigftend einige Verbeſſerung schiekt,
indem der maßlofen Willkür des Mißbrauchs der Frau von Selten bed
Mannes doch einige Schranken gefrgt wurden — Die moslemiſche Ehe if
ein Vertrag, welder bie eheliche Beiwohnung zum Bwede bat. Es wurd
unterfthieden 1) die beſtaͤndige Ehe, 2) die geltweilige Ehe (meldde übrigens
nur bei den Schiiten Geltung hat) und 3) die Ehe mir Sklavinnen. Im
Allgemeinen gilt die Borfchrift, dab der Moclem vier rechtmäßige Frauen
haben dürfe („befländige @de*) und außerdem Sklavinnen zu Beiichläferie-
nen nad Luft und Vermögen („zeitiweilige Ehe") Hat ihm aber eine Dex
legtern ein Kind gebowen, fo darf er fie weder verkaufen noch verſtoßen, es
fei denn, daß fle des Ehebruch8 überwieien würde. Bei Eingehung der Ehe
muß die Braut von guter Herkunft (d. h. nicht unehelich geboren) und von
4) ©. beſ. Kor. Sur. 2, 5, 6. In Betreff des zuletzt erwähnten Verdores heißt
es in der 5. Sura nachdrücktich: — O ihr Gläubigen, wahrlich ver Wein, das Spiel
nnd Looswerfen iR verabfchenungemiärbig und ein Werk tus Gatans; vermwihe fie,
auf daß es euch twohlergehe. Durch Wein und Spiel will der Satan nur Feindfſchaft
und Haß unter euch Miften ımd euch vom Denen an Con und von der Verrichtung
bes Gebeis abbringen.
44
tadellofem Wandel, ferner mannbar und jungfeäulih fein (d. h. falls bie
Ehe nicht mit einer Wittwe oder einer geſchiedenen Frau geſchloſſen wird).
Nicht nur die Zuſtimmung bed Vaters oder des ſtellvertretenden Verwandten,
fondern aud die der Braut muß eingeholt werden. Die befläntige Ehe it
dem Moslem nur mit moslemifchen Frauen, die zeitweilige auch mit hrife
lichen und jüdiihen gefattet 1). Ehehinderniſſe find insbefondere nahe
Blutöverwandtidaft, Verwandtihaft dur die Amme, Schwäͤgerſchaft,
Schonvorhandenſein der geieglichen vier Brauen, Nichtbefig der Geiſteskraͤfit
und gewifle körperliche Mängel, die dem Bwed ber ehelichen Verbindung
widerfpredgen. Der Koran geht biebei in fehr fpeziell phyñologiſche Vor ⸗
ſchrifien ein und regelt auch das eheliche Leben bis ind Einzelnfle. Den
Brauen insbejondere wird, ein fittfames, zuͤchtiges und ſchamhaftes Betragen
nahdrudiam eingejhärft: nie follen fie fi völlig nadt erbliden laſſen, ſelbſt
von ihrem Gatten nicht, nie Gefiht und Bufen einem fremden Wanne ent
blößt zeigen und alle Bewegungen und @eberden vermeiden, weldye ihre ver-
borgenen Reize enthüllen fönnten 2). Der Abſchluß der Ehe erhält durch
Verrichtung religiöjer Bräude, namentlich durch Reinigungen und @ebktt,
die religiöfe Weihe. Unerläßlicy if ed, dag Bräutigam und Braut, wenn
fie ſich zur erfien Umarmung anıhiden, auerufen: Bismallah, d. i. im Re
men Gotteö! ein Ausruf, den der wahre Modlem überhaupt von der Wirge |
bis zum Grabe myriadenhaft gebraudt und ohne den er weder das Bröfte
noch das Kleinfte vornimmt. Hat der Moslem nur eine Brau, fo ie
verpflichtet, je die vierte Nacht bei ihr zugubringen ; hat er vier Frauen, jo
muß er bei jeder derjelben von vier Nächten eine zubringen. _ Die Frau
fann jedoch den Mann von diejer Verpflichtung entbinden oder auch die ihr
gehörige Nacht einer Mirfrau abtreten. Streng geboten ift hinſichtlich du
Leiſtung der ehelichen Pflicht von Seiten des Mannes, daß er mit feiner
rechtmaͤßigen Frau oder mit jeder feiner rechtmäßigen alle vier Monate ein
AM Die 8. Sara Ratwirt gar feinen Unterfchied zwiſchen der @he mit moslemiſcha
Frauen. Es heißt da: — Auch iſt es eudy erlaubt, m
big find, und auch freie Frauen von Denen, welde die
Guden und Chriſten), wenn ihr ihnen ihre Morgen
em lebet und fie nicht zu Epebrecherinnen und Beifchläie
eiblicher Wohlanfändigfeit. legt ausführlich dar dk
415
Mal den Beifhlaf vollziehe.. Ausdrüdlic wird befohlen, vor jeder ehelichen
Beimohnung die Seele zu weihen (durch Gebet oder Almojen 3)). Der
anın muß der Braut eine Morgengabe geben — offenbar eine Milderung
Des alten Weiberfaufeds — und hat vor Entrichtung derfelben Fein Recht
auf Die ebeliche Zärtlichkeit der Frau. Der Gatte ift verpflichtet, die Oattin
zu ernähren unt ihr Wohnung und Kleidung zu geben. Er darf fie nicht
Ihlagen. Er hat dagegen das Nutnießungsredht an dem ganzen Vermögen
Der Frau und dieje darf ohne feine Einwilligung feine Berbindtichfeit ein-
chen, feinen Vertrag abfchliegen. Im Ganzen blickt aus den moslemiſchen
Ehevorſchriften, ſo weiten Spielraum fie dem Naturtrieb laſſen, doch das
Beſtreben hervor, Maßloſigkeiten zu verhüten. Gegen die Hurerei hat der
Prophet mit ſehr ſtrengen Worten geeifert?). Er ließ es ſich, wie der Koran
bezeugt, auch angelegen fein, das Loos der Frauen möglichft ficher zu ftellen.
Zwar heißt e8 in der 2. Sura V. 320 ganz nad) moſaiſchem Vorgange:
oe Die Männer follen der Weiber Herren fein“! Doc zugleich auch, nadıdem
den Frauen Pflichterfüllung eingefchärft worden: „Die Männer müſſen ſich
gegen die Weiber nad Gerechtigfeit bezeigen*. Die Eheicyeidung iſt zwar
zunähft ganz der Willfür des Mannes anheimgegeben, indeſſen hat das mos⸗
Lenrijce Recht diefe Willfür doch fo fehr mit Elaufeln eingehegt, daß bie
Braun fo ziemlih vor Unbilligfeit geihügt if. Bei einer Scheidung muß
Der Dann der geichiedenen Brau ihr beigebrachtes Vermögen herauägeben
/ Sit Re kann ſich, nach Ablauf einer gewiſſen Friſt, wieder verheiraten.
Her Fender aus der getrennten Ehe vorhanden, fo bleiben nad funnitifchem
te Söhne bis zur Beihneidung, die Töchter bis zum Eintritt der
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Men .
) Kinn Mation bei Der Mutter; nach jchiltiichem dagegen bleiben fänmtliche
— u mM [ uw
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en Der moßlemifchen Ehegefege nicht weiter befaflen, aber wir
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3 Fo 2, DB. 224. Die Worte im nämlihen Bers: „Die Weiber find euer
fen e in euswer Ader auf welche Weile ihr wollt" — haben zu ffandalöfen
fagen elle Vaantaflung gegeben, indem einige Erklärer behaupteten, nach dieſer
Ä Rein, 705, U es erlaubt, auf widernatürlihe Art der Frau beijuwohnen. Untere
4) 8, iq Mmmed BHcabe dicen Ausiprudy nur geihan zur Entkräftung der jüdifchen
Sure, Gin, BSeiſci fa Fa parte postica würden gefundere und begabiere Kinder erzeugt.
fen, CU [, Pure 2235 D einen Hure follt ihr mit hundert Streihen geißeln! Der
v. 1_, Toy Konzexre 35rau ald nur eine Hure oder eine Gögendienerin heiraten und
N eisze ma -Dauurer ober Goͤtzendiener zum Dannı nehmen türfen, Sur. 24,
j
deln Pool Giedener Gatten bei den Vater. — Wir dürfen und hier mit den
x
als
konnen verfichern, daß ſchon ein fluͤchtiger Ueberblick derſelben genͤgk, um
Die gaͤng und gäbe Meinung zu widerlegen, die modlemiſche Frau jet eben
gar Nichts als ein Mittel männlicher Lufbefriedigung, als ein Kinder-
erzeugungs inſtrument. Freilich if damit noch lange nicht gefagt, daß der
Islam dem Weibe die ihm gebührende ſoziale Stellung einräune. Der
Grundfag der Polygamie verwehrt Died und Hammer⸗Purgſtall hat in feiner
Charakteriſtrung des Berbälmtfied von Mann und Frau in modlemifchen
Ländern ebenſo wahr als fein darauf hingewieſen, daf die moslemtichen
Sprachen das Wert „Haußfran“ nicht kennen). In der Zirrfet bat
jedoch neueflend das Findringen abenbländiicher Caltur der Bielweiberei bes
beutenden Abbruch gerhan. Anch ift dort der Handel mit weißen und fogar
mit fhwargen Sflaninnen verboten worden,
4.
Ein großes bürgerliche Verdienſt erwarb fi Mehammed durch feine
Reform des arabiſchen Erbrechtes. Die Srundfäge, welche der Koran in
dDiefer Beziehung aufftellte, zeugen Aberall von Vernunft und Billigkeit und
es fommt Ieptere namentlich auch Ben Frauen zu gut. Die Formen teſta⸗
mensarifcher Berfügung find genau geregelt, Ebene umſichtig und zugleich
human erweiien fi die Vorſchriften des moblemiſchen Nechtes in Betreff der
Sigenthuunsvenhäliniffe, weiter die Befkimmungen uber Kandel und Wandel,
Kauf und Verkauf, Schuldenmeſen, Miethverträge, Pfandweſen und gericht
liches Beufahzen in Civilſachen. Der oberſto Rechtoſatz im modleniichen
Prozeß iſt: bei allen Handlungen ver Modlim wird flet# die gute Abficht
3) Der Stufengrad, auf welchem das Weib als Frau, Gemahlin, Beiichläferin
fieht, wird in den vorderafiatifchen Sprachen, wie in den europäifen, zwar Far abge:
ftyattet, aber feine der erſteren hat in Wort für die eigentliche Hausfrau, fondern nur
für den Hausherren, welchen der Perfer Ketchoda, d. i. Gadenherr nennt, woraus das
vertihe „Satte* entkanden. Bel den Übrigen Benennungen ter Verhältnifie des
Weibes zuin Manne liegt der Begriff abgefonderter Eingeſchloffenheit oder eines Ge:
maches zmm Grande. Das arabifche Wort „Harem“, irrig in Europa für gleichbe:
deutend mit Lottergemach gehaften, bezeichnet den Begriff unantaſtbaren Cigenthums;
des Perſers „Schebiſtan“ bedeutet das Racht⸗ oder Schlafgemach, und des Türken
„Odalik“ ſteht zunaͤchſt dem deuiſchen Frauenzimmer. Der Morgenlaͤnder betrachtet
alfo die Weiber in der gewoͤhnlichen Bezichung nicht als Perſonen, aber auch nicht als
Sachen, fondern als einen abgefchloflenen, für Fremde unantaflbaren Raum der Luft,
als ein Gemach, wie auch das deutfche „Gemachel oder „Gemahl“ aueweiſet. Geſch.
d. osman. Reiches, III, 213.
47°
(bona fides) vorausgeſetzt. Geſtändniß, Zeugenausfagen und Eid find bie
brei Beweismittel. „Dem Kläger die Zeugen, dem Bellagten der Eid“ —
ift mo8lemifche Nechtöregel. Einen Dunkeln Fleck bildet im Rechtscoder des
Idlam das Kapitel som Sflavenrecht, obgleich, wie ſchon früher bemerkt
worden, der Modlem feine Sklaven durchfchnittlich viel milder behandelt als
der amerifanifche Pflanzer. Sind dod in den moslemifchen Staaten von
jeher und in zahlreichen Fällen Sklaven zu den höchſten Würden emporge-
fliegen und fogar Eidame von Sultanen geworden. Streng genommen
dürfen nur im Kriege mit Ungläubigen gemadjte Gefangene in das Sklaven⸗
verhältniß treten, allein dermaten gibt es in allen mosfemifchen Ländern
weiße und mehr noch ſchwarze Sklaven und Sklavinnen, weldhe nicht durch
Krieg, fondern durch Raub und Kauf in die @ewalt ihrer ‚Herren gefommen
find. Breilaflung findet flatt gegen Entihädigung oder durch ben freien
Willen des Herrn bei feinen Lebzeiten oder durch teftamentarifche Verfügung
bei jeinem Tode. Die Freigebung eines Sklaven ift eine gottgefällige Hand»
lung, aber Rectgläubigkeit, d. i. Bekenntniß des Islam von Seiten des
Sflaven, ift unerläßliche Bedingung derfelben. Eine Sklavin, die ihrem
Herrn ein Kind geboren, erhält zwar dadurd noch nicht das Hecht auf Frei⸗
laflung, aber fie wird nach dem Tode des Herrn in das Erbtheil ihres Kin-
des eingerechnet und erlangt dadurch die Freiheit.
5.
Criminalſtrafen konnen (ſollen) bloß verhängt werden gegen Solche,
die bei Begehung des Verbrechens volljährig und im vollen Beſttz ihrer
Verſtandeskraͤfte geweſen find. An Weibern dürfen überhaupt Feine Stra⸗
fen vollzogen werden, wenn ſie im Zuſtand der Menſtruation oder der
Schwangerſchaft find oder fo lange fle ihr Kind an der Bruft nähren. Gül⸗
tige Beweismittel tm Strafprozeß find nur Geftändniffe oder Zeugenausſa⸗
gen. Auf Teichteren Vergehen fteht Forverliche Züchtigung (Peitfchenhiebe
auf Rüden und Schultern, djeld), auf Sapitalverbrechen die Todesftrafe, ge⸗
wöhnlich vermittelft des Schwerte oder des Galgens vollzogen (ketl). Jede
Strafe ift öffentlich zu vollziehen. Die fpätere Sriminalpraris hat jedoch
die mildere Straftbeorie, wie fle im Koran dargelegt ift, vielfach verfchärft.
Bon einzelnen Verbrechen und Beftrafungen heben wir hervor: die Verleum⸗
dung, welde mit 80 Beitichenhieben beftraft wird; Die Trunfenheit, welde
ber gleichen Strafe unterliegt; den Diebflapl, welder nah Verhaͤltniß mit
Scherr, Gef. d. Religion. II. 27
418
Verſtummelung an Hand und Fiß oder mit Tebenslänglicher Einſperrung nes
fähnt werden muß ; die Kuppelei, auf welcher 75, den widernatärlichen Umgang
yon Weibern unter einander, äuf welchem 100, die Päveraftie zwifthen Mitt
Verjährigen, auf welcher ebenfalls 100 Peitſchenhlebe ſtehen. Die. Strafe
der Päderaftie zwifchen Volljaͤhrigen ift der Tod. Auf Abfall vom Glauben,
auf Raubmord, Nothzucht, Blutfchande ſteht ebenfalls der Tod. Der Ehe:
bruch wird, wenn feine Berfhärfungsgrane vorliegen, bei beiden Geſchlech⸗
stern mit 100 Peitſchenhieben, bei erſchwerenden Udfländen mit dem Xpde
Beftraft 2). Die ehebrecheriſche Sklavin kommt mit 50 Peitſchenhteben weg.
Der Ehebruc eines Unglaͤubigen mit einer moslemiſchen Iran hat ſtets die
Strafe des Ketl zur Folge. Ausdrücklich ift im moslemiſchen Geſetz das
Recht der Blutrache anerkannt. Wer einen Mord oder Todtſchlag verhßt,
iR mit feiner Berfon den Angehörigen des Getödteten verantwortlih. Die
Berfon oder die Berfonen, welchen das Recht der Blutrache zufteht, Tann
oder können aber auf Bollziehung berfelben verzichten und ſich mit einem
Sühnegeld (Weergeld) abfinden laſſen. Mit den Rückfällen nimmt es dad
moblemiſche Recht fehr fireng. Wer ſchon dreimal beſtraft worden iſt, er-
leidet beim vierten Vergehen ſchlechterdings die Todesſtrafe.
Sechſtes Kapitel. ,
Zur Geſchichte des Islam.
1.
Nach des Propheten Hingang wurde offenbar, daß ber Islam noch
keineswegs unerſchütterlich daſftand auf dem Wuͤſtenſand Arabiens. ALS
4) Um die Thalfrage Bes Chebruchs zu beſahen, find, A Falle Ya’ Gefl aont̃
vorliegt, vier männliche Zengen von untadelhaften Wandel oder drei maännliche umd
zwei weibliche Zeugen erforderlih, — wie man ſieht, eine fchwierige Beweisführung.
Der Koran fagt in der 4. Sura in Betreff des Chebruchs der Frauen: — Wenn eure
Frauen ſich durch Chebruch vergehen und vier Zeugen aus eurer Mitte bezeugen dies,
fo kerkert ſie (die Schuidigen) in turem Haufe ein, Bis der Tod fe befreit Oder Bott
ihnen fork ein Beftetungkinilel dmori,
118
micht Mehr die anerkannte Autorität eitteß genialen Mannes oͤppoſitionelle
Negungen niederhielt, traten dieſe alsbald herbor. "Bad unbaͤndige Frei⸗
heitbgefuͤhl der Beduinen fand das Joch deß neuen Glnubens zu ſchwer.
Das Gebot firetigen Faſtens und allzuhäufigen Betens, wie das Verbot bed
Wilhes, machke die Söhne der Wüfte mit Sehnſucht nah den Tareren Ord⸗
hungen des urväterlichen Glaubens zurückblicken. Politiſche Motive mehrten
die Unzufriedenheit. Die einzelnen Stäunne fühften ſich unbrhaglich in dem
Verband eines wenn auch immer noch Ioderen Staatöwefens. Insbefondere
rührten fih Die Koretfchiten wieder, denn fle hatten die Einbuße ihrer
domintrenten Stellung unter den arabiſchen Stämmen nöd nicht vers
ſchmerzt, und verriethen die Abſicht, ſich ber Berrſchaft ded Chalifats
miicht zu fügen. Bi dieſen Mißlichkeiten kam noch das haͤßliche Zerwürfniß
An Ver Familie des hingegangenen Propheten, ein Befwärftiß, welchts, wie
wir üben (Ray. 3, 6) fahen, Die dogmatiſche und politifihe Geſtaltung ver
moslemifhen Welt beeinflußte. Indeſſen waren die Gefährten Möhammebs
Männer, die bei Fortführung feines Werkes vor Widerwärtigfeiten und
Hinderniffen nicht zurüdichraden. Wie bedrohlich die Umflände fein moch⸗
. ten, Alles, was Arabien an heißem Glaubenseifer, Begeifterung für eine
große Idee, ichlauer Politik und sodverachtender Kuͤhnheit beſaß, ſtand doch
auf der Seite des Wlam und fo wußte Abu Bekr feinem Chalifat bald Ach⸗
tung zu verfchaffen. Die meuteriſchen Koreiſchiten wurden durch Gewähe
tung von allerlei Vortheilen gewonnen, die bereinzefteh Aufftände anderer
Stämme mit Energie niedergefchlagen. Aber das genügte dem Chalifen
und den Häuptlingen feines Raihes nicht. Diefe Männer erfannten, daß
durd den Islam das arabifcge Wefen in feinen Tiefen aufgewühlt worden
fet, daß der neue Glaube ein Element der Bewegung in das Volk gebracht
habe, welchem, wenn es wicht Unheil feiften folkte, ein neues und weites Feld
der TIhätigkeit angewtefen iverden müßte. Man Betonte daher mit Entſchie⸗
denheit das Gebot des Islam, die Ungläubigen zu bekehren oder wenigftend
der Herrfchaft der Moslim zu unterwerfen, und eröffnete durch Aufpflanzung
der Fahne des „Heiligen Krieges * der arabiichen Kriegs⸗ und Beuteluſt ein
unermeßliches Gebiet. Auf der Bahn der Eroberung flürzte ſich Arabien
mit wilder Thatkraft in die Weltgeſchichte. Als eine neue geſchichtliche
Nacht erhob fi der Islam und begann das Antlig des Morgenlandes um⸗
zuwandeln. Das euer, welches in Der Abgeſchloſſenheit der arabiſchen
Halbinfel angezündet worden, ging flammend und’freffend durch die orien«
27*
420
talifche Welt, Heil und heiß auf in den Sübweflen des Occidents herüber-
fchlagend. „Das Baradies ift nor euch, Tod und böllifches Feuer hinter
euh!* Das war der Auf, womit moslemiſche Heerführer ihr jugendkraͤf⸗
tiged Bolt auf altersihwade Völker ſchleuderten. Schaar auf Schaar, den
Koran in der einen, Schwert und Brandfadel in der andern Hand, brach
aus den arabifhen Steppen hervor. Bor ihnen her ging ein Schredien des
Unerhörten, gleich der lähmenden Macht einer ungeheuren Naturkataftrophe?).
2.
Es ift nicht unferes Amtes, den moelemiſchen Eroberern auf ihren
Wegen nahzugehen. Wir bezeichnen die Richtung derſelben nur von ferne
und verweilen den Lefer hinſichtlich der politiichen Schickſale des Islam auf
4) Ein deutſcher Dichter, Julius Moſen, in feinem lange nicht nach Verdienſt
gefchägten „Ahasver“, Hat die Erhebung des Islam mit unvergleichlidher Gnergie
geſchildert: —
Hörft du den Samum aus der Wuͤſte braufen ?
Staubfäulen fehreiten riefenhaft voraus,
Die gleich den Rreifeln in ſich felber faufen.
Hoͤrſt du das Land von taufend Roſſen flampfen,
Das Berge beben? Oder will zu Staub
In Rauch und Wirbel ſich die Welt verdbampfen ?
Mer hält den Halbmond auf in feinen Bahnen?
Wild lechzen unter feinem Zeichen auf
Zum heißen Himmel blutigrothe Fahnen.
Da fprengt einher, da naht mit Ungewittern
Das Schreden Gottes, des Propheten Heer
Mit Donnerruf, daß alle Herzen zittern.
Allah iſt groß! Bewaltig das Berhängniß,
Das Schwert ein Schlüffel zu dem Paradies ;
Erfenntniß ſprengt der Meufchheit das Gefaͤngniß!
Allah ift groß, fo weit fein Odem wehet,
Mohammed fein Prophet, foweit im AU
Die Sonne leuchtet und der Halbmond gehet !
Allah ift groß! Sein Reich ift zu erflreiten!
Der Moslem flürzt duch Blut und Tod hinein
Auffauchzend in das Meer der Seligfeiten.
Allah ift groß! Wer ift, der feiner ſpotte?
Ihr Sögendiener, Heuchler, wehe euch !
Der Moslem kommt, — am Boden heult die Rotte.. . .
— - — — — — uw
— — — — — —
Aal
Weils Ehalifengefchichte und Hammerd Osmanengefchichte. Uebrigend Fennt
ja jeder Schulfnabe die Geichichte des Mohammedanerthums, wenigftens in
ihren Umrifjen. — Das byzantiniſche Griechenthum hatte in Syrien den
erften Anprall der Streiter ded Islam auszuhalten und hielt ihn fchlecht ges
nug aus. Syrien und Paldftina wurden von den Moslim erobert, welche
jofort im Sturmlauf durch die mefopotamische Ebene nach Perſten vordran⸗
gen und nad blutigen Kämpfen in der Entſcheidungsſchlacht bei Kadefta die
Macht des Tegten Königs der Ormuzdreligion von Iran vernichteten (634
n. Chr.). Und wie über das Zend-Avefta, fo triumphirte ber Koran, von
feinen Befennern über den Indus getragen, auch über die Beda’8'). Ganz
Aften von den phönikiſchen Geftaden bis zum Ganges gehorchte dem Cha⸗
lifenfchwert, welches fich mit jchwerer Wucht von Syrien aus auch auf
Aegypten legte und ſich von da meiter und weiter die Nordfüfte Afrika’s
entlangſtreckte. Tarik trug e8 zu Anfang des 8. Jahrhunderts chriftlicher
Zeitrehnung über die Meerenge von Gibraltar, und nachdem bei Xeres de
la Brontera die Weftgothen ihm erlegen, überflutete der moslemijche Erobe«
rungäftrom ganz Spanten. Er brandete fogar nordwärt3 über den Granit-
wall der Pyrenaͤen hinaus, aber bei Tours und Poitiers ftellte ihm germa-
niſche Tapferkeit einen Damm entgegen, der den wüthenden Strom zurück—
fluten machte (732).
Während fo im Abendland die Macht tes Islam auf Spanien bes
ſchränkt wurde, hatten Inzwijchen im DMorgenland Moslim ihr Schwert gegen
Moslim gekehrt. Nachdem die beiden Nachfolger des erften Chalifen, Omar
und Othman, meuchlerijch ermortet worden, fehlen des Propheten Schwies
gerfohn Alt endlich zu feinem Rechte zu gelangen. Er wurde in Medina
zum Chalifen auögerufen, allein fein Beind Moawijah aus dem’ mächtigen
Haufe Omeljah, Statthalter von Syrien, erhob gegen ihn die Fahne der
Empörung. Bergebens erwies Ali in ſchrecklichen Schlachten feine edle
Heldennatur. Er erlag dem Dold eines Meuchlerd (660), feine Familie
ging unter und das Chalifat kam an die Omeijahden, unter welchen die
Moslim gegen Kleinaften, fowie gegen tie Infeln des ägäifchen und mittel«
ländifchen Meeres Groberungszüge machten. Schon jegt wurde auch Kon⸗
ftantinopel von ihnen beſtürmt, aber erft weit fpäter, unter den türfilch«
— — — — —
4) Aber nur poliifh. Während die ſproͤde Ormuzdreligion unter den Schlägen
des moslemifchen Schwertes in Splitter ging, vermochte diefes Schwert bie elaftifche
Zaͤhigkeit des Brahmanenthums nicht zu überwinden.
414
tabellofem Wandel, ferner mannbar und jungfraͤulich fein (d. h. falls die
She nit mit einer Wittwe oder einer geſchiedenen Frau geichlofien wird).
Nicht nur die Zuftimmung des Vaters oder des flellvertretenden Verwandten,
ſondern audy die der Braut muB eingeholt werden. Die befläntige Ehe ift
dem Moslem nur mit moslemiſchen Frauen, die zeitweilige auch mit chrifl-
lihen und jüdiichen geftattet 3). Ehehindernifie find insbeſondere nabe
Dlutsverwandtihaft, Verwandtfhaft durh die Amme, Schwägerichaft,
Schonvorhandenſein der geieglichen vier Frauen, Nictbefig der @eiftesfräfte
und gewifle körperliche Mängel, die dem Zwed der ehelichen Verbindung
widerfprechen. Der Koran gebt hiebei in jehr fpeziell phyilologiiche Bor-
ſchriften ein und regelt auch das eheliche Leben bis ind Einzelnfle. Den |
Srauen insbeſondere wird ein fittfames, züchtiges und ſchamhaftes Betragen
nahdrudiam eingeichärft: nie follen fie fi völlig nadt erbliden laſſen, ſelbſt
von ihrem Gatten nit, nie Gefidht und Buſen einem fremden Manne ent
blößt zeigen und alle Bewegungen und Geberden vermeiden, welche ihre ver-
borgenen Reize enthüllen könnten2). Der Abſchluß der Ehe erhält durch
Berrichtung religiöjer Bräuche, namentlih durch Meinigungen und Gebete,
die religiöfe Weihe. Inerläplich ift ed, dag Bräutigam und Braut, wenn
fie ſich zur erſten Umarmung anıdiden, aufrufen: Bismallah, d. i. im Na-
men Gotted | ein Ausruf, den ber wahre Moslem überhaupt von der Wiege
bis zum Grabe myriadenhaft gebraucht und ohne den er weder das Größte
noch das Kleinfte vornimmt. Hat der Moslen nur eine Frau, ſo iſt er
verpflichtet, je die vierte Nacht bei ihr zugubringen ; hat er vier rauen, fo
muß er bei jeder derſelben von vier Nächten eine zubringen. _Die Frau
fann jedoch den Mann von diejer Verpflichtung entbinden oder aud) Die ihr
gehörige Nacht einer Mitfrau abtreten. Streng geboten ift hinfichtlidy der
Zeiftung der ehelichen Pflicht von Seiten ded Mannes, daß er mit feiner
rechtmäßigen Frau oder mit jeder feiner rechtmäßigen alle vier Monate ein
— — —
1) Die 5. Sura ſtatuirt gar keinen Unterſchied zwiſchen der Che mit moslemiſchen
oder juͤdiſchen und chriſtlichen Frauen. Es heißt da: — Auch iſt es euch erlaubt, u
heiraten freie Frauen, die gläubig find, und auch freie Frauen von Denen, weldye bie
Schrift vor euch erhalten haben (Juden und Chriſten), wenn ihr ihnen ihre Morgens
gabe gebet und züchtig mit ihnen lebet und fie nicht. zu Ehebrecheringen und Beifchläfe:
rinnen machet.
2) Die Vorſchriften weiblicher Wohlanfläudigfeit. legt ausführlich dar die
24. Sura,
415
Mal den Beiſchlaf vollziehe. Ausdrücklich wird befohlen, vor jeder ehelichen
Beimohnung die Seele zu weihen (durch Gebet oder Almojen ?)). Der
Mann muß der Braut eine Morgengabe geben — offenbar eine Milderung
des alten Weiberkaufes — und hat vor Entridhtung derjelben Fein Recht
auf die eheliche Zärtlichkeit der Frau. Der Gatte ift verpflichtet, die Gattin
zu ernähren und ihr Wohnung und Kleidung zu geben. Er darf fie nicht
ihlagen. Er hat dagegen dad Nugnießungdreht an dem ganzen Vermögen
der Frau und diefe darf ohne feine Einwilligung Feine DVerbindtichfeit ein-
geben, feinen Vertrag abichliegen, Im Ganzen blickt aus den moslemiſchen
Ehevorſchriften, fo weiten Spielraum fie dem Naturtrieb laflen, doch das
Beftreben hervor, Maßlofigfeiten zu verhüten. Gegen die Hurerei hat der
Prophet mit jehr ftrengen Worten geeifert*). Er ließ es fich, wie der Koran
bezeugt, auch angelegen fein, das Loos der Frauen möglichft ficher zu ftellen.
Zwar heißt e8 in der 2. Sura V. 320 ganz nad mofaiihem Vorgange:
„Die Männer jollen der Weiber Herren fein“! Doch zugleich auch, nachdem
den Frauen Pflichterfüllung eingefchärft worden: „Die Männer müflen fi
gegen die Weiber nad) Gerechtigfeit bezeigen*. Die Eheſcheidung tft zwar
zunächſt ganz der Willfür des Mannes anheimgegeben, indeflen hat das mos⸗
lemiſche Recht diefe Willfür doch fo jehr mit Blaufeln eingehegt, daß die
Brau To ziemlih vor Unbilligkeit geſchützt iſt. Bei einer Scheidung muß
der Dann der geſchiedenen Frau ihr beigebracdhtes Vermögen herausgeben
und fie kann fih, nad Ablauf einer gewiflen Frift, wieder verbeiraten.
Sind Kinder au der getrennten Ehe vorhanden, fo bleiben nadı funnitiichem
Recht die Söhne bis zur Beſchneidung, die Töchter bis zum Eintritt ber
Menftruation bei der Mutter; nad ſchiitiſchem dagegen bleiben fänmtliche
Kinder geichiedener Gatten bei dem Vater. — Wir dürfen uns bier mit den.
Einzelnheiten der moslemijchen Ehegejege nicht weiter befuflen, aber wir
3) Sur. 2, B. 224. Die Worte im nämlihen Bers: „Die Weiber find euer
Acker; kommet in euren Ader auf welche Weife ihr wollt“ — haben zu ffandalöfen
Gontroverfen Beranlaflung gegeben, indem einige Grklärer behaupteten, nach diefer
Koranſtelle fei es erlaubt, auf widernatürlihe Art der Frau beizuwohnen. Untere
fagen, Mohammed habe diefen Ausſpruch nur geihan zur Entkräftung der jüdifchen
Meinung, im Beiſchlaf a parte postica würden gefundere und begabtere Kinder erzeugt.
4) Kine Hure und einen Hurer follt ihr mit hundert Streichen geißeln! Der
Hurer fol feine andere Frau ald nur eine Hure oder eine Gögendienerin heiraten und
eine Hure foll nur einen Qurer oder Gögeudiener zum Dann nehmen türfen. Sur. 24,
B. 1—2,
\
418
tönten verſtichern, daß ſchon ein Rüdhtiger Ueberblick derſelben genäigt, um
Die güng und gäbe Weinung zu widerlegen, die modlemiſche Frau ſei eben
gar Nichts als ein Mittel männlicher Lufbefriedigung, als ein Kinder⸗
erzeugungs inſtrument. Freilich if damit noch lange nicht gefagt, daß ber
Islam dem Weibe die ihm gebührende ſoziale Stellung einräume. Der
Srundfag der Polygamie verwehrt dies und Hammer⸗Purgſtall hat in feiner
Charakteriſtrung des Verbälmiffes von Wann und Frau in moslemiſchen
Ländern ebenfo wahr als fein darauf hingewieſen, daß die moslemiſchen
Sprachen dab Wert „Haußfrau* nicht Fennen®). In der Türkei bat
jedoch neueflend das Findringen abenbländiſcher Caltur der Bielweiberei be
deutenden Abbruch gethan. Anch tft bort ber Handel mit weißen und ſogar
mit ſchwarzen Skflavinnen verboten worben.
4.
Ein großes bürgerliche Verdienſt erwarb fi. Mohammed durch feine
Reform des arabiichen Erbrechtes. Die Grundfätze, welche der Koran in
Diefer Beziehung aufftollte,, zeugen überall von Vernunft and Billigfeit und
ed fommt letztere namentlich auch ven Frauen zu gut. Die Formen teſta⸗
mentariſcher Berfügung find genau geregelt. Ebenje umfidhtig und zugleich
human erweiien fi die Vorſchriften des moſslemiſchen Rechtes in Betreff der
Sigenthumsverhältniffe, weiter die Befkimunungen aber Handel und Wandel,
Kauf und Verkauf, Schuldenmeien, Miethverträge, Pfandweſen und gericht:
liches Beufahzen in Civilſachen. Der oberſte Rechtaſatz im moBdlenrijchen
Mrozeß ift: Hei allen Handlungen der Moslim wird ſtets die gube Abficht
8) Der Stufengrad, auf welhem das Weib ald Frau, Gemahlin, Beifchläferin
fieht, wird in den vorderafiatifchen Sprachen, wie in den europäifhen, zwar Far abge:
ſthattet, aber feine ber erſteren hat din Wort für die eigentliche Hausfram, fondern nur
für den Hausheren,, welchen der Berfer Ketchoda, d. i. Gatenherr nennt, woraus das
vertfhe „Batte* entRanten. Bel dem Übrigen Benennungen ter Verhältnifie bes
Weibes zum Manne liegt der Begriff abgefonderter Singefchtoffenheit oder eines Ge:
maches zum: Grunde. Das arabiſche Wort „Harem“, irrig in Europa für gleichbe:
deutend mit Lottergemach gehakten, bezeichnet den Begriff unantaſtbaren Eigenthums;
deo Perſers „Schebiftan* bedeutet Das Nacht: oder Schlafgemah, und des Türken
„Obdalik“ ſteht zunaͤchſt dem deuiſchen Frauenzimmer. Der Morgenlaͤnder betrachtet
alfo die Weiber in der gewoͤhnlichen Bezichung nicht als Perſonen, aber auch nicht ale
Sachen, fondern als einen abgeichlöflenen, für Fremde unantaflbaren Raum der Luft,
als ein Gemach, wie auch das beutiche „Gemachel⸗ oder „Gemahl“ ausweiſet. Geſch.
d. osman. Reiches, III, 213.
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(bona fides) vorausgefegt. Geſtändniß, Zeugenausfagen und Eib find bie
drei Beweismittel. „Dem Kläger die Zeugen, dem Beklagten der Ein * —
ift moßlemifche Rechtsregel. Einen dunfeln Fleck bilder im Rechtscoder des
Jolam das Kapitel vom Sklavenrecht, obgleih, wie ſchon früher bemerft
worden, der Moslem feine Sklaven durchſchnittlich viel milder behandelt ale
der amertfanifche Bflanzer. Sind doch in den moslemifchen Staaten von
jeher und in zahlreichen Fällen Sflaven zu den höchſten Würden emporge⸗
fliegen und fogar Eidame von Sultanen geworden. Streng genommen
bürfen nur im Kriege mit Ungläubigen gemachte Gefangene in das Sflaven-
verhältniß treten, allein dermalen gibt e8 in allen moslemiſchen Ländern
weiße und mehr noch ſchwarze Sklaven und Sklavinnen, welche nicht durch
Krieg, fondern Dur Raub und Kauf in die Gewalt ihrer Herren gekommen
find. Freilaſſung findet flatt gegen Entihädigung oder durch den freien
Willen des Herrn bei feinen Lchzeiten oder durch teftamentarifche Berfügung
bei ſeinem Zode, Die Freigebung eines Sklaven iſt eine gottgefällige Hand⸗
lung, aber Redhtgläubigkeit, d. t. Befenntniß des Islam von Seiten bes
Sklaven, ift urerläßlihe Bedingung derſelben. Cine Sklavin, die ihrem
Herrn ein Kind geboren, erhält zwar dadurch noch nicht das Recht auf Frei⸗
laflung, aber fle wird nad) dem Tode des Herrn in das Erbtbeil ihres Kin-
des eingerechnet und erlangt dadurch die Freiheit.
5.
Criminalſtrafen können (follen) bloß verhängt werden gegen Solche,
bie bei Begehung des Verbrechens volljährig und im vollen Bett ihrer
Verftandesfräfte geweien find. An Weibern dürfen überhaupt Feine Stra-
fen vollzogen werden, wenn fie im Bufland der Menftruation oder der
Schwangerfchaft find oder fo lange fle ihr Kind an der Bruſt nähren. Gül-
tige Beweidmittel im Strafprogch find nur Geftändnifje oder Zeugenausſa⸗
gen. Auf Teichteren Vergehen fteht Förverliche Züchtigung (Peitfchenhiebe
auf Rüden und Schultern, djeld), auf Eapitalverbrechen die Todesftrafe, ge=
wöhnlich vermittelft des Schwerted oder des Galgens vollzogen (ketl). Jede
Strafe ift öffentlich zu vollziehen. Die fpätere Eriminalpraris hat jedoch
die mildere Straftbeorie, wie fle im Koran dargelegt iſt, vielfach verfchärft.
Bon einzelnen Verbrechen und Beftrafungen heben wir hervor: die Verleum⸗
dung, welde mit 80 Beitichenhieben beftraft wird; die Trunfenheit, welde
ber gleichen Strafe unterliegt; den Diebſtahl, welcher nach Verhaͤltniß mit
Scherr, Gef. d. Religion. III. 97
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kbnnen verſtchern, daß ſchon ein Mächtiger Ueberblick derſelben genäͤgk, um
Die gaͤng und gäbe Neinung zu widerlegen, die moolemiſche Frau ſei eben
gar Nichts als ein Mittel männlicher Lufbefriedigung, als ein Kinder⸗
erzeugungäinfirument. Breifi iR damit ned Iange nicht gefagt, daß der
Islam dem Weihe die ihm gebührende foziale Stellung einräume. Der
Srundfag der Polygamte verwehrt dird and Hammer⸗Purgſtall Bat in feiner
Charakteriſtrung des Verhälmiffes von Mann und Brau in moslemiſchen
Ländern ebenio wahr als fein darauf hingewleſen, daß die moslemiſchen
Sprachen das Wort „Hausfrau nicht Eennend). In der Tuͤrkei bat
jedoch neueſtend das Findringen aBentländiicher Cultur Der Bielweiberei bes
deutenden Abbruch gethan. Anch tft Dort ber Handel mit weißen und ſogar
mit ſchwarzen Sklavinnen verboten worden.
4.
Ein großed bürgerliche Verdienſt erwarb ſich Mohammed durch feine
NReform des arabiſchen Erbrechtes. Die Orundfäge, weldye der Koran in
Diefer Beziehung aufftellte, zeugen überall von Vernunft and Billigkeit und
es fommt Ieptere namentlich auch Ben Frauen zu gut. Die Formen tefla-
mensarifcher Berfügung find genau geregelt, Ebenje umfidtig und zugleid
human erweiſen fich die Boricriften des moßlenmmifden Rechtes in Betreff der
Sigentbumbverhältniffe, weiter die Beſtimmungen aber Handel and Wandel,
Kauf und Verkauf, Schuldenmeien, Miethverträge, Rfandweſen uad gericht»
liches Beufahsen in Civilſachen. Der oberſte Rechtoſatz im modlemijchen
Bogen | ift: bei allen Handlungen ver Modlim wird fletd die gute Abficht
8) Ya Stufengrab, auf welchem das Weib als Frau, Gemahlin, Beifchläferin
fieht, wird in den vorderaftatifchen Sprachen, wie in den europäifhen, zwar Mar abge:
ſthattet, aber feine ber erſteren bat ein Wort für Die eigentliche Hausfrau, fondern nur
für den Hausherren, welchen ber Berfer Ketchoda, d. i. Gadenherr nennt, woraus das
veartiche „Batte* entlanden. Bel den Übrigen Benennungen ter Verhältniffe des
Meides um Manne liegt der Begriff abgefonderter Eingefchkoffenhett oder eines Ge:
maches zum runde. Das arabifdhe Wort „Harem”, irrig in Europa für gleichbe:
deutend mit Lottergemach gehnften, bezeichnet den Begriff unantaſtbaren Cigenthums;
des Perſers „Schebiſtan“ bedeutet das Nacht⸗ oder Schlafgemach, und des Türken
„Odalik“ ſteht zunaͤchſt dem beutichen Frauenzimmer. Der Morgenfänder betrachtet
alſo die Weiber in der gewoͤhnlichen Bezichung nicht als Perſonen, aber auch nicht ale
Sachen, jondern als einen abgefchlöflenen, für Fremde unantaflbaren Raum der Luft,
als ein Gemach, wie andy das deutſche „Gemache “orer „Gemahl“ ausweiſet. Geſch.
d. osman. Reiches, III, 213.
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(bona fides) vorandgefegt. Geſtändniß, Zeugenausfagen und Eid find die
drei Beweismittel. „Dem Kläger die Zeugen, dem Beklagten der Eid“ —
ift modlemiſche Rechtsregel. Einen dunkeln Fleck bilder im Nechtöcoder des
Jolam das Kapitel vom Sklavenrecht, obgleich, wie ſchon früher bemerkt
worden, der Moslem feine Sklaven durchfchnittlich viel milder behandelt als
der amerifantiche Pflanzer. Sind doch in den moslemifchen Staaten von
jeher und in zahlreichen Fällen Sflaven zu den höchſten Würden emporges
fliegen und fogar Eidame von Sultanen geworden. Streng genommen
dürfen nur im Kriege mit Ungläubigen gemadjte Gefangene in das Sklaven⸗
verhältniß treten, allein dermalen gibt es in allen mosfemifchen Ländern
weiße und mehr noch ichwarze Sklaven und Sklavinnen, welche nicht durch
Krieg, ſondern Durch Raub und Kauf in die Gewalt ihrer Herren gekommen
find. Breilafjung findet flatt gegen Entſchaͤdigung oder durch den freien
Willen des Herrn bei feinen Lchzeiten oder durch teftamentarifche Berfügung
bei ſeinem Tode, Die Freigebung eines Sklaven iſt eine gottgefällige Hand⸗
lung, aber Redhitgläubigkeit, d. t. Bekenntniß des Islam von Seiten des
Sflaven, ift urierläßliche Bedingung derfelben. Eine Sklavin, die ihrem
Herrn ein Kind geboren, erhält zwar dadurd noch nicht das Hecht auf Frei⸗
laflung, aber fie wird nach dem Tode des Herrn in das Erbtbeil ihres Kine
des eingerechnet und erlangt dadurch die Freiheit.
5.
Eriminalftrafen können (follen) bloß verhängt werden gegen Solche,
die bei Begebung ded Verbrechens volljährig und im vollen Beft ihrer
Verftandeskräfte geweien find. An Weibern dürfen überhaupt feine Stra-
fen vollzogen werden, wenn fie im Bufland der Menftruation oder ber
Schwangerſchaft find oder fo lange fle ihr Kind an der Bruft nähren. Gül-
tige Beweismittel im Strafprozeß find nur Geftändniffe oder Zeugenausſa⸗
gen. Auf Teichteren Vergehen fteht Forperliche Züchtigung (Peitichenhiebe
auf Rüden und Schultern, djeld), auf Gapitalverbrechen die Todesftrafe, ge⸗
wöhnlich vermittelft des Schwertes oder des Galgens vollzogen (ketl). Jede
Strafe ift Iffentlich zu vollziehen. Die fpätere Griminalpraris Hat jedoch
die mildere Straftheorie, wie fle im Koran dargelegt tft, vielfach verfchärft.
Bon einzelnen Verbrechen und Beftrafungen heben -wir hervor: die Berleums
dung, welde mit 80 Peitſchenhieben beftraft wird; die Trunfenheit, welche
ber gleichen Strafe unterliegt; den Diebflahl, welcher nach Verhaͤltniß mit
Scerr, Geſch. d. Religion. III. 27
418
Verfiümatilung an Sand und FA über mit Lebenslänglicher Einſperrung ge⸗
fühnt werben muß ; die Kuppelei, auf welcher 75, den widernatärtichen Umgang
yon Weibern unter einander, Auf welchem 109, die Päderaſtie zwiſchen Mitt
Berjährigen, auf welcher ebenfalls 100 Peitſchenhtebe ſtehen. Die. Strafe
der Päderaftie zwifchen Voljährigen ift der Tod. Auf Abfall vom Stauden,
auf Raubmord, Nothzucht, Blutfchande ſteht ebenfalls der Tod. Der Ehe
bruch wird, wenn feine Berfhärfangsgrane vorliegen, bei beiden Geſchlech⸗
tern mit 100 Peitſchenhieben, bei erſchwerenden Umſtünden mit den Ipde
beftraft ?). Die ehebrecheriſche Sklavin kommt mit 50 Peitſchenhieben weg.
Der Ehebruch eines Ungläubigen mit einer moslemiſchen Frau hat ſtets die
Strafe des Ketl zur Folge. Ausdrücklich ift im moslemiſchen Brfeg das
Recht der Blutrache anerkannt. Wer einen Mord oder Todtſchlag verkbt,
iſt mit feiner Perfon den Angehörigen des Grtödteten verantwortlih. Die
Berfon oder Die Berfonen, welden das Recht der Blutrache zufteht, Tann
oder können aber auf Boltziehung derfelben verzichten und fi mit einem
Sühnegeld (Weergeld) abfinden lafſen. Mit den Rückfällen nimmt es dad
moslemifche Recht fehr fireng. Wer ſchon dreimal Heftraft worden #fl, er⸗
leidet beim vierten Vergehen ſchlechterdings die Todesſtrafe.
Sechftes Mapitel.
Zur Geſchichte des Islam.
1.
Nah des Propheten Hingang wurde offenbar, daß ber Islam noch
keineswegs unerſchuͤtterlich daſtand auf dem Wüͤſtenſand Araͤbiens. Als
— —
4) Am die Thalfrage ves Chebruchs zu beſahen, find, in Falle Yen’ Geflakeniß
vorliegt, vier männliche Zeigen von untadelhaften Wandel oder drei maͤnnliche umd
zwei weibliche Zeugen erforberlih, — wie man fieht, eine fchwierige Beweisführung.
Der Koran fagt in der 4. Sura in Betreff des Chebruchs der Frauen: — Wenn eure
Frauen ſich durch Chebruch vergehen und vier Zeugen aus eurer Mitte bezeugen dies,
fo kerkert fie (die Schuidigen) in eurem Haufe ein, bis der Tod fe befreit öder ct
ihnen fonft ein Beftekungeminel anliſt.
EEn mu un Ten a ker
115
wicht itehe die anerkannte Autorieht eitteß genialen Mannks oppoſitlonelle
Wegungen niederhielt, traten dieſe alsbakd herbor. Bad unbändige Frei⸗
heitsgefühl Ver Beduinen fand das Joch bed neuen Glaubens zu ſchwer.
Das Gebot ſtrengen Faſtens und allzuhäufigen Betens, wie das Verbot deb
Wilhes, machke die Söhne der Wüfte mit Sehnſucht nalh den laxeren Ord⸗
nungen des urväterlichen Glaubens zurückblicken. Politiſche Motive mehrten
die Unzufriedenheit. Die einzelnen Staͤmme fühlten ſich unbehaglich in dem
Verband eines wenn auch immer noch lockeren Staatsweſens. Insbeſondere
rührten ſich die Koreiſchiten wieder, denn fie hatten die Einbuße ihrer
dominirenden Stellung unter den arabiſchen Stämmen noͤch nicht vers
ſchmerzt, und verriethen die Abſicht, fich der Herrſchaft bes Chalifats
niicht zu fügen. Zu dieſen Mißlichkeiten kam noch das häßliche Zerwürfniß
An ver Familie des hingegangenen Propheten, ein. Zerwürfniß, welches, wie
wir Eben (Rab. 3, 6) fahen, Die dogmaliſche aid politkfche Geſtaltung ver
moslemiſchen Welt beeinflußte. Indeſſen waren die Gefährten Möhanimeds
Männer, die bei Fortführung feines Werkes vor Widerwärtigfeiten und
Hinderniffen nicht zurüdichradten. Wie bedrohlich die Umſtaͤnde fein mode
.ten, Alles, was Arabien un heißem Glaubenseifer, Begeifterung für eine
große Idee, ichlauer Politik und woduerachtender Kuͤhnheit beſaß, fland doch
auf der Seite des Wlam und fo wußte Abu Betr feinen Chalifat bald Ach⸗
tung zu verſchaffen. Die meuteriſchen Koreifchilten wurden durch Gewäh-
rung von allerlei Vortheilen gewonnen, die vereinzelten Aufſtaͤnde anderer
Stänme mit Energie niedergeichlagen. Uber das genügte dem Chalifen
und den Häuptlingen feines Raihes nicht. Diefe Männer erfannten, daß
durch den Islam das arabifche Wefen in feinen Tiefen aufgewühlt worden
fet, daß der neue Glaube ein Element der Bewegung in das Volf gebracht
habe, welchem, wenn es nicht Unheil fliften folkte, ein neues und weites Feld
der Thätigkeit angewiefen erden müßte. Man Betonte daher mit Entſchie⸗
denheit das Gebot des Islam, die Ungläubigen zu bekehren oder wenigftend
ber Herrſchaft der Moslim zu unterwerfen, und eröffnete durch Aufpflanzung
der Fahne des „heiligen Kriege * der arabiichen Kriegs⸗ und Beuteluft ein
unermeßliches Gebiet. Auf der Bahn der Eroberung flürzte ſich Arabien
mit wilder Thatkraft in die Weltgeſchichte. Als eine newe gefchichtliche
Macht erhob fich der Iölam und begann das Antlig des Morgenlandes um⸗
zuwandeln. Das euer, weiches in der Abgefchlofienheit der arabijchen
Salbinfel angezündet wurden, ging flammend und'fteffend durch bie orien«
77°
420
talifche Welt, Hell und Heiß au in den Sübweften des Occidents herüber-
fehlagend. „Das Paradies ift vor euch, Tod und bölliiches euer hinter
euh!* Das war der Auf, womit moölemifche Heerführer ihr jugentfräf:
tiged Volk auf altersſchwache Völker ſchleuderten. Schaar auf Schaar, den
Koran in der einen, Schwert und Brandfadel in der andern Hand, brach
aus den arabifchen Steppen bervor. Bor ihnen her ging ein Schreden des
Unerbörten, glei der laͤhmenden Macht einer ungeheuren Naturkataſtrophe ?).
2.
Es ift nicht unfered Amtes, den modlemifhen Eroberern auf ihren
Wegen nachzugehen. Wir bezeichnen Die Richtung derfelben nur von ferne
und verweifen den Leſer Hinfichtlich der politiihen Schickſale des Islam auf
4) Sin deutfcher Dichter, Sulius Mofen, in feinem lange nicht nach Verdienſt
geihägten „Ahasver“, hat die Erhebung des Islam mit unvergleihliher Cnergie
geſchildert: —
Hörft du den Samum aus der Wuͤſte braufen ?
Staubfäulen fchreiten riefenhaft voraus,
Die gleich den Rreifeln in fidy felber Saufen.
Hörft du das Land von taufend Roſſen flampfen,
Daß Berge beben? Oper will zu Staub
In Rauch und Wirbel fich die Welt verbampfen ?
Mer hält ven Halbmond auf in feinen Bahnen?
Wild lechzen unter feinem Zeichen auf
Zum heißen Himmel blutigrothe Bahnen.
Da fprengt einher, da naht mit Ungewittern
Das Schreden Gottes, des Propheten Heer
Mit Donnerruf, daß alle Herzen zittern.
Allah iſt groß! Gewaltig das Berhängniß,
Das Schwert ein Schlüffel zu dem Paradies ;
Erkenntniß ſprengt der Menfchheit das Gefaͤngniß!
Allah ift groß, fo weit fein Odem wehet,
Mohammed fein Prophet, foweit im AU .
Die Sonne leuchtet und der Halbmond gehet !
Allah if groß! Sein Reich iſt zu erſtreiten!
Der Moslem flürzt durch Blut und Tod hinein
Aufjauchzend in das Meer der Seligfeiten.
Allah ift groß! Wer ift, der feiner ſpotte?
Ihr Goͤtzendiener, Heuchler, wehe euch !
Der Moslem kommt, — am Boden heult die Rotte....
Aal
Weils CHalifengefchichte und Hammers Osmanengeſchichte. Uebrigens Fennt
ja jeder Schulknabe die Geſchichte des Mohammedanerthums, wenigſtens in
ihren Umrifſen. — Das byzantiniſche Griechenthum hatte in Syrien den
erften Anprall der Streiter des Islam auszuhalten und hielt ihn fchlecht ges
nug aus. Shyrien und Paldftina wurden von den Moslim erobert, welche
fofort im Sturmlauf durch die mefopotamiicdhe Ebene nach Perſten vordran⸗
gen und nad) blutigen Kämpfen in der Entſcheidungsſchlacht Hei Kadefta die
Macht des Tegten Königs der Ormuzdreligion von Iran vernichteten (634
n. Chr.). Und wie über dad Zend⸗Aveſta, fo triumphirte der Koran, von
feinen Befennern über den Indus getragen, aud über die Veda's). Ganz
Aften von den phönikiſchen Geftaden bis zum Ganges gehorchte dem Cha⸗
lifenſchwert, welches ſich mit jchwerer Wucht von Syrien aus auch auf
Aegypten legte und fich von da weiter und weiter die Nordfüfte Afrika’s
entlangſtreckte. Tarif trug e8 zu Anfang des 8. Iahrhunderts chriftlicher
Zeitrehnung über die Meerenge von Gibraltar, umd nachdem bei Xeres de
la Brontera die Weftgothen ihm erlegen, überflutete der moslemijche Erobes
rungäftrom ganz Spanien. Er brandete fogar nordwärts über den Granit-
wall der Pyrenäen hinaus, aber bei Tours und Voitiers ftellte ihm germa⸗
nifche Tapferkeit einen Damm entgegen, der den wüthenden Strom zurüd«
fluten machte (732).
Mährend fo im Abendland die Macht Des Islam auf Spanien be⸗
fchränft wurde, hatten Inzwiichen im Morgenland Moslim ihr Schwert gegen
Moslim gekehrt. Nachdem die beiden Nachfolger des erften Chalifen, Omar
und Othman, meuchleriſch ermortet worden, ſchien des Propheten Schwies
geriohn Alt endlih zu feinem Rechte zu gelangen. Er wurde in Medina
zum Chalifen ausgerufen, allein fein Feind Moawijah aus dem mächtigen
Haufe Omeijah, Statthalter von Syrien, erhob gegen ihn die Fahne der
Empdrung. Vergebens erwied Alt in fchredlihen Schlachten feine edle
Heldennatur. Er erlag dem Dolch eined Meuchlerd (660), feine Bamilie
ging unter und dad Chalifat Fam an die Omeijahden, unter weldyen die
Moslim gegen Kleinaflen, ſowie gegen Die Infeln des ägäifchen und mittel«
Tändifchen Meeres Eroberungszüge machten. Schon jegt wurde auch Kon⸗
ftantinopel von ihnen beflürmt, aber erft weit fpäter, unter den türfifch-
— — — —— rn
4) Aber nur poliiſch. Während die ſproͤde Ormuzdreligion unter den Schlägen
des moslemiſchen Schwertes in Splitter ging, vermochte diefes Schwert die elaftifche
Zähigfeit des Brahmanenthums nicht zu überwinden.
4 .
gamanifdien Sultanen, erlag, wie befannt, bie Hauptfaht Hfkrams, Lam
Ielam. Zweiundneunzig Jahre nah Ali's tragiſchem Yusgang volzog
Abbas an den Omeijahden den Spruch der Nemefid. Das ganze ameie
jahdiſche Haus wurde ausgerotter, mit Ausnahme ded Abdexrahman, welcher
fih, nach Spanien rettete und dort ein von dem morgenländifcgen unabbhänr
giges Ehalifat gründete, mit der Hauptſtadt Cordoba.
Die Chalifen der abbaſidiſchen Dynaftie ſchlugen ihre Reſidenz in Bag-
bad auf und herrſchten bis ind zweite Jahrzehent des 9. Jahrhuudertaà mis
großem Glanz, Bon da an zerfiel das morgenländifhe Chalifat, biß es von
feinen Prätorianern, den aus ihren Stammfigen in ten. hochaſiatiſchen
‚Steppemwildnifien gekommenen, fpäter nach einem ihrer Häuptlinge, Dömgn,
benannten Zuranistu (Türfen, Seldſchuken) geftürzt wurde (1258),
Gin Schattenchalifat vegetirte bis 1538 in Arghpten. Seitdem führssn bie
tütkiſchen Sultane_ den Ehalifentitel, welder. aber. von ben Shliten nicht
gnerfannt wurde. Wo nicht die Türken herrſchten, zerbröckelte dag moale⸗
mifche Gebiet 1 in größere oder Meinere Reiche. Zeitweilen bauten mos⸗
lemiſche Herricher in Perfien und Indien mächtige Staaten auf. Das abend⸗
laͤndiſche Chalifat in Spanien erlag im Laufe der Jahrhunderte inneren
Zwiſten und den aus ihren Bergafglen in Afturien und Galizien wieder an⸗
griffsweife gegen den Halbmond vorgebenden Ghriften. Die Schlacht von
Toloſa brach für immer das Uebergewicht des Islam auf dex pyrenätichen
Halbinjel (1212) und die Eroberung Granada's durch die katholiſchen Kö—
nige (Berbinand und Iſabella) unterwarf. dig letzte Stätte moslemiſcher Herr⸗
haft im Abendland dem chriſtlichen Regiment, (1492). Der Türfen-
ſchrecken, welcher von Konſtantinopel aus die Chriſſenheit fo lange in Athem
gehalten, fing feit dem Sieg der chriſtlichen Klotten bei Lepanto (1571,) feine
Furchtbarkeit zu verlieren an. Sodann vernichteten ihn der glorreiche Wi⸗
derſtand der, Bürger des belagerten Wiens und die Siege ber deutſch-kqiſer⸗
lichen Heerführer in den legten Derennien, des 17. Jahrhunderts völlig.
Seither ift das türkifhe Reid, immer ynayfhaltfamer- gefunfen und es hängt
dermalen feine Eriftenz überhaupt von der Gnade, d, h. von ber gegenjeitis
gen Eiferfucht der europälichen Großmaͤchte ab. Der Auggang bes, Kampfeq
zwifhen Kreuz und Halbmond, im Mittelalter das eigentliche Agene Dex
Weltgefchichte, ift jet nur noch eine Frage der Zeit; denn bie Ueberlegen⸗
heit der chriſtlichen über die moelemiſche Welt ſteht laͤngſt unzweifelhaft feft-
423
d.
Daß Cholifat, als Caͤſaropapismus, entwickelte einen Despotiömus,
welcher in der moslemiſchen Welt unzählige Empörungen, Palaftrevolutig-
nen, Bruͤderzwiſte und Bürgerkriege hervorrief. Die großen bynaftifchen
Wechſel und Kämpfe find im Vorſtehenden angedeutet worden. Hier fei
jegt. kurz noch eigiger Erſcheinungen religiögelogialer und religiösepolitiicher
Natur gedacht, welche im Laufe der Zeit Die moslemifche Geſellſchaft von in-
nen heraus mehr ober weniger erichütterten.. Es hat dem Slam nie an
Keztzern gefehlt, aber fie untericheiden ſich von den chriſtlichen dadurch, daß
ſie ſich ſelten damit begnügten, freiere Anſichten in religiöſer Beziehung zu
hegen und zu lehren, ſondern daß fie vielmehr gewöhnlich zugleich die Fahne
des Aufsuhrd, gegen, Die Despotie der Chalifen oder Sultane erhoben. —
Das Vorbringen des Islam nad Perfien und Inbien, hatte Die Mahamme⸗
daner mit den zeligißfen Anſchauungen dieſer Länder. befannt gemadt und
mir werben weiter unten fehen, daß aus ber Durdringung des Mohamme
danigmus mit dieſen Anſchauungen fpäter die moslemifche Myftif und Theo⸗
ſophie entiprang, Schon im 2. Jahrhundert der Hidjrah aber ftanden in
ter Landſchaft Khorafſan zwei Häretifer und Mebellen. auf, Mawendi und
Mokaunnaa (der, verichleierte Prophet“), von denen jener das brahmanifche
Dogma gon der Seelegmanderung dieſer eine willfürlich aus dem Parfld-
mus gezpgene Üreigeifterei in den Islam einzuführen verfuchte. Lnlange
darauf Riftete ein gewiſſer Babek die Sekte der Churremije (d. i. der
Sröhlichen), indem er epikuräiſche Freiheit und Gleichheit, Gemeinschaft der
Güter und der Weiber predigte. Unter dem Chalifat der Ahbaflden grün-
dete Saffan Sſabbah den Geheimbund der ISmaeliten oder Bates
niten, in deſſen höchſtem Grad, den, Eingeweihten als einziges. Dogma der
Sup: „Nichts glauben und ſich Alles erlauben!" verfünbigt wurde. An
zweihundert Jahre lang verhreitete dieſer Bund permittelft ſeiner Werkzeuge,
ber mordhereiten Affaffigen, deren Namen noch jegt von dem romantifchen
Zauber geheimen Grauens, umgeben if, Furcht und Entfegen durch die mos⸗
lemiſche Welt, nem Banuftrol der geiftlichen, dem Schwert ber weltlichen
Macht trpgend, in feinen legten Meſten erſt Durch den Mongolen Timur aus⸗
getilgt. — Ein hoͤchſt merkwürdiger, religihſe, politiihe und fozialg Ele—
mente in fich vereinigender Auffiond, welder. dag ganze Türkenthum yon
Alten umgeftalten au wollen ſchien, erhob ſich im Jahre 1420. der chriſtlichen
424
Hera. Der Grieche Dukas hat ausführlichen Bericht Darüber erflattet 1), Doch fo,
daß von einem tieferen Verftändniß der Sache bei ihm offenbar feine Rede
war. Es muß damals eine höchſt lebhafte Bewegung der Beifter durch die nicht»
offizielle türfifche Welt gegangen fein, Ideen leuchten auf, die ihrer Zeit um
Jahrhunderte, wo nicht un Jahrtaufende voraneilen; aber die wüften Wogen.
brutaler Gewalt fchlagen fogleich wieder über ihnen zufanımen. Wie es fcheint,
hatte die ungeheure Verwüftung, weldye die Züge Timurs hinter ſich zurüds
ließen, erwähltere @eifter und edlere Gemüther dem Gedanken einer durchgrei⸗
fenden religiöfen und ſozialen Reform zugänglidy gemacht. Berflich-moslemiiche
Myſtik, jüdifche und chriftliche Anfchauungen gaben ben Anftoß dazu. Drei
Männer waren die Träger des Reformverſuches oder, wenn man will, des Auf-
ruhrs: der berühmte Nechtölehrer und Heeresrichter Bedreddin, ein höchſt
begabter Landmann, Böreflüdfhe Muſtapha, und der jüdiſche Rabbi
Torlaf. Bedreddin gewann in der europälichen Türkei die „@ebildeten“ für
feine Bläne, Torlak in Aften die Derwiſche, Böreklüdfche die Kandbewohner.
Er lebte und lehrte als Einſtedler auf dem Berg Stylarios, am füblichen
Ende der Bucht von Smyrna, Chios gegenüber. Seine Anhänger nannten
ihn Dede Sultan. Seine Predigt ging auf allgemeine Toleranz und Ver⸗
brübderung der Menfchen unter einander, ohne alle Rückficht auf die Verſchie⸗
denheit des religiöfen Bekenntniſſes, — alfo auf völlige Gleichheit und Güͤ⸗
tergemeinfchaft. Nur die Weiber follten von diefer ausgenommen fein. Als
die Erhebung immer größere Dimenflonen annahm, übertrug Sultan Mo—
hanımed I. dem Statthalter von Sſaruchan, Sisman, die Unterwerfung der
Empörer. Allein Sisman ward in den Schluchten des Stylarios von den
Anhängern des Dede Sultan gefchlagen und fammt feinem ganzen Heere
vernichtet. Ein zweiter türkiicher Heerführer, Alibeg, erlitt am Stylarios
ebenfalld eine fo furchtbare Niederlage, daß er nur mit Wenigen entkam.
Jetzt ſezßte Mohammed 1. eine Armee von 180,000 Mann unter feinem
Sohn Murad und dem Großweſir Bajeſid Paſcha gegen die Rebellen in Be-
wegung. Unter furdtbarem Gewürge wurden bie Päͤſſe des heiligen Ber-
ges erftürmt. Böreklüdſche, in die Hände der Sieger gefallen, wurde nad
Epheius gebracht und dort den furchtbarſten Foltern unterworfen, um ihm
einen Widerruf abzuprefien. Er blieb ſtandhaft. Nun nagelte man den
1) Edit. Javarin. p. 49 sq. Sammer (Geſch. d. osman. Reiches, I, 293 folg.)
folgt mehr türfifchen Quellen, befonders dem Neſchri; feine Darftellung ſcheint uns
aber von Boreingenommenheit gegen bie Aufftändifchen zu zeugen.
— — — —t—
425
Märtyrer in Kreuzesform auf ein Brett und hieb vor den- Augen des ſter⸗
benden Gefreuzigten alle feine Sünger zufammen , die feine Lehre nicht ab⸗
fhwören wollten. Sie flürzten ſich mit den an ihren Meifter gerichteten
Worten: Vater Sultan, dein Reich komme zu uns! fröhlich in die Säbel,
Nach Böreklüdſche's Ausgang wurde auch Torlaf geichlagen, gefangen und
bingerichtet, ebenfo Bedreddia. Die Reformation des Islam war gefchei«
tert, aber noch lange glaubten die zerftrenten Lieberrefte ihrer Anhänger,
Dede Sultan walle noch immer lebend auf Erden.
Eine genauere Befanntfchaft mit den Bevölkerungen der moßlemijchen
Gebiete zeigt und überhaupt von Jahr zu Jahr mehr, daß neben der ver⸗
fnöcherten Ortbodorie Ted Islam ein buntes Seftenweien eriftirt, welches
die ganze Scala reltgiöjer Vorftellungen durdläuft, vom ſchlechtmaskirten
Fetiſchismus an bis hinauf zu freimaureriichem Nationalismus. Abgeſehen
von ganzen Bölferichaften, welche, wie 3.38. die Defiden?), vom Moham⸗
— —
2) Die PYeſiden (Jezidi), in Kleinafien, Armenien und Kurdiſtan zerftreut
wohnend, gelten für „Teufelsanbeter.” Die Ehrfurcht, welche fle der Sonne und den
Geſtirnen, dem Licht und Feuer zollen, fowie ihre firengen Reinlichkeitsbraͤuche, laſſen
vermuthen, daß dunkle Traditionen tes chaldäifchen Sabäismus und des Parfismus
unter ihnen fortleben. Dancben aber auch jüpdifche, chrififiche und moslemiſche Vor⸗
ttellungen. Der berühmte englifche Reiſende Layard hat ſich in neuerer Zeit lange
unter ten Jezidi aufgehalten, als Gaſt ihres oberfien Scheichs, und hat, was er da
beobachtete, im 9. Rapitel feines Werkes über „Nineveh und feine Ueberreſte“ nieder:
gelegt. Layard zufolge fcheinen die Sezidi allerdings das böfe Princip, den Scheitan
(Satan) als das höcfte zu verehren. Sie vermeiden es aber mit ängftlicher Schen,
feinen Namen auszufpredhen, und nennen ihn Melek el Kuht (mädrtiger Engel) oder
Melet Ta—us (König Pfauhahn). Sie beſitzen aud ein Idol des Melet Ta—us, die
Bronzgefigur eines Vogels, welche aber nicht ale Fetiſch, ſondern nur als Symbol
betrachtet werde. Der Scheitan ift, wie fie glauben, der Anführer der Engel. Gr
erleidet jegt feine Strafe für feinen Aufruhr wider Gott, aber einft werde er, mit
diefem verföhnt, wieder zur himmlifchen Macht und Herrlichkeit eingehen. (Nachklang
des zoroaſtriſchen Dogma’s von der endlichen Berföhnung Ormuzds und Ahrimans?)
Den Satan müfle man fürchten und verehren, denn jeßt habe er die Macht, den Men:
fchen zu ſchaden, und fpäter die Mittel, fie zu belohnen. In Chriſtus fehen die Jezidi
einen hochgeſtellten Engel, in Mohammeb. einen Propheten, wie auch Abraham ein
folcher war. Sie glauben an die Kodmogenie der Geneſis und halten überhaupt das
Alte Teftament, wie das Gyangelium und den Koran, für verehrungswürdige Bücher.
Den Miſchmaſch des jezidiſchen Rituale harakterifirt es, daß die Jeſiden ihre Kinder
zugleich der Taufe und der Beichneidung unterwerfen, fein Schweinefleifch eſſen, aber
Wein trinken und die Sonne als ihre Kiblah anfehen, d. h. als den Punkt, welchem
’
18
medagiamus nur, einige. Lehrſaͤge oder rituclle Vorſchtten angenpnugn” ha⸗
ben, im Uebxigen aber, ein vages Gemengſel von jüdiſchey, chxiftlichen und
heidniſchen Vorſtellungen ihre Religion nennen, — bet Die, Bezeichnung Ihr
lqm foft fo vielerlei einzelne Bildungsgrade und Meinungen, wie hie Der
zeichnung Chriftenthum. Während, das kirchliche Dogma in flareer Ent⸗
wichlungqlofigkeit verharrte, ließen es vorgeſchrittenere Meißen binzer ſich,
um, ſich gelänterteren Anſchauungen und einer Moral zuzuwenden, deren
Zorderungen die der edelften Humanität ſind 2).
beim Seht das Geſichi zugekehrt werden muͤſſe. Layard erzaͤhlt, er habe ſich große
Muͤhe gegeben, zu erfahren, ob der jezidiſche Glaube etwa mit dem Manichäismus
aulemmenhänge.; er babe aber barüber nisht, den geringflen Aufſchluß erhalten kännen.
3) Als Zeugniß deſſen ſtehe hier das falgende, aus der „Wuͤſtenharſe“ von,
3. Altmann entlehnte arabifche Spruchgedicht: —
Eh' Sad Ben Malik, der geheißen ward der Weile,
Antrat aus diefer Welt die große Himmelsreife,
Sprach er: Gs neiget ſich mein Tag, ihr meine Erben,
O Söhne, kommt herbei und lerne! von mir flerben.
Ih hinterlaſſe nicht euch Schäge zum Vexmaͤchtniß,
Dips, letzte Wort doch leb' in euch als mein Gedaͤchtniß.
Er ſprach: Den Narren dreht das Leben fich in Kreiſen;
Gin Baradielespfad, ein g’rader, iſt's dem Weiſen.
Das Eein Hat keinen Werth tem, der das Ziel verfennt ;
Doc hohen Werth hat's dem, der es ein Gottſein nennt,
Allah fei dein Gehet am Abend und am Morgen,
Dank, ihm für Lieb’ und Luft, dank ihm Tür Leid und Sorgen.
Trag deinen Kummer fill, dein GLüc theil' mit den. Leuten,
Laß deineg Serle Gold bie ganze Welt erbeuten,
Der Ahnen rühm' did) nicht und nicht mit Meichtgum praje;
Haft heine tu, dem Heren der Welt den Dank bezahle.
‚Der Armuth ſchaͤm dich nicht, lern' Müh' und Roth erdulden,
Stirbft du, bezahlet, Gott den Glaͤuh'gern deine Schulden.
Arm kamß tu auf die Welt, arm trägt man Dich zu Grabe,
Mer zwifchen Armuth wohnt, was iſt denn deſſen Habe?
Auf Tugend ſteh' dein Sinn, fie darfſt du leid erwählen,
Und moßieſt bu. Be felhh aus Allah's Händen fehlen.
Bertraug nicht ber Welt, ftüg’ dich auf eig ne Kraft,
Sei wie ein Gifeppfeil an einem Cichenſchaft.
GlaybR vu, ein Freund fei bein, dann ſei ihm tzeu wie Gold,
Dad fordre nicht, daß er im Jammer dir fei hold.
Je Mind'retz du verhoffſt in dieſem armen Zehen,
Sp mehr, wird dir vielleicht durch. Echichalsbuld gegeben,
Aa
Am Grafen, ahen murbe, ſeit der KHreuzigung deß Reformers nam. Paxge
Gtylarios nur. nach, ein Verſuch zur Umgeſtaltung des Jolam, vom BUND I Unte.
beraus gemacht: Der Ahebe deſſelben war Mohammend Ahbsel > Raben, be 8
(ach, 1728), den? Shlfter Dex wadı Ihm benapnien Seüe der, Wo bebi
Wechabiten) Der Kern von Wahgbs, Lehre ii ratianalißiſcher Deiamus
Ihr Prediger, durch eifrige Stadien geichult, wandte ſich mit auffläreriſcker
Polemik gegen den Legendenwuſt, welder, im Laufe der Zeit das moslenuſche
Dogma um⸗ und ühermucert batda, foxderta eine venaunftmäßlge Erflaͤrung
beR Koran, verwarf; alle Zradition, eifexie gegen bie überagäßige, Verabxung
des Propheten ala; gegen Abgötterei und verlangte. daß die Moelim aus. dem
Schlamm ber Ueppigkeit energiſch ſich aufraffen ſollten. Nachdem der nqut
Prophet den Fürſten von Derajeh und Lahſar, Ebn Sehud, für feine Lehre
gewonnen und zum weltlichen Oberhaupt (Emir) der Sekte erflärt hatte,
Durch Wiperfpruch reis’ nicht don zorn’gen Dann, o Kind,
Durch Sanfimuth Heil du ihn non feinem. Fehl geſchwind.
Nicht laß ob deinem Grall das Norgenroth ſich heben,
Soll Gottes Sonne denn auf einem. Sumpfe ſchweben?
Bergib mit Huld, o Rind, bein, der dein Herz jerreißt,
Wie Allah gnädig ſelbſt dem Satan fich erweilt.
Huͤll' ganz in Tugend dich, wie in ein Kleid von Gold,
Doch bleib’ auch dem, der nadk in Laſtern gehet, Hein.
Oft ſcheint auch wohl dem, Blick zu fehlen nur das Sei,
Indeß ter Nachbar trägt es um die Schuliern weit,
Der Schein betrügt das Herz, der Schein betrügt den Sinn,
- Lern’ ihn beherrfchen, Sohn, und groß IR bein Gewinn.
Erkenn' als wahr nicht an den Wahn, das Borurtheil;
Das. Necht ſej heine Macht, die. Wahrheit fei dein Heil,
Gerecht fei Jedermann und thu' nad deiner Pflicht,
Doch rige leicht das Herz des Feind's, zerreiß' es nicht.
Die Tugend fei der Stab, daran dir des Propheten
Himmlifche Fahne weht, laß Jeden davor beten.
Sie fei dir nicht ein Pfeil, der in ein Herz Ach taucht,
Daß ſchwarzer Dampf. aufftrigt, ala wenn. ein Opfer raucht.
Sie fei, wenn Nichta mehr dich, den frzien ei, grregt,
Der Engel, der dein, Herz vor Allah's Fuͤße legt, —
So fprab Ben Malik, der geheißen ward der Weile,
Eh’ er von diefer Welt antrat die Himmelsreife.
So ſprach er und nach mehr der Spruͤch' ht’ er geſprochen,
Doch .pibglih, ſchwieg er.Rill, fein Auge.wan gehraden,
128
breitete ſich Diefe vermittelt Sener und Schwert raſch unter den arabifchen
t Stämmen aus. Die Schwäche des türkiihen Reiches ermöglichte es fogar
den Wahabi, nad blutigen Kämpfen die heiligen Städte Mekka und Medina
zu erobern (1806). Die Pforte rief den Paſcha von Aegypten Mehemed
AU und defien Stieflohn Ibrahim gegen die Empörer auf. Unter Fuͤhrung
dieſer beiden Generale gewann bie Orthodoxie entſcheldende Stege über dir
Rrform (1815). Die Häuptlinge der Wahabi wurden gefangen und bin-
gerichtet. Sobald aber Mehemed Ali feine Truppen aus Arabien zurück
gezogen hatte, erhoben fi die Wahabi abermals in Waffen, und da fie ſich
innerhalb ihrer Stammgebiete halten, fcheint die türfifche Deglerung ganz
auf ihre Unterwerfung verzichtet zu haben.
4.
Wie alle großen geſchichtlichen Bewegungen, trug auch der Islam im
erſten Ungeſtüm feiner Jugend etwas Zerſtöreriſches in ſich. Wie alle Re⸗
volutionen, bedecte auch die moolemiſche, wo immer fie den Fuß hinſetzte, die
Erde mit Trümmern. Kein Denkmal der Geſchichte, kein Werk der Fröm⸗
migfeit, und Kunſt war den Streitern Allah's heilig. Im Gegentheil un-
heilig und verhaßt war ihnen Alles, was das Schönheitögefühl der alten
Völker gefchaffen und die Wuth chriſtlicher Mönche noch unzerſtört gelafſen
hatte. Denn das Alles erſchien den Moolim nur als Zeugniß ſtuchwuͤrdigen
Goͤtzendienftes. Gewiß muß uns ein höchftes Gefühl der Achtung vor der
Eulturarbeit des clajftichen Alterthums durchdringen, wenn wir bedenfen,
daß e8 und, allen VBerwüftungen durch dhriftlichen und moslemifchen Sana=
tiömus zum Trotz, noc eine ſolche Fülle von geiftigen und künſtleriſchen
Schägen überliefern fonnte. Indeſſen führte, wie im Chriſtenthum, jo auch
im Islam die ewige, unvertilgbare Freude des Menfchen am Schönen eine
glückliche Reaction herbei. Als die arabifche Invaflon im Morgenland und
Abendland die Geſtalt feiter Herrichaft gewonnen hatte, flellten ſich auch,
mit den Mitteln, fie zu befriedigen, die Bedürfniffe höherer Bildung und
feineren 2ebendgenuffes wieder ein. Die glanzuollen Höfe der Chalifen
aus dem Haufe Onteljah zu Damasfus und zu Cordoba, die Hofhaltungen
der Abbaſiden zu Bagdad, der Gasneviden in Perflen, der Pataniden und
der Moguls in Indien wurden zu Sipen arabijcher Wiſſenſchaft und Kunft.
Die moslemiſche Kun hat es jedoch nie zu der Fülle und PVielfeitig-
keit gebracht, zu welcher die chriſtliche aufblühte, fobald dieſe, nachdem fte
423
Den einfeitigen Spiritmafiamus Hinter fich hatte, anfing, die Subſtanz der
riftlichen Idee allfeitig in ſchönen Formen zu entwideln und alle Künfte in
den Dienft der Kirche zu berufen. Der fireng feftgehaltene Grundfag, daß
die bildliche Darftellung, befonders die der menſchlichen Geſtalt, verwerflid
fei, beichräntte die bildende Kunft der Moslim auf die Architektur, während
unter ihnen -von den redenden Künften auch nur eine zu höherer Entwidlung
fam, die Poeſie, und wieder Diefe nur in Epik, Lyrik und Didaktik. Denn '
die höchſte postifche Gattung, bie Dramatik, brachte ed in der moslemiſchen
Welt kaum zu roheflen Anfängen. weil die Seele der dramatifchen Kunfl, . bie
freie : Selbfibeftimmung des Menſchen von der Wucht de. fatalikiichen Dog⸗
ma's erdruͤckt wurde.
Die moslemiſche Baukunſt, price ‚wir aud die faragenifche und, mit
befonderer Rückſicht auf Nordafrika und Spanien, die mauriſche zu- nennen
pflegen, hat alle Länder, wo ber Islam berrichte und herrſcht, mit Monu-
menten bebedit. Ihre bedeutenbften Hervorbringungen find Moſcheen, Bur⸗
gen und Palaͤſte. Der Moſcheenbau weit zwei Hauptformen auf. Die
eine, dem altchriftlichen Baſilikenftyl verwandt, ifl der große, quadratiſche,
mit Arkaden umgebene Hof; die andere ift der geichloffene, gewölbte und
betuppelte Tempel, auf deflen Form der byzantiniſch⸗römiſche Styl Einfluß
gehabt haben mag. Im arciteftoniidhen Detail zeigt fih Eigenthümliches,
eine zwiefache Bogenform nämlich, Die des Hufeiſenbogens und die des Spig-
bogen, welche lettere, auf altorientaliichen Cindiichen) Vorbildern berubend,
in der chriſtlich⸗abendlaͤndiſchen Architektur eine viel größere Bebeutung
erlangte ald in ber modlemiihen. Die Ornamentit ber Iegteren ift reich
und phantaftifch,, aber zugleich, da fle von eigentlicher Geſtaltenbildung ab⸗
firabiren mußte, doch wieder monoton, Sie muß. fih allzufehr auf An⸗
wendung von geometrijchen Linien und Yiguren, auf Nachbildung von
Blätter und Blumenwerk beſchraͤnken. Im Allgemeinen darf man fagen:
der Charakter Ter modlemifchen Baufunft ift nicht Erbabenheit. Das Groß-
artige, Erhebende, den Geiſt in flaunende Bewunderung Verjegende gebt
ihr ab, Dagegen bezaubert fie durch die Zierlichfeit ihrer Formen, die wirfs
fame Bertbeilung von Licht und Schatten, den Reichthum und die Zartheit
ihrer Ornamente, die wie von Feenhand geſchaffen ſcheinen. Ihre Mofcheen,
Palaftyallen und Kioske find gewiffermaßen geeignet , die Sinne angenehm
zu erregen, wie die Seele in vage Träumereien gu wiegen. Reiſende von
fiharfer Beobachtungsgabe verfihern, das Geheimniß des ſüßen Nidts-
Has, dir, RE" Wer Drientalen, Werbe Etnem ek War, weni van or
Werkung aibel?miſcher Wihrwerke erſahren hube 1).
5.
Winwal aus Ihrer halbinfulakiſchen Wöpefärtnfferigett tzetausgetreten,
ervberren He Araber nicht nur Ränder und Neere, ſondern wich We Reife
ves Wiſſens. Für dieſes hochbegabte, jugendfriſche Bott wurde bie Be
ridtung MM denn Acdeeneſerungen griechiſch⸗raͤmiſcher Culinir geiſtig ſo be⸗
Wudtenv‘, Val es as der Hand des erſturrten Buränrineriätiits Me Mifften
Adernehmen konnte, im Jahrhunderten, we die Finſterniß trier Wirken
über der Ghriftenheit brütete, die Leuchte antiker Bildung ver vem OriAuen
Ya wahern tind To Hodh'Entbor zu hatten, daß ein Siverſchein derſelben auch
An vie mönthiſch verfinfierte Zeit des Wendlandes hetrinfiel. Wie ſchvn
verichrt worden, waren eb insökfondare die Höfe der Chaliſen aus dem
Gathfe Abdas In Bagdud and der Chatifen Aus dein Hauſe Oxiefirh in Tot
vvoda, Wo arabdiſche Wiſſenfchaft und Kunſt am frucheſten Bluͤthhen frieb Ad
Drqre reifte. Fuͤr Bagbad bezeichnet Der Name Eis Abigemia (Ben Stun,
ft. 1068), für Corvoba der Name Averross (Abul Walid Moßkränheb En
Ahned On Nohanmer Ebn Roshd, fl. 1217) Den Mittel⸗ und HEHE
puikt etner wiſſenſchafttichen Thaͤrigkeit, zu weicher Ueberſehumgen gtkecht⸗
Mer Bücher , beſonders ver Werte des Arifloteles, trs Arabiſche We Alt
derung gegeben Hatten und die ſtch im den Dißgipiiien der Muthemarik,
Aſtrondinie, Phyſik, Heilkunſt, Geſchichtfchreibung, Theologie und Pilofe-
phie dindig nrähle. Iht Charakter war freilich weit mehr nur ein erhalte a ver als
ein ſchopferiſcher, aber gerabe die erhaltende Thaͤtigkeit der atabiſchen Gelehr⸗
faukrit verdient, wie Jedernann weiß, in hohem Srade die Dankbarkett ves
4) Dieſe Bauwerke, ſelbſt mur die bedeutendften, einzeln aufzuzaͤhlen, iſt natürlich
hier nicht der Ort. Sind ſie doch in Kunſtgeſchichten und Reiſehuͤchern oft genug
beſchrieben worden. Ich moͤchte nur in Betreff der mauriſchen Denkmale auf der
wyetndiſthen Halbinfel verweiſen auf Be Sthilverung derſelben durch M. Willtöiriin
I „Zei· Fahe m Spanien und Poͤringal“) und in Betteff der moeleniſchen Baufen
in DRifdien af den · 8. Vnnb der Reiſe am vie Wett“ von Graf Goͤrg. Zn Hgterem
Buch (S. 498 19.) findet ih namentlich eine ausführliche und meifterhafte Beſchrei⸗
bung ber „erften architeftonifchen Zierte Indiens“, des Taje Mahal, d. i. des Tems
'pels, welchen Schah Jehan (ft. 1688) in der Nähe von Agra über dem Grabe feiner
Hentingsgerählin Modmtäz Mahal erbaute, Sörk ſagt, dieſes Maufdleum mache
un Cinbrucdleines! Follitherkxs, Den fein irdiſches Webaͤube nahhe konnue ⸗
— — — — —
abe, Don Arabien fted gtoßenthells zuzuſchteibn, baße dle Farei
der elaſſiſchen Bildung inz Mitteliilter Ginüberhefkitet würden: — bimdt iſt
Alles geſagt.
Mit'der Virbteffing des Idlaim in Vorderaſten und Spanien ſewann
ich der Strom arabiſcher Poeſte an Brefte und Ausbehnuig, aber er blißle
zuglelch die Kräft aid urfprüngfidge Ortginalitkt ein, welche die altärabifce
Dichtung ausgezeichnet hatte. Wie der Islam ſelbſt, ME Huch) die hoerifche
Titeriitur deffelben eine Miſchung verichtebeher Eleinenle und 8 haften 'an
ihr dußerdem woch die Makel höſtſcher Speichelleckerei imd jener raffinirten
(Kiliitelr,, welche überall einzutreten pflegt, ibo der Auell wifhrändtiäger
Anfpiration verſtegt. Dies gilt namentlich von ber arabifchen Lyrik nach
Mohammed, welthe in Ihn Vuxcid, Motenebbi und Toghrai glanzende Re⸗
präfentänten ſtellte 1). Auf dem Felde der Didaktik erweiterten Meidäni,
gBamathſchari und Schakruh den altarabifchen Bnomenvorrarh zu Lehrbich⸗
rungen, welde das zanze Gebiet der Moral umfaffen, uͤnd än die ziemlich
mythiſche Verſon des Fabeldichters Lokman knuͤpft ſtch bie Enlwicklüng Deb
Apologs, welche dann in dem Thierepos vom dummen und argliſtigen Schal
Mi (, Kalilah ve Dimmah *) ihren Abſchluß fand. Inſofern inch die 'drke
biſche Maͤrchendichtung und Novelliſtik eine ſtark vidaktiſthe Faätrbung krug,
haͤngen dieſe Gattungen mit der Fabelpoeſie genau zufammen. Mohammed
hatte zwar gegen die Märchenluft ſeinteð Volkes geeifert, aber wie vergeblich,
4) Der berühmtefte dieſer drei it Motenebbi, welcher mit Wahrheit von ſich ges
fagt hat:
„Mich kennt das Roß, kie Nacht, das Schlachtrevier;
Der Schlag, der Stoß, die Feder, das Papier.“
Gr wurde 968 im Kampfe mit raͤuberiſchen Beduinen erſchlagen, nach einem Leben
voll bunter Abenteuerlichkeit. Sein Name bedeutet „ter Prophet fein Wollende *
und war ihm zum Spott gegeben worden. Denn beim Beginn feiner Laufbahn hatte
er den mißglüdtten Berfuch gemacht, in Mohammeds Fußftapfen zu treten, und deßhalb
Am Styl des Koran zu den Bewohnern ver Wuͤſte geſprochen:
Bei dem Serne, der geht,
Bei dem Dom, ber fich dreht,
Bei der Nacht, bei bem Tag,
Berſlucht ſei, wer glanben nicht mg !
Ich ſtehe Hei Bekannten,
Din fruͤhern Sottgefandten,
Ya Gott will mir erlaufen,
Zu regeln ten Glauben.
TER"
‘
438
zeigt der Umſtand, daß es ſchon unter dem Ghalifen Omar gewerbömäßige
Erzähler gab, welde für den Märchenhunger ihrer Zuhörer von allen Eden
und Enden ber phantaftiihen Stoff herbeiſchafften. So haͤufte fih nad
und nad ein ungeheures Material von wunderbaren Geſchichten, welches,
fpäter vielfach mod vermehrt und überarbeitet, jezt unter dem Xitel der
Märchen von taulend und einer Naht („ Elf Leila“) weltberuͤhmt il. Neben
Diefer unerjchäpflichen Fundgrube orientalifcher Einbildungsfraft ſteht als
Schatzkammer arabifchen Wiged und Humors die in gereimter, mit Verſen
seich durchwirkter Proſa ſich bewegende Makamendichtung mit ihren kunſt⸗
vollen Wort⸗, Buchſtaben⸗ und Raͤthſelſpielen, welche durch Hariri (fl. 1121)
auf ihren höchſten Gipfel geführt wurde 2). — Als die arabiſche Macht in
Vorderaſten der Invaſion hochaſiatiſcher Horden erlag, verloſch dort auch
das Licht arabiſcher Wiſſenſchaft und Poeſie. In Spanien hinterließ das
Araberthum feinen chriſtlichen Beflegern eine Erbſchaft der Bildung, Die
nomentlih, wie im elften Kapitel des Buches vom Chriſtenthum erwähnt
worden, auf die Anfänge der abendländifchemittelalterlihen Dichtung Ein-
flug übte, Im Morgenland felbft jedoch trieb ner Islam, befruchtet Durch
altperfliche und indiſche Ideen, in der neuperfiichen Literatur noch feine
prachtvollſte Gulturblürhe.
6.
Schon unter Omar wurde Perften eine Provinz bes Chalifat3 und
der Islam verdrängte die Ormuzdreligion. Im Geheimen hingen freilidy
nod Viele derfelben an, indbefondere in den öſtlichen Gegenden des Landes.
Andere wanderten nad Indien aus, wo befanntlich noch jet viele Befenner
des Parftsmus leben, freilich eines zur feellofen Mumie gewordenen Parfis⸗
mus, Einige Jahrhunderte Tang befand ſich dann in Perfien der Prozeß
einer neuen Gultur in ‚wilder Gährung, bis die Miſchung perfticher und
arabifcher Elemente zu einer leidlichen Klärung gediehen war. Ihren Aus-
drud fand dieſe perflich-arabifche Bildung in der neuperflfhen Sprache,
2) Diefe Krone orientaliicher, Nopelliſtik hat bekanntlich Fr. Ruͤckert durch eine
wunderbare Nachbildung, in weldyer der Meichthum, die Biegfamfeit und der Wohllaut
unferer Sprache einen höchften Triumph. feiern, der deutſchen Literatur angeeignet.
(„Die Berwandlungen tes Abu Seid von Serug ober bie Natamen des Hariri“,
3. Auflage. 1844.)
— En — m
433
welche fihon zur Zeit der Saffaniven das Pehlwi zu verdrängen angefangen
batte und in den Tagen, wo unter den moslemiſchen Dynaftien der Sama«
niden und Gasneviden Perfien zu ruhigeren und georbneteren Buftänden
gelangte, als eine reiche und entwidelte Schriftiprache feflgeftellt war.
Es gibt zwei wahrhaft productive Perioden perftfcher Literatur. In der
erften verfchmolz ſich das arabifcheabenteuerlidhe Element des Iölam mit- den
religiößcheroifchen Traditionen des alten Perferthums und aus dleſer Miſchung
ging jene romantifche Epif hervor, die in dem Schahname des Firbuft gipfelt.
Wir haben von diefem größten Dichterwerk des Orients ſchon früheren Ortes
ausführlich gerebet 1) und Eönnen uns daher hier begnügen, zu fagen, daß
dDaffelbe nicht vermöge, fondern im Gegentheil trotz des Jolam geichaffen
wurde. Denn nicht dad modlemifche, ſondern das zendaveflifche Dogma tft
die Seele des Schahname. Im der zweiten Periode nahm der perſiſche I8-
Iam den Bantheismus Indiens in ſich auf und fhuf eine myſtiſche Lyrik, eine
pantheiftifche Theofophie, welche die höchſte Stufe philofophifcher Weltan-
ihauung im Islam ausmacht. Wir verweilen noch einen Augenblic bei
dieſer bebeutendften inneren Entwidlungsphafe des Mohammedanismus.
Den äußeren Anftoß zur perflihen Myſtik gab der von Abu Hafchem
um die Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr. geftiftete moslemiſche Mönchs⸗
orden der Sufi 2). Der Dichter Senaji (fl. 1180) verlieh dann in feinem
myſtiſch⸗didaktiſchen Buch „ Hadika“ dem Sufismus zuerft poetifche Geftalt.
Aber erft als die Einbrüche der Mongolen in Perfien Alles in Frage ftellten
und das drohende Chaos die Menfchen zur Einfehr in fich ſelbſt nöthigte,
gelangte die myſtiſche Lehre zu größerer innerer Vertiefung und zu größerer
äußerer Geltung und Wirkſamkeit. Die Einwirkung des brafmanifchen
Dogma ift augenſcheinlich. Denn die perfifche Myſtik laͤßt ſich ganz gut in
bie brahmaniſche Borderung zufammenfafien: Die menſchliche Ichheit (Be⸗
fonderheit) foll in die göttliche Allgeit aufgelöft werden ?). Der Menfch ver-
nichtet, bet lebendem Xeibe, fein Sch, um fich in Gott wiederzufinden und in
und mit Gott ewig zu leben, in und mit Gott, der in Allem der Eine ift.
In der unendlichen Anfchauung dieſes All⸗Einen zu leben, das ift die voll«
fommenfte Stufe der Heiligkeit, dies daB Biel, nach welchem der wahre Sufi
41) Thl. 1, S. 185 —194.
2) D. i. der Wollebekleiveten, von souf,, souf Boll.
3) Bel. Thl. I, ©. 128.
Scherr, Geſch. d. Religion. II, | 28
434
ringen fotl®). Bwar bat man behauptet, der perfiihe Pantgeismus nuter-
ſcheide fi vom indiſchen Dadurch, dab er Die Perſönlichkeit Gottes feſthalte.
4) Der Sufi Ferideddin Attar (erſchlagen 1226) fingt:
Wem Goit vergoͤnnt, ein Wiſſender zu fein,
In deffen Herzen wohnt nur Gott allein;
Ihn kümmert nicht, was ihm die Welt auch ſchicke;
Sa, auf fich ſelbſt nicht wirft er feine Blicke.
In Ibm (Gott) vernichtet fein heißt Willen nur;
Nicht weiß, wen noch des eig’'nen Dafeins Spur.
Der Wiffende ſtrebt nicht nach beiden Welten ;
Mur Bott allein, fon Nichts kann für ihn gelten;
Auf Goties Antlitz ruht des Geiſtes Bid,
Vom eignen Selbſt bleibt Fein Gefühl zuruͤck.
In den Anmerkungen zu ſeiner trefflichen Verdeutſchung von Sadi's Roſengarten
(S. 241) faßt K. H. Graf Weſen und Form des Sufismus in dieſen Sätzen zuſam⸗
men: — „Die Sufl, deren Urſprung ſich in die Anfänge der Herrſchaft des Islam
in Perfien verliert, bilden nicht etwa eine einzige, durch eine genau formulirte Lehre
von den uͤbrigen Mohammedanern unterfihiedene Seklle, fie ind felbR in eine unzaͤh⸗
ige Menge von Selten oder Schulen geiheilt, die aber alle in der Hauptſache überein:
fimmen, nämlid in dem Streben, fid) über die äußeren Formen ber Religion zu
erheben und durch ein myſtiſches Verſenken in bie Tiefen der Gottheit fih von den
Feſſeln des irdifchen Dafeins zu befreien und zur Cinheit mit Gott zu gelangen. So
mannigfaltig die Lehren find, welche die einzelnen Schulen über die Art und Weile
auffteflen, wie man zu diefem Siele gelangen fann, fo flimmen fie doch im Allgeıneinen
darin überein, daß es vier Hauptftufen gibt, die der Suft zu durchlaufen hat, bevor er
daſſelbe erreicht. Die erſte Stufe ift die des Gefehes, auf welcher die gewöhnlichen
Menſchen, denen der Sinn für das Höhere nicht aufgegangen iſt, ftehen bleiben ; durch
genaue Beobachtung der im Islam vorgefihriebenen Gebote und Gebrauche bereitet
ſich der Strebende zur Aufnahme der höhern Wahrheit vor. Dann ſucht er einen durch
feine Erleuchtung und Heiligkeit ausgezeichneten Pir oder Scheich, d. h. Alten, auf,
ſchließt ic ihm als Jünger an, gelobt ihm unbedingien Gcherfam, und gelangt fo
auf die zweite Stufe, welche der Pfad genannt wird, wo er die Beobachtung ber relis
giöfen Gefege und Ceremonien als etwas Neußerliches und Todtes von ſich wirft, oder
fie nur noch beibehält, um vor dem Volke nicht als ein Ungläubiger zu erfcheinen und
fein geheimes Wiſſen deſto fiherer bewahren zu koͤnnen, wo er von dem Eörperlichen zu
dem geiftigen Gottesdienſt auffleigt. Mur große Frömmigkeit und geiſtige Kraft kann
aber den Suft befähigen, fidy fo von den Banden des Gefepes Ioszumaden, um Gott
im Geiſte und in der Wahrheit anzubeten und auf biefem engen und rauhen Pfade zu
gehen, ohne zu ſtraucheln. Iſt es ihm aber gelungen, gläubig und Heilig darauf fort-
zuwanbeln, fo erreicht er die dritte Stufe, die des Willens, wo er, im Befite ükerna=
tüclicher Ginficht, den Engeln bes Lichtes gleich ifl, die an dem Throne Goties fichn.
235
Aber bet näherem Bufehen verſchwindet biefer Unterſchied, oder wo er
hervortritt, ſteht er einer Scheinconceiflon an die modlemiſche Ortbobexte
ſehr ähnlich.
Eine Heihenfolge großer Dichter, unter denen wieder Dſchelaleddin
Rumi, Sadi und Hafis vorragen, unternahm es, biefen philoſophiſchen Pan⸗
theismus didaktifch und lyriſch zu predigen. Mewlana Dſchelaleddin Mumi
(1207—1273), die „Nachtigall des beſchaulichen Lebens“, fliftete Dem
Orden der tanzenden Derwiiche („ Mewlewi *), welche, um den in der Mitte
Killfigenden Scheich beim Klange der Trommel und Ylöte unter dem Aus-
ruf „Allah hu!“ im Kreife fich drehend, durch diefen Eultact das Sichdrehen
und Schwingen aller Weſen um das N: Eine fpinbolifiren 2). Sein doppel-
gereimteß Lehrgedicht „ Mesnewi“ iſt das Brevier der Mewlewi, aber höch⸗
ſten Schwung nimmt feine Myſtik in den Ghafelen feines Diwan, Hier
tönt ber perſiſche Pantheismus bithyrambifh auf, Wohin der Dichter
blickt, überall fieht er nur das All-Eine 6). In taufend Geflalten offenbart
Dann bat er nur noch einen Schritt zu thun, um bie vierte, bie hoͤchſte Stufe, das
Ziel, nad) dem feine Seele feufzt, zu erreichen, das Ziel der Verfenfung in die Bott:
heit, des völligen Cinsſeins mit Gott. Dieſes hoͤchſte Ziel erreichen nur wenige Aus-
erwählte während ihres irdifchen Daſeins; biefes find die heiligen Lehrer, um welche,
wie um höhere Weſen, zahlreiche Schüler fich fchaaren, mit dem Wunfche, ihrer gött-
lichen Erleuchtung theilhaftig zu werden und fih von ihnen auf den Pfah der Wahrheit
leiten zu laflen.
8) Ich kenne zwei Ghaſele Dichelaleddins, welche eigens für den Tanz der Mew⸗
lewi gebichtet wurden. Beide enthalten die Aufforkerung zu dem myſtiſchen Reigen: —
Schal’ o Trommel, ball’ o Flöte! Allah hu!
, Wall’ im Tanze, Morgenröthe! Allah hu! u. ſ. f.
Das zweite ift tieffinniger. Es beginnt mit den Worten:
Tritt an zum Tanz! Wir ſchweben in dem Reih'n der Liebe,
Mir ſchweben in der Luſt und in der Bein ber Liebe —
und endigt mit dem Vers:
Ih kann die Raͤthſel alle dir ber Schöpfung jagen,
Denn aller Raäthſel Löfungswort ift mein, ber Liebe.
Bine hoͤchſt anfchauliche Schilderung des Tanzes der Mewlewi findet ſich bei Hailbrons
ner („Morgenland und Abendland,“ I, 94 fg.).
6) Ich fah empor ımd fah in allen Raͤumen Gines,
Hinab in’s Meer und fah in allen Wellenfchäumen Eines.
Sch ſah in's Herz, es war ein Meer, ein Raum ber Welten,
Bol taufend Trkum’, ich ſah in allen Träumen Eines.
| 28*
436
es fich, immer anders und doch Immer Dafielbe. Nie und nirgends, darf
man ohne Anftand behaupten, bat die myſtiſche Ekſtaſe ihr Sicheinsfühlen
mit der Weltfeele glänzender manifeftirt als in den Ghaſelen Dſchelaleddins,
welcher ein jauchzendes Credo der Durchgottung bes Univerſums angeftimmt
hat ). Er ift e8 auch geweien, welcher mit aller Entfchiedenheit der pharifät-
fhen Werkheiligfeit im J8lam entgegentrat und namentlid dem Gultgebot des
Wallfahrens eine Höhere Deutung gab®). Bon den Werken des Mos⸗
licheddin Sadi (1175—1263) kommt Hier der Mofengarten („ Guliſtan *)
in Betracht. Das audy in Deutichland fehr bekannte und geſchaͤtzte Buch iſt
Du biſt das Erſte, Lepte, Aeußre, IJunre, Ganze;
Es ſtralt dein Licht in allen Farbenſaͤumen Eines.
Du ſchauſt von Oſtens Gränze bis zur Graͤnz' im Weſten,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen Eines; _
_ Bier widerfpänft’ge Thiere zieh'n den Weltenwagen ;
Du zügelft fie, fie find an deinen Bäumen Gines.
Luft, euer, Erd’ und Waſſer find in Eins gefchmolzen
In deiner Furcht, daB dir nicht wagt zu bäumen Eines.
Der Herzen alles Lebens zwiſchen Erd’ und Himmel .
Anbetung dir zu fchlagen foll nicht fäumen Eines. (Ruͤckerts Ueberſ.)
7) So 3. 3. in dem befannten, oft citirten Ghaſel, welches anhebt:
Sch bin das Sonnenftäubchen, ich bin der Sonnenball;
Zum Stäubchen fag’ ich: Bleibe! und zu der Sonn’: entwall’ !
und mit den echipantheiftifchen Berfen fchließt :
Ich bin der Wefen Kette, ich bin der Welten Ring,
Der Schöpfung Stufenleiter, das Steigen und der Fall.
Ich bin, was iſt und nicht it. Ich bin, o der du's weißt,
Dichelaleddin, o fag’ es: ich bin die Seel’ im ALL!
8) In folgendem fchönen, von Rofen überfegten Ghaſel: —
° Die Pilger, die zur Kaabah ausgegangen,
Wenn endlich fle zum Ziele hingelangen,
Seh'n fie ein Haus von Stein, erhaben, heilig,
- Bon fahlen Thalabhängen rings umfangen.
Sie ziehen aus und hoffen Gott zu fhauen,
Sie ſuchen viel, umfonft ift ihr Verlangen !
Doch fchallt wohl eine Stimme aus dem Tempel,
Weaenn deſſen Schwell’ inbrünftig fie umfangen :
1 „Was betet ihr zu Thon und Stein, ihr Thoren?
- Das Haus verehrt, nach dem die Reinen rangen,
Des Herzens Haus, das Haus des Wahren, Einen —
O felig, die in diefen Tempel drangen!“
eine Art morgenländifchen Gefellfchaftäfptegeld oder auch, wenn man will,
eine Art „Anwetfung zum feligen Leben“, d. h. es Außert fih darin nicht,
wie in den Diwanen Oſchelaleddins, eine träumerifhe Gotttrunfenheit in
dithyrambiſchen Lauten, fondern eine fpruchfertige, die Erſcheinungen des
Lebens mit hellem Auge meſſende Weisheit gibt praftifche Regeln, die aber
doch wieder nicht ohne myſtiſch⸗poetiſchen Anhauch find. Denn auch —
Sadi war Pantheift. Zugleich jedoch ift in ihm-ein Zug von Nationalismus,
vielleicht fogar von Skeptik, Anfäge zu jener Ironie, welde dann in.den
Liedern bed Mohammed Schemseddin (d. i. Glaubensfonne), genannt_Hafis
(d. i. der_Bewahrer, Auswendigwiffer , nämlich des Koran) mit fouverainer
Macht Hervorbridt. Hafis (ft. 1389) if von allen morgenländijchen Dich⸗
tern im Abendland, wenigftens in Deutfchland, am populärflen geworben 9).
Er war Suft, Pantheiſt, Myſtiker, zugleich der kühnſte Ketzer des Orients
und ein frommfter Moslem. Sofern man wenigftend den höchſten Grad
der Glaͤubigkeit in der ſelbſtbewußten Einheit mit Gott ſehen will. Bei
Hafis iſt überall die Materie vom Hauch des Göttlichen durchgeiſtigt, das
Weltall von der Gottheit durchdrungen. So konnte er in der Wirklichkeit
eine Verförperung des Ideals erblicken, eine „„befte Welt“, und mit gott
trunfenem Enthuſtasmus zum beiteren Genuß diefer beften Welt auffordern.
Es tft ihm vollkommener Ernft, wenn er fingt, auch Kuß und Wein jeien
göttlich, aber wer ihm das als Frivolität anrechnen wollte, müßte überhaupt
bie pantheiftifche Weltanfchauung als frivol verwerfen. Wenn man endlich
betrachtet, mit welcher überlegenen und göttlich heiteren Ironie Hafis feine
Polemif gegen allen Egoismus, Buchftabendienft, Pfaffen» und Philifter-
geiſt führte, fo Eommt man unfchwer zu der Anftcht, diefer perftiche Poet ſei
der freiefte Geift gewefen, welchen der Orient überhaupt hervorgebracht hat.
Insbeſondere find feine Lieder die genialfte Manifeflation der Sreieit und
des Humanidmus im Islam.
In Hhafis Hatte diefer eine Stufe erreicht, von welcher er entweder zu
neuen Entwidlungen vorfchreiten oder aber wieder zurüdfinten mußte.
9) Hauptfächlich durch die Verdeutichung feiner Gedichte durch Daumer. NIE
eine fo bedeutende Leitung, Eünftlerifch genommen, dieſe Berbeutichung anerkannt
werden muß, fo ift doch zu fagen, daß diefelbe weit mehr eine Umdichtung iſt, und zwar
im weiteften Sinne des Wortes, als eine Meberfegung. ine Lefe Hafis’fcher Gedichte
von verfhiedenen Weberfebern gibt Jolowiczs „Polygloite d. oriental. Poeſie,“
S. 545559.
Lange konnte der Dithyrambos der perfifcken Myftit nicht währen, und da
felb der Hafis'ſchen Weltfeligfeit immer noch ein flarker Zug moslemifchen
Fataliomus angebaftet hatte, fo kann es kaum befremden, daß bei erfolgtem
Müdgang der perfifchen Eultur die muftifche Efflafe zu trägem Quietismus er-
ſtarrte. Diefe qnietiftifche Erflarrung , welche feitber das Hauptmerkmal der
moß8lemifchen Eultur geblieben, Fündigte ſich bereitö am Ausgang des 14. Jahr:
hunderts in der perflfchen Literatur an, deren mit Hafis entichwundenen
Genius das Talent eines Mewlana Oſchami (fl. 1492) nicht wieder zurüd-
zubringen vermochte. Schon in der berühmten Fabelnſammlung der „An-
wari Soheili* wird die indiſch⸗bhuddiſtiſche Gleichgültigkeit als höchſte Weis:
beit und Tugend gepriejen 10) und an die Stelle des weltgeſchichtlichen Pro-
zeffeß tritt die beſchauliche Kirchhofäruhe. Im diefer Dammert der Geift de
Islam, in der türfifchen Literatur nur als ſchwacher Nachhall arabticher und
perfiicher Vorklänge aufgetreten, feit Sahrbunderten dahin. Ob er ſich je
wieder zu neuen Offenbarungen aufraffen wird — wer mag e8 fagen?
— — — —
Wir ſtehen am Ende unſerer Wanderung durch das weite Gebiet der
Entfaltungsgeſchichte der religiöſen Idee. Der Leſer, welcher mir mit Ge⸗
duld bis hieher gefolgt iſt, wird mir das Zeugniß nicht verſagen, daß ich
mich redlich bemühte, Feine auch nur irgendwie bedeutende Seite dieſes uner⸗
meflichen Gebietes unbeachtet zu laſſen. Möge e8 mir, wünfche ich, einiger
maßen gelungen fein, ihm bie Mühfale des Tangen, fehwierigen und ermüben-
ben Weges zu verbergen.
In Betreff der Mängel meines Buches habe ih ein fo lebhaftes Ge-
fühl, als es nur der ftrengfte Kritiker haben fann. Seit dem Erfcheinen
des erften Theild hat die Spezialforihung namentlich in Beziehung auf den
alten Orient Manches zu Tage gebracht, was jeßt jenen Abſchnitten zu gute
kaͤme. Ich würde daher bier thunliche Berücfichtigung dieſer neuen Ent-
— nn 2
10) SR einer Belt Befig für dich zerronnen,
Set nicht im Leid darüber — es ift Nichte;
Und haft du einer Welt Beflg gewannen,
Set nicht erfreut darüber — es iſt Nichte.
Vorüber geh’n die Schmerzen und bie Wonnen,
Geh' an der Welt vorüber — es if Nichts. (Grafs Heberf.)
— — — —
0 439
deckungen — fofern fie, was zuwetlen der-Ball, nicht bloße Hypotheſen find
— verſprechen, wenn nicht bie Ungunft einer Zeit, welche für höhere und
höchſte Ideen und Probleme meift nur eine fpärlidhe und verdroffene Aufe _
merffamfeit hat, die Ausftcht trübte, daß mein Buch in zweiter, vervollkomm⸗
ter Seftalt erfcheinen fönnte. So, wie die Sachen fichen, muß ich mid) be=
gnügen, zu fagen: Einzelnes mag man tadeln, und zwar mit Net, das
Ganze aber dürfte felbft ein firenges Urtheil gelten laſſen als den erſten Ver⸗
juch einer mit unbefangenem Geifte gefehriebenen vollftändigen Gefchichte der
Religion.
Die religiöfe Zeugungskraft der Weltgefchichte ſcheint einflweilen er-
fchöpft zu fein, im Großen, wie im Kleinen. Im Großen, denn im Orient
hat feit dem Islam, im Occident Hat feit der Neformationdzeit die religidfe
Idee nichts Weltgefchichtliches mehr geichaffen. Im Kleinen, denn von
äußerlihen Gewaltmitteln, welche gegenwärtig fo vielfach in religiöfen Din-
gen den innerlichen Trieb erfegen follen, wird Niemand im Ernſte Gutes
erwarten.
Biele Anzeichen fprechen dafür, daß wieder einmal ein Tag der Welt- .
gefchichte fich dem Abend zuneige. Der große Motor unferer Zeit, der In⸗
duftrialismus, wird feine Miffton vollenden, d. h. er wird nicht raften noch
ruhen, bis er die legten Reſte des Feudalismus vom Erdboden weggefegt hat. :
Das ift fein Recht. Seine Schuld wird fein, daß er in ungezügelter Herrſch⸗
ſucht und wüthender Gier nach Gewinn auch alle Tempel vertilgen wird, die
dem Böttlihen und dem Menfchlichen, den ewigen Idealen errichtet find, um
auf den Trümmern derfelben das goldene Kalb zu inthronifiren. Menfchen
- mit Herzen fo hart wie der untere Müplftein und mit Stirnen von Erz wer⸗
den um dieſen Götzen den Reigen tanzen. Aber mitten in den Bacchanalien
eine bleternen und ſchmutzigen Materialismus wird eine furchtbare Nacht
die entgötterte Welt, die poeftelofe Geſellſchaft überrafchen. Die Geſchichte
der Menfchheit zählt mehr als eine folde Nacht voll ungeheurer Zerftörung.
Doch immer ift dieſen Nächten wieder der Morgen gefolgt. Die Finfterniß ift
ſtets mit dem Lichte ſchwanger und aus dem Grabe einer Welt grünt und
blüht eine neue auf. Dfchelalebdin fingt: —
Wohl endet Tod des Lebens Noth,
Do ſchauert Leben vor dem Ton,
Das Leben fieht die dunkle Hand,
Den hellen Kelch nicht, den fie bot.
So ſchauert vor der Lich’ ein Herz,
Als wie vom Untergang bebrohi;
Denn wo tie Lich’ erwachet, Richt
Das Ich, der tunfele Despot.
Du laß ihn flerben in ter Nacht
Und athme frei im Morgenroth!
Druck von Dito Wigand in Leipzig.
Negiiter.
(Die römische Zahl bezeichnet den Theil oder Band, die arabifche die Seite.)
A.
Abendmahlslehre III, 126 fg.
Abendpmahlöftreit II, 100.
Aberglaube im Ehriftenthum III, 242 fg.
Abhängigfeitsgefühl des Menfchen I, 4.
Ablaß II, 113, 210.
Adityas I, 106.
Adonai II, 112.
Adonis II, 78.
Adoptianer III, 99.
. Adrafteia II, 186.
Negypter II, 3 fg.
Aeſchylos II, 196.
Aether IL, 161.
Ngapen III, 109, 137.
Agathodämon II, 187.
Agni l, 104.
Ahriman I, 170.
Ahuras 1, 169.
Aides (Ais) II, 164, 183.
Mi II, 299.
Albigenfer III, 211.
Albordfch I, 98, 174.
Alfadhir II, 313.
Alfar II, 326.
Allah II, 387.
Amazonen II, 83,
Amor II, 208.
Amppitrite II, 179.
Amſchaſpands I, 171.
Amun II, 16 fg.
Anahidäa I, 173.
Anahuac I, 83,
Ananga I, 112.
Nnath IL, 26.
Anaragoras III, AO.
Anarimanter III, 38.
Anarimenes 111, 38.
Anninga I, 41.
Anthropomorphismus II, 161, 178.
Antifipenes III, 4.
Anubis II, 26.
Anufe II, 19.
Aphrodite II, 163, 170.
Apofalypie II, 340.
Apokryphen II, 98.
Apollo II, 208.
. Apologetif III, 283 fg.
Apophi II, 23.
Apoſtel IIT, 88.
Apfaras I, 103.
Arabien, Land und Volk IN, 361 fg.
Ares II, 174.
Arges II, 163.
Arier I, 98 fg.
Nriofto III, 348.
Ariftipp II, 41.
Ariſtophanes II, 196.
Ariftoteles III, 43.
Arius III, 98.
Arminiancr II, 134.
Arnold von Brescia III, 117.
Artemis II, 175.
Arueris 1, 23. _
Afchera II, 68 fg.
Aſen II, 313.
Nienheim IL, 312.
Asgard Il, 312,
Aſidäer III, 9.
Askeſe, die indifche I, 129.
— die chrifiliche III, 289 fg.
Asklepios II, 179,
Asfı II, 310.
Aflaffinen III, 423.
Nitarte I, 73 fg.
Afteria IL, 162.
Afträos II, 162.
442
Afuren I, 106.
Asvinen 1, 108.
Atbanaflus III, 98.
Atlas II, 162.
Atiye II, 82.
Audhumbla II, 307.
Aufklärer III, 307 fg.
Auguflinus III, 96 fg.
Aum I, 107.
Auftralier I, 19.
Avataren I, 120.
Averroẽs III, 430,
Avizenna III, 430.
Azieken I, 40 fg.
B.
Baal II, 68 fg.
Baaltis II, 68 fg.
Baau II, 77.
Babel III, 423.
Babylonien II, 61.
Bad III, 338.
Bacchus II, 210.
Bacon, Roger III, 297.
Bacon, von Berulam IH, 303.
Baiwe I, 4.
Baldur III, 314.
Bann Ill, 209.
Barden II, 234 fg.
Bafiliken III, 184.
Bauhütten III, 272.
Bauer III, 287.
Baur III, 287, 318.
Bedrebdin III, 224.
Beelzebub III, 17.
Beethoven Ill, 338.
Begharden und Beghinen III, 116.
Beheſcht I, 179.
Beiram III, 310.
Bel lI, 63, 87.
Belbogi II, 261.
Belen 11, 239.
Bellona II, 206,
Belfta II, 308.
Beltis II, 63, 87.
Bergelmir II, 308.
Beichneidung, die der Neger I, 33.
— die der Aegypter II, 30.
— die der Hebraͤer II, 134.
— bie der Moslim II, 408.
Bhagavadgita I, 149.
Bhavani 1, 109.
Bibel N, 98 fg.
Bifroͤſt I, 312.
Bilbog II, 262.
Bilderverehrung III, 100.
Bjelbog II, 263.
Boa 1, 41.
Boccaccio III, 348.
Bog II, 261.
Bogdo⸗Lama I, 242,
Bob II, 269.
Böhme III, 300.
Bonald III, 320.
Bon-fu I, 236.
Boͤr II, 308.
Boͤrekluͤdſche III, 224.
BoresSeth II, 28.
Bragi II, 314.
Brahma, das I, 107.
Brahma, der I, 109.
Brahmanen 1, 117.
Bretfchneider IIl, 312.
Briareos II, 163.
Brontes II, 163,
Bruno III, 298.
Bubaſtis, |. Anath.
Buddha I, 223 fg.
Buddhismus 1, 222 fg.
Bundeheich I, 162.
Bundeslade II, 124.
Buonarotti II, 332.
Buri II, 308.
Buſchmaͤnner 1, 16.
Büßerlegenden, indifche I, 130.
Byron III, 383.
@.
Galderon III, 348. .
Galifornier I, 16.
Calvin III, 220.
Camokẽs Ill, 348.
Gampanella III, 299.
@anones Ill, 194.
Cardano III, 298.
Gardinäle III, 200.
Garriere III, 298, 319.
Garteftus, f. Descartes.
Cäfar I, 232. III, 38.
Genteotl I, 88.
Geres II, 210.
Geridiwen II, 239 fg.
Gervantes III, 348.
Chalifat III, 397.
Chalifen III, 408, 421 fg.
Chalybäus III, 319.
Chariten II, 178.
Chaſeph II, 189.
+
Chateaubriand III, 320.
Cherubim II, 114.
Chiliasmus III, 111.
Chineſen I, 194 fg.
Ehriftenverfolgungen III, 186 fg.
Chriſtliche Lehrentwicklung III, $9 fg.
Chriſtenthum IH, 1 fg.
Chriſtus III, 87.
@icero II, 220. III, 3%, 47.
Coͤlibat IH, 201, 262 fg.
Communismus II, 361.
Concilien III, 90.
Condillac III, 309.
Eonfeffionen II, 89 fg.
Eonfurius, f. Kongstfe.
Eonftitutionen, apoflolifche IH, 194.
Eorreggio I1l, 332,
Couſin III, 320.
Greatianismus III, 122.
Cultus, Begriff deflelben I, 18.
der der Naturreligionen I, 19— 42,
der aztefifche 1, 63 fg.
der peruanifche 1, 82 fg.
der brahmanifche I, 182 fg.
ber zoroaftrifche I, 183 fg.
ber chineftiche I, 208 fg.
ber buddhiſtiſche I, 233 fg.
der ägyptifche II, 33 fg.
ber babylonifche II, 64.
der fyrifsphönitifche H, 68 fg. .
der phrngifche II, 80 fg.
der bebräifche IL, 119 fg.
der beflenifche II, 188 fg.
der römifche II, 213 fg.
der Eeltifche IL, 247 fg.
der flavifche II, 274 AR
der finnifche II, 288.
der germanifche IL, 336 fg.
der chriftliche III, 136 fg.
der moslemifche III, 398.
Eyriflus III, 98.
Gzart II, 269.
Ezernobogi Il, 261.
Gzernybog II, 269.
D.
Da Du a ED a a En u
Dagon II, 68.
Dairt II, 221.
Dalai:tama, f. Tale⸗Lama.
Dämoheneult, mongolifcher I, 44.
Dante III, 346 fg.
Deismus III, 308.
De Maiftre III, 282.
Demeter I, 164, 181. .
Ebioniten IH, 91.
Demofritos II, 39.
Derketo II, 68. -
Derwiſche TIL, 409.
Descartes III, 301.
Deufalion II, 170.
Deutfchkatholifen III, 223.
Deva I, 103.
Dews I, 171.
Diafonat IT, 189. ,
Diana II, 208.
Dichtung, altchriftliche IIL, 341 fg.
Dido-Anna II, 75.
Diehod III, 407.
Diinnen Il, 388.
Dinge, bie legten III, 83 fg. 134 fg. 392 fg.
Diogenes III, 41.
Dionyfos I1, 181.
Doͤckalfar Il, 326.
Dogma, das moslemifche III, 386 fg.
Dogmengefchichte II, 289,
Dom II, 154.
Domherren III, 203.
Domoviesdufi II, 264.
Donar II, 299.
Donatiften III, 213.
Druiden II, 231 fg. 281 fg.
Druidinnen II, 234 fg.
Dryaden II, 182.
Dſchami III, 438.
Dfchelaleddin III, 4385.
Dürer III, 333.
. Durga I, 109.
Dusdähtfchitfch I, 42.
Duzakh I, 176.
Dvergar II, 326.
Edart III, 118.
Edda (ältere und jüngere) H, 304 fg.
Edelmann III, 306.
Eheweien, chriftliches III, 3238, 262,
— woslemiſches III, 413 fg.
Eileithyia IL, 17.
Einherier II, 313.
Einfiedlerweſen III, 264 fg.
Eir II, 316.
Eisriefen, f. Hrimthurfen,
& 11, 112.
Elben II, 302.
Elfen II, 243.
Gtion II, 112.
@lohtm II, 112.
Elyſion II, 188.
444
Embla II, 310.
Encyklopaͤdiſten HI, 309.
Engel, im Hebraͤismus II, 114.
— im Chriſtenthum III, 109, 130.
— im Sslam III, 388.
Engelbrüber III, 2328.
808 Il, 162.
Gpyifuros III, 48.
&pimetheus II, 162.
Episfopat III, 190.
Epistolae vir. obscur. Ill, 349.
Erebos II, 161.
Grinnyen II, 163, 183.
Erloͤſungslehre III, 103 fg.
&tos II, 160, 177.
Erwin von Steinbach III, 241.
@ielsfeft III, 274.
Eſſäer III, 9.
Eſus II, 239.
Cuchariſtie III, 109, 147.
Guhemeros 111, 28.
@uflites III, 41.
Gumeniten I], 183.
@uripides Il, 196.
Ewald III, 288.
Exegetik 111, 288.
Grorcismus III, 244,
8.
Fafire IIL, 409.
Fanatismus, chriſtlicher III, 253.
Faſten III, 260, 401.
Faftnachtsfpiele III, 339.
Fatalismus, moslemifeper III, 389.
Yatum II, 208.
Faunus IL, 206,
Febris II, 206,
Teen Il, 241.
Tegefeuer III, 111.
Fenris II, 318.
Feruers I, 169.
Feſte, die chriftlichen III, 139 fg.
— die moslemifchen II, 410.
Fetiſche I, 32.
Fetiſchismus I, 18.
Setifchmänner I, 33,
Feuerbach III, 316.
Fichte, d. ä. I, 312. d. j. II, 319.
Fides II, 206.
Fimbultyr II, 334.
Finnen II, 227, 284.
Firduſi I, 183. III, 433.
Fifchart III, 349.
Blagellanten, |. Geißler.
Flora II, 206.
%0 I, 199.
Foraſizzo II, 299.
Forfetti II, 314.
Kortuna II, 208,
Fourier III, 282.
Brand III, 308.
Stande III, 239.
Freia II, 316, 320.
Freidenker, die englifchen II, 303 fg.
— bie deutfchen III, 305 fg.
Freimaurerei IL, 272.
Kreir II, 320.
Frigg II, 318.
Sriffa IL, 299.
Fro IL, 299.
Frouwa II, 299.
Fulla II, 316.
Furien II, 212.
G.
Gaͤa II, 189.
Gajatri I, 126.
Galilei III, 303.
GSandharven I, 108.
Ganeſas I, 112.
Ganyınedes II, 178.
Gefion II, 316.
Geißler III, 261 fg.
Senefis, Buch der II, 101.
Benugthuungsfehre IH, 103.
. Germanen II, 289 fg.
Geſellſchaft Jeſu III, 286 fg.
Gefenius III, 288.
Ghebern 1, 139.
Giganten II, 163.
®imil II, 338.
Gioberti IH, 319.
Gitagovinda I, 123, 150.
rieverung D et Religionegeficte l,
Gluck III,
Gnall, m
Gnatenmahl II, 92.
Gnoſticismus III, 293 fg.
Goldalter II, 327.
Gorinia II, 264.
Gorotman I, 179.
Görres II, 321,
Goſchurun 1, 175.
Göthe III, 352,
Gott, hriftliche Lehre von III, 102 fg.
Bottesdienft, f. Eultus.
Sottesfreunte III, 118.
Götterdämmerung, f. Ragnarok.
13.
2
Gottesgerichte, die der Neger I, 34.
Gottesurtheil IH, 248 fg.
Gottfried von Straßburg III, 346.
Grazien, f. Ehariten.
Gregor der Siebente III, 200.
Griechen, 1. Hellenen.
Groot III, 118.
®ünther III, 321.
Gwarthawn II, 243.
Gyges II, 163.
Gypti II, 6.
H.
Hades II, 187.
Hafis III, 437.
Hagada III, 388.
Hagenbach III, 319.
Halacha III, 3854.
Halbgötter II, 184.
Hamäfa III, 368.
Händel III, 335.
Haraveks I, 91.
Hariri III, 432.
Harpyien II, 179.
Har:Seph IL, 20.
Hathor II, 19.
Hausgeifter IL, 302.
Havamal II, 344,
Haydn III, 338.
Hebe II, 178.
Hebräertbum II, 90 fg.
Hegel III, 314.
Heiligendienft III, 142, 243 fg.
Heimdall II, 314.
Seine III, 383.
Hel II, 318.
Helden, germanifche II, 300 fg.
Heliand III, 348.
Helios II, 162, 179.
Hellen II, 170.
Hellenen II, 146 fg.
Hellia II, 300.
Helvetius III, 309.
Hemera II, 161.
Hengftenberg III, 318.
Hephäftos II, 173.
Hera II, 164, 173.
Herafles IL, 184.
Heraklitos II, 38.
Hercules li, 213.
Herter III, 313.
Hermes II, 174.
Hermes, Georg III, 321.
Hermetifche Bücher II, 14.
Heroencult der Griechen II, 183.
Herrnhuter III, 224.
Heflodos II, 183, 157.
Heftia II, 164, 178.
Herenhammer, f. Herenwefen.
Herenfabbath, f. Hexenweſen.
Herenwefen III, 244, 247 fg.
Hidjrah Mohammeds II, 347,
Hilft II, 287.
Hindoftan, Land und Leute I, 98 fg.
Hiob, Buch II, 144.
Hitopadefa I, 149.
Hitzig II, 288.
Hlin U, 317.
Hluodana II, 299.
Hnoß II, 316.
Hödur II, 314.
Hohepriefter II, 122.
Hoheslied II, 143.
Holbein III, 333.
Holda II, 299.
Hom I, 163.
Homeros II, 153, 187.
Homiletif III, 291.
Homorofa IL, 62.
Honover I, 169.
Horagalles I, AO.
Horatius III, 34.
Horen II, 178.
Hornophre IL, 17.
Horus 11, 21.
Hrimthurfen II, 307.
Husdao I, 177.
Hugo IN, 383.
Huißilopotchli I, 89 fg.
Huirtocihuatl I, 59.
Humanismus III, 116, 349.
Hünen IL, 302.
Huß II, 118.
Hyiſos II, 10 fg.
Hylas II, 83.
Hymenäus II, 209.
Hyperion II, 162.
3.
Jahve II, 112.
Safobi III, 312.
Sama I, 106.
Sanfe III, 138.
Sanfenismus Ill, 134 fg.
Sapan I, 219 fg.
Sapetos II, 162.
Iblis III, 385, 389.
Spafeld II, 337.
-— 1-8 .
Idealismus, der chriſtliche III, 840 fg.
Sehova II, 112.
Sefuitismus, ſ. Geſellſchaft Jeſu.
Jeſu Leben III, 80 fg.
Jeſu Lehre MI, 69 fg.
Jezidi, f. Defiden.
Smamet III, 396,
Immunitaͤt ui, 193.
Imuteph II, 23.
Inder I, 98 fa.
Indianer I, 20 fg.
Sindra I, 104.
gubußrialiömus III, 139,
Inkas 1,
innere en II, 240.
Innocenz der Dritte III, 203.
Inquifition III, 211 fg.
Interdict III, 209.
Sinti (Intip) 1, 80.
Sinveftitur III, 199.
Joga I, 129.
Jogi, f. Joga.
Joh II, 19.
FJoͤrdh II, 316, 321.
Jörmungandr II, 318,
Zötunen II, 322.
Fötunbeimt II, 310.
Jovis II, 204.
Stan I, 187.
Iris II, 178.
Ifis II, 23 fg.
Islam III, 359 fg. 386.
Jubeliahr II, 120.
Juda Ha⸗Levi III, 356.
Suoenehlahten m̃, 284 fg.
Judenthum, das in ber Geitichen Belt
III, 353 fg.
Zugendbildung, chriſtliche IN, 283.
Juksakka I, 40.
uno II, 208.
Jupiter II, 208.
SJutribog II, 268.
Suvenalis II, 211. III, 38.
K.
Kaabah III, 368, 404.
Kabbala III, 383.
Kaiomorts I, 175.
Kaleda IL, 263.
Kali 1, 109,
Kalidafa I, 180.
Ramadeva I, 112.
Kamidienft I, 220,
Kamos II, 68.
Kanaan, ſ. Palaͤſtina
Kant III, 310 fg.
Kaftenweien, inpifches I, 117.
— ägyptifcen II, 48.
Katechetik IH, 291.
Ratechumenen III, 148.
Katharer III, 107.
Kawe II, 288.
Kebleh (Kiblah) Ill, 400.
Kefforet III, 401.
Kelten II, 225 fg.
Kepler in, 303.
Keto i, 170.
Ketzer, ſ. Katharer.
King, heilige der Ehinefen I, 200.
Kirche, Begriff der III, 106, 129 fg.
- Kampf, Triumph, Berfaflung,
Spaltung ber IIl, 161 fg.
Kirchen III, 89.
Kirchengefchichte III, 288.
Kirchenväter III, 101.
Kirchenverfammlungen, f. Concilien.
Kirchenzucht III, 207 fg.
Klerus III, 190.
Klöfter, |. Moͤnchsweſen.
Kneph II, 16 fo.
Koatlicue I, 88.
Kolpios II, 77.
Koltki II, 264.
Kongstfe I, 199 fg.
Köos II, 162.
Kopernicus III, 303.
Koppa I, 419.
Koran III, 370, 384 fg.
Korybanten II, 81.
Kottos II, 163.
Kranach IN, 333.
Kreugzüge III, 279.
Krios Il, 162.
Krifchna I, 121 fg.
Krodo II, 268.
Kronos II, 162 fg.
Kunottari II, 288.
Kunft, aztekiſche I, 73.
peruanifche I, 91.
indifche 1, 147 fe.
chinefifche I, 211 fg.
ägyptifche II, 51 fg.
griechifche II, 198 fg.
römifche II, 216.
keltiſche IL, 247.
hebräifche III, 16.
chriſtliche III, 322 fg.
moslemifche III, 424 fg.
u MH Min
Kupalo II, 263.
Kupay I, 82.
Kutka I, 42.
Kybele (Kybebe) II, 79 fg.
Kyflopen II, 163.
L.
Lado (Lada) II, 263.
Lakſchmi I, 109.
Lamaismus I, 240,
Zamenais III, 320.
Lao⸗tſe I, 201.
Zaren II, 208.
Larven II, 207.
Leben, fittliches und fogiales im Chriftens
thum III, 226 fg.
Led II, 263.
Leibnitz III, 306,
Lel II, 263.
Lemuren II, 207.
Leo III, 318.
Leſchie II, 264.
Leſſing III, 308.
Leto Il, 162.
Zeufothea II, 180.
Richtfreunde III, 228,
Liebig III, 318.
Ljosalfaheim IL, 312.
Ljosalfar IL, 326.
Litanei III, 181.
Liturgie II, 147.
Liturgik III, 291.
Locke III, 304.
Lofo 11, 316.
Logosidee III, 93.
Lohho (Loko) II, 299.
Lofi II, 317 fg.
Zope III, 348.
Zucretius II, 220. III, 34.
Zufianos III, 28.
Zuther III, 217 fg.
M.
Ma II, 82.
Macchiavelli III, 349.
Machinito I, 28.
Mager I, 160.
Magie III, 242.
Mahabharata I, 149.
Mahan-Atma I, 107.
Maja I, 118.
: Maimon (Maimonides) II, 888.
Malina 1, 4.
Mama Dello Huasko I, 79.
#47
Mama Duilla I, 80.
Manabozho I, 23,
Manen II, 206.
Manichäer III, 214.
Manitu I, 21.
Manko Kapakl, 79,
Mannus 11, 301.
Mantik 11, 192.
Manu I, 102,
Marabuts IIL, 400.
Marcello II, 334.
Märchen, arabifche III, 432.
Marheinecke II, 317.
Mars II, 204, 208.
Märtyrer III, 141, 168.
Maruts I, 106.
Marzana Il, 269.
Materialismus III, 309, 318,
Mepdizin-Beutel I, 238.
Medizin Männer I, 27.
Melkaͤrth II, 78.
Men II, 82.
Menes II, 9.
Mengetfe I, 201.
Mendtios II, 162.
Menichenopfer, 1. Eultus.
Menth II, 19.
Mercurius II, 208.
Diern I, 08.
Meichia und Meſchiane L, 176.
Meſſe IIL, 181.
Meſſias I, 8 fg.
Methodiſten III, 224.
Metropoliten III, 192.
Mewlewi 1Il, 435.
Mexiko I, 49 fg.
Meritli 1, 54, 60.
Mali l, 87.
Michaelis III, 286.
Michelangelo, f. Buonarotti.
Midgard II, 310.
Midgardichlange Il, 318, 331.
Mildthaͤtigkeit, chriftliche FH, 286 fg.
Milkom 11, 68.
Milton III, 350.
Minerva II, 208.
Pinnetrinfen Il, 340.
Mifchna III, 354.
Mifttcha I, AB.
Mithras I, 173.
Mirkoatl I, 59.
Mnemofyne II, 162.
Moallakat, die und ihre Berfuffer III, 368,
Mohammed II, 370 fg.
448
Moͤhler III, 321.
Mokannaa III, 423,
Molefchott III, 318.
Moloch II, 71 fg.
Momiers III, 228.
Möndeweien III, 264 fg., 409.
Mongolen 1, 43 fg. .
Montaigne III, 301.
Moralitäten III, 339.
Moralwiſſenſchaft III, 289.
Morana II, 269.
Mören II, 186.
Mormonismus II, 228.
Morsfoj Ezar II, 264.
Mofcheen III, 409.
Mofe II, 104 fg.
Montenebbi III, 431.
Mozart III, 338.
Muderthum III, 276 fg.
Muoi II, 23.
Murillo III, 333.
Mufen II, 178.
Muspelheim II, 312.
Muspilli II, 332.
Mutter, die idväifche IE, 210.
Mylitta IE, 63 fg.
Myfterien II, 337.
Myſtiker des Mittelalters III, 148.
— perſiſch⸗moslemiſche III, 433 fg.
Mythologie I, 18.
M.
Najaden II, 182.
Narrenfeft III, 278.
Nafiräer II, 128.
Naſtrand II, 338.
Neander III, 318.
Neger 1, 29 fg.
Nehalennja II, 299.
Neith II, 16 fg.
Nemeſis II, 186.
Nephthys II, 23.
Neptunus II, 209.
Nereus II, 179.
Nerthus II, 299.
Neforius II, 98.
Netpe II, 22.
Neuplatonismus III, 48 fg.
Nezr HI, 401.
Niang I, 31.
Nibelungenlied III, 346.
Niflheim II, 312.
Mifihel 11, 312.
Nike II, 179.
Nil⸗Okeamose II, 23.
Niördr II, 319.
Nirwana I, 229 fg.
Nisroch II, 88.
Nikfch III, 310.
Rornen II, 311.
Numanf Madana I, 23.
Nymphen 11, 182.
D.
Dannes II, 62.
Ochfih:Häddäh I, 24.
Odhin II, 308, 313 fg.
Degir II, 322.
Dergelmir, f. Ymir.
Dfeanos II, 160.
Okodil I, 41.
Omphale II, 83.
Opfer, f. Eultus.
Opferidee I, 12.
Ops II, 210.
Optimismus I, 10.
Orakel, griechifche II, 192.
Ordal, f. Gottesurtheil.
Orden III, 271 fg.
Oreaden II, 182.
Origines III, 298.
Ormuzd I, 170 fg.
Ofiris II, 23 fg.
Dfflan II, 238.
Oſtara II, 299.
Difrid IIT, 348.
Ovidius Il, 219, III, 38.
8.
Pagoden I, 1385.
Palaͤſtina II, 91 fg.
Baleftrina III, 334.
Pallas II, 162,
Pallas Athene II, 178. .
Paltar II, 299.
Ban II, 182.
Pandora II, 169.
Papſtthum IT, 198 fg.
Parabrahma 1, 107.
Paradies, das chriftliche III, 343 fe.
— das moslemiſche III, 398 fg.
Bariah I, 118.
Parmenides II, 39.
Barfen I, 159.
Barvati I, 109.
Parzen, |. Mören,
Bafagier III, 216.
Pascal II, 138,
Paſcht II, 16 fg.
Paſtoralwiſſenſchaft III, 291.
PBatriarchat II, 196.
Paulicianer III, 214.
Paulus III, 90 fg.
Pe ll, 19.
Pelagius III, 96.
Pelasgifche Völker II, 146 fa.
Pelasgos IL, 148.
Bele I, 37.
Penaten II, 205.
Perahta (Berchta) IL, 299.
Perkunas II, 2685.
Perkuna⸗Tete II, 268.
Perſephone II, 182.
Perſes IL, 162.
Peru 1, 74 fg.
Perun II, 263.
Veicheräh I, 16.
Peſtjungfrau II, 272.
Petrarca III, 348.
Phan II, 20.
Pharifäismus III, 6 fg.
Pharmuthi II, 23.
Philo II, 18.
Philofophie des Alterthums III, 36 fg.
Phöbe II, 162.
Phoöbos Apollon I, 173.
Phorkys 11,179.
Photius II, 218.
PBhtah II, 19 fo.
- Bifollos II, 265.
Pitris 1, 106.
Platon III, 42.
Plinius 1, 38.
Pluto II, 211.
Poefte der Hebräer II, 141 fg.
Pogoda Il, 263.
Pohyviſt II, 264.
PBolarvölfer I, 39.
Polel IL, 263.
Polyneſier I, 36 fg.
Bomona Il, 206.
Pontos II, 160.
Porewit II, 267.
Bofeidon II, 164, 179.
Potrimpos II, 268.
Prädeftination II, 92,
Prediger (Salomo’s) II, 144.
Presbyterium III, 189.
Briapos II, 182.
Prometheus II, 162, 168,
Bropheten, die hebräifchen II, 106 fg.
Brofelyten IU, 9.
19
Proſerpina II, 211.
Proteftanten III, 219.
Broteus II, 180.
Prowe II, 268.
Pfalmen II, 142.
PBuranas I, 103.
PBuritanismus III, 2856.
Pyrrhon III, 44.
Pythagoras III, 37, 39.
Bythia II, 193.
D.
Duafer III, 223.
Quetzakoatl I, 83.
Quirinus II, 208.
Ra II, 19.
Rabbinen III, 354.
Rackſchas I, 106.
Radegaſt IL, 267.
Radien⸗Atzhie I, 39.
Radien-Kidde I, 39.
Rafael III, 332.
Ragnaröf II, 330 fg.
Pama I, 121.
Ramajana, f. Rama.
Ramazan II, 401.
Pan II, 322.
Panna II, 23.
Rationalismus III, 312.
Rawendi II, 423.
Recht, das moslemifche III, 411 fg.
Religionsfriege III, 286.
Reliquien III, 113, 142.
Remonftranten, f. Arminianer.
Reftauration III, 318 fg.
Reto IL, 22.
Reuchlin IH, 116.
Rhea II, 162, 181.
Rieſen II, 302.
Ritterthum III, 273.
Roöhr III, 312.
Romantik III, 348.
Römer II, 201 fg.
Romulus II, 213.
Roufſſeau IH, 310, 352.
Rubens III, 333,
Ruge III, 318.
Rugiäwit 11, 267.
Ruſalki II, 264.
Sacramente III, 108 fg.
Sadduzaͤer II, 8.
450
Sadi III, 436.
Saga II, 316.
Saint Martin IN, 320.
Saint Simon Ill, 282.
Sakjamuni I, 224 fg.
Sakti I, 109.
Salambo II, 76.
Sälde Il, 302.
Sandon II, 83.
Santons III, 409.
Saraffa I, 40.
Sarzapi Il, 30.
Sarasvati I, 109.
Sartan II, 88.
Satan II, 115, 389.
Sate Il, 19.
Saturnus II, 210.
Satyın II, 182.
Savonarola III, 108.
Sarnot II, 299.
Schaddai II, 130.
Schahname I, 188 fg.
Schai Il, 23.
Schamanismus I, 17,
Schang⸗ti I, 204.
Scheich⸗üͤl⸗Islam III, 489.
Schelling III, 312.
Schibleh I, 48.
Schidfal II, 185, 302, 311.
Schiiten (Schii) II, 387, 390 fg. 397.
Schiller III, 382.
Schisma III, 119.
Schleiden III, 318.
Schleiermacher II, 313.
Schweizer IIL, 319.
Seb II, 22.
Seelenwanderung, bruhmanifche I, 139.
— buddhiſtiſche I, 232.
— ägyptifche II, 31
Seiler III, 320.
Sekten III, 89 fg. 213 fg.
Selene II, 163.
Semiramis Il, 89.
Senafi III, 433.
Seneca IIl, 47.
Senfualismus III, 309.
Seoſeres I, 48.
Seraphim II, 114.
Serapis, ſ. Sarzapi.
Seuſſe (Sufo) IH, 118.
Sevech IL, 16 fg.
Shafers III, 223.
Ehafipeare III, 3850.
Eilene II, 182.
Silvanus II, 206.
Simonie III, 200.
Simzerla II, 263.
Sinear, f. Babylonien.
Siöfn II, 316.
Sirenen 1, 180.
Sittenlehre, die moslemifche II, 413 fg.
Siva I, 109 fg.
Sfalta II, 308.
Sfepticismus I, 6 fg.
Sklaverei in der hriftl. Welt IIT, 232 fg.
Sfuld II, 311.
Slaven II, 258 fg.
Snotra II, 317.
Sofrates III, 41.
Sol II, 208.
Soma:Öpfer I, 106.
Sonnenjungfrauen I, 83 fg.
Sophiftif II, 40.
Sophokles IL, 196.
Soſioſch I, 181.
Sozialismus III, 281.
Sozinianer III, 133.
Spener III, 241.
Spinvza III, 302.
Sprüde (Salomo’s) II, 148.
Stamana:-Gautama 1, 224.
©ti I, 109.
Staäl, Frau von III, 320.
Stedinger III, 216.
Steropes II, 163.
Storjunfare I, 4. .-
Strauß III, 287, 318.
Stribog II, 264.
Styr II, 160.
Sudra I, 227.
Süpfee-Infulaner 1, 34 fg.
Sufismus III, 433 fe.
Sunniten (Sunni) i 387, 300 fg. 307.
Supranaturalismus III, 312.
Suttur II, 329, 331.
Sutra I, 227.
Swantomwit II, 266 fg.
Swartalfar II, 326.
Swedenborg III, 224.
Symbole III, 120 fg.
Syn Il, 317.
Synagogen III, 18.
Synedrium IH, 14.
T.
Taate II, 21.
Tabu I, 36, 38,
Tacitus 11, 293, 336. IM, 27, 98,
—
Pepe |
m ._—__...
Zap I, 107.
Tale⸗Lama I, 240.
Talmud II, 384.
Tanfana II, 299.
Tangaloa I, 37.
Taphne II, 23.
Taran I, 239.
Tartaros II, 160, 188.
Tat I, 23.
Tauler III, 118.
Tehoret III, 407.
Telefto III, 298.
Tellus II, 210.
Tempel, der falomonifihe II, 128.
Teofalli I, 82, 64.
Teofualo I, 69.
Teotl I, 82, 56.
Terminus II, 206.
Teftament, altes II, 98 fg.
Teihys II, 160.
Tegkatlipofa I, 59.
Teufel IN, 109, 130, 247 fg.
Teules I, 52.
Teutates II, 239.
Teutonen Il, 292,
Thags I, 127.
Thaumas II, 179.
Theia II, 162.
Themis II, 162.
Theofratie, moſaiſche A, 106.
Thetis IL, 179.
Thierdienſt, ägyptifcher II, 34 fg.
Thomas von Kempen III, 118.
Thorr II, 314.
Thoth, f. Taate.
Thrymskvidha II, 322.
Thurfen II, 302.
Tien I, 204.
Tiermes 1, 41.
Titanen und Titaniden II,-102
Titanomadie II, 168.
Tiziano III, 332.
Ttafatefolotl I, 89.
Zlalof I, 89.
Tleps I, 48.
Tme II, 23. °
To nie und Todtenfeſte, ſlaviſche RE,
Toltefen I, 83.
Tonatiuh I, 87.
Torlaf III, 424.
Torngarſuk I, 42.
Tradition III, 89.
Traducianismus III, 1232.
Triglaw II, 268.
Teimurti I, 109.
Ttitonen II, 180.
Tſcherkeſſen I, 47 fg.
Tfchernoibeg H, 264.
Tſchinevad I, 179.
Tſchurs II, 263.
Tfchustfe 1, 201. -
Tugend, die chriftliche III, 240.
Tuifto (Tuisko) IL, 308.
Tupan I, 20.
Turan I, 187.
Zürfen IIL, 422.
Tyche II, 187.
Typhoeus TI, 167.
Typhon II, 23.
Tyr II, IA,
U,
Uboze II, 264.
Nifka III, 188.
Uller II, 314.
Ullmann III, 349,
Ulriei III, 319.
Univerfitäten 111, 321 fg.
Uranos II, 160.
Urd II, 311.
Uſchas I, 108.
Utgarblofi II, 328.
Utraquiften III, 118.
8.
Paisja I, 118.
Bampyrismus 11, 278.
Panini III, 299.
Paruna I, 104. °
Vedanta⸗Philoßophie I, 108.
Veda's I, 102.
Vendidad⸗Sade I, 162. -
Benus II, 208.
Verbreitung des Chriſtenthums III, 190 fg.
Berfall der alten Welt IH, & fg.
Berföhnungslehre III, 109.
Berteufelung III, 338.
Vertumnus II, 206.
Veſta II, 209.
Beftalinnen II, 214.
Vico III, 319.
Victoria II, 206. |
Vinci, Leonardo da Ill, 332.
Virakocha I, 79. |
Pirgilius III, 24, 34.
Pirtus II, 206.
Bifcher III, 318.
Biſchnul, 109 fg.
Bispered I, 162.
Boat III, 318.
Bol II, 299.
Boltöpoefle, ſlaviſche II, 283.
Volla II, 299.
Boltaire III, 309, 881.
Böluspa II, 304 fg,
Brita I, 106,
Bulcanus II, 208.
Bulgata I, 117.
.Wahab III, 427 fg, ,
Wahabi, ſ. Wahab.
Waidelotten und Waibelottinuen I, 276.
Wainaͤmoͤinen II, 286.
Waldenſer III, 118,
Waldgeiſter II, 302.
Waldindianer, füdamerifanifche I, 19 fg.
Waldnomaden des Nordens I, 38 fg.
Walhall II, 313. .
Wall II, 314.
Walfüren Il, 314.
— Walther von der Bogelweibe II, 319,
Wanadis II, 319,
Banaheim II, 312.
Wanen II, 320.
Wara II, 317.
Waflergeifter II, 302.
Maflerhölle II, 336.
We II, 308. °
Wegſcheider III, 312,
Weiße II, 319.
Weltanſchauung, anthropologiſche I, 8.
theologiſche I, 8.
Werdandi II, 311.
Wesna II, 269. _
Weſſenberg II, 321.
Wichte II, 308. --
Micliffe III, 118,
Widar II, 314.
Miedertäufer III, 223.
Wila II, 270.
Wilen II, 270.
Wili II, 308.
Wirth III, 319.
Bi t, die im C |
| —5 e im Chriſtenihum II,
8
MWittiwenverbrennung, I, 144 fg. -
Wodan II, 298.
Wokoſch II, 263.
Wolf III, 307.
MWolfenbüttler Fragmente III, 308.
Wolfram von Eſchenbach IM, 346.
Woloß II, 263.
an
&.
Zatrija I, 117.
Zenofrates IH, 43.
Xenophanes 11I, 38.
Ziubteuftli I, 89.
9. |
Dang I, 202. er
PYeſiden II, 4285. .
Mogdraftl II, 314. |
Pmir II, 306.
Dn 1, 202.
Zamtid, 31.
Zambianchi I, 31.
Zanchor I, 31. 1
Barathuftra I, 162 fg. ’
Baruana I, 168.
Zauberei, Religion der I, 17. N
Baubertrommel I, 40.
Bauberweien, |. Hexenweſen. t
Zekat III, 402. |
Seller III, 318.
Beloten IH, 16.
Bemargla II, 264.
Bem-Zem IH, 367, 404,
Bend:Avefta I, 162.
Zendvolk I, 97.
Benon III, 44.
Zeus II, 164 fg. 172 fg.
Siewonia II, 269.
gift III, 410,
Binzendorf III, 224.
8io II, 299.
Znitſch II, 263.
Zvroaſter, |. Zarathuſtra.
Zofim II, 263.
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